Schule und politische Sozialisation: Der heimliche Lehrplan1

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Winfried Kurth
legt (Abb. 8), unter dem anfeuernden Jubel der Delegierten! Die publik gemachten
und unter der Anteilnahme der Öffentlichkeit stattfindenden Interaktionen unterscheiden
sich nicht wesentlich von dem, was täglich auf dem Schulhof einer Grundschule
beobachtet werden kann. In beiden Fällen ist es das social alter, was sich an
einem einzelnen, als "schwach" empfundenen Opfer (Stellvertreter für das eigene,
traumatisierte Kindheits-Selbst?) abreagiert – nur ist in der Politik das social alter
der Erwachsenen am Werk, welches noch schwerer zu fassen ist als das der Kinder
und Jugendlichen, da es verständlicherweise noch vehementer verdrängt, im Diskurs
rationalisiert, wegdiskutiert wird. Wir fühlen uns alle außerordentlich vernünftig und
möchten unser infantiles Treiben keinesfalls als solches entlarvt wissen, deshalb
lassen wir uns jede Menge Rationalisierungen einfallen, die jenes begründen (ideologisch
affirmative Disziplinen wie Politikwissenschaft und Ökonomie sind voll von
solchen Pseudo-Theorien)! –
Abb. 8 127 Abb. 9 128
Am besten eignet sich natürlich die Außenpolitik für das "social alter" zum Ausagieren
von Gruppenfantasien, da dort aufgrund des Fehlens einer übergeordneten
(Weltstaats-) Autorität ohnehin ein anarchischer Zustand herrscht, der dem des
Schulhofs analog ist. Meistens findet sich auf dieser Bühne leicht ein "Bösewicht"
für die Projektion aggressiver Impulse – egal, ob er nun gerade Ghaddafi, Saddam
Hussein, Karadzic oder Milosevic heißt (Abb. 9; man beachte die unterschwellige
Bewunderung, die sich in dem Cover ausdrückt). Die Ausagierung der regressiven
Bestrafungswünsche ist dann im Extremfall gleichbedeutend mit Krieg. Wie ein
solcher "Schurke" zuvor von westlichen Staaten – von uns – selber ermuntert und
127 Der Spiegel, 20. 11. 1995.
128 Der Spiegel, 5. 6. 1995.