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2. Ausgabe Leselicht

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<strong>Leselicht</strong><br />

Literatur- und Kulturzeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle<br />

N°2 Dezember 2009<br />

Streng geheim!<br />

Die Kunst des Tagebuchschreibens<br />

Begegnungen in Russland<br />

Hinter den Kulissen der ULB<br />

Literaturkritik im Fernsehen


Inhalt<br />

Impressum<br />

Foto: Katharina Kraus<br />

Titelthema 6<br />

Streng geheim! –<br />

Die Kunst des Tagebuchschreibens<br />

Das Tagebucharchiv<br />

Literarisches Tagebuch am Beispiel Max Frischs<br />

Bloggen – ein öffentliches Tagebuch?<br />

3 Vorwort<br />

4 Reportage<br />

Das Alte Rathaus – Historische Reparatur<br />

oder Geschichtssklitterung?<br />

5 Reportage<br />

Der Lehrstuhl ruft!<br />

Meine Erfahrungen als HiWi und Tutor<br />

Chefredakteurin: Susanne Weigel<br />

Stellvertretende Chefredakteurin: Jana König<br />

Redaktion:<br />

Maria Altnau, Stefanie Demuth, Katharina Kraus,<br />

Christiane Rex, Diana Schlinke, Jenny Schröder, Sophia<br />

Stolzenburg<br />

weitere Autoren dieser <strong>Ausgabe</strong>:<br />

Juliane Heller, JANUS, Diana Lindner<br />

Bildnachweis Titelseite: Susanne Weigel<br />

Zeichnungen: Jana König<br />

Randbemalungen: Stephanie Anders (S. 3, 26), Jana<br />

König (S. 27)<br />

Layout: Christian Weicholdt, Susanne Weigel<br />

Technik und Internet-Auftritt: Andreas Drobisch<br />

Druck: flyeralarm.com<br />

Auflage: 1000 Stück<br />

Erscheinungsdatum: Mitte Dezember<br />

Kontakt: leselicht@gmx.de<br />

Internet-Auftritt: www.leselicht-halle.de<br />

Das nächste <strong>Leselicht</strong> erscheint im Sommersemester<br />

2010. Wir behalten uns das Recht vor, Leserbriefe sinnbewahrend<br />

zu kürzen und übernehmen keine Gewähr<br />

für eine Veröffentlichung eingesandter Texte.<br />

Geheimtipp 14<br />

Das Planetarium in Halle lädt ein<br />

Reportage 15<br />

Hinter den Kulissen der ULB<br />

11 Reportage<br />

Spielkinder! –<br />

Die Möglichkeiten von Online-Netzwerken<br />

12 Studenten gefragt:<br />

Schreibst du Tagebuch?<br />

Interview 16<br />

Herr Prof. Dr. Gerd Antos –<br />

„Chef“ der Germanistischen Sprachwissenschaft<br />

18 Reportage<br />

Literatur im TV<br />

Theater, Oper, Ballett 20<br />

Geschichte vom Soldaten / Carmina Burana (Oper)<br />

UNglaublich UNplugged (Circus Varieté)<br />

19 Musik<br />

Bodo Wartke<br />

22 Buch<br />

23 Interview<br />

Berufsperspektive für:<br />

für Sprechwissenschaftler<br />

Kurzgeschichte 26<br />

VerSuchung 27<br />

Rückseite<br />

Rätselraten unterm Weihnachtsbaum<br />

24 Unifern<br />

Begegnungen in Russland<br />

2


Liebe Leser,<br />

ohne mit einem Verweis aus der Redaktion drohen zu müssen, haben sich Maria<br />

und Jana ganz spontan und freiwillig dazu bereit erklärt, für das Titelbild im<br />

Tagebuch des jeweils anderen zu lesen. Mit farbenfrohen Schals, Mützen und<br />

Handschuhen ausgestattet verabredeten wir uns an einem grauen Novembertag<br />

zehn Uhr morgens auf der Peißnitz und suchten nach geeigneten Orten für unsere<br />

Überkreuzlesung. Zwei Stunden, drei Bänke und fast 100 Fotos später war das<br />

Fotoshooting für das Titelthema: „Tagebücher“ beendet und wir hatten nur noch<br />

die Qual der Wahl. Einige Bilder, die es nicht auf die Titelseite geschafft haben,<br />

aber die wir euch trotzdem nicht vorenthalten wollen, seht ihr auf dieser Seite.<br />

Doch auch im Heft gibt es weitere Glanzlichter zu entdecken: Unter anderem<br />

geht Sophia der Frage nach, ob das Alte Rathaus in Halle wieder aufgebaut werden<br />

sollte. Jenny blickt für euch im Planetarium von Halle in die Sterne, Diana gibt<br />

euch erhellende Einblicke ihrer Erfahrungen in Russland und Christiane hat sich<br />

für euch nächtelang vor den Fernseher gehockt und Literaturkritik-Sendungen<br />

ausgewertet. beleuchten<br />

Wie gewohnt befinden sich auch in unserer zweiten <strong>Ausgabe</strong> Rezensionen aus<br />

der Theater-, Buch- und Musikwelt. Wir bringen euch auf der Lyrikseite erneut in<br />

VerSuchung und um Weihnachten abwechslungsreich zu gestalten, haben wir<br />

zwei bekannte Weihnachtslieder textlich umdekoriert. Das Metrum wurde weitgehend<br />

beibehalten, so dass diese Versionen durchaus singbar sind. Zwei weitere<br />

veränderte Lieder für das alljährlich beliebte Familienweihnachtssingen findet ihr<br />

auf unserer Internetseite www.leselicht-halle.de.<br />

Das nächste <strong>Leselicht</strong>-Heft erscheint erst 2010 und auch nur, wenn uns hin und<br />

wieder neugierige und interessierte Studenten schreiben, die sich zum Beispiel<br />

als Fotograf, Journalist, Layouter oder Rätselerfinder ausprobieren möchten.<br />

Fühlt euch hiermit aufgefordert und meldet euch unter leselicht@gmx.de.<br />

Viel Freude beim „Studieren“ der <strong>Leselicht</strong><br />

wünscht Susanne Weigel<br />

3


Reportage<br />

Historische Reparatur oder Geschichtsklitterung?<br />

Zur Idee eines Wiederaufbaus des Alten Rathauses in Halle<br />

Stellt man sich in Halle auf den Marktplatz und fragt Passanten,<br />

was sie vom Wiederaufbau des Alten Rathauses halten, erntet<br />

man meist fragende Blicke. Was ist denn das Alte Rathaus? Wo<br />

steht es denn? Warum Wiederaufbau – wir haben doch ein Rathaus.<br />

Besser informierte Bürger dieser Stadt wissen, dass das Alte<br />

Rathaus bis zum Zweiten Weltkrieg auf dem Marktplatz stand<br />

und durch Bomben und den darauf folgenden vollständigen<br />

Abriss in den 50er Jahren buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht<br />

wurde. Der ehemalige Standort befindet sich in der Verlängerung<br />

des Kaufhofneubaus vor dem Ratshof. Dort ist heute<br />

eine kleine Gedenkplatte in den Boden eingelassen, die an die<br />

ehemalige Lage des Alten Rathauses erinnern soll. Über die äußere<br />

Form gibt ein kleines, feines Bronzemodell Aufschluss, das<br />

an der rechten vorderen Ecke des Ratshofes steht. Diese Erinnerung<br />

geht auf die Initiative des Kuratorium Altes Rathaus e.V. zurück.<br />

Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, über das Alte<br />

Rathaus zu informieren und sich dafür einzusetzen, dass es wieder<br />

aufgebaut wird.<br />

Bronzemodell des Alten Rathauses<br />

Foto: Katharina Kraus<br />

Der kleine Unterschied<br />

Das wäre allerdings ein Wahnsinnsprojekt. Der Verein und seine<br />

Befürworter argumentieren damit, dass ein Wiederaufbau des<br />

Alten Rathauses als wichtiges Zeichen für die Hallenser identitätsstiftend<br />

wirken und als Symbol weit über die Stadt- und<br />

Landesgrenzen hinaus Touristen anlocken würde. Außerdem soll<br />

sich Halle in die Reihe von Städten einfügen, die zentrale historische<br />

Gebäude wieder aufgebaut haben. Doch leider wird hier<br />

ein kleiner Unterschied übersehen: Dresden hat mit dem Wiederaufbau<br />

der Frauenkirche tatsächlich das Symbol der Stadt wieder<br />

hergestellt. Berlin hingegen betreibt mit dem Wiederaufbau des<br />

Stadtschlosses eine Geschichtsklitterung, wie sie im Buche steht.<br />

Leipzig ist diesem Schicksal gerade noch einmal entgangen, indem<br />

dort nach jahrelanger Diskussion entschieden wurde, die<br />

vom DDR-Regime gesprengte Paulinerkirche nicht originalgetreu<br />

wieder aufzubauen. Stattdessen wird nun am Neubau der<br />

Universität in moderner Form an die alte Fassade erinnert.<br />

Indem durch Gewalt und Dummheit zerstörte Gebäude originalgetreu<br />

wiederhergestellt werden, besteht die große Gefahr, einen<br />

Teil der Geschichte zu verfälschen, der zwar traurig ist, aber<br />

zu unserer Vergangenheit gehört. Diese Vergangenheit zu reparieren<br />

ist ohnehin nicht möglich. Aber sie kann durchaus sichtbar<br />

und vor allem nachvollziehbar gemacht werden. Wie wäre<br />

es denn mit der Variante, den Grundriss des Alten Rathauses auf<br />

dem Boden des Marktplatzes nachzuzeichnen? Vielleicht sogar<br />

aus Glas, damit die darunter liegenden, noch zum Teil erhaltenen<br />

Kellergewölbe sichtbar werden. Damit bliebe auch die schöne<br />

Großzügigkeit des Halleschen Marktplatzes gewahrt. Außerdem<br />

wäre dies ein durchaus realisierbares Unterfangen, das wesentlich<br />

weniger Geld verschlingen würde, als die vom geschätzten<br />

10 Millionen Euro für einen Wiederaufbau. Dafür wäre es sicherlich<br />

auch einfacher, Spenden zu finden – denn die öffentliche<br />

Hand kann das nicht leisten. Den Wiederaufbau des Alten Rathauses<br />

hat der Stadtrat deswegen längst als nicht realisierbar<br />

abgelehnt: Unnötig und nicht bezahlbar.<br />

Energie an der falschen Stelle verpulvert<br />

Überhaupt werden weitere Räumlichkeiten für die Stadtobrigkeit<br />

nicht benötigt. Diese haben in Ratshof und Stadthaus hinreichend<br />

Platz gefunden. Wofür also einen Neubau nutzen? Er<br />

könnte als Kunsthalle dienen – so ein Vorschlag des Vereins. Oder<br />

kleine Geschäfte und ein niveauvolles Restaurant beherbergen,<br />

um geeignete Sponsoren zu finden.<br />

Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass da Energie an der<br />

falschen Stelle verpulvert wird. Dabei existieren in Halle eine<br />

Menge Gebäude, die vom Verfall bedroht und dringend sanierungsbedürftig<br />

sind. Die meisten davon sind in Privatbesitz – an<br />

die kommt man nicht heran. Aber was ist z.B. mit der Neuen Residenz?<br />

Wie wäre es, sich um eine anständige Bebauung der unsäglichen<br />

Baulücke an der Spitze Gedanken zu machen? Selbst<br />

auf die Eigentümer der Gebäude, die akut vom Verfall bedroht<br />

sind, könnte man mit genügend öffentlichem Engagement<br />

Druck ausüben, sich um die Gebäude zu kümmern. Auch diese<br />

sind nämlich Symbole der Stadt, die aber – im Gegensatz zum Alten<br />

Rathaus – noch in ihrer Bausubstanz erhalten sind, wodurch<br />

eine Rettung realistisch ist.<br />

Für weitere Infos:<br />

Sophia Stolzenburg<br />

www.altes-rathaus-halle.de<br />

www.aki-halle.de<br />

4


Der Lehrstuhl ruft!<br />

Meine Erfahrungen als HiWi und Tutor<br />

Viele Studenten kennen das: Um sich den gewünschten Lebensstil<br />

leisten zu können, reichen BAföG und elterliche Unterstützung<br />

nicht aus – ein Nebenjob muss her. Dabei ist das Spektrum<br />

der Möglichkeiten breit, in einer Studentenstadt wie Halle haben<br />

sich viele Arbeitgeber auf die Flut potenzieller Teilzeitkräfte eingestellt.<br />

Doch auch die Uni bietet Arbeitsplätze für ihre Studenten – an<br />

jedem Lehrstuhl arbeiten sie als Hilfskräfte. Dem einen oder anderen<br />

mag die Vorstellung nicht behagen, noch mehr Zeit in der<br />

Uni zu verbringen, doch die Vorteile liegen auf der Hand: Eine<br />

Beschäftigung hier macht sich nicht nur gut im Lebenslauf, sie<br />

bietet auch die Möglichkeit, ungezwungener in Kontakt und Gespräch<br />

mit Dozenten zu kommen. Ganz abgesehen davon eröffnet<br />

sich hier ein spannender Einblick in den wissenschaftlichen<br />

Betrieb, der rund um<br />

die Uni fluktuiert.<br />

Hilfskraft zu werden<br />

ist grundsätzlich ab<br />

dem vierten Fachsemester<br />

möglich. Aber<br />

wie kommt man an so<br />

eine Stelle? Man kann<br />

sich natürlich konkret<br />

darum bemühen, sich<br />

umhören oder Dozenten<br />

direkt ansprechen.<br />

Wichtiger aber<br />

So hektisch kann es zugehen...<br />

ist etwas anderes: Im Unterschied zu den meisten Arbeitgebern<br />

haben die Hochschulmitarbeiter ihre potenziellen Angestellten<br />

im Seminaralltag öfter mal vor Augen, ob Engagement im Seminar<br />

vorhanden ist und wie sorgfältig Hausarbeiten geschrieben<br />

werden. Aus diesem Grund gehen Dozenten oft von sich aus auf<br />

die Studenten ihrer Wahl zu, um ein Stellenangebot zu offerieren.<br />

So war es auch in meinem Fall – ich wurde direkt gefragt, ob<br />

ich Hilfskraft werden wolle. Einmal in den ‚Fängen’ des Lehrstuhls<br />

ging es umgehend weiter; ich bekam eine Mail etwa folgenden<br />

Inhalts: „Mir wurde gesagt, dass Sie gesagt haben, Sie würden<br />

sehr gern eine Tutorenstelle übernehmen. Wir würden jetzt gern<br />

auf Sie zurückkommen.“ Nun, so etwas hatte ich nie geäußert,<br />

aber warum sollte ich mir diese Chance auf eine neue Erfahrung<br />

entgehen lassen?<br />

Wer als Student am Institut arbeiten möchte, sollte also im universitären<br />

Alltag positiv auf sich aufmerksam machen. Die Bezahlung<br />

ist akzeptabel; der Stundenlohn liegt ab 2010 knapp über<br />

acht Euro. Wie viele Stunden der Arbeitsvertrag umfasst, ist je<br />

nach Dozent verschieden.<br />

Das Aufgabenfeld für eine studentische Hilfskraft bewegt sich<br />

hauptsächlich im Bereich „Zuarbeit“: Handapparate betreuen,<br />

Literatur besorgen, für die Forschungsarbeit recherchieren, Seminarmaterial<br />

erstellen und so weiter.<br />

Während ich diesen Beitrag schreibe suche ich beispielsweise<br />

gerade nach notwendigen Aktualisierungen für Lexikonartikel,<br />

die meine Chefin betreut. Mitunter ist man auch einfach Gesprächspartner<br />

und helfende Hand, wenn das Büro ein bisschen<br />

ordentlicher werden muss. Allerdings sollte man bedenken, dass<br />

das Aufgabenspektrum und die entsprechend nötigen Anforderungen<br />

von Lehrstuhl zu Lehrstuhl variieren können.<br />

Die Arbeit des Tutors – in meinem Falle zum Einführungsmodul<br />

„Germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft im europäischen<br />

Kontext“ – ist insgesamt anspruchsvoller und beinhaltet<br />

mehr Verantwortung, denn hier übernimmt man die Betreuung<br />

von diversen Erstsemesterstudenten, die sich Hilfe für ihren Studienanfang<br />

erhoffen. Ihnen soll das methodische Handwerkszeug<br />

mitgegeben werden, das sie für einen reibungslosen Studienverlauf<br />

brauchen.<br />

Dies umfasst Literaturrecherche,<br />

den effektiven<br />

und ergiebigen<br />

Umgang mit Texten, das<br />

mündliche Agieren im<br />

Seminar, also Referate<br />

und Diskussionen, sowie<br />

... muss es aber nicht.<br />

Hausarbeiten, Klausurvorbereitung<br />

usw. Man<br />

sollte in diesen Gebieten<br />

also hinreichend versiert<br />

oder zumindest bereit sein, sich das nötige Wissen anzueignen.<br />

Schwer zu sagen, was den idealen Tutor ausmacht. Bei meinem<br />

eigenen Tutor vermisste ich seinerzeit das Engagement, sich<br />

wirklich mit den Problemen und Unsicherheiten von Studienanfängern<br />

auseinanderzusetzen. Deswegen denke ich, dass eben<br />

diese Bereitschaft, den Erstsemestern tatsächlich helfen zu wollen,<br />

eine Grundvoraussetzung für einen guten Tutor ist. Didaktiker<br />

sind hier sicherlich im Vorteil, das ist aber keine zwingende<br />

Voraussetzung.<br />

Doch auch der engagierteste Tutor muss anständig bezahlt werden,<br />

deswegen bleibt zu hoffen, dass sich Unstimmigkeiten, wie<br />

sie die Vorbereitungen für dieses Semester im Germanistischen<br />

Institut überschattet haben, nicht wiederholen.<br />

Insgesamt ein spannendes Arbeitsfeld bei dem man – egal ob direkt<br />

am Lehrstuhl oder im Tutorium mit den Studenten – selbst<br />

noch einiges lernen kann.<br />

Jana König<br />

5


Titelthema<br />

Streng geheim!<br />

Über die Kunst des Tagebuchschreibens und des Tagebuchvernichtens<br />

Viele Menschen führen ein Tagebuch, manche lesen heimlich in<br />

dem der Schwester, andere zählen sich zu absoluten Tagebuchmuffeln<br />

und interessieren sich kein bisschen für diese Seiten voller<br />

Tinte, Fotos, großer Gefühle und geheimer Gedanken. Jene<br />

Muffel seien hiermit ausdrücklich gewarnt, denn auf den folgenden<br />

Seiten befinden sich real existierende Tagebuchauszüge, die<br />

nicht gelesen werden müssen…<br />

Liebe Kitty, Hallo, Liebes Tagebuch, Ist da wer? Ich bin’s. Ich bin’s<br />

schon wieder.<br />

Nicht immer muss ein Tagebucheintrag mit der gleichen Begrüßung<br />

beginnen. Der erste Satz kann genauso vielfältig sein<br />

wie bei einer Begegnung im Alltagsleben. Anne Frank wählte für<br />

ihr Tagebuch eine fiktive Freundin namens Kitty, andere setzen<br />

nur das Datum in eine Ecke und beginnen sofort zu erzählen, was<br />

der Tag Aufregendes, Lustiges, Schmerzhaftes, Langweiliges und<br />

ob er überhaupt etwas gebracht hat. Die Intentionen des regelmäßigen<br />

Schreibens können genauso verschieden sein: Der eine<br />

möchte seine Beobachtungsgabe schulen, ein anderer schreibt<br />

sich auf diese Art Erlebnisse von der Seele oder notiert Träume,<br />

um sie später zu deuten. In einem Tagebuch kann der Schreiber<br />

aber auch das eigene Leben für sich selbst, die Kinder oder Enkelkinder<br />

festhalten.<br />

Manchen Tagebuchbesitzern reicht das Schriftliche nicht aus; sie<br />

kleben Eintrittskarten auf die Seiten, getrocknete Blumen aus<br />

dem letzten Urlaub, Blätter der Lieblingspflanze, die während des<br />

Urlaubs zu Hause eingegangen ist, Zettelchen, die im Unterricht<br />

durch die Bankreihen gereicht wurden, Ansichtskarten, Fotos<br />

und vieles mehr.<br />

Ich selbst habe ein Stück von einem Taschentuch in mein Tagebuch<br />

geklebt, nachdem zwei Freundinnen und ich im Kino James<br />

Camerons „Titanic“ gesehen hatten. Der Film gehörte damals zum<br />

Pflichtprogramm und das Schluchzen im Dunkeln war kaum zu<br />

umgehen. Doch dazu kam es nicht, denn als Leo Händchen haltend<br />

und zitternd mit Kate im eiskalten Wasser ums Überleben<br />

kämpfte, fiel uns eigenartigerweise der Witz über diesen stotternden<br />

Hühnerbauern ein, der vergeblich versucht, sein Vieh in<br />

den Verschlag zu treiben. Die Tränen stiegen uns in die Augen –<br />

allerdings vor Lachen. Daran muss ich immer denken, wenn ich<br />

den eingeklebten Zellstoffschnipsel sehe. Um den Abend wieder<br />

lebendig zu machen, brauche ich nicht ein einziges meiner niedergeschriebenen<br />

Worte zu lesen. Aber gäbe es das Taschentuch<br />

nicht, würde ich mich an diese Stunden meines Lebens vielleicht<br />

nicht mehr erinnern.<br />

Wahrheiten im Tagebuch<br />

Viele Geschehnisse können durch das Führen eines Tagebuches<br />

vor dem Vergessen bewahrt werden, aber längst nicht alle, sonst<br />

säßen wir ständig und überall mit Stift und Buch herum.<br />

Das Tagebuchschreiben habe ich trotzdem schnell aufgegeben,<br />

denn das tägliche Niederschreiben der Gedanken erforderte<br />

„Schreiben heißt: Sich selber lesen.“ Max Frisch<br />

Zeit und vor allem Disziplin. Von beidem fehlte mir immer etwas.<br />

Zudem ging es mir wie vielen anderen Tagebuchabbrechern:<br />

Regelmäßig etwas aufzuschreiben, was man schon erlebt hatte,<br />

war irgendwann zu viel der Wiederholung. Hinzu kam, dass ich<br />

langweilige Tage fantasievoll auszuschmücken begann. Wie viel<br />

Wahrheit steckt eigentlich in so einem Buch, wenn der Mensch<br />

von Natur aus 300 Mal am Tag lügt?<br />

„Man hält die Feder hin wie eine Nadel in der Erdbebenwarte,<br />

und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben, sondern wir werden<br />

geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen“, meint Max<br />

Frisch in seinem Tagebuch, das er von 1946-1949 führte (siehe<br />

auch S. 9).<br />

Wenn wir uns mit Stift an unser Tagebuch setzen, ist das<br />

Geschehene schon längst vorbei. Beabsichtigt oder nicht, Einzelheiten<br />

werden dann verändert, beschönigt oder weggelassen.<br />

Das ist bei schriftlichen Schilderungen nicht anders als bei mündlichen.<br />

Das Tagebuchschreiben ist also eine Kunst, die auf Dauer sehr<br />

anstrengend sein kann. Dabei gibt es Menschen, die schreiben<br />

sogar mehrere Bücher zu verschiedenen Themen. Neben Traumtagebuch,<br />

Wettertagebuch, Arbeitstagebuch und Reisetagebuch<br />

finden sich garantiert noch andere Tagebucharten (siehe Studenten<br />

gefragt S. 12). Verschiedene Tagebuchformen können<br />

durchaus die unterschiedlichen Seiten des Schreibers hervorheben;<br />

Seiten, die bei einem einzigen Tagebuch wohl weggefallen<br />

wären.<br />

Die Schriftstellerin Virginia Woolf machte sich auch Gedanken<br />

über das Buch, in welches Worte über ihr Leben fließen sollten:<br />

„Wie sollte mein Tagebuch aussehen? Locker verknüpft und doch<br />

nicht ungeordnet. So elastisch, dass es alles umspannt: Alles<br />

Erhabene, Leichte oder Schöne, das mir in den Sinn kommt. Ich<br />

möchte, dass es einem tiefen, alten Schreibtisch ähnlich ist oder<br />

einer geräumigen Schachtel, in die man eine Menge Krimskrams<br />

hineinwirft und den Überblick verliert.<br />

Foto. Susanne Weigel<br />

6


Nach ein oder zwei Jahren würde ich gern zurückkommen und<br />

entdecken, dass sich die Sammlung selbst geordnet, verfeinert<br />

und verbunden hat.“<br />

„Voll krass peinlich“<br />

Schreibfaulen, die das Experiment Tagebuch trotzdem wagen<br />

wollen, empfehle ich das Danketagebuch. Hierbei werden am<br />

Ende eines Tages fünf Dinge aufgeschrieben, für die der Schreiber<br />

in den letzten 24 Stunden dankbar gewesen ist. So kann man<br />

seinen Tag Revue passieren lassen und lernt auch noch die kleinen<br />

Dinge des Lebens zu schätzen, vor allem, wenn man nach<br />

zwei Stunden intensiven Nachdenkens immer noch bei Punkt<br />

drei festhängt.<br />

Vieles aus dem Leben eines Menschen bleibt verborgen, selbst<br />

wenn einiges davon in ein Büchlein gebannt wurde. Manche<br />

Geheimnisse sind mit einem Schloss verhängt, der Schlüssel<br />

mehr oder weniger gut versteckt, denn nicht alle Stunden aus<br />

dem Leben eines Menschen sind für die Augen anderer bestimmt.<br />

Da die meisten Tagebuchschreiber, vor allem weibliche, ihr Leben<br />

während der Jugendzeit festhalten und mit Vollendung ihrer<br />

Sturm- und Drangzeit oft nicht mehr nachvollziehen können,<br />

was sie alles angestellt haben und warum das auch noch alles<br />

aufgeschrieben werden musste, ist eine Sache ziemlich schnell<br />

klar: Das Tagebuch muss weg! Doch wie? Schreddern, in einen<br />

Eimer Kleber tauchen oder auf die letzte Seite schreiben „Ich distanziere<br />

mich“? Einige verstauen ihre Bücher in Kisten, andere<br />

blättern ab und zu kopfschüttelnd darin herum und finden ihre<br />

Erlebnisse und wie sie formuliert wurden „voll krass peinlich“.<br />

Manche Geschehnisse werden nicht besser, nur weil sie durch<br />

eine komplizierte Geheimschrift verschlüsselt wurden.<br />

Dabei sind Rechtschreibfehler und eigenartige Wortneuschöpfungen<br />

fast noch lesenswerter als die Tagebuchinhalte selbst. Ich<br />

finde es immer noch nur ein klitzekleines bisschen voll krass peinlich,<br />

dass ich nach einer Party bei Freunden erst 24 Uhr 30 nach<br />

Hause gekommen bin. Na und, Währungen ändern sich im Laufe<br />

des Tagebuchschreibens, warum nicht auch mal die Zeit?<br />

Trotzdem werden immer noch Jahr für Jahr sinnlos Tagebücher<br />

der Mülltonne übergeben, weil der Schreiber diverse Einträge<br />

für unzumutbar hält und die Seiten nicht einmal mehr sich selbst<br />

zum Lesen freigeben will. Diesen Menschen sei gesagt, dass es<br />

Postzusteller gibt, die Briefe nicht austeilen, sondern bei sich zu<br />

Hause horten. Deshalb verwette ich meinen Briefkastenschlüssel,<br />

dass es auch irgendwo einen Müllmann oder eine Müllfrau gibt,<br />

der oder die inzwischen eine stattliche Bibliothek der weggeworfenen<br />

Tagebücher bei sich zu Hause hat. Ich beantrage hiermit<br />

einen Leseausweis.<br />

Susanne Weigel<br />

Tagebuchauszug:<br />

6<br />

Anlässlich Trakls „Verfall“ Gespräch mit S. über die Möglichkeit eines Lebens bzw. irgendeiner Art von Weiterexistenz nach<br />

dem Tod (sicher auszuschließen ist es ja nicht).<br />

Ist es wirklich so abwegig, dass ich die Vorstellung erschreckend finde? Dass mein Bewusstsein nicht in absehbarer Zeit erlischt,<br />

sondern ewig (was auch immer das heißt) fortbestehen könnte… etwas Schlimmeres ist für mich kaum vorstellbar.<br />

Wird nicht Leben erst erträglich dadurch, dass es endlich ist? Dass egal welche Verletzungen wirr erlitten haben oder noch<br />

erleiden werden, diese eben nicht ewig sind? Glück wird nicht dadurch geschmälert, dass wir sterblich sind – es ist für den Augenblick,<br />

ist unmittelbar, wird vielleicht sogar intensiver dadurch. Was uns quält jedoch ist meist zäh und klebrig, verlässt<br />

uns nie ganz – der einzige Weg, jemals ganz davon freizukommen ist das Verschwinden dessen, wo- ran es klebt – unser<br />

Bewusstsein.<br />

Herbst 2007<br />

Tagebucharchiv<br />

Wo das Stöbern in fremden Tagebüchern erlaubt ist<br />

Schon vor vielen Jahrhunderten schrieben Menschen ihren Alltag<br />

sowie ihre Probleme in Tagebüchern nieder. Gedanken, die zwar<br />

höchst subjektiv sind, denen aber zugleich etwas Allgemeinmenschliches<br />

anhaftet. Das macht Tagebücher zu eindrucksvollen<br />

Zeugen der Alltags- und Gedankenwelten vergangener<br />

Zeiten. Um dieses Wissen auch für die Nachwelt zu konservieren,<br />

gründete Frauke von Troschke im Jahr 1998 das „Deutsche Tagebucharchiv“<br />

in Emmendingen (Baden-Württemberg).<br />

Jeder Interessierte kann sein Tagebuch, aber auch Briefe und<br />

Kalenderblätter, dort einsenden. Über 6000 Schriften von über<br />

2000 Autoren zählt das Archiv inzwischen, darunter auch richtige<br />

Antiquitäten, teilweise 200 Jahre alt. Genutzt wird das Tagebucharchiv<br />

weltweit von Wissenschaftlern, darunter viele Historiker<br />

und Literaturwissenschaftler. Zudem gibt es für interessierte Besucher<br />

auch öffentliche Führungen durch das Archiv.<br />

Weitere Informationen gibt es unter www.tagebucharchiv.de<br />

Jenny Schröder<br />

7


Titelthema<br />

Auszüge Schultagebuch:<br />

[…] Sprechen wir es aus wie es ist, ich fühle mich überfordert. Vielleicht wäre das mit etwas mehr Zeit nicht so, aber jetzt<br />

ist es so. Manchmal sind Schulsituationen aber auch so lächerlich, dass ich schon wieder heulen könnte. Wenn unsere<br />

Deutschlehrerin zum Beispiel auf das Klavier klopft und dabei einen Auszug aus „Antigone“ vorliest.<br />

„Na, könnt ihr es hören?“ fragt sie. Ja, Sie klopfen auf ein Klavier, denke ich mir. Aber nein, das ist natürlich nicht gemeint.<br />

„Könnt ihr den gleich bleibenden Rhythmus hören?“ Ein einheitliches Nicken in der Klasse. „Und, was bedeutet er?“ Wir<br />

müssen passen, sind aber total neugierig. „Er bedeutet Gefahr.“ Aha, denke ich mir, gleich bleibender Rhythmus bedeutet<br />

also Gefahr. Ich muss Grinsen und frage mich, ob Sophokles damals neben einem Klavier stand und klopfend überlegt<br />

hat, wie er in sein gerade erst begonnenes Stück die Gefahr einbauen könnte. Und plötzlich bemerkte er seine klopfende Faust<br />

auf dem Klavier. „Heureka (oder so ähnlich)“ rief er da und hatte damit den gleich bleibenden Rhythmus erfunden. Ganz<br />

unter uns gesagt, ich muss mir noch einmal stark überlegen, ob ich morgen wieder in die Schule gehe.<br />

29.09.03<br />

[…] In Mathe habe ich öfter nach draußen geguckt und dem Wind zugehört. Der ist frei, kann in die Klassenräume<br />

fliegen und wenn ihm die Luft zu stickig wird, verschwindet er wieder. Ich verschwinde auch, allerdings<br />

nur in Gedanken. Heute ist der B-Tag. Mit Blödsinn hat alles angefangen, dann bin ich in die Bibliothek geradelt,<br />

um mich mit Büchern über Bismarck einzudecken. Für diesen Geschichtsvortrag chtsvo<br />

habe ich mich freiwillig<br />

gemeldet, damit ich mich endlich mehr traue.<br />

1<strong>2.</strong>09.03<br />

Auszug Traumtagebuch:<br />

Bin mit drei Freunden in einer fremden Stadt. Vor uns ein Tunnel, durch den wir gehen müssen. Doch er<br />

ist ganz verschoben und zusammengedrückt, wie in einer Tropfsteinhöhle. Wir waten wie Enten hinunter<br />

und wieder hinauf. Dann kommen wir in eine Art Waldgebiet, dessen Wege sehr ausgeprägt sind. Dort<br />

sind drei, vier Treppen, die nach oben fahren auf einen riesigen Platz. Dort gibt es Außenschienen, die<br />

ringsherum führen und einen ganz modernen bunten Zug, der rings herumfährt. Es herrscht ein ohrenbetäubender<br />

Lärm. Wir sind an einem Abteil angelangt, sieht eher aus wie eine Gondel. Einer steigt ein,<br />

zwei von uns bleiben draußen und laufen schon weiter. Während der Außenzug immer weiter fährt, setzt<br />

sich nun eine Achterbahn in Bewegung und ich bin froh, dass ich dort nicht drin sitze.<br />

14.<strong>2.</strong>2000<br />

Auszüge Wolkentagebuch:<br />

Der Himmel zeigt sich mir in einem hellen Blau. Die Wolken sehen aus als hätte sie ein Maler ohne großartig zu<br />

überlegen auf das Blau gekleckst. Für die Wolke direkt über mir hat er viel Farbe genommen, aber anscheinend<br />

noch mehr Wasser[…]<br />

29.7.04<br />

Schräg rechts über mir strahlt die Sonne. Ich sitze auf einer Wiese im Park von Bad Dürrenberg. P., der auf dem<br />

Gehweg steht, meint, das wäre illegal. Ich bin also ein illegaler Wiesensitzer und beobachte, ohne jemanden zu<br />

fragen den Himmel. Während vor mir, hoch oben feldgroße Wolken thronen, schleicht sich von hinten ein grauer<br />

Wolkenriese an. Aber ich beachte ihn einfach nicht. Der Himmel ist blassblau und von Sonnenstrahlen durchflutet.<br />

Der graue Riese ist nun direkt über mir und nimmt die Sonne gefangen. Jetzt kann ich ihn nicht mehr ignorieren.<br />

Die Vögel im Käfig neben mir schreien ihn an. Aber was können Gefangene schon gegen einen grauen Riesen ausrichten?<br />

1.8.04<br />

8


„Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?“<br />

Das literarische Tagebuch am Beispiel von Max<br />

Frisch<br />

Was soll das sein, ein ‚literarisches Tagebuch’? Was unterscheidet<br />

es von den unzähligen privaten Tagebüchern, die nicht dieses<br />

Prädikat bekommen? Manfred Jurgensen meint in seiner Studie<br />

„Das fiktionale Ich“, die literarische Aussage „beginnt, wo sich das<br />

Individuum in reflektiver Absicht selbstdarstellerisch gegenübertritt“.<br />

Also ein Dialog mit sich selbst, der nicht nur wahrnimmt,<br />

sondern reflektiert, und darin sich selbst ganz bewusst gestaltet<br />

und präsentiert. Demnach ist ein fremder Rezipient schon mitgedacht,<br />

aus dem Tagebuch-Ich wird eine literarische Figur, ein Es.<br />

Man könnte sagen, es handelt sich um eine Mischform; die der<br />

Verarbeitung täglicher Ereignisse dienenden Notizen werden auf<br />

ein Publikum hin variiert. Die Inhalte können vielfältig sein: Gide<br />

etwa hielt das ihn umgebende Geistesleben fest, Kierkegaard<br />

übte sich in religiöser Erziehung seiner selbst und seiner Leser,<br />

Graf von Platen reflektierte über seine Dichtung und für Kafka<br />

war sein Tagebuch ein Halt, an dem er intensive Selbstexegese<br />

betrieb.<br />

Auch der 1991 verstorbene Schweizer Max Frisch schrieb und<br />

veröffentlichte Tagebücher, jeweils zusammenhängend für die<br />

Ein Fragebogen, aus dem auch der Titel dieses Artikels stammt,<br />

bildet den Auftakt des Tagebuchs. Hier tritt Frisch unmittelbar in<br />

den Dialog mit seinem Leser. Die Fragen beziehen sich auf unser<br />

Sozialverhalten; es geht um Glück und Hoffnung, die Ehe,<br />

Freundschaft, Humor oder das persönliche Verhältnis zu Geld.<br />

Nicht an jeder Frage bleibt man hängen, manche scheitern<br />

daran, dass Frisch ausschließlich an männliche Leser denkt, andere<br />

an bereits implizierten Antworten. Aber an einigen hat man<br />

zu knabbern, auch wenn man das Buch wieder aus der Hand<br />

legt.Ein sich durchziehendes Motiv ist die fiktive „Vereinigung<br />

Freitod“. In den fünf Jahren des Tagebuchs verfolgt sie Frisch<br />

von ihrer Gründung bis zur Fertigstellung eines „Handbuchs<br />

für Mitglieder“. Die Vereinigung hat sich dem Kampf gegen die<br />

Überalterung der Gesellschaft verschrieben; Mitgliedern, die Senilitätserscheinungen<br />

aufweisen, soll durch die Vereinigung die<br />

Empfehlung zum baldigen Freitod ausgesprochen werden. Doch<br />

was für den einzelnen gilt, macht auch vor der Gruppe nicht halt:<br />

Wenn sie wirklich da sind, will man die Zeichen des Verfalls nicht<br />

mehr wahrhaben. Einzig der Verfasser des Handbuchs bleibt der<br />

ursprünglichen Linie halbwegs treu. Im Handbuch führt er dezidiert<br />

Alterserscheinungen der „Gezeichneten“ und auch schon<br />

der „Vor-Gezeichneten“, also der Herren im sogenannten ‚besten<br />

Alter’, auf. Für beide Gruppen sind diese Aufzeichnungen wenig<br />

schmeichelhaft, doch für den Leser – gehöre er nun zu einer der<br />

beiden Gruppen oder (noch) nicht – umso amüsanter.<br />

Erinnerungen an Brecht<br />

Nicht jedes Tagebuch wird für die Schublade geschrieben<br />

Zeiträume 1946-49 und 1966-71. Im jüngeren reflektiert er über<br />

die Ambivalenz zwischen der privaten Form und der öffentlichen<br />

Präsentation: Verletzt er damit Persönlichkeitsrechte, wenn er<br />

über Personen seines privaten Umfelds spricht? Aber wenn er es<br />

nicht tut, verlagern sich unweigerlich Schwerpunkte: Die eigene<br />

Person wird omnipräsent, das Öffentliche überlagert das Private.<br />

Dennoch hat er sich für diesen Weg entschieden.<br />

Foto: Christian Weicholdt<br />

Vieles ist lesenswert an diesem Tagebuch: Die sehr persönlichen<br />

Erinnerungen an die Arbeit mit Brecht. Die Collagen, welche<br />

die Zeitungsberichterstattungen zu zeitpolitischen Themen mit<br />

Frischs Eindrücken kontrastieren und ad absurdum führen. Die<br />

Überlegungen, wie die Dramaturgie der Peripetie unsere Vorstellung<br />

von Lebenswirklichkeit prägt.<br />

All dies ist typisch Max Frisch und geht doch über seine sonstigen<br />

Werke hinaus. Es gelingt ihm, sich zumindest teilweise von seinem<br />

Lebensthema – dem Kampf gegen die Idee von Schicksalhaftigkeit<br />

und die Starre der Persönlichkeit – zu lösen und über<br />

seine Gegenwart zu reflektieren. Frischs Tagebuch ist Zeitdokument,<br />

Einblick in die Persönlichkeit eines Autors, Denkanstoß und<br />

literarisches Werk zugleich – eben ein ‚literarisches Tagebuch‘.<br />

Jana König<br />

Ein Fragebogen als Auftakt<br />

Frischs Tagebuch 1966-71 ist ein buntes Sammelsurium: Fragebögen<br />

und Verhöre finden sich neben literarischen Skizzen<br />

und theoretischen Überlegungen; Gedanken zu Ereignissen wie<br />

der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und den 68er Studentenrevolten<br />

neben Eindrücken einer Reise durch Russland.<br />

Durchgängig vermerkt ist nur die Jahreseinteilung, genaue Datumsangaben<br />

sind hingegen selten. Die Vielfalt der Ebenen wurde<br />

in verschiedene Schrifttypen übersetzt.<br />

9


Titelthema<br />

Bloggen – ein öffentliches Tagebuch?<br />

Eine moderne Form des Tagebuchschreibens ist das Führen eines<br />

Weblogs - ein Tagebuch im Internet. Kornelia Berger ist eine von<br />

vielen Bloggerinnen und Bloggern. Neben ihrem Blog unter<br />

www.gegenteiltag.de hat sie sich auch in ihrer Magisterarbeit<br />

diesem Thema gewidmet.<br />

Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Weblog zu führen?<br />

Auf das Phänomen des Bloggens bin ich eigentlich erst sehr spät<br />

und eher durch Zufall Ende 2006 aufmerksam geworden. Einigen<br />

meiner Bekannten war dieses Format bereits ein Begriff und mit<br />

der anfänglichen Frage nach der Motivation für das Schreiben<br />

online reifte in mir das Vorhaben, mich dem Thema in meiner<br />

Magisterarbeit zu widmen. Nach Führen des ersten Interviews<br />

mit einem Blogger beschloss ich, selbst Autorin eines Weblogs<br />

zu werden, da ich annahm, auf diese Weise einen besseren Eindruck<br />

der Szene von innen heraus gewinnen zu können. Es war<br />

schließlich der Zugang zu beiden Perspektiven (Rezipient/Produzent),<br />

der mich reizte.<br />

Was genau hast du in deiner Magisterarbeit untersucht und<br />

zu welchem Ergebnis bist du gekommen?<br />

In der Arbeit ging es mir darum, die deutschsprachige Blogosphäre<br />

als das vom Soziologen Anselm Strauss beschriebene<br />

Phänomen der „sozialen Welten“ zu analysieren. Dabei interessierten<br />

mich sowohl die unterschiedlichen Zugangsweisen und<br />

Formen von Karrieren verschiedener Sozialweltteilnehmer als<br />

auch die Dynamiken, welche die Autoren privater Online-Journale<br />

dazu bewegen, nicht nur zu kommen, sondern auch zu bleiben<br />

und eine Identität als Blogger auszubilden. Weiterhin waren<br />

die Organisation der sozialen Welt Blogosphäre, ihre Eigenschaften<br />

sowie die Beziehungen der einzelnen Akteure untereinander<br />

interessant und stellten ein lohnendes Forschungsfeld dar.<br />

Ist das Bloggen für dich wie Tagebuch Schreiben? Oder hast<br />

du zusätzlich ein privates Tagebuch?<br />

Ich habe erst nach Beendigung der Schule damit begonnen, regelmäßig<br />

Tagebuch zu führen. Ein Tagebuch zu schreiben ist für<br />

mich persönlich etwas, das im Privaten passieren sollte.<br />

Wenngleich das Schreiben in einem Tagebuch recht viel Zeit in<br />

Anspruch nimmt, so ist es doch – zumindest in meinem Fall –<br />

weitaus zeitaufwändiger, bestimmte Themen so aufzubereiten,<br />

dass ich mich online mit ihnen wohl fühle. Mit dem, was ich auf<br />

meinem Blog publiziere, möchte ich in erster Linie unterhalten.<br />

Dies geschieht auf multimediale Weise. Auch sehe ich mein Blog<br />

als eine Art Archiv, ähnlich einem Fotoalbum, das eine Zeitspanne<br />

meines Lebens umfasst und dessen Betrachtung auch viel später<br />

noch für Erheiterung sorgt. Ich denke, die meisten Menschen, die<br />

ihren Gedanken und Gefühlen auf Papier freien Lauf lassen, haben<br />

nicht vor, diese Inhalte jemals mit anderen zu teilen.<br />

Es gibt Parallelen zwischen dem Bloggen und Führen eines Tagebuchs,<br />

aber Motivation, Anspruch und Ausführung sind in meinem<br />

Fall völlig verschieden.<br />

Welche Themen sind für dein öffentliches Blog Tabu?<br />

Informationskontrolle ist ein wichtiges Thema. Ich überlege mir<br />

sehr genau, was ich auf welche Weise publiziere, um auch in 10<br />

Jahren noch damit leben zu können, denn das Internet vergisst<br />

nichts. Zu Beginn habe ich meine Person weitestgehend ausgeklammert.<br />

Später merkte ich, dass mir hin und wieder wichtig<br />

war, auch privatere Themen einzuflechten, was ich jedoch bis<br />

heute in kodierter Form handhabe. Die Deaktivierung der sonst<br />

wesentlichen Kommentarfunktion gehört in solchen Fällen<br />

ebenfalls dazu. Zwei Bereiche meines Lebens sind und bleiben<br />

weiterhin Tabu: meine Familie und der Job.<br />

Diana Schlinke<br />

Auszug Arbeitstagebuch:<br />

Keine Metroware, fast wie Urlaub. Habe am Anfang mit R. gearbeitet, das ist immer recht unkompliziert. Und dabei mochte<br />

ich sie am Anfang gar nicht. Heute habe ich J. widersprochen und dabei hatte er doch Recht. Zur Mittagspause wäre ich<br />

gern mit E. gegangen, aber ich musste da bleiben, weil R. zu einer Inventurbesprechung gehen sollte. Wenn sie dann in der<br />

Halle „Die 35 bitte in den Getränkemarkt“ durchgerufen haben, musste ich das Leergut herausfahren. Aber das ging ganz<br />

gut. Stapeln geht auch immer besser, aber Angst habe ich immer noch davor. Vorn in der Bierstrecke stinkt es immer häufiger<br />

nach faulen Eiern. Ich sag ja, das kommt von dieser komischen Abzugshaube darüber. Eine Leiche haben wir auch schon<br />

in Betracht gezogen[…].<br />

Dienstag, 25.7.2000<br />

10


Reportage<br />

Spielkinder!<br />

Ein Schlaglicht auf die Möglichkeiten von Online-Netzwerken<br />

Online-Netzwerke boomen derzeit. Sie sind ein Tummelplatz für<br />

Interaktion, lockere Bekanntschaften und die Aufrechterhaltung<br />

alter Freundschaften. Das Studentenportal studiVZ, das jüngst<br />

sein fünfzehnmillionstes Mitglied begrüßte, ist mittlerweile die<br />

größte Plattform ihrer Art in Deutschland. Vielfach werden Anonymität<br />

und Datenunsicherheit beklagt, doch bieten sich hier<br />

auch Chancen: Zum Beispiel die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu<br />

finden, denen man außerhalb des Internets nie begegnet wäre.<br />

So ein Glücksfall ist für ihre Mitglieder auch die Gruppe „Spielkinder!“.<br />

Ihre Wurzeln liegen in einer anderen Gruppe, die sich<br />

allgemein mit „Kinderkram“ beschäftigte. Weil dort aber viele lieber<br />

der Nostalgie ihrer Kindheitserinnerungen<br />

frönen<br />

wollten als wirklich zu spielen,<br />

wurde der Spieleecke<br />

ein eigenes Grüppchen eingerichtet.<br />

Weitere Mitglieder<br />

gesellten sich über den<br />

„Club der verrückt-fröhlichen<br />

Spinner“ hinzu. Ursprünglich<br />

noch eine unübersichtliche<br />

Massenveranstaltung wie<br />

die meisten Gruppen des<br />

studiVZ, kristallisierte sich<br />

bald ein harter Spielkinder-<br />

Kern heraus, der die Gruppenaktivität<br />

hoch hielt und im<br />

gemeinsamen Spielen und<br />

Plaudern immer enger zusammenrückte.<br />

Diese Nähe<br />

machte es irgendwann nötig, das Konzept offene Gruppe aufzugeben;<br />

wer nicht mitspielte, wurde rausgeworfen und bis heute<br />

gilt: Wer ein Spielkind werden will, der muss sich auch beteiligen!<br />

Schritte aus dem Netz in die Welt<br />

Seither ist die Atmosphäre deutlich intimer geworden: Ein kleiner<br />

Kreis Gleichgesinnter im regen Austausch miteinander. Neuzugänge<br />

stolpern eher durch die Bekanntschaft mit ‚alten’ Spielkindern<br />

in die Gruppe. Außerdem ist das Bedürfnis gewachsen, die<br />

entstandenen Spiel-Freundschaften auch in die nicht-virtuelle<br />

Welt auszudehnen. Ein erster Schritt in diese Richtung war ein<br />

gemeinsames, an getrennten Orten gebasteltes Hochzeitsgeschenk<br />

für eines der Mitglieder; ein „Wagnis“, wie Gruppengründerin<br />

Simone meint. Denn erstmals mussten Adressen preisgegeben<br />

und persönliche Schöpfungen ‚wildfremden’ Händen<br />

überlassen werden. Doch das Resultat machte Lust auf mehr:<br />

Inzwischen wird zu Weihnachten fleißig gewichtelt, familiärer<br />

Nachwuchs mit eigenen Fanclubs begrüßt und ein zweites, noch<br />

umfangreicheres Hochzeitsgeschenk machte sich auf die Reise.<br />

Einige Spielkinder haben sich sogar schon im echten Leben getroffen<br />

– ein Gefühl, als würde man alten Freunden wiederbegegnen,<br />

sagen sie.<br />

Gummipunkte als Belohnung<br />

Das Spielen steht natürlich immer noch im Vordergrund. Dabei<br />

reicht das Spektrum weit: Von simplen Kurzweil-Spielen wie<br />

„Wahrheit oder Lüge“ über verschiedene Quizvarianten bis hin<br />

zu Kreativspielen. Zu letzteren gehört zum Beispiel „Nobody is<br />

Perfect“: Der Spielleiter stellt eine Frage zu einem Sachverhalt<br />

und jeder denkt sich eine möglichst<br />

originelle und überzeugende Antwort<br />

aus. Anschließend werden<br />

alle Antworten inklusive der richtigen<br />

gepostet und es darf geraten<br />

werden, was tatsächlich stimmt.<br />

Besonderer Einfallsreichtum wird<br />

auch gerne mal mit Gummipunkten<br />

belohnt. Ein Beispiel für die<br />

Quiz-Spiele ist „Jeopardy“, jüngst<br />

moderiert vom bärigen Quizmaster<br />

Hubert Petz. Ganz neu im Repertoire:<br />

„Klau den Punkt“, den dein<br />

Vorschreiber möglichst originell<br />

und unauffindbar versteckt hat. Weil<br />

in dieser Gruppe immer Bewegung<br />

ist, bringt sie es inzwischen auf weit<br />

über 100.000 Forumseinträge.<br />

Mittlerweile ist die Gruppe „wie ein<br />

gemütliches Wohnzimmer, in das man sich reinsetzen und wohlfühlen<br />

kann“, sagt Spielkind Gisela. Die Gruppenmitglieder helfen<br />

einander, wenn das Examen zum bedrohlichen Ungeheuer<br />

wird oder der Arbeitgeber nervt, geben Geborgenheit, reichen<br />

Decken und Kekse, und freuen sich über jeden Erfolg mit. Auch<br />

wer länger nicht vorbei schauen konnte, wird mit offenen Armen<br />

empfangen.<br />

Natürlich fehlt der persönliche Kontakt, die Spielkinder haben miteinander<br />

eher eine „Fernbeziehung“, meint Misone. Und manchmal<br />

ist man nicht sicher, ob im schriftlichen Gespräch alles richtig<br />

verstanden wird, manches lässt sich auch gar nicht ausdrücken.<br />

Aber die fehlende räumliche Nähe wird durch die geistige ausgeglichen,<br />

was man nicht zuletzt am kindlichen Umgangston<br />

merkt. Über vieles kann man auch offener reden als in seinem<br />

alltäglichen Umfeld, wo viele andere Faktoren ein Gespräch vielleicht<br />

verhindern.<br />

Ein echtes Spielkindertreffen steht ganz oben auf der Wunschliste<br />

der Mitglieder – mindestens ein Wochenende müsste es lang<br />

sein, mit Kamin, echten warmen Decken, Keksen und Kakao für<br />

alle, mit Spielen und Gesprächen und jeder Menge Spaß.<br />

Jana König<br />

11


Studenten gefragt:<br />

Schreibst du Tagebuch?<br />

An diesem grauen Herbsttag haben sich nur wenige Studenten auf den Uniplatz gewagt. Umso erfreulicher, dass von ihnen einige so<br />

aufgeschlossen waren, unsere Fragen zum Thema „Tagebuch“ zu beantworten.<br />

Trotz Nieselregen konnten uns die Studenten mit ihren Erfahrungen derart fesseln, dass wir mehr Fragen stellten, als auf unserem Zettel standen.<br />

Die Gesprächsbereitschaft hat uns gezeigt, dass es schön ist, Tagebücher heimlich zu führen, aber es genauso gewinnbringend sein kann,<br />

über diese geheimen Seiten auch zu sprechen.<br />

Interview: Jenny Schröder, Susanne Weigel<br />

Schreibt ihr Tagebuch?<br />

Henning: Nein, ich schreibe kein Tagebuch und habe es auch<br />

noch nie getan. Zum einen fehlt mir die Zeit dazu und zum anderen<br />

halte ich es auch eher für unnötig.<br />

Christian: Dem kann ich mich nur anschließen. Ich hatte auch nie<br />

das Bedürfnis, Tagebuch zu schreiben. Selbst in ganz schlechten<br />

Zeiten habe ich lieber mit meinen Freunden geredet, als meine<br />

Probleme aufzuschreiben.<br />

Isabelle: Kunstgeschichte<br />

Schreibst du Tagebuch?<br />

Früher habe ich immer wieder mal versucht, Tagebuch zu schreiben.<br />

Lange habe ich es aber nie durchgehalten. Mittlerweile habe<br />

ich auch alle Tagebücher weggeschmissen und würde auch nicht<br />

auf die Idee kommen, mir die Bücher noch mal durchzulesen.<br />

Glaubst du, das Tagebuchschreiben in Zeiten von Internetblogs<br />

und Twitter stirbt aus?<br />

Ich denke nicht, da dies zwei unterschiedliche Formen sind. Blogs<br />

und Twitter sind ja für die Öffentlichkeit gedacht. Tagebücher<br />

hingegen schreibt man eher nur für sich und zeigt sie im Normalfall<br />

auch niemanden.<br />

Würdest du gern die Tagebücher von anderen lesen?<br />

Mich würde schon interessieren, was manche so schreiben, aber<br />

ich würde trotzdem nicht in fremde Tagebücher schauen. Als ich<br />

ca. 12 Jahre alt war, habe ich mal im Tagebuch einer Freundin<br />

gelesen. Dummerweise wurde ich dabei auch erwischt und weiß<br />

seitdem, was das für Konsequenzen nach sich ziehen kann.<br />

Foto: Jenny Schröder<br />

Würdet ihr gern die Tagebücher von anderen lesen?<br />

Henning: Neugierig wäre ich schon, aber ich kenne in meinem<br />

direkten Freundeskreis niemanden, der ein Tagebuch führt.<br />

Möglich ist natürlich, dass ich einfach nur nicht weiß, dass diejenigen<br />

Tagebuch schreiben, obwohl ich nicht denke, dass Tagebuch<br />

schreiben etwas Peinliches ist.<br />

Christian: Dem kann ich mich nur anschließen. Ich finde es auch<br />

total in Ordnung, wenn Leute Tagebuch schreiben. Mir wäre es<br />

aber auch egal, was in den Tagebüchern anderer steht, das sind<br />

schließlich persönliche Dinge, die niemanden etwas angehen.<br />

Denkt ihr, dass mehr Frauen als Männer Tagebuch schreiben?<br />

Henning: Der Meinung bin ich eher nicht. Ein Bekannter aus<br />

meinem Sportklub zum Beispiel schreibt auch Tagebuch. Er wird<br />

dieses Jahr 50, weshalb ich genauso wenig denke, dass Tagebuch<br />

schreiben altersabhängig ist.<br />

Christian: Dem kann ich mich schon wieder nur anschließen. Ich<br />

denke auch, dass da nicht zwischen Jungs und Mädels zu trennen<br />

ist. Vielleicht gehen Frauen mit dem Tagebuchschreiben aber einfach<br />

offener um.<br />

Christian: Geschichte und Soziologie<br />

Henning: Soziologie und Wirtschaft<br />

Glaubt ihr, dass das klassische Tagebuch in Zeiten von Internetblogs<br />

und Twitter ausstirbt?<br />

Henning: Wahrscheinlich wird es bei dem normalen Tagebuch<br />

bleiben, denn bei den neuen Medien besteht ja das Risiko, dass<br />

jemand das Aufgeschriebene liest, der es vielleicht eher nicht lesen<br />

sollte.<br />

Christian: Mit Internetblogs wollen die Leute ja eher ihre Probleme<br />

an die Öffentlichkeit tragen und suchen so eine Form der<br />

Aufmerksamkeit. Wer dies nicht braucht, wird wohl bei der klassischen<br />

Papierform bleiben.<br />

Foto: Jenny Schröder<br />

12


Mariam: Philosophie und Romanistik<br />

Gabi: Philosophie und Wirtschaft<br />

Arne: Biochemie<br />

Foto: Jenny Schröder<br />

Arne:<br />

Schreibst du Tagebuch?<br />

Nein, noch nie gemacht.<br />

Hast du schon einmal das Tagebuch eines anderen gelesen?<br />

Ich kenne niemanden, von dem ich wüsste, dass er Tagebuch<br />

führt.<br />

Glaubst du, das Tagebuchschreiben stirbt in Zeiten von Twitter<br />

und Bloggen aus?<br />

Ja, ich glaube schon. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dann<br />

noch viele Leute Tagebuch führen.<br />

Mariam:<br />

Schreibst du Tagebuch?<br />

Ich habe mal ein „Ich-bin-betrunken-Tagebuch“ geführt. Das ist<br />

ein Tagebuch, das ich geführt habe, wenn ich betrunken nach<br />

Hause gekommen bin. Dann habe ich über die Party, bei der ich<br />

war, geschrieben und etwas über den Tag.<br />

Ist man dann überhaupt noch zum Schreiben fähig?<br />

Nicht immer, aber ich habe mich dazu gezwungen, weil ich<br />

sehen wollte, ob das lustig wird. Viele Sachen habe ich danach<br />

nicht mehr lesen können. Aber ich konnte den Abend durch das<br />

Geschriebene ein bisschen wieder zusammenbasteln, was mich<br />

beschäftigt hat, welche Leute ich getroffen habe.<br />

Annika, Sarah, Sarina: Ernährungswissenschaften<br />

Foto: Jenny Schröder<br />

Hast du dort auch Fotos oder Andenken des jeweiligen<br />

Abends eingeklebt?<br />

Nein, dafür hatte ich mein „Wichtige-Momente-Aufbewahrungsbuch“.<br />

Wenn ich spazieren war und ein Blatt oder eine Blume<br />

schön fand, hab ich die eingeklebt, aber auch Fotos oder Eintrittskarten<br />

von Kinofilmen oder Theater. Aber ich habe alle Tagebücher<br />

nur angefangen und dann nicht weitergeführt.<br />

Liest du noch in deinen Tagebüchern?<br />

Ab und zu, wenn ich aufräume und sie wiederfinde.<br />

Hast du deine Tagebücher versteckt?<br />

Das „Wichtige-Momente-Aufbewahrungsbuch“ hatte ich immer<br />

mit und habe es auch manchmal anderen Leuten gezeigt, da dort<br />

keine großen Geheimnisse enthalten waren. Das „Ich-bin-betrunken-Tagebuch“<br />

hatte ich abends bei mir, damit ich gleich etwas<br />

einschreiben konnte, aber das habe ich eher versteckt.<br />

Gabi:<br />

Schreibst du Tagebuch?<br />

Ich habe ein Momentetagebuch, das ich immer bei mir trage.<br />

Wenn jemand einen coolen Gedanken hat oder etwas Schönes<br />

passiert ist, was ich nicht vergessen will, dann schreibe ich es auf.<br />

Ein Reisetagebuch führe ich auch.<br />

Klebst du Fotos oder Andenken in das Buch?<br />

Nein, ich schreibe nur.<br />

Glaubst du, das Tagebuchschreiben stirbt in Zeiten von Twitter<br />

und Bloggen aus?<br />

Ja, das richtig klassische Tagebuchschreiben. Aber ich denke, die<br />

Leute verewigen sich dann mehr im Internet und schreiben dort<br />

alles auf. Es geht schneller und man kann sich dort eher präsentieren.<br />

Schreibst du Tagebuch?<br />

Annika: Ich habe noch nie ein Tagebuch geführt, weil ich nie Zeit<br />

dafür hatte. Ich bin nicht der Typ, der alles aufschreibt. Bestimmt<br />

hätte ich nach zwei Tagen sowieso wieder aufgehört und außerdem<br />

waren mir die Bücher immer zu teuer.<br />

Sarah: Ich habe früher mal geschrieben und jetzt, wenn es mal<br />

schlecht läuft. Ab und zu lese ich noch darin und denke dann: „Oh<br />

man, was hast du für Probleme gehabt.“<br />

Sarina: Ich habe auch mal Tagebuch geführt, aber nach einer<br />

Woche hatte ich dann keine Lust mehr oder war zu faul und dann<br />

habe ich es aufgegeben.<br />

Würdest du gern das Tagebuch einer anderen, eventuell<br />

berühmten Person lesen?<br />

Annika: Nee, da ist mein eigenes Leben interessant genug, da<br />

brauche ich nicht noch das von anderen.<br />

Sarah: Die Neugier wäre schon da, aber das ist moralisch nicht<br />

mit meinem Gewissen zu vereinbaren.<br />

Sarina: Mich würde das Tagebuch meines Freundes interessieren.<br />

Glaubst du, das Tagebuchschreiben stirbt in Zeiten von Twitter<br />

und Bloggen aus?<br />

Annika: Im Internet schreiben viele kurz auf irgendeiner Seite,<br />

wie es ihnen geht. Ich kenne aber auch einige, die ihre Gedanken<br />

nicht in einem Buch verschriftlichen, sondern ein paar Zeilen<br />

passwortgeschützt auf ihrem Computer schreiben.<br />

Sarah: Das ist eine Charakterfrage, ob man Dinge für sich selbst<br />

aufschreibt oder andere daran teilhaben lässt, denn es gibt ja<br />

auch Themen, die nicht jeden interessieren.<br />

Sarina: Papier und Tinte werden aussterben. Aber es gibt Themen,<br />

die nur für einen selbst bestimmt sind und dadurch für ein<br />

Tagebuch geeignet wären und andere, trivialere Themen, die<br />

zum Beispiel bei StudiVZ publik gemacht werden. Aber letztere<br />

würde ich nie in ein Tagebuch schreiben, eben weil sie zu trivial<br />

sind.<br />

13


Reportage<br />

Von Adlern, Trabanten und dem Mann im Mond<br />

Das Planetarium in Halle lädt ein<br />

Es ist Freitag Abend, 19.30 Uhr. Mehr und mehr Menschen gehen<br />

vorbei an der Fontäne und über die Peißnitzbrücke, hin zum<br />

halleschen „Raumflugplanetarium Sigmund Jähn“. Sie alle sind<br />

Mitglied der „Gesellschaft für astronomische Bildung e.V.“ und<br />

verbringen jeden Freitag damit, über astronomische Phänomene<br />

zu reden und natürlich auch in die Sterne zu gucken. Um die zehn<br />

Mitglieder sind es, die sich heute hier versammelt haben. Ich gehöre<br />

nicht zum Verein, nehme die freundliche, fast schon familiäre<br />

Atmosphäre, die mir entgegenkommt, dennoch sehr rasch<br />

auf. Hier ins Gespräch zu kommen ist auch als Astro-Laie nicht<br />

schwer.<br />

Gunter Helmer, der Vorstandsvorsitzende des Astrovereins, erklärt<br />

mir, dass es das Ziel des Vereins ist, den Hallensern astronomische<br />

Kenntnisse zu vermitteln: „Wir wollen das Wissen vom<br />

Himmel in die Köpfe der Leute bringen“. Um das zu erreichen,<br />

halten die Mitglieder des Vereins jedes Wochenende öffentliche<br />

Vorträge zu ganz verschiedenen Themen, inklusive einer beeindruckenden<br />

Veranschaulichung mittels eines großen, runden<br />

Projektors, der hunderte Sterne auf der Kuppeldecke des Planetariums<br />

erscheinen lassen kann. Und auch die Vorträge, die<br />

es jeden Freitagabend zu hören gibt, stehen allen Interessierten<br />

offen. Gäste sind hier immer willkommen. Der Eintritt ist freitags<br />

kostenfrei, am Wochenende zahlen Besucher ein kleines Entgelt.<br />

Wer will, kann dem Verein auch beitreten: „Jeder, der sich für Astronomie<br />

interessiert, kann bei uns Mitglied werden und so seine<br />

Kenntnisse ausbauen. Durch die gemeinsame Beschäftigung mit<br />

den Himmelskörpern erweitert man sein Wissen dann automatisch“,<br />

erklärt Gunter Helmer.<br />

Mondfinsternis zur Schlafenszeit<br />

Es ist soweit: Alle nehmen in dem kleinen, von außen fast schon<br />

unscheinbar aussehenden Planetarium Platz. Am begehrtesten<br />

sind die hinteren Reihen, denn von da aus lässt es sich am besten<br />

in den künstlichen Himmel schauen. Ein bisschen eng ist es auf<br />

den mit rotem Stoff überzogenen Stühlen schon, doch die Unbehaglichkeiten<br />

sind schnell vergessen, sobald der Saal ganz dunkel<br />

ist, kosmische Musik erklingt und ein Stern nach dem anderen<br />

an der Decke leuchtet.<br />

Spätestens jetzt sind alle Gespräche verstummt. Nur der Vortragende<br />

spricht wie jeden letzten Freitag im Monat über die astronomischen<br />

Höhepunkte der nächsten vier Wochen – interessant,<br />

anschaulich und verständlich. Eine Mondfinsternis wird es geben,<br />

zwar leider zu einer Zeit, zu der ich wohl noch schlafen werde,<br />

aber allein schon die Darstellung der Mondfinsternis an der<br />

Kuppeldecke des Raumes beeindruckt mich. Schritt für Schritt<br />

wird gezeigt, wie sich die Sonne immer mehr vor die Erde schiebt<br />

und so einen Schatten auf unseren Erdtrabanten wirft. Danach<br />

geht es um alle erscheinenden Sternbilder des Folgemonats. Eine<br />

detailgenaue Darstellung des Himmels, wie er in der nächsten<br />

Zeit sein wird, ist jetzt zu sehen. Der große und der kleine Wagen<br />

fallen auch ungeübten Augen sofort auf. Alle anderen Sternbilder<br />

Löwe und Waage besuchen die restlichen Sternzeichen<br />

jedoch erfordern viel Fantasie, wenn es etwa darum geht, aus einigen<br />

willkürlich zusammenhängenden kleinen Sternenpunkten<br />

einen Adler zu erkennen. Zum Glück wird jedoch eine Zeichnung<br />

des Adlers einfach darüber projektiert, sodass zumindest langsam<br />

deutlich wird, welcher Stern den Kopf des Vogels darstellen<br />

soll.<br />

Auf dem Dach des Planetariums<br />

Mittlerweile ist es fast 21 Uhr und der Vortrag beendet. Alle werfen<br />

einen ängstlichen Blick nach draußen, es folgt Erleichterung:<br />

Heute sind endlich einmal keine Wolken am Himmel. Sofort geht<br />

es hinauf in einen anderen, viel kleineren Raum, der ebenfalls<br />

eine Kuppel hat. Hier steht das Herzstück des Planetariums: Das<br />

Teleskop. Nach einer spannenden und ausführlichen Beschreibung<br />

über Geschichte und Gebrauch dieses Geräts darf ich auch<br />

selbst mal einen Blick durch das Teleskop und hinein in den Sternenhimmel<br />

werfen. Genauer gesagt, auf den Jupiter mit seinen<br />

vier Monden, der auf einmal zum Greifen nah erscheint. Doch ich<br />

muss mich beeilen, raus auf die Aussichtsplattform, auf das Dach<br />

des Planetariums, denn der Mond ist nur noch für kurze Zeit zu<br />

sehen, bevor er hinter dem Peißnitz-Haus verschwindet. Leider ist<br />

es schon zu spät, vom Mond ist nur noch sein Schein zu sehen.<br />

Schade, aber nicht schlimm, denn so habe ich einen Grund mehr,<br />

noch mal wiederzukommen. Freitag, um 19.30 Uhr.<br />

Weitere Informationen gibt es unter: www.planetarium-halle.de<br />

Foto: Maria Altnau<br />

Jenny Schröder<br />

14


Millionen von Büchern und eine Kirche<br />

Hinter den Kulissen der ULB<br />

Rumms! Schwer fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Überall Bücher<br />

– vor mir und neben mir. Blicke ich nach oben, sehe ich durch die<br />

Gitterzwischenböden sieben weitere Stockwerke, die gefüllt sind<br />

mit Forschungsliteratur, wissenschaftlichen Zeitschriften, Lexika,<br />

Dissertationen, Mikrofilme, CD-Roms und Romanen. Ich befinde<br />

mich zwischen etwa einer Million Schriftstücken im Hauptgebäude<br />

des Magazins der Universitäts- und Landesbibliothek<br />

Sachsen-Anhalt.<br />

Das mächtige Gebäude in der August-Bebel-Straße verbirgt<br />

dieses beeindruckende Geheimnis gut – nur wenige hallische<br />

Studenten wissen um den Schatz, den es hütet. Bereits beeindruckt<br />

von dieser Zahl wird einem fast schwindelig, wenn man<br />

erfährt, dass die größte wissenschaftliche Allgemeinbibliothek<br />

Sachsen-Anhalts den unglaublichen Bestand von 5,42 Millionen<br />

Einheiten umfasst, verteilt auf die Hauptbibliothek und 24 Zweigbibliotheken.<br />

Die wahren Goldstücke<br />

Dieser Bestand blickt auf eine über dreihundertjährige Geschichte<br />

zurück, schließlich wurde die Bibliothek schon 1696 gegründet.<br />

Im 18. Jahrhundert kamen dann Teile der Universitätsbibliothek<br />

Wittenberg (die bereits 1502<br />

entstand) hinzu, die heute einige<br />

der ältesten Schriftstücke der Bibliothek<br />

darstellen, z.B. die Sondersammlung<br />

Ponickau. Die von<br />

dem Geheimen Kriegsrat Johann<br />

August von Ponickau zusammengetragene,<br />

einmalige Sammlung<br />

enthält Drucke des 17. Jahrhunderts<br />

(die übrigens jeder Nutzer<br />

im Lesesaal einsehen kann). Andere<br />

Sammlungen enthalten sogar<br />

noch ältere Werke; so verfügt<br />

die ULB über ca. 28.000 wertvolle<br />

Drucke des 16. Jahrhunderts, die<br />

vor allem im Zuge der Reformation<br />

entstanden sind. Diese sensiblen<br />

Zeitzeugen stehen dem<br />

Leser selbstverständlich nur begrenzt<br />

zur Verfügung, aber ein<br />

Bücherwurm- und Leserattenbiotop<br />

bemerkenswertes Projekt lässt<br />

hoffen: Im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

unterstützten Digitalisierung historischer Drucke wurden<br />

seit 2007 bereits zahlreiche Schriftstücke digital konserviert<br />

und sind jedem registrierten Nutzer der ULB in einer Datenbank<br />

online zugänglich. Die wahren Goldstücke der Universitätsbibliothek<br />

sind allerdings die rund 115.000 Handschriften und<br />

Autographen, 1.600 Wiegedrucke des 15. Jahrhunderts und 400<br />

mittelalterliche Handschriften.<br />

Als Landesbibliothek hat die ULB heute die besondere Aufgabe,<br />

sämtliche in Sachsen-Anhalt veröffentlichten Schriftstücke zu<br />

sammeln, also von Veranstaltungskalendern über wissenschaftliche<br />

Zeitschriften bis hin zu Dissertationen.<br />

Was die meisten Leser nicht wissen<br />

Die für das tägliche Studium relevante Literatur ist jedoch für alle<br />

Studenten leicht zugänglich. Über den OPAC online aufgegebene<br />

Literaturbestellungen werden an der Ortsleihe ausgedruckt und<br />

fleißige Mitarbeiter suchen die gewünschten Bücher aus dem Bestand<br />

der Bibliothek heraus. Diese stehen dann an der Theke der<br />

Ortsleihe zur Abholung bereit. Was die Leser meist nicht wissen:<br />

Manchmal nehmen ihre bestellten Bücher den Weg durch die<br />

ganze Stadt, denn die ULB bewahrt die Bücher in verschiedenen,<br />

über die Stadt Halle verstreuten Magazinen auf. Dazu gehören<br />

ein Gebäude am Gimritzer Damm, eines in der Heide und die aus<br />

dem späten 19. Jahrhundert stammende Stephanuskirche (Nähe<br />

Reileck). Die Kirche wird seit 1972 von der Bibliothek genutzt;<br />

heute sind etwa 700.000 Bände auf vier Etagen darin untergebracht.<br />

Die Organisation und rechtzeitige Bereitstellung der bestellten<br />

Literatur birgt also einige logistische Herausforderungen.<br />

Aber diese werden gemeistert, und so können den 30.000 Benutzern<br />

im Jahr die rund 1,2 Millionen<br />

gewünschten Medien an der<br />

Theke der Ortsleihe zügig hinterlegt<br />

werden.<br />

Sollte die benötigte Literatur<br />

nicht zum Bestand der ULB gehören,<br />

kann per Fernleihe ein Exemplar<br />

einer anderen Bibliothek<br />

angefordert werden. Dabei ist die<br />

Auskunftsstelle besonders hilfreich,<br />

sie unterstützt die Nutzer<br />

bei der Suche nach Fakten, Daten<br />

und Adressen, bei der Literaturrecherche<br />

und informiert zu den<br />

verschiedenen Lieferdiensten.<br />

Ähnlich funktioniert das umgekehrt:<br />

Für die zum Teil internationalen<br />

Leser außerhalb stehen<br />

die Medien der Landesbibliothek<br />

durch die Fernleihe zur Verfügung.<br />

So werden Aufträge, also<br />

z.B. die Suche nach bestimmten, nur in Halle vorhandenen Büchern<br />

oder auch nur einigen Seiten einer bestimmten Zeitschrift,<br />

durch die Mitarbeiter herausgesucht und schnell zur Verfügung<br />

gestellt, per Post- oder Emailversand.<br />

Wer noch genauer wissen möchte, wo die Bibliotheksliteratur<br />

fürs Studium herkommt und wie diese den Weg zum Leser findet,<br />

kann an einer der informativen Führungen durch das Magazin<br />

der August-Bebel-Straße teilnehmen, die jeden ersten Samstag<br />

im Monat angeboten werden.<br />

Katharina Kraus<br />

Foto: Katharina Kraus<br />

15


Zu Wort gekommen<br />

„Am liebsten wollte ich ‚lieber Gott‘ werden“<br />

Prof. Dr. Gerd Antos – der ’Chef‘ – der Germanistischen Sprachwissenschaft<br />

Seit 1993 lehrt Prof. Dr. phil. habil. Prof. h.c. Gerd Antos, M.A. am Germanistischen Institut in Halle. Sein beruflicher Werdegang ist beeindruckend<br />

- auch wenn er doch nicht ‚lieber Gott‘ geworden ist. Uns interessierte neben dem Alltag des Professor-Seins auch die private Seite des<br />

charismatischen Herrn Antos.<br />

Das Interview führten Diana Schlinke und Christian Rex.<br />

Herr Prof. Dr. Antos, woher stammen Sie ursprünglich?<br />

Geboren wurde ich in der Nähe von Görlitz, auf einem schönen<br />

Bauernhof – über scharrenden Pferden und blökenden Kühen<br />

– übrigens als Gerd Erwin Paul Antoskiewicz. Mein Vater (Kaufmann<br />

aus Liegnitz/Berlin) und meine Mutter (Tochter eines Bauern/<br />

Bürgermeisters) hießen im Dorf gleichwohl „Zachmann“.<br />

Denn gegen die Polen (insbesondere jenseits der Neiße) hatte<br />

man etwas. Wenn Sie mich heute fragen, woher ich ursprünglich<br />

stamme, dann sage ich: aus Schlesien!<br />

Wo haben Sie studiert?<br />

Ich habe in Erlangen und Saarbrücken Germanistik, Philosophie,<br />

Geschichte und Sozialkunde, und dann ab und zu im Leben studiert.<br />

Haben Sie damals in einer WG gelebt?<br />

Damals nicht (wir waren ohne Vater zu arm, ich musste also immer<br />

wieder nach Hause)! Aber später in Halle habe ich mit einem<br />

Kollegen und einem Mitarbeiter von mir in einer WG gelebt – genauer:<br />

Ich lebe da noch immer mit besagtem Kollegen.<br />

Was gefällt Ihnen am WG-Leben und was nicht?<br />

Früh morgens aufzustehen ist schon schwer genug! Aber dann<br />

noch ganz einsam und alleine Semmeln zu schmieren ist total<br />

öde. Wie schön der Tag, wo man bereits vor dem Duschen ungekämmt<br />

drauflosreden kann. Mein Kollege nennt das, was wir<br />

in der WG früh morgens gemeinsam machen, „Semmel-Kolloquium“!<br />

Also: Eine wunderbare Einstimmung auf ein erfülltes<br />

Universitäts-Leben. Abends stellen wir aber manchmal dann<br />

doch fest, dass wir zur wahren Erfüllung noch ein Bier oder eine<br />

Flasche Wein benötigen. – Und damit wären wir auch schon beim<br />

Abwasch und den Abgründen des gemeinsamen Wohnens.<br />

War es schon immer Ihr Wunsch, Sprachwissenschaft zu studieren<br />

und später auch Professor dafür zu werden?<br />

Mit drei Jahren wollte ich „Lieber Gott“ werden (um sicher zu gehen,<br />

dass ich im nächsten Weltkrieg nicht getötet werde – wie so<br />

viele, um die auf unserem Hof geweint wurde); später Botschafter<br />

(weil ich immer weg wollte, ohne dabei die Pension zu verlieren).<br />

Doch dann hat es bei mir nur noch bis zum Professor gereicht.<br />

Und warum Sprachwissenschaft? Vielleicht weil Sprache so multifunktional<br />

ist wie das berühmte Schweizer Offiziersmesser: Man<br />

kann damit Bäume fällen, aber zur Not auch jemanden operieren.<br />

Diese Facettenhaftigkeit hat mich immer schon fasziniert.<br />

Sind Studierende von heute anders, als die Ihrer Generation?<br />

Sie sind durchweg schlauer, aber zum Glück nicht weiser (jedenfalls<br />

nicht die meisten)!<br />

Kann man mit der Sprachwissenschaft berühmt werden?<br />

Ich wäre schon froh, wenn man damit Geld verdienen könnte.<br />

(lächelt)<br />

Sie befassen sich derzeit intensiv mit der Optimierung von<br />

Rechtstexten: Gibt es schon einige Fortschritte in Sachen<br />

Verständlichkeit von Rechtstexten?<br />

Das schlimmste, was Ihnen als Lehrer oder Lehrerin passieren<br />

kann, ist mit Ihrer Klasse wandern oder ins Schwimmbad gehen<br />

zu müssen. Sie glauben gar nicht, wie gefährlich das unter rein<br />

rechtlichen Aspekten sein kann. Auch Nachbar zu sein ist ja heute<br />

schon ein Abenteuer. Daher ist es vielleicht hilfreich, wenn man<br />

zumindest erahnt, worauf man sich da überhaupt einlässt. Und<br />

dazu wollen wir als Linguisten mit Hilfe unserer Juristen Brücken<br />

ins Leben schlagen.<br />

Welche Projekte laufen diesbezüglich oder sind geplant?<br />

1. Wir sollen 2010 das Nachbarschaftsgesetz des Landes für „den<br />

gemeinen Mann“ bzw. für die gebildete Frau noch etwas transparenter<br />

machen.<br />

<strong>2.</strong> In einem weiteren Projekt wollen wir anhand der Wirtschaftsberichterstattung<br />

der ausgehenden DDR zu erklären versuchen,<br />

warum man z.B. „Opfer seiner eigenen Propaganda“ werden<br />

kann. Wir greifen dabei auf einen weltberühmten Unbekannten,<br />

16


auf den polnischen Mikrobiologen und Wissenschaftstheoretiker<br />

Ludwik Fleck (1896-1961) und sein Konzept des „Denkstils“<br />

zurück – übrigens der Vorläufer des berühmten Paradigmen-<br />

Begriffs.<br />

Haben Sie ein Unwort der Jahres 2009?<br />

Schweine-Grippe.<br />

Wie sieht ein typischer Tag im Leben eines Professors aus?<br />

Unübersichtlich! Und ansonsten: Zu Vieles und zu Unterschiedliches<br />

gleichzeitig und das mehrmals im Kreise.<br />

Wie motivieren Sie sich an Tagen, an denen Sie lieber nicht<br />

vor hundert Studierenden stehen wollen?<br />

Bitte nur einmal einen Tag ohne Mails und ohne Verwaltung!<br />

Verbunden mit dem Traum zu lesen und ungestört „herumzuforscheln“.<br />

Sie sind ja bekanntlich leidenschaftlicher Kaffeetrinker. In<br />

welchem Café in Halle schmeckt Ihrer Meinung nach der Kaffee<br />

am besten?<br />

Ich bin aus gesundheitlichen Gründen inzwischen auf den Tee<br />

gekommen (außer in Seminaren, um dort durchzuhalten). Ansonsten<br />

gibt es –sorry – den besten Kaffee in Pisa, am Ufer des<br />

Arno, im Hotel Viktoria.<br />

Als Professor hat man sicher wenig Freizeit. Was machen Sie,<br />

um zu entspannen und Abstand vom Unistress zu bekommen?<br />

Nordic Walking, Musik hören und angestrengt faulenzen.<br />

Sie haben ja schon in verschiedenen Städten Seminare gehalten;<br />

wie schneidet Halle im Vergleich zu anderen Städten<br />

ab? Wo halten Sie sich in Halle am liebsten auf?<br />

Halle schneidet sich in vielen Dingen ins eigene Fleisch und damit<br />

auch manches ab! Trotzdem: Am liebsten in meinem Büro in<br />

der Luisenstraße und in einer schönen Wohnung in Halle, wohin<br />

ich mich ab und an zurückziehen kann.<br />

Welches Buch liegt derzeit auf Ihrem Nachttisch?<br />

Ich habe keinen Nachttisch! Momentan starte ich aber meine erste<br />

Koran-Lektüre, leider nur auf Deutsch.<br />

Unser Titelthema lautet diesmal „Tagebücher“. Führen Sie<br />

selbst eins?<br />

Leider nicht. Ich habe dazu keine Zeit und kein Talent!<br />

Wir bedanken uns für das Gespräch.<br />

Prof. Dr. Gerd Antos, Germanistisches Institut<br />

Foto: Gerd Antos<br />

17


Reportage<br />

Literatur in der Bildröhre<br />

Einschalten und Aufschlagen<br />

Lust auf Lesen? Oder doch lieber Fernsehen? Beides lässt sich<br />

verbinden: Für all diejenigen, die sich nicht entscheiden können,<br />

werden verschiedene Literatursendungen im TV angeboten.<br />

Man muss sie nur finden! Welche ‚Büchershows‘ im Fernsehen<br />

laufen, könnt Ihr hier nachlesen.<br />

An sechs Freitagen im Jahr sendet das ZDF „Die Vorleser“, ein<br />

Nachfolger der abgesetzten Sendung „Lesen!“ von Elke Heidenreich.<br />

Amelie Fried und Ijoma Mangold führen um 22:30 Uhr<br />

gemeinsam durch die dreißigminütige Sendung, in der sowohl<br />

Belletristik als auch Sachbücher vorgestellt werden. Jede <strong>Ausgabe</strong><br />

thematisiert fünf bis sechs Titel. Verschiedene Gäste, egal<br />

ob Autoren, Hörbuchsprecher oder Schauspieler, stellen ihr<br />

Lieblingsbuch oder ihre Rolle in einer Literaturverfilmung vor.<br />

Es müssen auch nicht immer Neuerscheinungen sein: In der<br />

letzten Sendung versuchte der Schauspieler Sebastian Koch den<br />

‚alten Schinken‘ „Der Seewolf“ von Jack London schmackhaft<br />

zu machen. Ein Buch, von dem auch die Moderatorin fasziniert<br />

war. Obwohl „Die Vorleser“ eine relativ junge Sendung ist – am<br />

10.7.2009 wurde sie erstmalig ausgestrahlt - wirken die Moderatoren<br />

ziemlich kompetent und sicher. Markant in diesem Format<br />

ist die Präsentation „drei Bücher in drei Minuten“; Ijoma Mangold<br />

stellt pro 60 Sekunden einen Buchtitel vor. Leider können<br />

dabei die Inhalte nur angerissen werden, was schade ist, denn<br />

der Zuschauer wünscht sicherlich, bei dem einen oder anderen<br />

Buch mehr zu hören. Insgesamt ist das eine Literatursendung mit<br />

breitem Angebot und ohne ‚Schnick-Schnack‘. Allerdings hatte<br />

ich als Zuschauerin manchmal das Gefühl, von einem Buch zum<br />

anderen gehetzt zu werden, weil zu viele Buchvorstellungen in<br />

die kurze Sendezeit gepresst wurden. Unter www.dievorleser.zdf.<br />

de können verschlafene Anhänger verpasste Sendungen jederzeit<br />

in einem Podcast nachschauen und sich weitere Buchtipps<br />

einholen.<br />

Ebenfalls online sind unter www.phoenix.de die Videostreams<br />

der Literatursendung „Auf den Punkt“ nachzuverfolgen. Der Moderator<br />

Wolfgang Herles hat wesentlich mehr Zeit, nämlich 60<br />

Minuten, und stellt ausschließlich Sachbuchneuerscheinungen<br />

vor. Dabei interessieren Bücher zum Thema Geschichte, Politik<br />

und Gesellschaft. Es ist eine seriöse Buchsendung, die mithilfe<br />

Montage: Sabine Müller, Christiane Rex<br />

von Experteninterviews wissenschaftlich untermauert wird. „Auf<br />

den Punkt“ wird sechsmal jährlich ausgestrahlt. Sendetermin ist<br />

immer ein Sonntag um 13 Uhr und 22:30 Uhr desselben Abends.<br />

Sachbücher machen schlau<br />

So lautet das Motto der Sendung „bookmark“, die 3sat an jedem<br />

1. und 3. Samstag im Monat zu einer durchaus akzeptablen Zeit,<br />

um 19:50 Uhr, bringt. Vorgestellt werden Sachbuchnovitäten aus<br />

Kultur, Politik und Wissenschaft. Interviews mit Autoren, Hintergrundinformationen<br />

und ein Blick auf die Sachbuch-Bestsellerlisten<br />

hauchen der Sendung Leben ein. Einziger Haken: „bookmark“<br />

dauert nur zehn Minuten! Auf der 3sat Homepage sind die<br />

verpassten Sendungen als Buchtipps nachzulesen.<br />

Wer hingegen keine steifen, literarischen Debatten wie in manchen<br />

Germanistikseminaren verfolgen möchte, findet sicherlich<br />

Gefallen an „Was liest du?“, eine der populärsten Literatursendungen<br />

im TV. Jürgen von der Lippe beginnt jede Folge mit den<br />

Worten „herzlich Willkommen in der langen Nacht der Bücher“.<br />

Sicherlich eine ironische Kritik der kurzen Sendezeit, die der WDR<br />

ihm einräumt. Der Moderator liest mit einem prominenten Gast<br />

gemeinsam Passagen aus komischen Büchern. Die beiden Akteure<br />

auf der Bühne verstellen dazu ihre Stimmen und nehmen<br />

oft die zugehörigen Rollen vollkommen an. Nicht nur das Publikum<br />

biegt sich dabei vor Lachen, auch die Vorleser selber kichern<br />

selbstvergessen ins Mikrophon. Eine kurzweilige Sendung, die<br />

bizarre und schräge Literatur vorstellt. Ich finde es allerdings etwas<br />

schade, dass meist anzügliche Textpassagen im Vordergrund<br />

stehen. Markant ist auch das Format „Klolektüre“, in der witzige<br />

Bücher für zwischendurch vorgestellt werden. „Was liest du?“<br />

läuft jeweils 23:30 für eine halbe Stunde im TV. Aufgeteilt in zwei<br />

Staffeln à vier Terminen werden im Juni und Dezember insgesamt<br />

acht Folgen gezeigt. Es ist die einzige Sendung, die intensiv<br />

am Text arbeitet. So kann der Zuschauer Einblicke in die Sprache<br />

und den Stil der vorgestellten Titel gewinnen. Unter www.comedy.wdr.de<br />

ist die verpasste Show komplett nachzuerleben.<br />

Der WDR wartet noch mit einer zweiten Literatursendung auf:<br />

Ein ganz neues Format heißt „west.art Bücher“. Darin stellt die<br />

„Zimmer frei“-Moderatorin und bekennende Leseratte Christine<br />

Westermann an einem Dienstag im Monat ab 2<strong>2.</strong>30 Uhr für 40 Minuten<br />

verschiedene Bücher vor. Großer Minuspunkt: Im Internet<br />

gibt es dazu leider keinen Podcast.<br />

Denis Scheck moderiert zehn Mal im Jahr „Druckfrisch“ in der<br />

ARD. Sonntags um 23:30 Uhr werden für 30 Minuten nahezu alle<br />

Themengebiete angesprochen. Eine außergewöhnlich gute Sendung<br />

im Reportage-Format. Der Regisseur Andreas Ammer lässt<br />

sich immer wieder passende Szenen einfallen: Autoren werden<br />

an ausgefallenen Orten, wie unter einer Brücke oder vor einem<br />

Wasserfall, interviewt. Aber auch das idyllische Gartenhäuschen<br />

18


oder der Bürgersteig dienen als Kulisse. Abgelehnte Bücher wirft<br />

Scheck rigoros auf ein Fließband, welches direkt zu einem Papierkorb<br />

führt. Eine extravagante Art Bücher zu bewerten, darauf<br />

freut sich jeder „Druckfrisch“-Fan! Unter www.daserste.de kann<br />

man die letzte Folge auch im Internet ‚nachschauen‘.<br />

Von Weltraumfahrstühlen und politischen Debatten<br />

Vor einiger Zeit war Frank Schätzing mit seinem neuen Roman<br />

„Limit“ bei „Literatur im Foyer“ (SWR) eingeladen. Mit der Moderatorin<br />

Thea Dorn führte er ein tiefsinniges Gespräch über die<br />

Weiterentwicklung in zehn Jahren: Fahrstühle ins Weltall waren<br />

dabei ebenso von Belang wie politische Veränderungen. Die<br />

Krimischriftstellerin wirkte sehr kompetent und fühlte dem Bestsellerautor<br />

in Sachen Figurenkonstellation und Erzählweise ordentlich<br />

auf den Zahn. „Literatur im Foyer“ wird jeden Freitag um<br />

Mitternacht beim SWR ausgestrahlt. Es moderieren Thea Dorn<br />

und Felicitas von Lovenberg im Wechsel. In 30 Minuten wird dem<br />

Publikum je eine Belletristik- oder Sachbuchneuerscheinung<br />

durch den Autor selbst vorgestellt. Endlich mal eine Sendung, in<br />

der viel Zeit für den Gast und seinen Titel eingeräumt wird! Die<br />

Akteure haben die Möglichkeit, weitschweifend und tiefgründig<br />

zu erzählen - eine Sendung mit Niveau. Alle, die zur Sendezeit<br />

„Einfach mal was behaupten, was gar nicht stimmt, aber trotzdem<br />

geil klingt.“ Nach diesem Motto hat der Klavierkabarettist sein<br />

bereits 2007 erschienenes Album benannt.<br />

Laut Aussage des Künstlers ist der Titel „Bodo<br />

Wartke singt Lieder, die heißen wie Frauen“ die<br />

beste Zusammenfassung seines Programms.<br />

Von harmonischen Liebesliedern über Andrea,<br />

Claudia und Verena, bis hin zu frechen<br />

kritischen Songs über Betriebssysteme von<br />

Microsoft oder einfach nur den Regen, reimt<br />

Bodo Wartke sich reimend durchs Programm.<br />

Dabei dichtet er von „einfallenden Horden“,<br />

die im Mittelalter „nicht selten ausfallend geworden“<br />

sind. Früher kamen sie aus allen Himmelsrichtungen,<br />

heute eher aus Nordamerika.<br />

Auch mit dem Lied „Die Amerikaner“ übt er kecke<br />

Kritik an den USA. Das Prinzip der 12-Ton-<br />

Musik, erklärt am Beispiel des Kommunismus,<br />

sollte man sich nicht entgehen lassen. Denn<br />

„jeder Ton kommt gleich oft dran und alle sind<br />

zufrieden“. „Das Problem ist nur: es klingt immer scheiße.“ Deshalb<br />

ist die Zwölf-Ton-Musik, nach Wartke, „vom Prinzip her eine<br />

gute Idee, aber vollkommen an der Realität gescheitert.“ Zwischon<br />

im Bett liegen oder ausgegangen sind, können die Aufzeichnung<br />

ebenfalls als Podcast auf www.swr.de nachverfolgen.<br />

Positiv überrascht war ich von „Fröhlich lesen“, benannt nach Moderatorin<br />

Susanne Fröhlich. Die Sendung ist keineswegs trivial<br />

oder oberflächlich – im Gegenteil: Sehr gründlich wird das Seelenleben<br />

der verschiedenen Protagonisten untersucht. Achtmal<br />

im Jahr dürfen zwei Gäste sonntags um 22:45 Uhr im MDR ihre<br />

Bücher vorstellen. Hier wird wahrlich viel Zeit für zwei Autoren<br />

eingeräumt wird. Nur der Titel der Sendung birgt einen kleinen<br />

Trugschluss: Die Literaturshow muss nicht immer fröhlich sein.<br />

Auf der Homepage des MDR ist „Fröhlich lesen“ als Hörversion<br />

ohne Bild nachvollziehbar.<br />

Literatur und Fernsehen – das sind zwei Dinge, die durchaus nicht<br />

miteinander konkurrieren müssen. Die öffentlich-rechtlichen<br />

Sender bieten ein breites Spektrum an Literatursendungen an.<br />

Aber warum immer so spät? Dennoch dürfte für jeden Nachtschwärmer<br />

und Bücherliebhaber etwas dabei sein, egal ob zum<br />

Stöbern oder Auffinden von Weihnachtsgeschenken: Aufbleiben<br />

lohnt sich.<br />

Christiane Rex<br />

Bodo Wartke: Noah war ein Archetyp<br />

Musik<br />

Schwimmzoo - stimmt so!<br />

schendurch zeigt der studierte Musiker auch instrumental sein<br />

Können, beispielsweise mit dem Stück „Alla Turca Stomp“. Doch<br />

singt und spielt er „gleichzeitig und nicht nacheinander“,<br />

denn „andererseits würde es ja doppelt<br />

so lange dauern“. „Noah war ein Archetyp“<br />

ist sein drittes Album nach den ebenfalls erfolgreichen<br />

ersten zwei Alben „Ich denke, also sing‘<br />

ich“ und „Achillesverse“ aus den Jahren 1998 und<br />

2003. Dieses Jahr tourte er mit seinem Solo-Theater<br />

„König Ödipus“ durch die Lande. Geboren in<br />

Hamburg, aufgewachsen in der Norddeutschen<br />

Marmeladenstadt Bad Schwartau, lebt er heute<br />

in Berlin. Seit er dort wohnt, zieht er jährlich mindestens<br />

einmal um, da er sich vorgenommen hat<br />

in jedem Berliner Stadtteil mindestens einmal zu<br />

wohnen. Am 30. Januar könnt ihr Bodo auch live<br />

im Steintor Varieté in Halle erleben, wo er sein<br />

zweites Programm „Achillesverse“ spielt. Alle vier<br />

Programme sind auf CD erhältlich und eignen<br />

sich auch gut als Weihnachtsgeschenk. Wer seine<br />

Lachmuskeln mal wieder so richtig trainieren will, sollte unbedingt<br />

reinhören oder gar reinschauen.<br />

Maria Altnau<br />

Foto: www.bodowartke.de<br />

19


Theater/ Oper/ Ballett<br />

Einfallsreichtum macht glücklich<br />

Die Geschichte vom Soldaten und Carmina Burana als Ballettabend<br />

am hallischen Opernhaus überzeugt, überwältigt und<br />

überdauert sicherlich mehrere Spielzeiten.<br />

„Alles, was ich bisher geschrieben und Sie leider gedruckt haben,<br />

können Sie nun einstampfen“, schreibt Carl Orff kurz vor der Uraufführung<br />

von Carmina Burana an seinen Librettisten Michel<br />

Hofmann. Alles vorher Gewesene vergessen? Keine gute Idee,<br />

vor allem nicht beim neuen Doppelballett des Operhauses Halle.<br />

Denn vor Carmina Burana wird Strawinskys „Die Geschichte vom<br />

Soldaten“ aufgeführt. Damit betritt Choreograph und Regisseur<br />

Ralf Rossa Neuland; erstmals vereint er Sprache und Tanz auf der<br />

Bühne. Aber auch zwei Schauspielschüler des neuen theaters betreten<br />

unbekanntes Terrain, schließlich lautet ihre erste Aufgabe<br />

in der Saalestadt nicht in einer Komödie oder Tragödie mitzuspielen,<br />

sondern in einem Ballett. Ein Unterfangen, das herausfordert,<br />

zumal das Ballett eigentlich ein konzertanes Werk Strawinskys für<br />

ein siebenköpfiges Orchester ist, das erst durch Rossas Einfälle zu<br />

einer Symbiose von Bewegung und Poesie wird.<br />

„Man kann nicht gleichzeitig der sein, der man ist und der man<br />

war.“ Die Schauspieler bleiben Schauspieler, verkörpern Teufel<br />

und Vorleser und schaffen es herausragend Rossas Visionen umzusetzen.<br />

Die Geschichte ist schnell erzählt. Ein Soldat (Michael<br />

Sedláček) versucht nach Kriegsende nach Hause zu gehen, doch<br />

unterwegs begegnet ihm der Teufel (Frank Pätzold). Dieser bringt<br />

ihn zu einem Tausch seiner Geige gegen ein goldenes Buch. Doch<br />

der Soldat gibt mit der Geige nicht nur ein Musikinstrument weg,<br />

sondern gleichzeitig auch seine Seele. Das Tauschobjekt macht<br />

ihn zwar reich, aber nicht glücklich. Deshalb muss die Geige zurück<br />

gewonnen und der Teufel überlistet werden. Die märchenhafte<br />

Geschichte bringt Alois Steinmacher dem Zuschauer näher,<br />

der Vorleser ist, Stimme des Soldaten, sein Gewissen, sein Freund<br />

und Verbündeter. Beide tanzen und agieren meist getrennt voneinander,<br />

führen aber vereinzelte Bilder gleichzeitig und auch<br />

zeitversetzt aus.<br />

Verteufelte Zeitverschwendung<br />

Im Übrigen ist die Zeit ein allgegenwärtiger Faktor auf der Bühne.<br />

Sie wird als großes rundes Ziffernblatt mit kaum stillstehenden<br />

Zeigern im Rücken der Akteure auf einer Leinwand gezeigt,<br />

bis die Zeiger und Zahlen verrutschen und fallen. Die Bühne an<br />

sich ist sehr einfach gehalten: drei Tore links und rechts, darüber<br />

ein Balkon auf jeder Seite. Dort wird später der Carmina-Burana-<br />

Chor stehen. Die Kompositionen aus Farben und Licht (Matthias<br />

Hönig) vervollkommnen das Bühnenbild und schaffen eine<br />

Verbindung zwischen beiden Balletten. Kräftige Grün-, Blau-,<br />

Rot- und Goldtöne unterstreichen die gespielten Emotionen. Das<br />

Grün der Hoffnung scheint zu überwiegen, doch damit endet es<br />

nicht. Zwar erlangt der Soldat seine Geige wieder und gewinnt<br />

die Liebe einer Prinzessin (Ludivine Revazov-Dutriez), doch seine<br />

Vergangenheit holt beide ein und setzt die Grausamkeit, die allen<br />

Märchen innewohnt, an den Schluss.<br />

„Was war und ist, in einem Augenblick.“ Rossa gibt dem Publikum<br />

zu sehen, aber auch zu denken, indem er sein Ensemble vieles<br />

tänzerisch und spielerisch andeuten, die Zuschauer bestimmte<br />

Bilder aber selbst ausfüllen lässt. Somit wird Platz für die eigene<br />

Fantasie gelassen. Besonders beeindruckend, das Spiel mit der<br />

Lautstärke, das nur durch die Musik transportiert wird, nicht aber<br />

durch effekthascherische Schüsse oder Schreie. „Die Geschichte<br />

vom Soldaten“ wird im Zuschauer nachhallen und sein Erfolg<br />

Rossa hoffentlich überzeugen, weitere Ballette zu kreieren, in denen<br />

Tanz und Sprache so eindrucksvoll aufeinander treffen.<br />

Dass sich neue Wege lohnen, durfte auch Carl Orff mit „Carmina<br />

Burana“ erfahren. Weltliche lateinische Lieder einer Handschrift<br />

des 13. Jahrhunderts aus dem Kloster Benediktbeuren liegen<br />

Ob in Jeans oder Abendkleid, im Opernhaus sitzen Studenten schon<br />

für 7,50 Euro in der ersten Reihe.<br />

dem Werk zu Grunde. Erst Johann Andreas Schmeller taufte diese<br />

Liedersammlung, als er sie 1847 vollständig veröffentlichte, „Carmina<br />

Burana“. Orff entdeckte die Erstausgabe Schmellers 1934 in<br />

einem Antiquariatskatalog, bestellte sie sich und begann sofort<br />

zu komponieren. Seine Musik bietet sich geradezu für ein Ballett<br />

an, auch wenn sie dafür nicht gedacht war.<br />

Der Frühling erwacht<br />

Nach der Pause sitzt das Publikum gespannt auf seinen Plätzen<br />

und wartet darauf, dass der rote Samtvorhang verschwindet.<br />

Inzwischen hat das gesamte Orchester im Graben Platz genommen,<br />

dann beginnen die ersten Klänge von „O Fortuna“. Der Chor<br />

packt den Zuschauer vom ersten Ton an und zieht ihn in das Bühnengeschehen<br />

hinein. Das Schicksalsrad beginnt sich, angetrieben<br />

von den Beinen der Balletttänzer, zu drehen. Der Frühling erwacht.<br />

In grünen Kostümen (Wiebke Horn) liegen die Tänzer auf<br />

der Bühne, strecken langsam ihre Fäuste empor. Wie zarte Knospen<br />

mutet das Bild an. Die Blüten brechen auf, indem die Fäuste<br />

Foto: Jana König<br />

20


geöffnet werden. Der Einfallsreichtum Rossas lässt menschliche<br />

Bäume wiegen, die Natur erstrahlen und die Kostüme wie Blätter<br />

über die Bühne wirbeln. Doch dann gerät der Choreograph<br />

plötzlich in eine kreative Krise. Ihm will zu einigen Klängen Orffs<br />

einfach nichts Passendes einfallen, sagt er am 20.11.2009 selbst<br />

im anschließenden Zuschauergespräch. Doch die Krise bringt ihn<br />

auf eine aberwitzige Idee, die den Zuschauer im wahrsten Sinne<br />

des Wortes übermannen wird. Carmina Burana lebt von anmutigen<br />

Bewegungen, anspruchvollen Hebungen und Pirouetten,<br />

doch stets zeigen sich auch komische Elemente. Das Werben der<br />

Frauen wird zu einem spaßigen Schaulaufen, die eingesetzten<br />

Waffen der Frauen stehen dabei denen eines gewissen James<br />

Bond in keiner Weise nach und Wojtek Alicca, eingehüllt in weiße<br />

Federn, beweist, dass nicht in jedem Schwanenkostüm eine Frau,<br />

sondern ab und zu auch ein Schelm stecken kann.<br />

UNglaubliches UNplugged<br />

Die Zaubershow mit Nico Haupt und René Chevalier<br />

Wer von einem Zauberer erwartet, dass er Menschen zersägt und<br />

große Tiere im Nu verschwinden lässt, sollte sich nun eines Besseren<br />

belehren lassen: In dieser Show gibt es keine große Kulisse,<br />

die unsere Wahrnehmung zu täuschen versucht. Alles was in diesem<br />

Raum passiert, geschieht direkt vor uns, ja zu Weilen sogar<br />

mit uns.<br />

Jeden dritten Freitag im Monat findet das UNglaubliche UNplugged<br />

im CircusVarieté Halle statt. Das markante rote Tor am<br />

Eingang der Großen Steinstraße 30 lässt bereits erahnen, dass<br />

dieser Abend alles andere als gewöhnlich wird. Im Hinterhof<br />

gelangt man schließlich in einen kleinen Raum, der durch seine<br />

urigen Holzbalken und seinen großen roten Vorhang eine gemütliche<br />

Atmosphäre ausstrahlt. In der Mitte des Raumes befindet<br />

sich ein kleiner Tisch. Ringsum verteilt sind die Stühle für die<br />

Zuschauer.<br />

Durch den Abend führen die zwei jungen Zauberkünstler René<br />

Chevalier und Nico Haupt. Ihr dargebotenes Repertoire ist ein<br />

erfrischender Mix aus klassischer Zauberkunst und mentalma-<br />

Foto: ???<br />

Die Lichtsetzung brilliert auch im zweiten Teil und erreicht ihren<br />

Höhepunkt während des Trinkliedes „In taberna“. Ein Karree aus<br />

Scheinwerfern schwebt über den Köpfen der Tänzer und setzt<br />

Lichtakzente im Takt zu jedem Sprung. Bis zur Erschöpfung wird<br />

getanzt und gesungen. Die Sopranistin Sophie Klußmann und<br />

Bariton Gerd Vogel präsentieren dem Zuschauer ungeahnt wohlklingende<br />

Höhen und Tiefen. Mit minutenlangem Applaus bedankt<br />

sich das Publikum bei jedem Einzelnen, der diesen Abend<br />

zu einem überwältigenden Erlebnis gemacht hat. Von wegen<br />

Reichtum macht nicht glücklich. Einfallsreichtum schon.<br />

Da alle hier aufgeführten Beschreibungen nur wie eine Feder<br />

des Schwans, ein Zipfel der Kostüme, ein Hohes C des Gesangs,<br />

ein Ansatz einer Pirouette sein können, abschließend noch vier<br />

Worte, ein Komma und ein Punkt: angucken, ansonsten selber<br />

Schuld.<br />

Susanne Weigel<br />

gischen Wundern. Dabei kommen Requisiten wie Seile, Münzen,<br />

Karten und auch Geldscheine zum Einsatz.<br />

Hervorzuheben sind die unterschiedlichen Charaktere der zwei<br />

Protagonisten. So verzaubert René Chevalier als „Mutter Theresa<br />

des Glücksspiels“ sein Publikum, indem er mit viel Charme und<br />

Witz versucht, die Realität auf den Kopf zu stellen. Wie durch<br />

Zauberhand wird so aus einem Fünf-Euro-Schein ein Zehn-Euro-<br />

Schein oder Münzen verschwinden und tauchen an andere Stelle<br />

plötzlich wieder auf.<br />

Im Gegensatz dazu betritt mit seinem Kollegen Nico Haupt nicht<br />

nur ein Zauberer, sondern auch ein großer Entertainer die Bühne!<br />

Besonders beeindruckend sind seine unglaublichen Kartentricks,<br />

bei deren Anblick man immer wieder ins Staunen gerät. Zudem<br />

scheint er als Mentalmagier die Gedanken des Publikums lesen<br />

zu können und beweist dies eindrucksvoll in mehreren Situationen.<br />

Mit ihrer Darbietung gelingt es den zwei Zauberkünstlern, dem<br />

Publikum einen unterhaltsamen, lustigen und spannenden<br />

Abend zu bereiten. Aus diesem Grunde ist das UNglaubliche UNplugged<br />

definitiv einen Besuch wert. Für Fans von Kleinkunst und<br />

Zauberei auf jeden Fall ein Muss! Um jedoch eine gute Sicht auf<br />

das Geschehen zu haben, sollte man relativ früh anwesend sein,<br />

da die besten Plätze schnell besetzt sind.<br />

Juliane Heller<br />

Nächster Termin: 15.01.2010<br />

Beginn: 20.30 Uhr<br />

Ort: CircusVarieté<br />

Große Steinstraße 30<br />

Homepage: http://www.myspace.com/unglaublichesunplugged<br />

21


Buch<br />

Neu<br />

Als die Welt Wald war<br />

Viele Studenten joggen durch den Wald, andere<br />

freuen sich schon am Montag auf ihren<br />

sonntäglichen Waldspaziergang, und Kinder<br />

lieben es auf Buche und Eiche herumzuklettern,<br />

auch wenn sie die meisten Baumarten oft<br />

nicht mehr beim Namen nennen können.<br />

Der Wald begegnet uns aber auch in vielen<br />

Liedern, Gedichten, Märchen und Romanen.<br />

Die schwedische Autorin Kerstin Ekman hat<br />

sich eine Vielzahl dieser Schriftstücke vorgenommen<br />

und berichtet in ihrem 528-Seiten-Werk beispielsweise,<br />

dass die Linde in manch mittelalterlicher Minne nur aufgrund ihrer<br />

herzförmigen Blätter besungen wurde, aber eigentlich nicht<br />

in der Landschaft des Dichters vorkam. Sie erklärt die Herkunft<br />

der Kräuternamen Liebeskraut und Hosenschiss, was Weintraubenkerne<br />

in 6000 Jahre alten Tonbechern verloren hatten und<br />

widmet sich den Wesen, die sichtbar durch das Gehölz streifen<br />

sowie jenen fabelhaften, die nicht einmal Spuren hinterlassen.<br />

Dabei überzeugt die Autorin mit Fachwissen, bringt Zitate von<br />

Handschriften bis Internetquellen und schildert eigene Erfahrung<br />

im, um und mit dem Wald. In jedem der insgesamt sieben<br />

Abschnitte wird eine weitere spannende Facette des Waldes gezeigt<br />

und mit Holzschnitten, Fotos, Teppichausschnitten, Malereien<br />

und Zeichnungen bebildert.<br />

Wer Natur und Literatur gleichermaßen liebt, muss dieses Buch<br />

unbedingt lesen, alle anderen werden jedoch den Wald vor lauter<br />

Bäumen nicht erkennen.<br />

Susanne Weigel<br />

Der Wald: Eine literarische Wanderung<br />

Kerstin Ekman<br />

gebunden, 527 Seiten<br />

Piper, 24,90 €<br />

Traue nur dir selbst<br />

Anke verliebt sich blind in den namenlosen<br />

Protagonisten. Ihr neuer Liebhaber ist zärtlich<br />

und zeigt in allen Lebenslagen Verständnis,<br />

auch für ihre Tochter Clarissa. Er lässt sich<br />

jedoch nur aus Kalkül mit Anke ein, denn er<br />

will ihr Kind. Er verabscheut die Mutter, denkt<br />

beim Sex an das pubertierende Mädchen und<br />

besticht dieses durch Geschenke. Ein grauenvolles<br />

Spiel beginnt. Der Protagonist möchte<br />

Anke an ein Leben ohne Tochter gewöhnen.<br />

Die spannende und packende Novelle reißt den Rezipienten in<br />

den Strudel der Geschehnisse. Dargestellt wird ein angsteinflößendes<br />

Nerven-Drama, das von einem egomanischen Psychopathen<br />

bis ins Detail geplant ist. Der Leser, der ein großes Unglück<br />

kommen sieht, wird ganz subtil in die Geschichte involviert.<br />

Er wünscht sich, das Ende manipulieren und die Figuren retten<br />

zu können, aber selbstverständlich scheitert er dabei. Das Buch<br />

projiziert eine abartige, perverse Fiktion. Was zurück bleibt, ist ein<br />

verstörtes Gefühl.<br />

Christiane Rex<br />

Die erste Versuchung<br />

Gregor Eisenhauer<br />

broschiert, 126 Seiten<br />

mdv, 10 €<br />

Wiederentdeckt<br />

Veronika zwischen Leben und Tod<br />

Bestsellerautor Paulo Coelho veröffentlichte<br />

1998 „Veronika beschließt zu sterben“ - einen<br />

Roman, der subtil seine Wirkung erzielt: Nach<br />

mehreren Packungen Schlaftabletten findet sich<br />

die 24-jährige Veronika nicht im Jenseits wieder,<br />

sondern in Vilette, dem Irrenhaus Ljubljanas.<br />

Dort ist sie umgeben von scheinbar einst erfolgreichen<br />

Menschen. Jeder der Patienten ist an<br />

einem Punkt seines Lebens nicht mehr weiter<br />

gekommen. Sie selbst auch. Veronikas Gründe<br />

zu sterben waren: das Älterwerden, Krankwerden, Freunde verlieren<br />

und die Grausamkeiten der Welt um sie herum - Ängste, die<br />

sie mit einem Gefühl der vollkommenen Ohnmacht zurücklassen.<br />

Da ihr Suizidversuch zu irreparablen Schäden geführt hat, ist sie<br />

dem Tod auf einmal viel näher, als sie denkt plötzlich erkennt sie,<br />

dass sie gar nicht sterben will. Zu spät?<br />

Das Buch ist die beste Lektüre für Menschen, die sich vom Schicksal<br />

ungerecht behandelt fühlen und sich fragen, was das Leben<br />

eigentlich zu bieten hat. Dem Leser wird im Laufe der Geschichte<br />

bewusst, dass die meisten eigenen Probleme eigentlich halb so<br />

schlimm sind.<br />

Sarah Michelle Gellar ist Anfang 2010 als Veronika in den deutschen<br />

Kinos zu sehen. Vorher kann sich der Leser beim Schmökern<br />

seinem eigenen Kopfkino hingeben.<br />

Diana Schlinke<br />

Veronika beschließt zu sterben<br />

Paulo Coelho<br />

Taschenbuch, 223 Seiten<br />

Diogenes, 8,90 €<br />

Virginia - Die frühe Feministin<br />

Virginia Woolf (1882-1941) setzte sich bereits<br />

1929 mit dem literarischen und politischen Feminismus<br />

auseinander. In ihrem Essay „A Room<br />

of One`s Own (Ein eigenes Zimmer)“ behandelt<br />

sie auf sehr anschauliche und unterhaltsame<br />

Weise Fragen wie: Auf welche Weise können<br />

Frauen soziale und wirtschaftliche Unabhängigkeit<br />

erreichen? Und wie sieht die Bildung<br />

von Frauen im Gegensatz zu der von Männern<br />

aus? Der Schlüssel für künstlerisch begabte<br />

Frauen liegt in der Eigenständigkeit Geld zu verdienen, sich zu<br />

bilden und „ein eigenes Zimmer“ zu haben, um ungestört ihr Talent<br />

umsetzen zu können, schreiben zu können - und somit ihr<br />

Leben nicht nur der Familie und dem Mann zu opfern (und ihr<br />

Schreibtalent zu unterbinden.) Virginia Woolf fordert, dass Frauen<br />

für sich selbst sorgen, dass sie sich eine Eigenständigkeit und<br />

Unabhängigkeit schaffen. Ihre Forderung ist bis heute - 80 Jahre<br />

später - aktuell.<br />

Diana Schlinke<br />

Ein eigenes Zimmer<br />

Virginia Woolf<br />

Taschenbuch, 130 Seiten<br />

Fischer, 8,95 €<br />

22


Berufsperspektive<br />

„Ich will untersuchen, ob Täter auch anhand ihrer ,ähs‘ und<br />

,ähms‘ überführt werden können.“<br />

Katharina Frießleben studiert seit 2005 Sprechwissenschaft an<br />

der Uni Halle. Schnell stand für sie fest, dass sie weder ans Theater,<br />

noch in eine Arztpraxis will. Als „Sachverständige für Sprechererkennung“<br />

möchte sie zukünftig bei der Polizei arbeiten. Was<br />

hinter diesem Berufsbild steckt, verrät sie im folgenden Interview,<br />

aber auch, ob sie deshalb einen Krimi auf ihrem Nachtschrank<br />

liegen hat und warum sie das Studentenleben vermissen wird.<br />

Interview: Susanne Weigel<br />

1. Bei Studienantritt wird man von Freunden und Verwandten<br />

gern gefragt: „Was ist später eigentlich dein Beruf?“ Was<br />

hast du anfangs darauf geantwortet?<br />

Eigentlich das, was ich heute immer noch antworte:<br />

Mein Studienfach besteht aus 4 Bereichen: Rhetorik; Sprach-,<br />

Sprech-, Stimmstörungen; Sprechkunst und Phonetik/Phonologie.<br />

Ich kann also in jedem<br />

Bereich arbeiten,<br />

der auch nur im Entferntesten<br />

etwas mit<br />

Sprechen zu tun hat.<br />

Entweder als Sprecher<br />

selbst oder als<br />

Trainer bzw. Lehrer.<br />

So kann ich z.B. Nachrichtensprecher<br />

im<br />

Radio oder Fernsehen<br />

werden, Ausländer in<br />

der deutschen Aussprache<br />

unterrichten,<br />

Katharina Frießmann<br />

Politiker rhetorisch<br />

schulen, im Krankenhaus Schlaganfallpatienten therapieren oder<br />

mit Schauspielern arbeiten.<br />

<strong>2.</strong> Wie bist du auf das Berufsbild „Sachverständige für Sprechererkennung“<br />

aufmerksam geworden?<br />

Ich habe am DGSS-Studierendenforum (Deutsche Gesellschaft<br />

für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung e.V.) in Jena teilgenommen.<br />

Das war im Mai 2007. Ein Seminar, das Prof. Adrian<br />

P. Simpson anbot, lautete: „CSI Jena – den Tätern auf der Spur“.<br />

Schon die nähere Beschreibung hat mich fasziniert und so auch<br />

das Seminar selbst. Meine Freundin und ich haben danach Prof.<br />

Simpson zu einem Workshop nach Halle eingeladen. Dieser fand<br />

im Juli 2008 statt und hat mich in meinen ersten Eindrücken bestärkt.<br />

Zu dieser Zeit hatte ich mich auch schon für ein Praktikum<br />

im Landeskriminalamt Brandenburg in Eberswalde beworben.<br />

Dort war ich für zwei Wochen im vergangenen Februar und<br />

konnte den Sprechererkennern bei ihrer Arbeit über die Schulter<br />

sehen.<br />

3. Was genau habt ihr bei dem Workshop gemacht?<br />

Wir haben anhand authentischer Aufnahmen einen Fall untersucht,<br />

den Prof. Simpson selbst bearbeitet hatte. Wir hatten also<br />

Foto: Katharina Frießmann<br />

ein Audio-Stimmmaterial und ein Audio-Vergleichsmaterial und<br />

haben diese miteinander verglichen. Zuerst haben wir dazu<br />

die Tataufnahme verschriftet, dann allgemeine Merkmale des<br />

Täters wie Geschlecht, Alter und regionale Herkunft bestimmt<br />

und schließlich sprecherspezifische Merkmale, wie z.B. eine ungewöhnlich<br />

hohe Stimme oder stereotype Melodieverläufe. Dasselbe<br />

wurde auch mit der Vergleichsaufnahme gemacht, um danach<br />

die beiden Aufnahmen miteinander vergleichen zu können.<br />

Wir haben außerdem Computerprogramme kennengelernt, die<br />

zu Stimmanalysen genutzt werden können, und gelernt, Computerfehler<br />

zu erkennen und zu korrigieren.<br />

4. Wo können „Sachverständige für Sprechererkennung“<br />

eingesetzt werden?<br />

Sprechererkenner werden bei allen Verbrechen eingesetzt, in<br />

denen die Stimme eine Rolle spielt, die in irgendeiner Weise<br />

aufgenommen wurden. Zum Beispiel auf einer Mailbox, einem<br />

Anrufbeantworter, durch Telekommunikationsüberwachung<br />

oder Anrufe, die beim Notruf eingehen und dort mitgeschnitten<br />

werden. In letzter Zeit nimmt aber auch die Arbeit an kinderpornographischen<br />

Vergehen zu, bei denen den Sprecherkennern<br />

meist eine Videodatei zur Verfügung steht. Außerdem wird auch<br />

rechtsextremistische Musik unter die Lupe genommen.<br />

5. Dein bevorzugter Arbeitsort ist bei der Polizei. Dann liegt<br />

doch sicherlich gerade ein Krimi auf deinem Nachtschrank.<br />

Oder anders gefragt, was liest du gerade?<br />

Nee du, privat bin ich für Krimis gar nicht zu haben. Zurzeit lese<br />

ich von Watzlawick „Anleitung zum Unglücklichsein“.<br />

6. Hast du deine Abschlussarbeit mit dem Blick auf dein späteres<br />

Berufsbild ausgerichtet? Wie lautet das Thema?<br />

Ja! Das Diplomarbeitsthema hat sich innerhalb meines Praktikums<br />

am Landeskriminalamt Brandenburg ergeben, als mir<br />

schon klar war, dass das mein Berufswunsch ist. Mein Arbeitstitel<br />

lautet: „Qualitative Untersuchung von Häsitationen / gefüllten<br />

Pausen anhand von Notrufmitschnitten“.<br />

Ich will also untersuchen, ob Täter auch anhand ihrer „ähs“ und<br />

„ähms“ überführt werden können.<br />

7. Gab es einen alternativen Berufswunsch, falls die Sprechererkennung<br />

doch nicht das Richtige für dich gewesen wäre?<br />

Nein, nicht wirklich! Aber ein Plan B wäre nicht schlecht, da es<br />

nicht so viele Chancen gibt, eine Stelle zu ergattern. Wahrscheinlich<br />

werde ich promovieren, um die Zeit bis zur nächsten freien<br />

Stelle zu überbrücken.<br />

8. Rückblickend auf deine Studienzeit: Was wirst du besonders<br />

vermissen?<br />

Die Möglichkeit ständig dazuzulernen, sich den Tag selbst einzuteilen<br />

und auszuschlafen.<br />

Danke für das Interview<br />

23


Reportage<br />

Begegnungen in Russland<br />

Ein Reisetagebuch in Auszügen<br />

Im Rahmen des studentischen Austausches mit der Partnerstadt Ufa (am südlichen Ural gelegen) besuchten im Juli 2009 fünfzehn russische<br />

Studenten Halle. Dreizehn deutsche Studenten fuhren mit ihnen zusammen für den Monat August nach Ufa. Ich war eine von ihnen.<br />

Sonntag, <strong>2.</strong> August, 18 Uhr (Polen, im Zug nach Moskau)<br />

Ein Touristenmagnet ist Russland eher nicht. Viele fanden es zwar<br />

ziemlich spannend, als ich meinte, ich würde bald dorthin fahren;<br />

mitgekommen wären allerdings die wenigsten. Mich reizt das<br />

Land, ich weiß nicht, warum. Vielleicht liegt es an der russischen<br />

Sprache... Oder es liegt einfach an der Exotik des Ostens, worüber<br />

– mein Eindruck – immer ein wenig verschreckt berichtet wird.<br />

Wollen mal sehen, wie das so wird!<br />

Dienstag, 4. August, 18 Uhr (irgendwo in Russland)<br />

Wir fahren immer noch. Nun von Moskau nach Ufa in einem recht<br />

rustikalen, gefühlt kilometerlangen Zug. 15 Minuten braucht<br />

man schnellen Schrittes, um von vorn nach hinten durchzulaufen.<br />

Unsere Gruppe ist im ganzen Zug verstreut. Sich zur Doppelkopfrunde<br />

zusammenzufinden ist also mit viel Gerenne und<br />

Gestolper durch immer wieder anders riechende und tönende<br />

Waggons verbunden. Zugfahren in Russland ist übrigens wirklich<br />

ein Erlebnis! Es ist so viel Zeit, um einfach mal nichts zu machen.<br />

Drei Tage lang! Langweilig wird´s auch nicht; schon allein, weil<br />

wir immer auf dem Sprung sind uns kundig zu machen, wann<br />

die Toiletten wieder gesperrt sind. Das ist der Fall, wenn Städte<br />

und Bahnhöfe passiert werden, was ausgesprochen häufig vorkommt...<br />

Gerade überqueren wir die mehrere Kilometer breite<br />

Wolga! In Russland scheint alles etwas größer zu sein...<br />

Mittwoch, 5. August (Ufa)<br />

Ufa!!! Auch Ufa ist größer als gedacht. Geradezu gigantisch! 50<br />

Kilometer lang, eine Million Einwohner, 15 Universitäten, riesige<br />

Straßen und Plätze. Die Bevölkerung besteht aus Baschkiren,<br />

Tartaren und Russen; sie ist zur Hälfte orthodox, zur Hälfte muslimisch.<br />

(Das Baschkirische gehört übrigens zu den Turksprachen.<br />

Ein paar unserer Russen konnten sich in Halle im Dönerladen<br />

wunderbar verständigen).<br />

Meine Gastfamilie selbst wohnt in einem neugebauten Häuschen<br />

inmitten einer ehemals industriellen Siedlung, übrigens mit<br />

diesen typischen, bunten Holzhäuschen, die so farbenfroh in die<br />

Welt schauen. Bei den schlammigen Straßen allerdings frage ich<br />

mich, wie die stets elegant gekleideten Russinnen Schuhe und<br />

Kleidung so gekonnt vor Dreck bewahren. Die Übung habe ich<br />

noch nicht und sehe dementsprechend aus.<br />

Samstag, 8. August (Ural, 400 km von Ufa entfernt)<br />

Das Highlight des ganzen Austausches ist die Paddeltour (Splaw<br />

genannt) irgendwo im Ural. Paddeltour kann man das eigentlich<br />

nicht nennen: Wir werden nur jeden zweiten Tag auf der Bjelaja<br />

ein paar Kilometer flussabwärts fahren. Die Katamarane haben<br />

wir heute bereits ausgetestet und mehr als ein paar Kilometer<br />

hätten wir auch nicht geschafft; zu viert einen Katamaran zu<br />

steuern ist nämlich einigermaßen schwierig. Wir drehten uns also<br />

kontinuierlich im Kreis, durchfuhren den Fluss per Zickzack-Kurs<br />

und stießen gut und gerne einige Dutzend Mal gegen andere<br />

Boote. Nun, diesen ging´s genauso. Und man hat ja Zeit. Viel Zeit!<br />

Zehn Tage sind wir insgesamt hier in der Wildnis. Wobei, auch<br />

Wildnis ist nicht das treffende Wort für diesen landschaftlich<br />

wirklich überaus reizvollen Ort. Ab und zu sind Stromkabel gespannt,<br />

es gibt Handyempfang, Landwirtschaft und Viehbetrieb.<br />

Dabei rechnete ich nun wahrlich mit einigen Bären (im Ural gibt<br />

es immerhin noch 2500). Stattdessen Kühe über Kühe. Mitten auf<br />

unserem Zeltplatz. Heute Morgen hatten sie nur leider Gottes unser<br />

Lager etwas umgekrempelt, sodass liegen gelassene Klamotten<br />

im wahrsten Sinne des Wortes „beschissen“ aussahen. Egal,<br />

sie wurden im Fluss mit Spüli gereinigt. Normalno! Alles halb so<br />

wild.<br />

Unsere Architekten beim Banjabau<br />

Montag, 10. August<br />

Nun weiß ich, was die Holzgerüste am Ufer der Bjelaja zu bedeuten<br />

haben, die allenthalben überall herumstehen: Es sind Ruinen<br />

von Banjas (offenbar eine Tradition für jeden Bjelaja-Paddler)!<br />

Gestern bauten wir auch eine solche: Eine Sauna bestehend<br />

aus einem Holzgerüst, darum gewickelten Planen und darin ein<br />

Steinhaufen, schön erhitzt, dass die Steine auch ordentlich glühen!<br />

So was zu bauen ist ein ziemlicher Aufwand, dauert bis zum<br />

Abend, so dass es bereits dunkel ist, wenn man sich aus der Banja<br />

in den kalten Fluss stürzt. Für mich war der Fluss ein Segen und<br />

die Banja die Hölle. Unsere Russen sind außerdem Meister darin,<br />

viel Wasser auf die Steine zu schütten und mit Handtüchern den<br />

Fot: Stefan Eberius<br />

24


wohltemperierten Dampf auch gut in der Banja zu verteilen. Er<br />

war geradezu atemberaubend.<br />

Da sind die Abende am Lagefeuer für mich dann doch angenehmer.<br />

Ich fürchte, an dieser Stelle ein Stereotyp bestätigen<br />

zu müssen, aber der Wodka geht tatsächlich in rauen Mengen<br />

reihum. Freilich aber immer mit einer hübschen Portion sakuska,<br />

dem Nachessen nach dem Trinken. Dementsprechend sind die<br />

Abende stets liederreich und fröhlich. Bis zum Morgen.<br />

gestern einen Tag verbracht haben. Ein Tag lohnt sich nun wahrlich<br />

nicht, und als hätte sich Moskau absichtlich geweigert, nur<br />

für so kurze Zeit besichtigt zu werden, hat es prompt donnerstags<br />

den Kreml geschlossen (und das Lenin-Mausoleum noch dazu).<br />

Macht nichts: Die Basiliuskathedrale hat in ihrer märchenhaften<br />

Schönheit voll und ganz entschädigt und des Abends blinkten<br />

rote Sterne zum Abschied von allen Türmen der Stadt.<br />

Mittwoch, <strong>2.</strong> September (irgendwo in Weißrussland, auf dem<br />

Weg nach Berlin)<br />

Die Basiliuskathedrale bei Nacht<br />

Dienstag, 18. August (Ufa)<br />

Foto: Diana Lindner<br />

Schon wieder im Zug. Mit St. Petersburg im Rücken und Totalerschöpfung<br />

in den Beinen. Wer St. Petersburg noch nie gesehen<br />

hat, sollte sich schleunigst auf den Weg machen. Diese Stadt gehört<br />

mit Abstand zu den schönsten, die ich je gesehen habe. Nicht<br />

umsonst nennt man sie das Venedig des Nordens (auch wenn diese<br />

Bezeichnung noch andere Städte des Nordens in Anspruch<br />

nehmen). St. Petersburg ist ein einziges lebendiges, turbulentes<br />

und berauschendes Museum. Vom Bernsteinzimmer zur Eremitage,<br />

von den Prachtfassaden bis in den kleinsten urigen Winkel.<br />

Interessant übrigens, dass sogar auf dem Newskij Prospekt, der<br />

Flanier- und Touristenmeile schlechthin, kein Englisch gesprochen<br />

wird. Ohne Russisch hat man es selbst in einer Stadt wie St.<br />

Petersburg schwer. Und die Metro! Genauso herrlich wie die berühmte<br />

Moskauer Metro, nur noch ein wenig tiefer. Stellenweise<br />

dauert die Reise in den Untergrund bis zu drei Minuten!<br />

Russland ist ein Land der Superlative. Wirkte auf mich sehr farbenfroh,<br />

manchmal fremd, oftmals unberechenbar, chaotisch,<br />

gastfreundlich, schlichtweg bunt. Das Exotische hat das Land jedenfalls<br />

nicht verloren. Ein Monat in Russland ist wie ein Tag in<br />

Moskau: Einfach viel zu kurz!<br />

Diana Lindner<br />

Genug frische Uralluft geschnuppert. Hab´ mir eine kleine Erkältung<br />

eingefangen, was ein bisschen ungünstig ist in Russland,<br />

denn das Naseputzen wird hier als sehr unangenehm empfunden.<br />

Unsere 15 Russen allerdings hatten sich schon in Deutschland<br />

an das allgemeine Tröten gewöhnt und empfanden es sogar<br />

als Befreiung sich mal anständig schnäuzen zu dürfen!<br />

Freitag, 28. August, gegen 10 Uhr Moskauer Zeit (kurz vor St. Petersburg)<br />

Eine ausgesprochen kurze Zugfahrt ist das! Nur 9 Stunden von<br />

Moskau nach St. Petersburg; man hat kaum Zeit sich zu sammeln<br />

und zu schreiben. Mittwoch in aller Frühe ging es nach einem<br />

durchfeierten, aber traurigen Abschlussabend in Ufa mit nur<br />

noch zwei von unseren Russen 30 Stunden nach Moskau, wo wir<br />

Unser studentisches Reisegrüppchen<br />

[Weitere Infos zum Austausch: www.freundebaschkortostans.de]<br />

Foto: Stefan Eberius<br />

25


Kurzgeschichte<br />

Nebel<br />

Der Wecker schreit auf. Ihre Hand schlägt ihn ohne Vorwarnung. Er gibt<br />

Ruhe- für heute.<br />

Morgen ist auch noch ein Tag. Morgen ist immer noch ein Tag. Sie ist heute<br />

müde.<br />

Mit geschlossenen Augen sinkt sie zurück auf ihr flachgedrücktes Kissen.<br />

Ihre Hände ziehen die Bettdecke weit über ihr Gesicht und krallen sich an<br />

den Zipfeln fest. Sie will die Nacht nicht aufgeben, hält sie unter ihren geschlossenen<br />

Augen gefangen. Es ist so warm.<br />

Nein, noch nicht aufstehen. Liegenbleiben. Nicht bewegen.<br />

Nicht bewegen. Lieben bleiben. Bloß nicht aufstehen.<br />

Er liegt auf der Seite und sieht dem angebrochenen Tag ins Gesicht. Zwei<br />

Hände ziehen die Decke, die auf ihm liegt, bis unter sein Kinn. Nicht über<br />

den Kopf, bloß nicht über den Kopf, denkt er. Es ist so kalt.<br />

Füße laufen vor seinen Augen hin und her, kreuz und quer, drehen sich.<br />

Alles dreht sich.<br />

Wie ein umgestoßenes Fahrrad liegt er da. Die Räder drehen sich noch.<br />

Alles dreht sich.<br />

Er ist müde. Doch schlafen will er nicht.<br />

Nicht jetzt. Nicht hier.<br />

Er riecht am Zipfel der Decke und rümpft die Nase.<br />

Ich bekomme keine Luft mehr. Sie öffnet die Augen. Die Decke drückt auf<br />

ihr Gesicht. Sie wirft die künstliche Nacht von sich und setzt sich auf. Zu<br />

spät. Eine geschlagene halbe Stunde zu spät.<br />

Plötzlich ist sie nicht mehr müde. Nicht beim hastigen Essen, nicht beim<br />

Waschen, nicht beim Zähneputzen, nicht beim Anziehen und nicht beim<br />

die Treppe hinunter rennen. Ihre Schritte sind laut. Sie verwandeln sich<br />

erst auf dem Fahrrad in ein leises Treten. Der Dynamo weint.<br />

Sie wird wieder müde. Die Augen fallen ihr zu. Sie versucht eine Melodie zu<br />

summen. Kaum hörbar, aber da.<br />

,Mach die Augen auf!‘ ermahnt sie sich.<br />

Hinter einer Nebelwand blinkt blaues Licht auf. Kaum zu sehen, aber da.<br />

Zu dieser frühen Stunde ist jeder dem Schlaf näher als der Wachsamkeit.<br />

Ihre Augen sind schnell.<br />

Links ein weißes Auto, davor eine Frau die weint. Rechts, auf dem Gehweg<br />

liegt ein Fahrrad. Ein Fahrrad. Die Reifen drehen sich nicht. Ihre werden<br />

langsamer. Sie nimmt sich vor nicht hinzusehen.<br />

Der Nebel verdeckt alles, solange man ihm nicht zu nahe kommt.<br />

Ausgestreckt liegt er vor ihr auf der Straße - der Nebel und ein Kind.<br />

Sie dreht ihren Kopf zur Seite. „Weiß“ denkt sie, „so weiß.“<br />

Sein starrer Blick hält sie fest.<br />

‚Nicht schlafen, bloß nicht schlafen. Hörst du!‘ brüllen ihre Gedanken. Sie<br />

blinzelt zwei Mal, in der Hoffnung, dass er es ihr nachmacht.<br />

Der Zipfel ruht an seinem Gesicht.<br />

Augen.<br />

Blicke.<br />

Ende<br />

Juli Luft<br />

26


Schizoider Hypochonder<br />

Abendessen<br />

Du sagst zu mir,<br />

dass du irgendwann<br />

so jähzornig wie dein Vater werden wirst.<br />

Ich sage daraufhin,<br />

das wäre totaler Käse.<br />

Doch du meinst,<br />

der Apfel fiele eben nicht weit<br />

vom Stamm.<br />

Ach, Quark, entgegne ich.<br />

Plötzlich kochst du vor Wut,<br />

schreist, ich hätte keine Ahnung<br />

und dass ich dumm wie Brot wäre.<br />

Dabei könntest du dir<br />

von meiner Sicht auf die Dinge<br />

ruhig mal eine Scheibe abschneiden.<br />

Wir schweigen.<br />

Du versuchst nicht mal die Suppe auszulöffeln,<br />

die du dir selber eingebrockt hast.<br />

Ich esse auch nichts,<br />

schlucke nur eine Träne herunter.<br />

Dann ist das Thema gegessen,<br />

wir räumen ab,<br />

und obwohl dabei kein Teller herunterfällt,<br />

stehen wir plötzlich vor einem Scherbenhaufen.<br />

Susanne Weigel<br />

Die Wahrheit<br />

In Sonnenbahnen drehen sich die Gestirne.<br />

Kreisen im endlichen Tanz der Zeit<br />

und aus den Kratern recken sich Türme<br />

in den besternten Himmel weit.<br />

Von dorten blicken suchende Augen<br />

ins helle Firmament der Nacht<br />

und erhoffen Wahrheit aus den Sternen zu saugen.<br />

Doch jeder Stern nur strahlt und lacht.<br />

Doch Wahrheit liegt nicht in Materie und Substanz.<br />

Sie findet sich nur im engen Raum<br />

zwischen zwei Mündern im korona-heißen Lippentanz<br />

eines Kusses sanften Liebestraum.<br />

JANUS<br />

Eine Wahrheit, die kein Aug, kein Verstand<br />

je zu erfassen vermag.<br />

Allein das Herz kann mit der Hand<br />

das ergreifen, was lange in den Sternen lag.<br />

Ein Geschwür, Gehirn genannt,<br />

erschwert mir das Fühlen.<br />

Ein Geist sitzt, vom Wahn bemannt,<br />

zwischen zwei leeren Stühlen.<br />

Ein Tumor, Herz geheißen,<br />

erschwert mir das Denken.<br />

Zwei Bestien sich zerreißen,<br />

nur um mich zu lenken.<br />

Eine Krankheit, als Leben bekannt,<br />

erschwert mir das Sein.<br />

Eine Existenz von Gott gesandt<br />

nur zum bloßen Schein<br />

JANUS<br />

Als Frau Holle ihr Kissen verlor<br />

Genussvoll biss ich in ein Stückchen Stolle,<br />

just in dem Moment schüttelte Frau Holle<br />

ihr Kopfkissen aus.<br />

Mit Schwung tanzten und wirbelten die Flocken<br />

und versuchten mich in den Garten zu locken,<br />

doch ich blieb im Haus,<br />

stellte Tannenzweige in eine Vase,<br />

hatte funkelnden Puderzucker auf der Nase<br />

und wollte nicht raus.<br />

Ganz plötzlich plumpste ein weißes Kissen,<br />

mitten auf mein Fensterbrett.<br />

Ich dachte, Frau Holle wird es bestimmt vermissen<br />

und dass sie es gern wieder hätt’.<br />

Ich nahm den ersten Brunnen, den ich fand<br />

und sprang mit Kissen ins Märchenland.<br />

Frau Holle wartete schon an der Tür,<br />

zog mich lachend ins Haus und dankte mir.<br />

Ich gab ihr das Kissen und sie mir ‘nen Punsch,<br />

sie versprach mir sogar die Erfüllung von einem Wunsch.<br />

Ich wünschte mir erst ein Buch, dann eine CD,<br />

doch am meisten wollte ich Weihnachtsschnee.<br />

„Ich muss aber erst den Apfelbaum rütteln<br />

und die Brote aus dem Ofen holen.<br />

Ob dann noch Zeit bleibt die Betten auszuschütteln?“<br />

fragte sie und lächelte verstohlen.<br />

Diesem Lächeln konnte ich unmöglich widerstehen<br />

und brachte es nicht übers Herz so einfach zu gehen.<br />

Seit dem verblieb ich im Märchenland<br />

und wurde Frau Holles erster Bettenausschüttelpraktikant.<br />

Susanne Weigel<br />

27


Rätselraten unterm Weihnachtsbaum<br />

Diesmal ist alles ganz einfach, nicht wie in der letzten <strong>Ausgabe</strong>. Wer weiß denn schon, dass Robert<br />

Musil einen Zählzwang hatte, aber nie im Gefängnis war? Wie gesagt, es wird leichter, denn Weihnachten<br />

steht vor der Tür und mit diesem Fest kehren auch all unsere Lieblingslieder wieder, naja und<br />

auch die anderen. Hier finden sich zwei Weihnachtlieder, deren Worte nicht immer stimmen. Findet<br />

heraus, an welchen Stellen der Text verändert wurde! Viel Spaß dabei.<br />

Susanne Weigel<br />

Süßer die Glocken nie klingen<br />

Süßer die Glocken nie klingen,<br />

als zu der Weihnachtszeit,<br />

s’ ist als ob Engelein singen,<br />

wieder von Träumen und Freud.<br />

|:Wie sie gesungen in nebliger Nacht :|<br />

Glocken mit schillerndem Klang<br />

klinget die Erde entlang.<br />

Oh, wenn die Glocken erklingen,<br />

spät sie der Weihnachtsmann hört,<br />

tut sich ins Mäntelchen schwingen,<br />

eilet hernieder zur Erd,<br />

|:eilet zu Laura und Kevin und Finn :|<br />

Glocken mit schillerndem Klang<br />

klingelt die Erde entlang.<br />

Klinget mit goethlichem Schalle<br />

Über die Meere noch weit,<br />

dass sich erfreuen doch alle<br />

der vorlesungsfreien Zeit.<br />

|:Alle aufjauchzen trotz Textschwierigkeit :|<br />

Glocken mit schillerndem Klang<br />

klinget die Erde entlang.<br />

Text: Rudolpho de la Rouge<br />

Es ist ein Kloß entsprungen<br />

Es ist ein Kloß entsprungen<br />

aus einer Schüssel zart,<br />

wie uns die andren sungen<br />

von Vati kam die Art.<br />

Wir haben’s nicht probiert,<br />

mitten im kalten Winter,<br />

während uns allen friert.<br />

Das Klößlein, das ich meine,<br />

wovon niemand will,<br />

hat uns gebracht alleine<br />

weihnachtliche Still.<br />

Trotz Muttis ew`gem Rat<br />

hat er versucht zu kochen,<br />

was uns nicht selig macht.<br />

Das Klößelein so kleine,<br />

das duftet nimmer süß,<br />

nun liegt es ganz alleine<br />

in tiefer Finsternis.<br />

Dem Menschen ist’s schnuppe,<br />

er hilft sich aus dem Leide<br />

mit Büchsennudelsuppe.<br />

Text: Rudolpho de la Rouge

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