Ich war Zeugin der größten Revolution in der Welt - People to People
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Nadeshda Konstant<strong>in</strong>owna Krupskaja<br />
Leseprobe<br />
Neuersche<strong>in</strong>ung<br />
Preis: 19,80 Euro<br />
<strong>Ich</strong> <strong>war</strong><br />
<strong>Zeug<strong>in</strong></strong><br />
<strong>der</strong> <strong>größten</strong><br />
<strong>Revolution</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Welt</strong><br />
Leben, Kampf und Werk<br />
<strong>der</strong> Frau und Weggefährt<strong>in</strong> Len<strong>in</strong>s<br />
von Volker Hoffmann
Nadeshda Konstant<strong>in</strong>owna Krupskaja<br />
<strong>Ich</strong> <strong>war</strong> <strong>Zeug<strong>in</strong></strong> <strong>der</strong> <strong>größten</strong> <strong>Revolution</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> – von Volker Hoffmann<br />
E<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende Biografie über e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende Frau. Mit e<strong>in</strong>er<br />
Fülle bisher unbekannter Details. Krupskaja <strong>war</strong> Mitgestalter<strong>in</strong> und <strong>Zeug<strong>in</strong></strong><br />
<strong>der</strong> Ok<strong>to</strong>berrevolution und des sozialistischen Aufbaus im ersten sozialistischen<br />
Land <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> – an <strong>der</strong> Seite Len<strong>in</strong>s und im von Stal<strong>in</strong> geführten Zentralkomitee.<br />
Vorgestellt wird e<strong>in</strong>e unerschrockene Vorkämpfer<strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialistischen Pädagogik<br />
und <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> Frau. E<strong>in</strong>e Persönlichkeit, die alles an<strong>der</strong>e <strong>war</strong><br />
als Len<strong>in</strong>s „Schattenfrau“. Selbstbewusst <strong>war</strong> sie, kritisch und streitbar, gleichzeitig<br />
aber auch sehr bescheiden und selbstlos. An die 600 Texte aus Krupskajas<br />
Fe<strong>der</strong> liegen dem Buch zugrunde, etliche wurden erstmals <strong>in</strong>s Deutsche<br />
übersetzt. Krupskajas Leben wird e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> die <strong>Revolution</strong>en von 1905<br />
und 1917, die Kollektivierung <strong>der</strong> Landwirtschaft und die Industrialisierung<br />
Sowjetrusslands.<br />
Diese Biografie macht dem Namen Nadeshda (auf russisch: Hoffnung)<br />
alle Ehre. Sie ermutigt jeden, <strong>der</strong> mit dem Befreiungskampf <strong>der</strong><br />
Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung sympathisiert und<br />
nach e<strong>in</strong>em Weg sucht, sich für e<strong>in</strong>e<br />
bessere <strong>Welt</strong> und sozialistische Ideale e<strong>in</strong>zusetzen.<br />
420 Seiten, 29 his<strong>to</strong>rische Orig<strong>in</strong>alfo<strong>to</strong>s<br />
auf Bil<strong>der</strong>druckpapier,<br />
Paperback mit Fadenheftung,<br />
Preis 19,80 Euro<br />
ISBN 978-3-88021-393-7<br />
zu bestellen bei:<br />
Verlag Neuer Weg<br />
Alte Bottroper Straße 42 · 45356 Essen,<br />
tel: 02 01 – 25 91 5 · fax: 02 01 – 61 44 462<br />
Internet: www.neuerweg.de
Leseprobe<br />
Inhalt<br />
Danksagung 7<br />
Vorwort 9<br />
I. Krupskajas Weg bis zur Ok<strong>to</strong>berrevolution<br />
(1869–1917)<br />
K<strong>in</strong>dheit und Jugend <strong>in</strong> Russland und Polen 13<br />
Krupskajas Weg zum Marxismus und ihre Entscheidung<br />
für die <strong>Revolution</strong> 27<br />
Im Gefängnis und mit Len<strong>in</strong> <strong>in</strong> sibirischer Verbannung 41<br />
Krupskajas erste Emigration und die Schule <strong>der</strong><br />
russischen <strong>Revolution</strong> von 1905 53<br />
Krupskajas zweite Emigration und die Vorbereitung<br />
des Kampfes an <strong>der</strong> „Bildungsfront“ 72<br />
Ok<strong>to</strong>ber 1917 – „Im Rausche <strong>der</strong> großen proletarischen<br />
<strong>Revolution</strong>“ 97<br />
II. Im ersten Jahrzehnt des sozialistischen Aufbaus<br />
(1917–1928)<br />
Im Kommissariat für Volksbildung – Anfang mit<br />
Modellcharakter 117<br />
Im Kommissariat für Volksbildung – Fortsetzung mit<br />
Rückschlägen 138<br />
Krupskajas Wirken unter Frauen, K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen 165<br />
Len<strong>in</strong>s Krankheit und Tod sowie <strong>der</strong> Streit um se<strong>in</strong><br />
Vermächtnis 176
Im S<strong>in</strong>ne Len<strong>in</strong>s – Krupskajas Erziehungsarbeit unter<br />
Arbeitern und auf dem Lande 199<br />
Krupskajas kurze Oppositionsphase und ihre Wahl<br />
<strong>in</strong>s Zentralkomitee <strong>der</strong> KPdSU(B) 214<br />
Krupskajas Wirken unter <strong>in</strong>ternationalen Besuchern und<br />
sowjetrussischen Pädagogen 227<br />
III. Im zweiten Jahrzehnt des sozialistischen Aufbaus<br />
(1928–1939)<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Kolchos und Kulaken – Krupskajas<br />
Erziehungskonzepte, unerschrockene Kritiken und<br />
Proteste 241<br />
Krupskajas langer Kampf um die polytechnische Schule und<br />
<strong>der</strong>en vorläufiges Ende 265<br />
Konstruktiv und kritisch – Krupskajas Erziehungsarbeit <strong>in</strong><br />
Moskauer Modellschulen 287<br />
An Clara Zetk<strong>in</strong>s Seite gegen die deutschen Faschisten und<br />
Krupskajas Verteidigung <strong>der</strong> Moskauer Prozesse 301<br />
Frauen, Mütter und Familie – die konservative Wende <strong>in</strong><br />
Krupskajas Familienkonzeption 315<br />
„Pionierbriefe“ – Krupskajas Vermächtnis für die<br />
sozialistische Erziehung <strong>der</strong> Jüngsten 326<br />
Krupskajas Erkrankung und Tod sowie vielseitiges Gedenken<br />
an „Len<strong>in</strong>s Helfer<strong>in</strong>“ 339<br />
Für e<strong>in</strong>e Zukunft im Sozialismus. Lehren aus Krupskajas<br />
Leben und Kampf 347<br />
Anmerkungen 353<br />
Literatur 375<br />
Glossar 396
Leseprobe<br />
Teil II<br />
Im ersten Jahrzehnt des<br />
sozialistischen Aufbaus<br />
(1917–1928)<br />
Im Kommissariat für Volksbildung<br />
– Anfang mit Modellcharakter<br />
„Die Macht ergreifen“<br />
(1917–1920)<br />
Len<strong>in</strong>s AuftrAg<br />
„Die MAcht ergreifen“<br />
Ende 1917 g<strong>in</strong>gen Lunatscharski und Krupskaja an die Arbeit.<br />
Ihre erste Aktion bestand dar<strong>in</strong>, das Gebäude des alten<br />
Volksbildungsm<strong>in</strong>isteriums zu übernehmen. Krupskaja nannte<br />
dies: Wir haben „die Macht ergriffen“. 9 Vor dem Gebäude hatten<br />
Gegner <strong>der</strong> Bolschewiki Posten bezogen und versuchten<br />
nun alle Besucher vom Betreten des Gebäudes abzubr<strong>in</strong>gen.<br />
Weil Krupskaja, Lunatscharski und die kle<strong>in</strong>e Gruppe ihrer<br />
Gefährten ohne militärischen Schutz auftraten, um die Mit arbeiter<br />
des M<strong>in</strong>isteriums für sich zu gew<strong>in</strong>nen, wurden sie nicht<br />
gleich als neue Hausherren erkannt. Man rief ihnen zu, im<br />
...<br />
119
Hause werde nicht mehr gearbeitet, sie sollten wie<strong>der</strong> gehen.<br />
Doch ließen sie sich nicht beirren, verschafften sich Zugang<br />
zum Haus und organisierten e<strong>in</strong>e Versammlung. „<strong>Ich</strong> er<strong>in</strong>nere<br />
mich“, schrieb Krupskaja, „dass wir alle technischen Angestellten<br />
versammelten und Ana<strong>to</strong>li Wassiljewitsch (Lunatscharski –<br />
<strong>der</strong> Verf.) zu ihnen über die Volksbildung sprach und pr<strong>in</strong>zipielle,<br />
wichtige Fragen behandelte. Menschen, die jahrelang im<br />
M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung tätig <strong>war</strong>en, hörten zum ersten<br />
Mal, wie <strong>der</strong> Volkskommissar … sie als se<strong>in</strong>esgleichen behandelte<br />
und nicht die Obrigkeit hervorkehrte.“ 10<br />
Lunatscharkis Rede h<strong>in</strong>terließ bei allen Beschäftigten e<strong>in</strong>en<br />
tiefen E<strong>in</strong>druck. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Die Re<strong>in</strong>machefrauen,<br />
Boten und Haushandwerker brachen <strong>in</strong> HurraRufe<br />
aus. E<strong>in</strong> Vertreter <strong>der</strong> technischen Angestellten ergriff<br />
das Wort und versicherte, dass er und se<strong>in</strong>e Kollegen sich als<br />
Teil des Proletariats fühlten und bereit seien, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Arbeiterklasse<br />
hervorgegangenen neuen Obrigkeit nach Kräften zu<br />
dienen. 11 Die Beamten des Hauses dagegen ließen durch e<strong>in</strong>en<br />
Abgesandten ihre tiefe Verachtung gegenüber den „Ver<strong>der</strong>bern<br />
<strong>der</strong> glorreichen Februarrevolution“ übermitteln, die ihnen ihre<br />
gehobene Stellung gesichert hätte. 12 Für sie stand fest, dass <strong>der</strong><br />
„bolschewistische Spuk“ bald wie<strong>der</strong> verschw<strong>in</strong>den werde.<br />
War die Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Öffentlichkeit zunächst auf<br />
Lunatscharski gerichtet, so än<strong>der</strong>te sich das <strong>in</strong> dem Moment,<br />
als Krupskaja bei e<strong>in</strong>em Subbotnik, e<strong>in</strong>em freiwilligen Arbeitse<strong>in</strong>satz<br />
an e<strong>in</strong>em arbeitsfreien Samstag, die Fußböden des M<strong>in</strong>isteriums<br />
wischte. 13<br />
E<strong>in</strong>e stellvertretende Volkskommissar<strong>in</strong> mit <strong>der</strong> Scheuerbürste<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand passte ganz und gar nicht <strong>in</strong> das Bild<br />
von e<strong>in</strong>er „First Lady“, das die bürgerlichen Journalisten, die<br />
Krupskaja und Len<strong>in</strong> damals empf<strong>in</strong>gen, im Kopf hatten. Sie<br />
er<strong>war</strong>teten e<strong>in</strong>e Frau, über die sie Glanzvolles, m<strong>in</strong>destens aber<br />
120
Klatschereien schreiben konnten. Doch Krupskaja lieferte ihnen<br />
Derartiges nicht. Wenn Len<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>er Frau alle<strong>in</strong> <strong>war</strong>,<br />
zog er sie bisweilen mit dem Artikel e<strong>in</strong>es britischen Journalisten<br />
auf, <strong>der</strong> von „First Lady“ gesprochen hatte. 14 Ihre Zustimmung<br />
fand dagegen e<strong>in</strong> Artikel <strong>der</strong> amerikanischen Journalist<strong>in</strong><br />
Louise Bryant, die nicht „First Lady“ getitelt hatte, son<strong>der</strong>n:<br />
„First Woman of Russia“. 15 Nicht erste Dame, son<strong>der</strong>n erste<br />
und vorbildhafte Frau und Werktätige Sowjetrusslands – das<br />
wollte Krupskaja se<strong>in</strong>.<br />
Leseprobe<br />
Kampf dem Analphabetentum:<br />
E<strong>in</strong>e Köch<strong>in</strong> lernt lesen<br />
Getragen von e<strong>in</strong>em „ungeheuer weit gespannten schöpferischen<br />
Schwung“, wie Lunatscharski sich ausdrückte, g<strong>in</strong>g das<br />
Volksbildungskommissariat (das Narkompros) die großen Aufgaben<br />
an. 16 Krupskaja <strong>war</strong> bewusst, dass die Beseitigung des<br />
Analphabetentums, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> schlimmsten H<strong>in</strong>terlassenschaften<br />
des Zaren, e<strong>in</strong>e fundamentale Voraussetzung für den Aufbau<br />
des Sozialismus <strong>in</strong> Russland <strong>war</strong>. Damals konnten <strong>in</strong> Russland<br />
von 1000 Menschen nur 319 lesen und schreiben. Auf dem<br />
Lande und unter den Frauen <strong>war</strong>en es noch viel weniger. Sofort<br />
nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wurden die ersten dörflichen Lesehütten<br />
und Lesekurse für Erwachsene e<strong>in</strong>gerichtet. Doch das reichte<br />
nicht. Auf dem 1. Allrussischen Kongress für Bildungswesen<br />
im August 1918 verlangte Krupskaja, dass „das ganze Land mit<br />
e<strong>in</strong>em Netz von Elementarschulen für die erwachsenen Analphabeten<br />
und Halbanalphabeten bedeckt“ werden müsse und<br />
dass es im Lande „<strong>in</strong> kürzester Zeit“ ke<strong>in</strong>e Analphabeten mehr<br />
geben dürfe. 17 Lunatscharski hatte dabei an den Ok<strong>to</strong>ber 1927,<br />
den zehnten Jahrestag <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, gedacht. 18<br />
121
Die Aufrufe, lesen zu lernen, bewirkten e<strong>in</strong>e regelrechte Explosion<br />
des Bildungseifers <strong>der</strong> Werktätigen. Krupskaja verdeutlichte<br />
das am Beispiel von Annuschka, e<strong>in</strong>er Köch<strong>in</strong>. Dass sie<br />
gerade e<strong>in</strong>e Köch<strong>in</strong> herausgriff, <strong>war</strong> wohl ke<strong>in</strong> Zufall, denn Len<strong>in</strong><br />
hatte gefor<strong>der</strong>t: „Die Köch<strong>in</strong> lernt den Staat regieren.“ Annuschka<br />
<strong>war</strong> erst vor kurzem aus dem Dorf <strong>in</strong> die Stadt gekommen.<br />
Früher hatte sie, wenn sie gedrängt worden <strong>war</strong>, <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>en Lesekurs zu gehen, geantwortet: „Wozu muss ich lesen<br />
und schreiben können? Wenn ich nur me<strong>in</strong> Handwerk verstehe!<br />
Me<strong>in</strong> Vater <strong>war</strong> auch Analphabet, und was für e<strong>in</strong> Arbeiter<br />
<strong>war</strong> das! Alle achteten ihn. Auch ich verstehe me<strong>in</strong>e Arbeit, ernähre<br />
me<strong>in</strong>e Familie, aber lesen und schreiben – wozu?“ Jetzt<br />
aber lernte Annuschka lesen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Küche und an<strong>der</strong>swo. Von<br />
Zeit zu Zeit, berichtete Krupskaja, ließ sie ihren Herd im Stich<br />
und <strong>war</strong>f e<strong>in</strong>en erbosten und verzweifelten Blick <strong>in</strong> die Fibel.<br />
„‚<strong>Ich</strong> Bauerntr<strong>in</strong>e, schon wie<strong>der</strong> alles vergessen!‘ schimpft sie<br />
mit sich selbst. Fragt man sie, <strong>war</strong>um sie lesen und schreiben<br />
lernt, wird sie es sicher nicht sagen können, aber <strong>der</strong> Wunsch,<br />
sich Bildung anzueignen, bricht spontan hervor und erfüllt ihr<br />
ganzes Wesen.“ 19<br />
Auf dem I. Kongress für außerschulische Bildung im Mai<br />
1919 wurde gegen „zahlreiche Vorurteile“, wie Krupskaja bilanzierte,<br />
e<strong>in</strong>e tief greifende Än<strong>der</strong>ung des bisherigen Kurses<br />
beschlossen: Statt an beliebigen Inhalten lesen zu lehren, sollte<br />
die Alphabetisierung <strong>in</strong> Zukunft mit politischer Aufklärung<br />
verbunden werden. 20 Dazu sollten entsprechend gestaltete Fibeln<br />
e<strong>in</strong>gesetzt werden. Krupskaja <strong>war</strong> überzeugt: „Wenn <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Fibel über den Krieg, die sowjetische Verfassung, die <strong>Revolution</strong>,<br />
den K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten, die Geme<strong>in</strong>schaftskant<strong>in</strong>e usw. zu<br />
lesen se<strong>in</strong> wird, dann wird das Interesse e<strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>es se<strong>in</strong>;<br />
wenn <strong>der</strong> Lehrer unmittelbar nach <strong>der</strong> Fibel zur Lektüre populärer<br />
Zeitungen und Broschüren übergeht, wird auch das Interesse<br />
am Buch und an <strong>der</strong> Zeitung e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es werden.“ 21<br />
122
Nach e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahren des Kampfes gegen das Analphabetentum<br />
zog Krupskaja im Mai 1919 e<strong>in</strong>e erste positive Zwischenbilanz.<br />
Nicht nur <strong>in</strong> den Städten, son<strong>der</strong>n auch auf dem<br />
Lande hatten mutige Aktivisten Millionen Analphabeten den<br />
ersten Satz aus <strong>der</strong> neuen Fibel beigebracht: „Wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e<br />
Sklaven, ne<strong>in</strong>, Sklaven s<strong>in</strong>d wir nicht!“ Mit <strong>der</strong> Fähigkeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Zeitung lesen und m<strong>in</strong>destens den eigenen Namen schreiben<br />
zu können, stieg bei vielen Menschen das Selbstbewusstse<strong>in</strong>.<br />
Doch zeigte sich gleichzeitig, dass die Verb<strong>in</strong>dung von Alphabetisierung<br />
und politischer Werbung auch Probleme auf<strong>war</strong>f.<br />
Gläubige Bauern mieden die Lesekurse, weil sie ihnen zu eng<br />
mit <strong>der</strong> „GottlosenPropaganda“ verbunden <strong>war</strong>en. Die Kirchen<br />
nutzten den BauernProtest zur Gegenpropaganda.<br />
Leseprobe<br />
Krupskaja half den Aktivisten <strong>der</strong> Alphabetisierung mit Rat<br />
und Tat. Sie besichtigte so genannte Liquidationspunkte, Lesehütten<br />
und Dorfbibliotheken und machte sich tiefgehend mit<br />
<strong>der</strong> Denkweise <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Menschen vertraut. Doch auch<br />
von den Besuchern, die <strong>in</strong>s Narkompros kamen, um mit ihr zu<br />
reden, lernte sie viel. E<strong>in</strong>mal kam e<strong>in</strong> Bauarbeiter, e<strong>in</strong> früherer<br />
Bauer, um Bücher und Anschauungsmaterial für die AnalphabetenKurse<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Dorf abzuholen. „Wir schickten ihn zu<br />
Ana<strong>to</strong>li Wassiljewitsch (Lunatscharski – <strong>der</strong> Verf.)“, berichtete<br />
Krupskaja. „Er kam zurück und erzählte: ‚Er hat mich gut<br />
aufgenommen. Ließ mich auf dem Diwan sitzen, selbst aber<br />
g<strong>in</strong>g er auf und ab und sprach so gescheit. Er gab mir Bücher.<br />
Versprach mir auch noch ansehnliche D<strong>in</strong>ge. (Anschauungsmittel,<br />
N.K.) <strong>Ich</strong> aber fürchtete mich, sie zu nehmen. Er sagte<br />
z<strong>war</strong>, dass sie nichts kosteten, und doch habe ich Angst, man<br />
könnte nachher diese ansehnlichen D<strong>in</strong>ge mit Steuern belegen.‘<br />
Schließlich nahm er doch allerlei Lehrmittel und Plakate mit. Er<br />
ist noch so manches Mal zu uns <strong>in</strong> die Abteilung für Erwachsenenbildung<br />
gekommen. Wir gaben ihm den Spitznamen ‚ansehnliche<br />
D<strong>in</strong>ge‘.“ 22<br />
123
Arbeitergespräche<br />
Um die arbeitenden Menschen zu gew<strong>in</strong>nen, hatte Len<strong>in</strong> die<br />
Volkskommissariate angewiesen, enge Kontakte zu Arbeitern,<br />
Bauern und Soldaten <strong>der</strong> Roten Armee herzustellen und die<br />
Amtsstuben für Besucher offen zu halten. Dementsprechend<br />
wurden auch <strong>in</strong> Krupskajas Abteilung die Türen weit aufgemacht,<br />
die ihres Arbeitskab<strong>in</strong>etts e<strong>in</strong>geschlossen, und es kamen<br />
viele, sehr viele, wie sie sich er<strong>in</strong>nerte. „Hierher kamen Parteigenossen,<br />
um sich nach Iljitsch (Len<strong>in</strong> – <strong>der</strong> Verf.) zu erkundigen<br />
und von ihrer eigenen Arbeit zu berichten; Arbeiter holten<br />
sich Ratschläge, wie sie ihre propagandistische und agita<strong>to</strong>rische<br />
Arbeit besser gestalten könnten; Rotarmisten, rote Kommandeure,<br />
Arbeiter, die eng mit dem Dorf verbunden <strong>war</strong>en<br />
– sie alle fanden sich bei uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abteilung e<strong>in</strong>.“ 28 Sie betrachteten<br />
das Bildungskommissariat „als ihr eigenes, ihnen<br />
nahe stehendes Organ“, stellte Krupskaja voller S<strong>to</strong>lz fest. 29<br />
E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s positive Bilanz gab es bei den Arbeitern,<br />
die zu Krupskaja kamen und mit ihr sprachen. Erstaunt stellte<br />
manch e<strong>in</strong>er h<strong>in</strong>terher fest, dass die Frau <strong>in</strong> ihrem kle<strong>in</strong>en Kab<strong>in</strong>ett<br />
mit ihm e<strong>in</strong> „Arbeitergespräch“ geführt hatte, was so viel<br />
hieß wie, dass die Begegnung nichts Hierarchisches und Steifes<br />
hatte, son<strong>der</strong>n auf e<strong>in</strong>er gleichberechtigten Ebene stattgefunden<br />
und dass die Sorgen, For<strong>der</strong>ungen und Hoffnungen <strong>der</strong><br />
arbeitenden Menschen im Zentrum gestanden hatten. 30 Arbeitergespräche<br />
im Kommissariat für Bildung – konnte es e<strong>in</strong> klareres<br />
Zeichen <strong>der</strong> neuen Zeit geben?<br />
Die vielen Gespräche, die Krupskaja führte, machten sie<br />
unter den Werktätigen bald gut bekannt, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
nahm ihr ke<strong>in</strong>er die Arbeit ab und sie musste noch Stunden<br />
dranhängen. Immer öfter fragten sich ihre Kollegen, wann<br />
sie denn eigentlich schlafe. E<strong>in</strong>e junge Genoss<strong>in</strong>, die damals<br />
124
mit ihr an <strong>der</strong> PädagogikBeilage <strong>der</strong> Regierungszeitung arbeitete,<br />
berichtete, dass Krupskaja und sie das Amt oft erst spät<br />
abends verlassen hatten und dass diese dennoch am nächsten<br />
Morgen pünktlich <strong>in</strong> ihrem Büro <strong>war</strong> und, damit nicht genug,<br />
fünf kle<strong>in</strong>e Artikel aus ihrer Mappe gezogen habe. „<strong>Ich</strong> wollte<br />
me<strong>in</strong>en Augen nicht trauen“, notierte sie <strong>in</strong> ihren Er<strong>in</strong>nerungen.<br />
„Wann hatte sie denn das alles geschrieben? Es stellte<br />
sich heraus, dass Nadeshda Konstant<strong>in</strong>owna um fünf Uhr<br />
morgens aufstand und schrieb, bis sie <strong>in</strong>s Volkskommissariat<br />
für Bildungswesen g<strong>in</strong>g.“ 31 Dieser Eifer, diese Tatkraft, diese<br />
Diszipl<strong>in</strong> <strong>war</strong>en genauso wie ihre <strong>in</strong>zwischen gereifte politische<br />
Klarheit die Voraussetzungen dafür, dass sie ihre großen Aufgaben<br />
erfolgreich bewältigen konnte.<br />
Leseprobe<br />
Anmerkungen zu Bildungsarbeit 1<br />
1 Krupskaja, Bd. 1, S. 172<br />
2 Len<strong>in</strong>, z. n. Au<strong>to</strong>renkollektiv, S. 156<br />
3 Figes, Tragödie, S. 733f.<br />
4 Krupskaja, Bd. 1, S. 172<br />
5 Len<strong>in</strong>, z. n. Au<strong>to</strong>renkollektiv, S. 153<br />
6 Krupskaja, Er<strong>in</strong>nerungen, 1959,<br />
S. 447<br />
7 Vgl. Anweiler, Schule, S. 89ff.<br />
8 Len<strong>in</strong> 27, S. 248<br />
9 Krupskaja, Er<strong>in</strong>nerungen, 1959,<br />
S. 466. Ähnlich verlief die Übernahme<br />
<strong>der</strong> Macht im M<strong>in</strong>isterium für<br />
staatliche Fürsorge, vgl. Kollontai,<br />
Leben, S. 435f.<br />
10 Krupskaja, Bd. 1, S. 420<br />
11 Lunatscharski, Schlaglichter, S. 166<br />
12 Lunatscharski, Schlaglichter, S. 166<br />
13 Vgl. Baumann, S. 36<br />
14 Vgl. McNeal, S. 183f.<br />
15 Bryant, S. 20<br />
16 Lunatscharski, Schlaglichter, S. 167<br />
17 Krupskaja, z. n. Anweiler, Schule,<br />
S. 212<br />
18 Vgl. Anweiler, Schule, S. 214<br />
19 Krupskaja, Bd. 4, S. 327<br />
20 Krupskaja, z. n. Anweiler, Schule, S.<br />
213<br />
21 Krupskaja, z. n. Anweiler, Schule,<br />
S. 213<br />
22 Krupskaja, Er<strong>in</strong>nerungen, 1959,<br />
S. 580<br />
28 Krupskaja, Er<strong>in</strong>nerungen, 1959,<br />
S. 576<br />
29 Krupskaja, Bd. 1, S. 421<br />
30 Vgl. Krupskaja, z. n. Bobrowskaja,<br />
Skizze, S. 9.<br />
31 Len<strong>in</strong>s Seite, S. 90<br />
125
V o l k e r H o f f m a n n<br />
Jg. 1943, lebt und wirkt als Antifaschist und<br />
Sozialist <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Er <strong>war</strong> Lehrer und Dozent<br />
an <strong>der</strong> Universität <strong>der</strong> Künste <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>.<br />
Neben künstlerischer Projektarbeit mit<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen entfaltete er e<strong>in</strong>e<br />
vielseitige Vortragstätigkeit zu Themen aus<br />
<strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Arbeiterbewegung und<br />
zum Sozialismus. Se<strong>in</strong>e bisher publizierten<br />
Biografien handeln von Menschen im<br />
antifaschistischen Wi<strong>der</strong>stand.<br />
2012: „Der unvollendete Wi<strong>der</strong>stand. Elisabeth Pungs, Hanno<br />
Günther und die Rütli-Gruppe“<br />
Mit <strong>der</strong> Krupskaja-Biografie knüpft <strong>der</strong> Au<strong>to</strong>r an se<strong>in</strong>e frühe<br />
Begeisterung für die sozialistische Pädagogik an.<br />
Fast 30 Jahre nach <strong>der</strong> bisher e<strong>in</strong>zigen deutschsprachigen<br />
Publikation zu Krupskaja liegt nun endlich e<strong>in</strong>e neue<br />
Biografie dieser vielfach unterschätzten Persönlichkeit<br />
<strong>der</strong> Zeitgeschichte vor. Sie zeigt Len<strong>in</strong>s Frau und Kampfgefährt<strong>in</strong><br />
als Vorbild für Menschen, die nach e<strong>in</strong>er besseren<br />
<strong>Welt</strong> suchen.<br />
ISBN 978-3-88021-393-7<br />
Volker Hoffmann