Haftungsrecht - Dr. Sebastian Kirsch (PDF) - Bildungswerk Irsee
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Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Haftungsfragen bei<br />
der Vermeidung oder<br />
Anwendung<br />
freiheitsentziehender<br />
Maßnahmen<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
1<br />
Testen wir mal Ihr<br />
Bauchgefühl !!!<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
2<br />
Fall 1: Scheiße gelaufen<br />
Bei einer 72-jährigen Bewohnerin einer Einrichtung mit Diabetes wurde die Amputation<br />
einer Zehe erforderlich. Die Bewohnerin war zuvor mobil und hatte keine sonstigen<br />
körperlichen Behinderungen. Für ihre finanziellen Angelegenheiten war aufgrund<br />
leichter Demenz der Sohn als Betreuer eingesetzt.<br />
Nach der Operation und Rückkehr in die Einrichtung hat die Patientin akut Durchfall<br />
bekommen. Zudem hatte sie schmerzen beim Gehen. Ein Bettgitter war nicht im<br />
Einsatz.<br />
Zwei Tage später stürzte die Bewohnerin nachts im Zimmer, als sie die Zimmertoilette<br />
aufsuchen wollte. Nach dem Verlassen des Bettes trat vor Erreichen der Toilette<br />
durchfälliger Stuhlgang ein. Die Patientin ist auf eigenem Stuhlgang ausgerutscht und<br />
hingefallen und zog sie sich eine Oberschenkelfraktur zu.<br />
Muss die Einrichtung haften, weil sie keine Vorsorge durch ein Bettgitter getroffen hatte<br />
?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
3<br />
von Fixierungen<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 1
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Fall 2: Sturz von der Bettkante<br />
Ein 72-jähriger dementer Heimbewohner war gesundheitlich schwer<br />
beeinträchtigt, unter anderem Zustand nach Schlaganfall mit Hemiparese<br />
rechts mit Zustand nach kürzlich eingetretenem Herzinfarkt.<br />
Während eines Umlagerungsvorgangs im Bett unterbrach die Pflegekraft in<br />
ihre Tätigkeit kurz und verließ den Raum um einer Plegeschülerin im<br />
Nachbarzimmer Anweisungen für ihre nächsten Tätigkeiten zu geben. In dieser<br />
Zeit stürzte der Patient aus unbekanntem Grund über die Bettkante auf den<br />
Fußboden und zog sich schwere Verletzungen zu.<br />
Haftung, wenn man nicht genau weiß, was im Raum genau passiert ist?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
4<br />
von Fixierungen<br />
Fall 3: Auf und nieder, immer wieder<br />
88-jährige Altenheimbewohnerin hatte über mehrere Jahre die Angewohnheit,<br />
sich aus ihrem Rollstuhl zu erheben, an dem davorstehenden Tisch festzuhalten,<br />
einige Zeit stehend zu verharren, um sich dann aus eigenem Antrieb oder vom<br />
Pflegepersonal aufgefordert und unterstützt wieder hinzusetzen.<br />
Am Unfalltag war Frau T. - in ihrem Rollstuhl sitzend - an einen Tisch im Speiseund<br />
Aufenthaltsraum des Altenheims geschoben worden. Gegen 17 Uhr erhob sie<br />
sich aus dem Rollstuhl, blieb mit dem Fuß am Tischbein hängen, stürzte zu<br />
Boden und zog sich Verletzungen zu.<br />
Hat das Verhalten Grundrechtsrelevanz ?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
5<br />
Ober sticht unter !!!<br />
Wann immer man Ihnen irgendeine haftungsrechtliche<br />
Entscheidung unter die Nase reibt, die mit dem nicht<br />
übereinstimmt, was Sie hier lernen, drei Kontrollfragen:<br />
1. Welches Gericht hat das entschieden ?<br />
2. Von wann ist die Entscheidung ?<br />
3. Geht es um bewusste Entscheidung gegen Fixierungen<br />
oder andere pflegerische Situationen ?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
6<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 2
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Warum ?<br />
Mittlerweile kann man sich auf eine klare Rechtsprechung<br />
berufen, da der BGH sich auf erstaunlich klare Grundsätze für<br />
Alten- und Pflegeheime bei der Entscheidung zur Nichtfixierung<br />
festgelegt hat.<br />
In zwei Entscheidungen vom 28.04.2005 und vom 14.07.2005, hat<br />
sich der BGH mit der Inanspruchnahme von Heimträgern durch<br />
Krankenkassen für die durch Stürze verursachten Kosten der<br />
Krankenbehandlung befasst.<br />
Seitdem herrscht Rechtssicherheit für das „Alltagsleben“ in<br />
Einrichtungen und die Fixierungsfrage.<br />
Diese Rechtsprechung betrifft nicht sonstige Fälle konkreter<br />
Pflegemaßnahmen wie z.B. wie viele Pfleger müssen beim<br />
begleiteten Toilettengang dabei sein ?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
7<br />
BGH-Entscheidung vom 28.04.2005<br />
Klägerin war die Krankenversicherung der 89 jährigen, unter<br />
Betreuung stehenden Frau W, die seit 4 Jahren in einem von der<br />
Beklagten betriebenen Pflegewohnheim lebte. Bereits 3 Jahre vor<br />
dem Einzug hatte sie bei einem Sturz eine Oberschenkelfraktur links<br />
erlitten, aufgrund deren ihr das Gehen fortan nur noch mit Gehstütze<br />
möglich war; kurz vor ihrer Aufnahme in das Heim hatte sie sich bei<br />
einem weiteren Sturz ein Schädel-Hirn- Trauma und im Jahr nach<br />
dem Einzug bei einem dritten Sturz ein weiteres Schädel-Hirn-<br />
Trauma zugezogen.<br />
Sie war hochgradig sehbehindert, zeitweise desorientiert und verwirrt;<br />
ihr Gang war sehr unsicher. Sie war der Pflegestufe III zugeordnet.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
8<br />
Neben ihrem Bett befand sich eine Klingel; außerdem konnte sie sich<br />
durch Rufe bemerkbar machen.<br />
Am 27.06.2001 fand gegen 13:00 Uhr die letzte Kontrolle statt. Die<br />
Bewohnerin lag zu dieser Zeit zur Mittagsruhe in ihrem Bett.<br />
Gegen 14:00 Uhr wurde die Bewohnerin in ihrem Zimmer vor dem Bett<br />
liegend aufgefunden. Sie hatte sich eine Oberschenkelhalsfraktur<br />
zugezogen.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
9<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 3
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Die klagende Krankenkasse war der Auffassung, dass der Unfall auf<br />
eine Verletzung von Pflichten aus dem Heimvertrag durch die Beklagte<br />
zurückzuführen sei.<br />
Sie lastete der Beklagten insbesondere an, sie habe es versäumt, die<br />
Bewohnerin im Bett zu fixieren, mindestens aber ein Bettgitter<br />
hochzufahren.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
10<br />
Der BGH verneint einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte.<br />
Allein aus dem Umstand, dass die Heimbewohnerin im Bereich des<br />
Pflegeheims der Beklagten gestürzt sei und sich dabei verletzt habe, könne<br />
nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals der<br />
Beklagten geschlossen werden.<br />
Das Pflegepersonal durfte auf eine Fixierung verzichten.<br />
Die von der Klägerin geforderten Sicherungsmaßnahmen (Hochziehen des<br />
Bettgitters, Fixierung im Bett) wären betreuungsgerichtlich<br />
genehmigungsbedürftig. Die Heimträgerin hatte nach Ansicht des BGH in<br />
diesem Fall keinen hinreichenden Anlass, von sich aus auf eine derartige<br />
Entscheidung des Vormundschaftsgerichts hinzuwirken.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
11<br />
Im konkreten Fall war ausreichend, dass es in Reichweite der Bewohnerin<br />
eine Klingel bereitgestellt war, mit der diese im Bedarfsfall Hilfe hätte<br />
herbeirufen können.<br />
Die Forderung, der Bewohnerin hätte jedes Mal beim Aufstehen<br />
unaufgefordert Hilfe geleistet werden müssen, würde auf eine lückenlose<br />
Überwachung durch die Mitarbeiter des Pflegeheims hinauslaufen und über<br />
das dem Pflegeheim wirtschaftlich Zumutbare hinausgehen.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
12<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 4
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
BGH-Entscheidung vom 14.07.2005<br />
Vom Nachtdienst des Pflegeheims wurden innerhalb eines Monats drei<br />
Stürze der Geschädigten jeweils nachts, jeweils vermutlich auf dem Weg zur<br />
Toilette, dokumentiert, die ohne schwerwiegende Folgen blieben. Das<br />
Pflegeheim wies die Bewohnerin auf die in ihrem Zimmer befindliche Klingel,<br />
wenn sie Hilfe benötigte. Das mehrfach geäußerte Angebot, zu ihrer<br />
Sicherheit in der Nacht das Bettgitter hochzuziehen, lehnte die Bewohnerin<br />
ab. Bei einem anschließenden Sturz erlitt sie schwere Verletzungen.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
13<br />
Der BGH betont die aus dem Heimvertrag erwachsenden Obhutspflichten zum<br />
Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Heimbewohner.<br />
Die Leistungserbringung des Einrichtungsträgers müsse sich gemäß Heimgesetz<br />
/SGB XI nach allgemein anerkanntem Stand medizinisch-pflegerischer<br />
Erkenntnisse richten.<br />
Aus den vorhergegangenen Stürzen ergebe sich ein besonderes Sturzrisiko,<br />
dem die Einrichtung in einer der Situation angepassten Weise nach allgemein<br />
anerkanntem Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse Rechnung zu tragen<br />
gehabt habe.<br />
Allein der Umstand, dass die Bewohnerin im Bereich des Pflegeheimes gestürzt<br />
ist und sich dabei verletzt hat, erlaube nicht den Schluss auf eine schuldhafte<br />
Pflichtverletzung des Pflegepersonals.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
14<br />
Der BGH verwies die Entscheidung zur weiteren Sachverhaltsaufklärung<br />
zurück.<br />
In dieem zweiten Urteil betonte der BGH das Selbstbestimmungsrecht des<br />
Pflegebedürftigen.<br />
Allerdings ist auch das Heim verpflichtet, alles ihm Mögliche zu<br />
unternehmen, um einen Sturz zu vermeiden – in dieser Hinsicht ist die<br />
Ausschöpfung von alternativen Maßnahmen zur Fixierung von besonderer<br />
Bedeutung.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
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<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 5
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
1. Spezielle Obhutspflichten aufgrund besonderer<br />
Gefahrenlage<br />
Eine zivilrechtliche Haftung kann sich ergeben<br />
-aus dem Heimvertrag oder<br />
- als gesetzliche („deliktische“ )Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB.<br />
Aufgrund der Heimverträge übernehmen die Träger spezielle<br />
Obhutspflichten. Sie müssen aber auch der allgemeinen<br />
Verkehrssicherungspflicht genügen.<br />
-Hilflosigkeit, Gebrechlichkeit, Verkehrsunsicherheit und Verwirrtheit<br />
des Bewohners schaffen eine besondere Gefahrenlage und müssen<br />
als Gefahrenquelle berücksichtigt werden.<br />
Das Heim- bzw. das Pflegepersonal hat grundsätzlich die Pflicht, die ihm<br />
anvertrauten Patienten vor Gesundheitsschädigungen zu bewahren.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
16<br />
2. Ausgestaltung der Pflichten nach dem anerkannten Stand fachlicher<br />
Kenntnisse<br />
Es besteht die Verpflichtung die Leistungen nach dem jeweils anerkannten Stand<br />
fachlicher Kenntnisse zu erbringen.<br />
Maßgeblich ist der „Expertenstandard Sturzprophylaxe", der den Stand<br />
pflegefachlicher Erkenntnisse darstellt.<br />
Merken Sie was ?<br />
<strong>Haftungsrecht</strong> bei Fixierungsverzicht ist ein Heimspiel für Sie !!!!<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
17<br />
[1]<br />
Die Maßstäbe sind sogar gesetzlich für die heimvertraglichen Pflichten der<br />
Pflegeheime niedergelegt und zwar in § 3 Abs. 2 Nr. 4 Gesetz zur Regelung der<br />
Pflege-, Betreuungs- und Wohnqualität im Alter und bei Behinderung (Pflegeund<br />
Wohnqualitätsgesetz –PfleWoqG), § 3 Abs. 1 HeimG, sowie § 11 Abs. 1<br />
Satz 1, 28 Abs. 3 SGB XI mit der Forderung die Pflegebedürftigen, die ihre<br />
Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten<br />
Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse zu pflegen, versorgen und<br />
zu betreuen..<br />
Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und<br />
aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu<br />
gewährleisten.<br />
Alle sinnvollen, möglichen.und zumutbaren Alternativen müssen in<br />
die Überlegungen einbezogen werden.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
18<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 6
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
3. Grenzen der Pflichten<br />
Geschuldet sind nur Maßnahmen, die in Pflegeheimen üblich, mit vernünftigem<br />
finanziellen und personellen Aufwand realisierbar und schließlich für<br />
Heimbewohner und Pflegepersonal zumutbar sind.<br />
Ein Streben nach absoluter Sicherheit lässt sich aber daraus nicht ableiten.<br />
Es geht vielmehr um eine Abwägung zwischen Sicherheit, sprich körperliche<br />
Unversehrtheit auf der einen und Menschenwürde, freie Entfaltung der<br />
Persönlichkeit, Fortbewegungsfreiheit auf der anderen Seite.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
19<br />
Das fordert eine gewissenhafte Güterabwägung zwischen Menschenwürde<br />
und Freiheitsrecht einerseits und Fürsorgepflicht andererseits.<br />
Die Rechtsprechung akzeptiert also, dass die Abwägung zwischen der<br />
Menschenwürde und dem Freiheitsrecht des alten und hilflosen Menschen und<br />
der Pflicht, sein Leben und seine Gesundheit zu schützen, sehr sorgfältiger<br />
Überlegung bedarf, wobei keine generelle Aussage getroffen werden kann,<br />
sondern immer die Umstände des Einzelfalles entscheidend sind.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
20<br />
4. Schuldhaftigkeit einer festgestellten Pflichtverletzung<br />
Und selbst wenn die Konzeption, wie man mit einer Fixierungsvermeidung und<br />
Alternativen umgehen will, pflegefachlich passt (Beispiel: Sensormatte und<br />
Aufstehhilfe) und im Einzelfall versagt (weil genau in diesem Moment eine<br />
Mitarbeiterin mit einem Notfalleinsatz, eine zweite mit Magen-DarmVirus<br />
selbst auf Toilette ist), stellt sich noch die Frage des Verschuldens .<br />
Wenn eine Pflichtverletzung nach allen diesen Kriterien festgestellt wird, dann<br />
hängt die Haftung auch noch zusätzlich davon ab, ob die Pflichtverletzung<br />
"schuldhaft“ erscheint oder nicht.<br />
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<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 7
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Dabei gibt die Rechtsprechung den Einrichtungen vier<br />
Trümpfe an die Hand:<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
22<br />
Trumpf 1:<br />
Beweislast<br />
Günstig für die Heimbetreiber ist, dass die Beweislast für eine objektive<br />
Pflichtverletzung grundsätzlich bei der Krankenkasse verbleibt, also<br />
demjenigen, der Ansprüche geltend macht.<br />
Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich der Sturz im Alltagsleben einer Einrichtung<br />
normalen, alltäglichen Gefahrenbereich ereignet hat, wie z.B. nachts beim<br />
unbeaufsichtigten Gang zur Toilette und nicht in Sondersituationen (Transport ins<br />
Krankenhaus).<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
23<br />
Es geht um die Beweislast für einen Pflichtenverstoß:<br />
was gehört zu der besonderen<br />
Pflegesituation im Heim ?<br />
Der Träger muss das Gegenteil<br />
nachweisen, wenn ...<br />
die konkrete Unfallsituation zu dem voll<br />
beherrschbaren Gefahrenbereich der<br />
Einrichtung gehört, wenn es um Risiken<br />
insbesondere aus dem<br />
Einrichtungsbetrieb geht, die von dem<br />
Träger und dem dort tätigen Personal<br />
voll beherrscht werden können.<br />
was gehört zum Leben, das zuhause<br />
genauso passiert und mit der<br />
Heimsituation nichts zu tun hat ?<br />
Für das Alltagsleben gilt<br />
normalerweise die<br />
Beweisregel des § 282 BGB:<br />
außerhalb dieser voll<br />
beherrschbaren Situationen<br />
muss der Bewohner/die<br />
Krankenkasse Fehler<br />
nachweisen.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
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von Fixierungen<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 8
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Wer muss was beweisen ? [ 1]<br />
objektiven Pflichtverstoß<br />
In der Regel:<br />
Kläger (z.B. der Verletzte, die<br />
Krankenkasse)<br />
Ausnahmsweise:<br />
Beweiserleichterung bei<br />
konkreter Gefahrensituation<br />
(Transport, pflegerischer<br />
Maßnahme)<br />
Verschulden<br />
Kausalzusammenhang<br />
zwischen objektiven<br />
Pflichtverstoß und Schaden<br />
Heim muss sich entlasten<br />
Gläubiger<br />
Beweiserleichterung bis hin zur<br />
Beweislastumkehr bei grober<br />
Verletzung von Berufspflichten<br />
[1] Vgl. OLG Saarbrücken, FamRZ 2008, 2197<br />
[2] BGH, BGHZ 163,53,56., OLG DüsseldorfBtPrax 2009, 250, Beweislastumkehr nur bei einer konkreten Gefahrensituation, die<br />
gesteigerte Obhutspflichten auslöst wie z.B. "Bewegungs- und Transportmaßnahmen" im Herrschaftsbereich eines Krankenhauses.<br />
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von Fixierungen<br />
Fall 1: Scheiße gelaufen<br />
Bei einer 72-jährigen Bewohnerin einer Einrichtung mit Diabetes wurde die Amputation<br />
einer Zehe erforderlich. Die Bewohnerin war zuvor mobil und hatte keine sonstigen<br />
körperlichen Behinderungen. Für ihre finanziellen Angelegenheiten war aufgrund<br />
leichter Demenz der Sohn als Betreuer eingesetzt.<br />
Nach der Operation und Rückkehr in die Einrichtung hat die Patientin akut Durchfall<br />
bekommen. Zudem hatte sie schmerzen beim Gehen. Ein Bettgitter war nicht im<br />
Einsatz.<br />
Zwei Tage später stürzte die Bewohnerin nachts im Zimmer, als sie die Zimmertoilette<br />
aufsuchen wollte. Nach dem Verlassen des Bettes trat vor Erreichen der Toilette<br />
durchfälliger Stuhlgang ein. Die Patientin ist auf eigenem Stuhlgang ausgerutscht und<br />
hingefallen und zog sie sich eine Oberschenkelfraktur zu.<br />
Muss die Einrichtung haften, weil sie keine Vorsorge durch ein Bettgitter getroffen hatte<br />
?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
26<br />
von Fixierungen<br />
Bei der Bewohnerin hatte es bis zum Sturzereignis keine Hinweise für eine<br />
besondere Sturzgefährdung gegeben, insbesondere nicht durch Einschränkung<br />
der Selbstkontrolle, Steh- und Gehinstabilität, Kreislaufsymptome.<br />
Der Sturz war nicht vorhersehbar. Besondere Schutzmaßnahmen, insbesondere<br />
das Anbringen von Bettgittern, wären sogar unzulässig, außer mit ihrer<br />
ausdrücklichen Einwilligung. Diese Maßnahmen stellen grundsätzlich einen<br />
Eingriff in die persönliche (Fortbewegungs-)Freiheit des Patienten dar. und<br />
setzen seine Einwilligung voraus. Eine solche lag hier nicht vor.<br />
Verletzungen der Sorgfaltspflicht waren nicht erkennbar.<br />
Schadenersatzansprüche ließen sich somit nicht begründen.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
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<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 9
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Fall 2: Sturz von der Bettkante<br />
Ein 72-jähriger dementer Heimbewohner war gesundheitlich schwer<br />
beeinträchtigt, unter anderem Zustand nach Schlaganfall mit Hemiparese<br />
rechts mit Zustand nach kürzlich eingetretenem Herzinfarkt.<br />
Während eines Umlagerungsvorgangs im Bett unterbrach die Pflegekraft in<br />
ihre Tätigkeit kurz und verließ den Raum um einer Plegeschülerin im<br />
Nachbarzimmer Anweisungen für ihre nächsten Tätigkeiten zu geben. In dieser<br />
Zeit stürzte der Patient aus unbekanntem Grund über die Bettkante auf den<br />
Fußboden und zog sich schwere Verletzungen zu.<br />
Haftung, wenn man nicht genau weiß, was im Raum genau passiert ist?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
28<br />
von Fixierungen<br />
Es bestand eine erhöhte Sturzgefahr, unter anderem wegen der<br />
eingeschränkten eigenen Lagekontrolle während der Umlagerung im Bett.<br />
Der Sturz hätte durch geeignete Maßnahmen, wie das Hochziehen des<br />
Bettgitters während der Umlagerung und anderer Lagerungshilfsmittel<br />
verhindert werden können.<br />
Daher hat sich in dem Sturz ein voll beherrschbares Risiko des<br />
Einrichtungsbetriebs verwirklicht. Die Haftung ist gegeben.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
29<br />
von Fixierungen<br />
Fall 3: Sturz am Gang – Variante 1<br />
Ein 85-jähriger dementer Mann geht unsicher.<br />
Die Risiken, die sich aus einem Sturz ergeben wurden gemeinsam mit dem<br />
Betreuer abgewogen, man kam gemeinsam mit dem Betreuer zum Ergebnis:<br />
Betreuer und Heim sprechen sich gegen Fixierungen aus, weil sie die Nachteile<br />
größer als die Vorteile ansehen. Er soll sich weiterhin alleine und selbstständig<br />
bewegen können. Dies soll durch regelmäßige Gymnastik gefördert werden.<br />
Wenn er alleine unterwegs ist, sollte darauf geachtet werden, dass keine<br />
Hindernisse im Weg stehen und der Handlauf als Hilfsmittel möglichst gut<br />
zugänglich ist. Allen Beteiligten ist klar, dass ein Risiko bleibt.<br />
Diese Empfehlungen werden vom Betreuer mitgetragen.<br />
Es kommt zum Sturz. Haftung ?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
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von Fixierungen<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 10
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Das selbständige Gehen im Haus gehört zum Alltagsleben.<br />
Man hat sich verantwortungsvoll mit der Frage auseinandergesetzt und die<br />
Risiken abgewogen. Die Krankenkasse müsste beweisen, dass ein Fehler in<br />
der konkreten Unfallsituation begangen wurde, der der Einrichtung zugerechnet<br />
werden muss.<br />
Diesen Beweis wird die Krankenkasse so gut wie nie antreten können.<br />
Zumal wenn die genauen Gründe, warum ein Mensch genau an diesem Tag<br />
zum Sturz gekommen ist meistens nicht vollständig klar sind, beispielsweise<br />
könnte er an diesem Tag einen zusätzlichen unvorhergesehenen Schwindel, ein<br />
Kreislaufproblem gehabt haben.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
31<br />
von Fixierungen<br />
Fall 3: Sturz am Gang - Variante zwei<br />
Ein 85-jähriger dementer Mann geht unsicher.<br />
Die Risiken, die sich aus einem Sturz ergeben wurden gemeinsam mit dem<br />
Betreuer abgewogen, man kam gemeinsam mit dem Betreuer zum Ergebnis:<br />
Betreuer und Heim sprechen sich gegen Fixierungen aus, Man möchte den<br />
alten Herrn so gut wie möglich weiterhin mobilisieren. Gleichzeitig wird für<br />
notwendig erachtet, dass er bei seinen wegen durch die Einrichtung immer von<br />
einer Pflegekraft begleitet wird. Ein selbstständiges Gehen ohne Begleitung ist<br />
nach den gemeinsamen Festlegungen mit dem Betreuer unbedingt zu<br />
vermeiden.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
32<br />
von Fixierungen<br />
Dementsprechend begleitet eines Nachmittags ein Pflegehelfer den Betroffenen<br />
auf dem Weg vom Zimmer zum Speisesaal. Unterwegs fällt dem Helfer ein, dass<br />
er die Stationzimmertür offen stehen hat lassen.<br />
Er bittet den alten Herrn, doch so lange zu warten, bis er zurückgekommen ist.<br />
Er geht zurück, schließt die Tür, und beobachtet aus der Ferne, dass der alte<br />
Herr bereits 5 m weitergegangen ist, ruft ihm zu, er soll doch stehen bleiben. Der<br />
alte Herr hört etwas, dreht sich um und stürzt in der <strong>Dr</strong>ehbewegung.<br />
Haftung ?<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
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von Fixierungen<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 11
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
Trumpf 2:<br />
Weiter Beurteilungsspielraum<br />
Der BGH ist schlau, und weiß, dass die jeweilig notwendige<br />
Prognoseentscheidung außerordentlich schwierig ist:<br />
Deswegen wird ein weiter Beurteilungsspielraum zugebilligt und zugleich die<br />
Möglichkeit - haftungsfrei - ein gewisses Risiko einzugehen.<br />
Solange die Entscheidung abwägend getroffen wurde, und sie sich im Rahmen<br />
des Vertretbaren hält zum Zeitpunkt der Entscheidung, wird sie nicht<br />
nachträglich, wegen eines von niemandem gewollten Unfalls, "mit dem Stempel<br />
der Pflichtwidrigkeit versehen werden" .<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
34<br />
Trumpf 3. Dokumentation ist die halbe Miete<br />
In einer Entscheidung vom 18.3.1996 hat der BGH die Pflicht zur Dokumentation<br />
allgemein auf pflegerische Tätigkeiten festgehalten verbunden mit dem Hinweis,<br />
dass fehlende Dokumentation ein Indiz für mangelhafte Pflege darstelle. Fehlen in<br />
den Aufzeichnungen insbesondere Feststellungen über erhebliche konkrete Gefahren<br />
(z.B. Dekubitus), so gilt das als Indiz dafür, dass die ernste Gefahr einer Entstehung<br />
nicht erkannt und auf Durchführung vorbeugender Maßnahmen nicht in<br />
ausreichendem Maße geachtet worden ist .<br />
Um es anders herum zu sagen: Gewissenhafte Dokumentation eines<br />
Entscheidungsprozesses über bewusste Nichtfixierung ist ein Indiz für<br />
gewisssenhafte Pflege. Enthalten die Aufzeichnungen insbesondere Feststellungen<br />
über erhebliche konkrete Gefahren und wie und aus welchen Gründen man damit<br />
umgeht, so ist das ein Indiz dafür, dass die Gefahr erkannt und auf Prüfung von<br />
Maßnahmen nicht ausreichend geachtet worden ist .<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
35<br />
von Fixierungen<br />
Trumpf 4: Selbstbestimmung<br />
Die Rechtsprechung misst der Selbstbestimmung einen überragenden<br />
Wert zu,<br />
d.h. halten Sie schriftlich fest,<br />
wenn der Bewohner deutlich macht, dass er die Fixierung ablehnt oder gar<br />
Anzeichen zeigt, darunter zu leiden.<br />
Und fragen Sie immer wieder nach bei ihm.<br />
Vor allem, solange er noch einwilligungsfähig ist.<br />
Aber insbesondere auch dann, wenn er nicht mehr einwilligungsfähig ist.<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
36<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 12
Haftungfragen bei Verzicht auf<br />
freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
27.02.2013<br />
27.02.2013 Haftungsfragen bei der Vermeidung<br />
von Fixierungen<br />
37<br />
<strong>Dr</strong>.<strong>Sebastian</strong> <strong>Kirsch</strong>, Richter am<br />
Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen 13