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Endbericht der Kommission Wilhelminenberg

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DAS LEBEN IM KINDERHEIM<br />

Vom ersten Tag an wurde darauf geachtet, dass die Kin<strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Heimordnung fügten und somit<br />

wi<strong>der</strong>standslos in das Heimleben eingeordnet werden konnten. In <strong>der</strong> Gruppe, <strong>der</strong> sie zugeteilt wurden,<br />

kannten sie niemanden, viele Geschwister waren bereits nach ihrer Unterbringung in <strong>der</strong> KÜST<br />

separiert worden. Sie sahen einan<strong>der</strong> oft für viele Jahre nicht mehr. Niemand teilte ihnen mit, wo ihre<br />

Angehörigen hingekommen waren o<strong>der</strong> ob ihre Familie überhaupt wusste, wo sie selbst waren. Die<br />

Kin<strong>der</strong> wurden nicht darüber informiert, wie lange sie hier bleiben sollten o<strong>der</strong> was weiter mit ihnen<br />

geschehen würde. Auch <strong>der</strong> Kontakt zu an<strong>der</strong>en Gruppen im Heim wurde untersagt. 45 Diese völlige<br />

Isolation führte zu schweren Traumatisierungen und späteren Beziehungsstörungen. Da es von<br />

einem Tag auf den an<strong>der</strong>en niemanden mehr gab, den das Kind kannte, war es den Erziehern eher<br />

möglich, ihre „Regeln“ durchzusetzen. Durch den völligen Entzug persönlicher Beziehungen, aber<br />

auch <strong>der</strong> eigenen Kleidung und aller Habseligkeiten, wie in einem Fall ein Teddybär, <strong>der</strong> einem Mädchen,<br />

das nach schwersten Misshandlungen 46 <strong>der</strong> Familie entzogen wurde, als einziger Besitz blieb,<br />

erlitten viele <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> einen tief gehenden Schock. Bettnässen, Nägelkauen, Verhaltensstörungen<br />

und das Verweigern von sozialen Kontakten waren die Folge. In den heutigen Interviews beziehen<br />

sich fast alle Zeugen auf diese Erlebnisse <strong>der</strong> Deprivation und bringen diese auch in Zusammenhang<br />

mit späteren psychischen Störungen. Dieses Vorgehen stellte – was auch für an<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong>heime<br />

dieser Zeit zutrifft – einen tief greifenden, entwürdigenden Eingriff in die Individualität <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

und Jugendlichen dar. Die Geschlossenheit des Heims, verbunden mit den Unterdrückungsmechanismen,<br />

schaffte letztendlich den Nährboden für Misshandlung, Gewalt und Missbrauch im Heim.<br />

Schweigen beim Essen, das Verbot, mit Kin<strong>der</strong>n an<strong>der</strong>er Gruppen zu kommunizieren, geringschätzendes<br />

Verhalten des Personals („unnötiger Fratz“) 47 und keine Möglichkeit <strong>der</strong> Artikulation persönlicher<br />

Bedürfnisse erzeugten ein Gefühl <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>wertigkeit.<br />

„Dann bin ich in eine Gruppe hineingekommen, das war ein großer Raum. Da ist die Erzieherin gesessen<br />

beim Fenster, (...) es war mucksmäuschenstill. Das heißt, <strong>der</strong> Tagesablauf hat so funktioniert: Man wurde<br />

aufgeweckt. Papp‘n halten! Man geht duschen also waschen, auf’s Klo, Zähneputzen: Papp‘n halten!“ 48<br />

Dazu kam, dass viele Kin<strong>der</strong> glaubten, ihre Eltern hätten sie im Stich gelassen o<strong>der</strong> abgegeben. Erst<br />

viele Jahre später bei <strong>der</strong> Lektüre des Kin<strong>der</strong>akts bemerkten sie dann häufig, dass sich ihre Eltern<br />

sehr wohl bemüht hatten, sie nach Hause zu holen. 49<br />

Fatal für die Kin<strong>der</strong> war überdies, dass sie in dieser Extremsituation des plötzlichen Verlusts ihres<br />

vertrauten Lebens permanent anhand ihres möglicherweise daraus resultierenden „Fehlverhaltens“<br />

beurteilt wurden. Was immer sie taten o<strong>der</strong> unterließen, es diente ihrer Klassifikation als „typisches<br />

Heimkind“ und legitimierte den Entzug <strong>der</strong> Familie im Nachhinein.<br />

Für jede Gruppe waren zwei Erzieher zuständig, einer <strong>der</strong> beiden verfasste den jährlichen Bericht über<br />

„das Verhalten“ eines Kindes. Der zweite Erzieher schloss sich dieser Beurteilung meist nur in zwei o<strong>der</strong><br />

drei Zeilen mit dem Kommentar „Vollinhaltlich wie oben“ an. Eine Än<strong>der</strong>ung des Verhaltens wurde kaum<br />

zur Kenntnis genommen. Im Jahr darauf ähnelten die Berichte diesem Erstbericht, manchmal wurden<br />

wortgleiche Passagen übernommen, die sich auch in den Gutachten <strong>der</strong> beigezogenen Psychiater und<br />

Psychologen wie<strong>der</strong>fanden. Aufgrund <strong>der</strong> unzureichenden Ausbildung <strong>der</strong> Erzieher beschränkten sich<br />

die Berichte lange Jahre auf die Wie<strong>der</strong>gabe von im Grunde laienhaften Beobachtungen, denen sehr<br />

44 <strong>Endbericht</strong> <strong>der</strong> <strong>Kommission</strong> <strong>Wilhelminenberg</strong> | Juni 2013

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