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John von Düffel, Dramaturg sowohl des Thalia Theaters Hamburg ...

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34<br />

▲<br />

SCHWERPUNKT<br />

Es ist schon eine schöne Tradition geworden:<br />

Die <strong>Theaters</strong>aison ist zu Ende, und viele Schauspieler<br />

fahren nicht in die wohlverdienten<br />

Ferien, sondern spielen weiter, auf Festspielen<br />

und Freilichtbühnen. Da unterscheidet sich<br />

das Theater vom Fußball, wo die Fans trotz<br />

der WM eine lange Durststrecke im Sommer<br />

hinnehmen müssen. Der <strong>Theaters</strong>üchtige aber<br />

muss nur dahin reisen, wo andere Urlaubmachen:<br />

an die See, ins Gebirge. Auch Schlosshöfe,<br />

Klosterruinen und Domtreppen sind<br />

beliebte Freilichtspielstätten trotz <strong>des</strong> unberechenbaren<br />

Wetters in unseren Breiten<br />

zur Sommerszeit. In unserem Schwerpunkt<br />

Alle Wetter! Freilichttheater sind auch wir<br />

auf die Reise gegangen, quer durch Deutschland,<br />

nach Worms zu Moritz Rinkes Neufassung<br />

seiner „Nibelungen“, nach Jagsthausen zu<br />

Goethes „Götz <strong>von</strong> Berlichingen“ – an den<br />

festen Häusern ist dieses Stück ja längst<br />

ausgestorben. Wir sahen Winnetou durchs<br />

sächsische Rathen reiten und Störtebeker in<br />

Ralswiek sterben, erlebten Vinetas Wiedergeburt<br />

in Zinnowitz und „Aida“, nicht am Nil,<br />

sondern im Hafen <strong>von</strong> Stralsund. Shakespeare-<br />

Liebhaber wissen längst das Globe-Replikat<br />

<strong>von</strong> Neuss mit seinen jährlichen internationalen<br />

Shakespeare-Festspielen zu schätzen. Und<br />

Festspiel-Neugründungen gibt es auch zu<br />

vermelden, zum Beispiel die Schlossfestspiele<br />

<strong>von</strong> Sondershausen.„Natur und Kunst, sie<br />

scheinen sich zu fliehen“, meinte Goethe skeptisch.<br />

Ist es wirklich so oder trügt der Schein?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong>, <strong>Dramaturg</strong> <strong>sowohl</strong> <strong>des</strong> <strong>Thalia</strong> <strong>Theaters</strong><br />

<strong>Hamburg</strong> wie auch der Nibelungenfestspiele in Worms,<br />

im Streitgespräch mit sich selbst über den Nutzen<br />

und Nachteil <strong>des</strong> Freilichttheaters für das Bühnenleben<br />

Natur und Kunst, sie scheinen sich<br />

zu fliehen“, schreibt Johann Wolfgang<br />

<strong>von</strong> Goethe, der Mann fürs<br />

passende Zitat in jeder Lebenslage,„Und<br />

haben sich,eh man es denkt,gefunden /<br />

Der Widerwille ist auch mir verschwunden<br />

/ Und beide scheinen gleich mich<br />

anzuziehen.“ Ob Goethe sich bei anderer<br />

Gelegenheit noch eingehender zum<br />

Freilichttheater geäußert hat, ist nicht<br />

überliefert. Doch mit dem Widerspruch<br />

zwischen Kunst und Natur trifft der<br />

Dichterfürst und Hoftheaterleiter einmal<br />

mehr den Nagel auf den Kopf.Denn<br />

nirgends begegnen sich Natur und<br />

Kunst unmittelbarer, inniger und bisweilen<br />

unversöhnlicher als beim Theater<br />

unter freiem Himmel, wo es schon<br />

mal vorkommen kann, dass ein Windstoß<br />

die schönste Pointe <strong>des</strong> Stückes<br />

wegfegt, dass Regenschauer über kammerspielartigen<br />

Dialogszenen niederprasseln<br />

oder brütende Hitze ganze<br />

Kampfchoreographien lahm legt, weil<br />

schwer bewaffnete Schauspieler in Rüstung<br />

und Lederwams am Rand <strong>des</strong><br />

Kreislaufkollapses delirieren. Dennoch<br />

ist Freilichttheater nicht nur Kunst mit<br />

Die Deutsche Bühne 10 I 2006


SCHWERPUNKT<br />

▲<br />

35<br />

JOHN VON DÜFFEL<br />

Schweißausbrüche<br />

in der Rollkragengegend<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Pardon, aber ich muss<br />

leider schon wieder dazwischen. Was<br />

heißt denn hier „Freilichttheater“? Woher<br />

kommt die Herablassung, mit der<br />

Sie das aussprechen? Wenn Sie meinen,<br />

dass dieses Theater unter freiem<br />

Himmel stattfindet – gut, einverstanden.Aber<br />

dann müssen Sie fairnesshalber<br />

hinzufügen, dass auch die alten<br />

Griechen Freilichttheater gemacht haben.<br />

Die attische Tragödie, die großen<br />

Dichterwettstreite <strong>von</strong> Athen, alles<br />

Freilicht! Die Säulen der abendländischen<br />

Theatergeschichte standen unter<br />

freiem Himmel. Also sagen Sie <strong>von</strong><br />

mir aus „Freilichttheater“, aber sprechen<br />

Sie es bitte so aus, als würden Sie<br />

Sophokles,Euripi<strong>des</strong> und Aristophanes<br />

in einem Atemzug nennen.<br />

natürlichen Hindernissen, manchmal<br />

verbünden sich auch die äußeren Umstände<br />

mit dem Stück: die Atmosphäre<br />

<strong>des</strong> Ortes, die laue Sommernacht, der<br />

Sternenhimmel und das Gefühl, an einem<br />

unverwechselbaren Platz auf der<br />

Welt zu sein. Über die Tücken und Tugenden,<br />

Herausforderungen und Zugeständnisse<br />

<strong>des</strong> Freilichttheaters führte<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong>, <strong>Dramaturg</strong> <strong>des</strong> <strong>Hamburg</strong>er<br />

<strong>Thalia</strong> <strong>Theaters</strong>,mit dem <strong>Dramaturg</strong>en<br />

der Wormser Nibelungen-Festspiele<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> ein äußerst kontroverses<br />

Selbstgespräch.<br />

✽<br />

1 I<br />

Herr <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong>, Sie machen seit fünf<br />

Jahren Sommertheater in Worms und<br />

betreuen dort als <strong>Dramaturg</strong> die Nibelungen<br />

in allen Formen und Fassungen<br />

bei Regen und bei Sonnenschein –<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Entschuldigen Sie,<br />

wenn ich gleich bei der ersten Frage unterbreche.<br />

Aber schon allein der Begriff<br />

„Sommertheater“ und die süffisante<br />

Art, wie Sie ihn im Munde führen, kann<br />

ich nicht gelten lassen. Wer sagt denn,<br />

dass nur im Winter richtiges Theater gemacht<br />

wird oder allenfalls noch im<br />

Frühjahr und Herbst? Warum soll gerade<br />

der Sommer ausgerechnet keine<br />

ernsthafte Theaterzeit sein? Warum<br />

heißt „Sommertheater“ immer so viel<br />

wie: Nehmt’s nicht so tragisch, Leute, es<br />

geht doch um nichts!?<br />

Also gut. Herr <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong>, Sie machen<br />

seit fünf Jahren Freilichttheater in<br />

Worms und –<br />

Fotos: Rudolf Uhrig (1, 2, 4, 5)<br />

Herr <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong>, Sie machen seit fünf<br />

Jahren Theater unter freiem Himmel in<br />

Worms, als <strong>Dramaturg</strong> <strong>von</strong> Dieter Wedel,<br />

der in diesem Sommer eine Neufassung<br />

der „Nibelungen“ <strong>von</strong> Moritz Rinke<br />

auf die Bühne oder – wenn ich das so sagen<br />

darf – vor den Dom gebracht hat.<br />

Was ist bei diesen Arbeiten anders als<br />

bei normalen Theaterproduktionen?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Sie wollen mich provozieren,<br />

indem Sie <strong>von</strong> „normalen Theaterproduktionen“<br />

sprechen, ich durchschaue<br />

Sie! Aber ich werde Ihnen nicht<br />

den Gefallen tun, mich darüber aufzuregen.<br />

Richtig ist, dass wir Theatermacher<br />

und Theatergänger uns daran gewöhnt<br />

haben, Kunst als eine Übung zu<br />

betrachten, die in geschlossenen Räumen<br />

stattfindet, sozusagen unter Ausschluss<br />

der Wirklichkeit mit ihren<br />

Störungen und Zufälligkeiten. Insbesondere<br />

in der regnerischen deutschsprachigen<br />

Theaterlandschaft haben<br />

wir uns über Jahrhunderte immer<br />

mehr dahin entwickelt, die Schauspielkunst<br />

in künstliche Gefäße zu gießen –<br />

in nahezu schalldichte, geschwärzte<br />

Kunstbunker,die jeglichen Einfluss <strong>von</strong><br />

außen eliminieren. Die Kunst <strong>des</strong> <strong>Theaters</strong><br />

scheint uns überhaupt nur noch<br />

möglich unter den Laborbedingungen<br />

absoluter Künstlichkeit, und dadurch<br />

ist sie in einem gewissen Maße auch<br />

1 I Siegfried<br />

(Robert Dölle) in<br />

der Schlacht bei<br />

den Nibelungen-<br />

Festspielen in<br />

Worms.<br />

Die Deutsche Bühne 10 I 2006


36<br />

▲<br />

SCHWERPUNKT<br />

2 I Der Autor:<br />

Moritz Rinke ...<br />

3 I und sein<br />

<strong>Dramaturg</strong> <strong>John</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Düffel</strong>.<br />

2 I<br />

3 I<br />

Foto (3): Justin Winz<br />

tatsächlich ereignet haben soll. Wer da<br />

eine bemalte Sperrholzwand aufstellen<br />

will, ist verloren. Vor den rußgeschwärzten<br />

Sandsteinquadern <strong>des</strong><br />

Doms,den bunten Kirchenfenstern und<br />

martialischen Türmen hat nichts Ausgedachtes<br />

Bestand. Und so steht dieses<br />

Bauwerk da wie ein stummer Zeuge<br />

und heimlicher Protagonist mit seiner<br />

mächtigen Geschichte, seiner imponierend<br />

düsteren Aura und ragt in<br />

den Abendhimmel. Gegen den Geist<br />

dieses Ortes kommt keine Theaterkulisse<br />

an.Man hat gar keine andere Wahl<br />

als sich damit zu verbünden.<br />

selbst immer künstlicher und mitunter<br />

lebensferner geworden, obwohl sie<br />

ihre Ursprünge mitten im gesellschaftlichen<br />

Leben hatte – in der griechischen<br />

Polis und ihren Freilichtarenen,<br />

in denen sie nicht nur ihren eigenen<br />

Mythen zuschaute, sondern auch<br />

sich selbst.<br />

Aber jetzt einmal ganz ohne Wertung<br />

und dramaturgische Schaukämpfe: Sie<br />

wollen doch nicht ernsthaft bestreiten,<br />

dass es einen Unterschied macht, ob ich<br />

drinnen oder draußen Theater spiele?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Natürlich macht das<br />

einen Unterschied. Einen großen sogar.<br />

In welcher Beziehung?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> In jeder. Alles verändert<br />

sich:die Bühne,die Kostüme,Licht,<br />

Ton, Technik, die Rolle der Musik, das<br />

Arrangement, die Inszenierung, die<br />

Schauspieler, alles.<br />

Fangen wir doch mal mit der Bühne an.<br />

Wenn ein Bühnenbildner, der an verschiedenen<br />

renommierten Häusern gearbeitet<br />

hat, zum ersten Mal auf den<br />

Platz eines Freilichttheaters kommt,<br />

dann –<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Es gibt beim Freilichttheater<br />

keinen Bühnenbildner im üblichen<br />

Sinne. Das Gefühl, das alle Bühnenbildner<br />

beschleicht – ob sie nun an<br />

renommierten Häusern arbeiten oder<br />

nicht –, lässt sich in einem Satz zusammenfassen:<br />

Der große Bühnenbildner<br />

war schon da. Der liebe Gott oder die<br />

Stadtverwaltung hat vor ihnen einen<br />

Raum geschaffen, mit dem sie umgehen<br />

müssen. Im wesentlichen ist die<br />

Bühne naturgegeben oder auch ein historischer<br />

Schauplatz, genauer gesagt,<br />

sie hat eine außertheatralische Existenz,<br />

eine eigene Wirkung und Wirklichkeit.Freilichttheater<br />

findet nicht auf<br />

neutralem Terrain statt,schon allein der<br />

freie Himmel ist kein neutrales Terrain.<br />

Er verändert die Szenerie, je nach dem,<br />

ob er bedeckt ist oder sternenklar, tiefhängt<br />

oder den Blick ins Universum<br />

freigibt. Man stelle sich vor, in einem<br />

Stadttheater würde plötzlich wie <strong>von</strong><br />

Gottes Hand ein Plafond aus Gewitterwolken<br />

hereinschweben oder das Dach<br />

<strong>des</strong> <strong>Theaters</strong> gen Sternenhimmel aufreißen<br />

… Und diese Eigendynamik der<br />

Dinge zwischen bloßem Sein und metaphorischer<br />

Überhöhung findet sich<br />

überall beim Freilichttheater. Bei jeder<br />

Bauprobe stellt man immer wieder<br />

fest: Vor der außertheatralischen Wirklichkeit<br />

<strong>des</strong> Ortes verblasst jegliche Dekoration.<br />

Sein natürliches Vorhandensein<br />

diskreditiert alles Künstliche, jede<br />

Kunstanstrengung.In Worms beispielsweise<br />

wird vor dem Kaiserdom gespielt,<br />

mal vor dem Südportal auf einer grünen<br />

Wiese zwischen zwei Ahornbäumen,die<br />

unter dem heiligen Schutz <strong>des</strong><br />

Domvogtes stehen, mal vor dem Nordportal<br />

mit Blick auf den historischen<br />

Eingang, wo sich der Königinnenstreit<br />

zwischen Brünhild und Kriemhild<br />

Inwieweit müssen auch Regisseur und<br />

Schauspieler in dieser Hinsicht Kompromisse<br />

machen?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Wieso Kompromisse?<br />

Wenn sich ein Bühnenbildner mit der<br />

Wirklichkeit eines Ortes befasst und<br />

seine Räume nicht aus der Retorte<br />

zieht, ist das noch lange kein Kompromiss!<br />

Aber gelten nicht auch für Regie und<br />

Schauspieler vor diesem Hintergrund<br />

ganz andere Gesetze?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Falls Sie darauf hinauswollen,<br />

dass ein Schauspieler im<br />

Freilichttheater notgedrungen vergrößern<br />

und vergröbern muss, heißt meine<br />

Antwort klipp und klar: Nein! Das<br />

Gegenteil ist der Fall. Gerade weil sich<br />

ein Schauspieler beim Freilichttheater<br />

immer auch in einer außertheatralischen<br />

Realität bewegt, ist er zu einem<br />

Höchstmaß an Genauigkeit und<br />

Glaubwürdigkeit angehalten.<br />

Er ist also durch die Realität verdammt<br />

zum Realismus?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Wenn Sie mit „Realismus“<br />

das Gegenteil <strong>von</strong> großer Oper<br />

meinen, ja. Freilicht ist eben gerade<br />

nicht die Lizenz zu Overacting und<br />

hohlem Pathos. Jede übertriebene Geste,<br />

jeder falsche Ton, jede gekünstelte<br />

Emotion entlarvt sich unter freiem<br />

Himmel noch viel mehr als im geschlossenen<br />

Theaterraum. Das rein Artifizielle<br />

und Künstlich-Formale funk-<br />

Die Deutsche Bühne 10 I 2006


SCHWERPUNKT<br />

▲<br />

37<br />

tioniert in dem veränderten, wirklichkeitshaltigeren<br />

Bezugssystem nicht.<br />

Da ist der alteingesessene Theaterplüsch<br />

viel gnädiger.<br />

Wenn man Ihnen so zuhört, könnte<br />

man meinen, Freilichttheater sei das<br />

künstlerische Maß aller Dinge …<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Ich wusste, dass Sie<br />

das irgendwann sagen würden.<br />

Aber gibt es denn keine Einschränkungen<br />

oder Zugeständnisse, die Sie speziell<br />

im Freilichttheater machen müssen?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Natürlich gibt es spezielle<br />

Schwierigkeiten oder Herausforderungen,mit<br />

denen man draußen unter<br />

freiem Himmel kämpft,vom Wetter<br />

mal ganz abgesehen. Im ersten Jahr<br />

der Festspiele etwa hat Dieter Wedel<br />

„Die Nibelungen“ <strong>von</strong> Moritz Rinke<br />

praktisch auf einer grünen Wiese zwischen<br />

zwei Bäumen inszeniert. Wer<br />

das Stück kennt, der weiß, wieviel Personal<br />

durch diese Geschichte bewegt<br />

werden muss, wie viele Auftritte und<br />

Abgänge,Begrüßungs- und Abschiedsszenen<br />

es gibt. Nun kann aber der<br />

Schauspieler oder der neu ankommende<br />

Schauspielertross nicht einfach aus<br />

einer Versenkung herauffahren oder<br />

durch die Nullgasse hereinstürmen. Es<br />

gibt kein geheimes Hub- oder Tunnelsystem<br />

unterhalb der Wormser Grasnarbe,<br />

und es gibt neben den beiden<br />

Ahornbäumen auch keinen dichten<br />

Wald, in dem zehn, fünfzehn Schauspieler<br />

mal eben verschwinden könnten.<br />

In einer außertheatralischen Realität<br />

spielen heißt meistens: lange Wege,<br />

keine falschen Türen, kein Netz und<br />

doppelter Boden. Sie glauben gar nicht,<br />

wie schwer es unter diesen Umständen<br />

ist, einen Überraschungsauftritt<br />

zu inszenieren, ganz zu schweigen <strong>von</strong><br />

größeren Schauplatzwechseln, schnellen<br />

Umzügen und Verwandlungen.<br />

Man macht dort Theater ohne Bühnenturm<br />

und Zauberkiste, nur mit<br />

dem, was da ist.<br />

kuläre Effekte, Show- und Zirkus-Elemente,<br />

Tiere, Autos, Sensationen …<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Ich will die volkstheaterhafte,<br />

populäre Seite <strong>von</strong> Freilichtaufführungen<br />

gar nicht in Abrede<br />

stellen. Ein bisschen Spektakel gehört<br />

dazu. Das ist vielleicht nichts für Puristen.<br />

Es ist aber auch kein Argument gegen<br />

die Ernsthaftigkeit der Theaterarbeit.<br />

Wenn ich echte Pferde auftreten<br />

lasse, muss ich auch Schauspieler haben,<br />

die echt spielen. Wissen Sie, was<br />

passiert, wenn ein Darsteller neben einem<br />

wirklichen Gaul steht und nur seinen<br />

Text aufsagt? Man muss beim Freilichttheater<br />

selbst die Tiere auf der<br />

Bühne überzeugen und dazu bringen,<br />

die Ohren zu spitzen, indem man je<strong>des</strong><br />

Wort denkt und meint!<br />

Aber Sie wollen mir doch nicht weismachen,<br />

dass es nichts gibt, was Sie als <strong>Dramaturg</strong><br />

am Freilichttheater irritiert oder<br />

gelegentlich den Geschmackspolizisten<br />

in Ihnen auf den Plan ruft?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Offen gestanden, am<br />

Anfang hatte ich ein Problem mit der<br />

Statisterie. Ich mag schon im Stadttheater,bis<br />

auf wenige Ausnahmen,keine<br />

Statisten. Und als mir so langsam<br />

dämmerte,dass halb Worms bei den Nibelungen-Festspielen<br />

mitmachen würde<br />

und die Inszenierung die Ausmaße<br />

eines Thing-Spiels anzunehmen drohte,<br />

bekam ich leichte Schweißausbrüche in<br />

der Rollkragengegend.Mittlerweile sind<br />

diese Komparsen eine tragende Säule<br />

der Aufführung und das Bollwerk der<br />

Festspiele in der Stadt, diszipliniert, professionell<br />

und hundertprozentig bei der<br />

Sache. Sie sind die eigentlichen Nibelungen.Dank<br />

ihnen hat man das Gefühl,<br />

die ganze Stadt spielt dieses Stück und<br />

macht Theater nicht nur für die Festspielprominenz,<br />

sondern auch für sich,<br />

für die Stadt und ihr Selbstverständnis –<br />

das können nicht viele etablierte Bühnen<br />

<strong>von</strong> sich behaupten.<br />

Freuen Sie sich denn gar nicht, demnächst<br />

wieder ins Theater gehen zu können,<br />

ohne sich vorher ständig mit dem<br />

Wetterbericht zu befassen?<br />

<strong>John</strong> <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong> Das werde ich Ihnen<br />

doch nicht verraten.<br />

Herr <strong>von</strong> <strong>Düffel</strong>,wir danken Ihnen<br />

für das Gespräch.<br />

4 I Noch herrscht<br />

Partystimmung<br />

bei Hofe: Robert<br />

Dölle (Siegfried),<br />

Jasmin Tabatabai<br />

(Kriemhild) und<br />

Roland Renner<br />

(Gunther) und in<br />

der Bildmitte<br />

einer der vielen<br />

Wormser<br />

Komparsen.<br />

4 I<br />

Aber gerade bei Freilichtaufführungen<br />

findet man doch immer wieder spekta-<br />

Die Deutsche Bühne 10 I 2006


38<br />

▲<br />

SCHWERPUNKT<br />

Heldenhaft<br />

„Siegfrieds Frauen“ <strong>von</strong> Moritz Rinke bei<br />

den Nibelungenfestspielen in Worms<br />

5 I Jasmin<br />

Tabatabai<br />

(Kriemhild) und<br />

Ute Zehlen (Ute).<br />

Das Land dürstet nach Helden, auf der Bühne wie im<br />

Zuschauerraum. Daher legen die Wormser Nibelungenfestspiele<br />

– vom Fachblatt Capital zu den<br />

„spannendsten Festspielen <strong>von</strong> Europa“ geadelt – nicht<br />

nur großen Wert auf prominente Bühnenstars, sondern<br />

auch auf lange rote Teppiche,VIP-Zelte und Heerscharen<br />

hübsch freundlicher Hostessen. Da gewinnt das Vorspiel<br />

an Festcharakter; der bedeutungsschwere Rahmen lässt<br />

auch einen womöglich verregneten Abend tapfer ertragen<br />

– man ist schließlich in bester oder zumin<strong>des</strong>t wichtigster<br />

Gesellschaft.<br />

Das auf der Bühne vor dem Dom und inmitten zweier<br />

Bäume präsentierte Wormser Königshaus hingegen wird<br />

durch Moritz Rinkes Text und Dieter Wedels Inszenierung<br />

auf bürgerliches Zwergheldenmaß verkleinert: König<br />

Gunther (Roland Renner) ist ein Kasper, der zunehmend<br />

zum Pfälzer Wein greift, Bruder Gernot (Robert Josef<br />

Bartl) sowieso ein täppisches Riesenbaby und Bruder Giselher<br />

(Christian Nickel) wirkt eher wie ein verhinderter<br />

Student denn wie ein rüstiger Recke. Robert Dölles Siegfried<br />

wirbelt die Womser Stillstandsgesellschaft nur bedingt<br />

durcheinander: Er gleicht einem sympathischen,<br />

aber unterforderten Hochleistungssportler,der vom Realo<br />

Hagen (Wolfgang Pregler) nur richtig wohl dosiert gedopt<br />

werden muss, um dem System Gewinn zu bringen.<br />

Hagen ist in der <strong>von</strong> Rinke selbst umgearbeiteten Neufassung<br />

seiner 2002 uraufgeführten „Nibelungen“ die<br />

interessanteste Figur. Und er wird vom nicht gerade hünenhaften<br />

Wolfgang Pregler großartig dargestellt; der<br />

organisiert Staat und Spiel und macht dabei nicht einmal<br />

einen unsympathischen Eindruck. Sein Leiden an den politischen<br />

Zwängen wie der Beschränktheit der Mitspieler<br />

wirkt glaubhaft.<br />

Der fast vierstündige Abend lautet „Siegfrieds Frauen“.<br />

Dafür hat Rinke den ersten Teil seiner ursprünglichen „Nibelungen“<br />

leicht ausgebaut. Teil zwei soll folgen. Brünhilds<br />

(Annika Pages) Herkunft vom Isenlande wird nun<br />

breiter ausgeführt, ihr zur Seite gestellt wird Freundin<br />

Isolde (Sonja Kirchberger). Dieter Wedel versucht, uns die<br />

Welt der nordisch amazonenähnlichen Frauen auch<br />

5 I<br />

durch Filmeinspielungen nahezubringen. Letztlich entsteht<br />

da aber nur ein unglückliches Konstrukt aus Lara-<br />

Croft-Action und Glitzer-Erotik. Als unglücklich verheiratete<br />

Frau Gunthers allerdings gewinnt Brünhild an Profil;<br />

doch bleibt Annika Pages‘ Trauer-Spiel pathetisch eingefroren.<br />

Lebendig wird sie immer dann, wenn ihre<br />

Eifersucht auf Kriemhild (Jasmin Tabatabai) den inzwischen<br />

versoffenen Ex-Sportler Siegfried ereilt.Tabatabais<br />

Kriemhild wirkt anfangs als unwillige Prinzessin seltsam<br />

privat,gewinnt jedoch ebenfalls,wenn Liebe und Hass ins<br />

Spiel kommen, an Profil. Es gelingt ihr auf bemerkenswerte<br />

Weise, auf der breiten Bühne kammerspielartige<br />

Zwischentöne anzuschlagen. Bei allem filmtechnischen<br />

und statistenreichen Bilderreigen schaffen es Wedel und<br />

sein Ensemble immer wieder,über Illustratives hinaus zu<br />

konzentriertem Schauspiel zu gelangen. Kitischiges Historiengemale<br />

bleibt weitgehend auf die Filmstreifen beschränkt.<br />

Moritz Rinke hat das Heldenspektakel mit kabarettreifen<br />

Bemerkungen und Nummern über die ewige deutsche Krise<br />

angereichert: Shakespeare imitierend, palavern da André<br />

Eisermanns pfälzischer Burgwächter und Andreas Bisowskis<br />

Fahrrad-Bote. Das verbindet die Gegenwart aber<br />

nur oberflächlich mit dem Heldenspiel – auch der Kontrast<br />

zwischen gestylter Erlebnis-Gastronomie am Dom und der<br />

tristen Welt zahlreicher aufgegebener Lokale am Rand der<br />

Innenstadt belegt letztlich die essentielle Differenz zwischen<br />

Festspiel und schnöder Wirklichkeit.<br />

DETLEV BAUR<br />

Die Deutsche Bühne 10 I 2006


ICH SPIELE DIE<br />

ERSTE GEIGE<br />

WIR SPIELEN FÜR SIE:<br />

WWW.THEATERUNDORCHESTER.DE<br />

CHISATO YAMAMOTO<br />

KONZERTMEISTERIN DER NIEDERRHEINISCHEN SINFONIKER

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