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Mutismus: Sprachlos vor Angst

Wenn Kinder hartnäckig schweigen Mutismus: Sprachlos vor Angst Manche Kinder sind zu Hause lebhaft und gesprächig, doch bei Fremden verstummen und erstarren sie regelmäßig. Oft gelten sie dann einfach als extrem schüchtern. Doch hinter ihrer Sprachlosigkeit kann eine Angststörung stehen: Mutismus. Erfahren Sie, wie er diagnostiziert und behandelt werden kann.

Wenn Kinder hartnäckig schweigen

Mutismus: Sprachlos vor Angst

Manche Kinder sind zu Hause lebhaft und gesprächig, doch bei Fremden verstummen und erstarren sie regelmäßig. Oft gelten sie dann einfach als extrem schüchtern. Doch hinter ihrer Sprachlosigkeit kann eine Angststörung stehen: Mutismus. Erfahren Sie, wie er diagnostiziert und behandelt werden kann.

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<strong>Mutismus</strong>: <strong>Sprachlos</strong> <strong>vor</strong> <strong>Angst</strong> - urbia.de<br />

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von 4 30.01.2014 07:50<br />

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Manche Kinder sind zu Hause lebhaft und gesprächig, doch bei Fremden verstummen und<br />

erstarren sie regelmäßig. Oft gelten sie dann einfach als extrem schüchtern. Doch hinter<br />

ihrer <strong>Sprachlos</strong>igkeit kann eine <strong>Angst</strong>störung stehen: <strong>Mutismus</strong>. Erfahren Sie, wie er<br />

diagnostiziert und behandelt werden kann.<br />

von Sabine Ostmann<br />

Befremdliches Verhalten<br />

Foto: ©mauritius images / Image Source<br />

Pauline schweigt. Spricht man sie an, reagiert sie nicht.<br />

Ob nun die Verkäuferin im Supermarkt ihr eine Scheibe<br />

Wurst geben will, oder ob andere Kinder sie<br />

zum Spielen einladen möchten: Pauline schaut weg,<br />

bleibt stumm: Sie wirkt ängstlich und wie erstarrt. Doch<br />

so verhält sie sich nicht immer: Zuhause dreht die<br />

Vierjährige richtig auf. Sie lacht und tobt mit ihren<br />

Brüdern, redet mitunter wie ein Wasserfall und liebt es,<br />

im Mittelpunkt zu stehen „Manchmal ist das schon<br />

etwas anstrengend, wie uns Pauline zutextet“, meint ihr<br />

Vater Hinnerk Briethner. „Umso befremdlicher ist ihr<br />

Verhalten außerhalb der Familie, auch im Kindergarten. Es hilft auch nichts, sie zu ermuntern. Sie verfällt<br />

einfach in hartnäckiges Schweigen.“<br />

Lange Zeit glaubte die Familie, Pauline sei Fremden gegenüber einfach nur sehr schüchtern – so wie ihre<br />

Mutter es früher als Kind war. Auch beim Kinderarzt hieß es zunächst: „Das wächst sich aus.“ Ein anderer<br />

vermutete eine Form von Autismus hinter Paulines Schweigen. Erst <strong>vor</strong> kurzem, nach vielen Besuchen bei<br />

Ärzten und Psychologen, hat Familie Briethner erfahren, dass ihre Tochter unter <strong>Mutismus</strong> leidet.<br />

<strong>Mutismus</strong>: Verstummen aus <strong>Angst</strong><br />

Bei <strong>Mutismus</strong> – der Begriff kommt vom lateinischen „mutus“ für „stumm“ – handelt es sich um eine<br />

angstbedingte Kommunikationsstörung, die <strong>vor</strong> allem im Kindesalter auftritt, bei Mädchen häufiger als bei<br />

Jungen. Menschen, die unter totalem <strong>Mutismus</strong> leiden, sprechen überhaupt nicht, obgleich ihre<br />

Sprachorgane völlig intakt sind. Häufiger ist der sogenannte selektive <strong>Mutismus</strong>. Die Betroffenen – wie<br />

zum Beispiel Pauline – sprechen im vertrauten Kreis der Familie oder mit engen Freunden, verstummen<br />

aber in Gegenwart anderer Menschen. Oft sind diese Kinder überaus ängstlich, launisch und klammern


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sich an ihre Eltern. In bestimmten sozialen Situationen, sind sie so verängstigt, dass ihnen als einziger<br />

Ausweg das Schweigen bleibt.<br />

Nach Einschätzung der <strong>Mutismus</strong> Selbsthilfe Deutschland leiden in Deutschland 6.000 bis 10.000<br />

Menschen an <strong>Mutismus</strong> – fast doppelt so viele wie an Autismus. Da die Krankheit oftmals nicht erkannt<br />

und mit Autismus oder extremer Schüchternheit verwechselt wird, ist von einer hohen Dunkelziffer<br />

auszugehen. „Schüchterne Kinder sind zwar oft sehr gehemmt, aber sie reagieren in der Regel, wenn sie<br />

angesprochen werden und kommunizieren auch von sich aus, wenn sie sich sicher fühlen. Ein mutistisches<br />

Kind hat dagegen keine Wahl. Seine <strong>Angst</strong> lässt es verstummen“, erläutert der Sprachtherapeut und<br />

Heilpädagoge Dr. Boris Hartmann, Lehrbeauftragter der Universität Fribourg in der Schweiz.<br />

Diagnose, Ursache, Therapie<br />

Diagnose: Woran erkennt man <strong>Mutismus</strong>?<br />

<strong>Mutismus</strong> ist ein anerkanntes Störungsbild mit gravierenden Konsequenzen für die<br />

Persönlichkeitsentwicklung, das Sozialverhalten und das Selbstbewusstsein. Denn sie betrifft die gesamte<br />

sprachliche, kognitive, soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes. Spätestens im Jugendalter<br />

werden die Betroffenen zu Außenseitern, sie bekommen zunehmende Probleme in der Schule, häufig treten<br />

Depressionen und Selbstmordgedanken auf. „Je länger die Krankheit unentdeckt und unbehandelt bleibt,<br />

desto schwieriger wird es, die Kinder von ihren Ängsten zu befreien. Eine frühe Diagnose und Therapie –<br />

am besten bereits im Kindergartenalter – sind daher ungeheuer wichtig. Denn dann sind die<br />

Heilungschancen sehr gut“, betont Dr. Hartmann. Da die Störung bei vielen Ärzten noch nicht bekannt ist,<br />

empfiehlt der <strong>Mutismus</strong>-Experte Eltern, darauf zu achten, ob bei ihrem Kind folgende Auffälligkeiten<br />

auftreten – und bei Verdacht einen Arzt, Psychologen oder Sprachtherapeuten zu konsultieren:<br />

Verfällt Ihr Kind in bestimmten Situationen oder gegenüber bestimmten Personen immer in<br />

Schweigen, obgleich es ganz normal sprechen kann?<br />

Steht das Kind zuhause gerne im Mittelpunkt?<br />

Redet es zu Hause besonders viel, verstummt aber plötzlich, wenn Fremde hinzukommen?<br />

Hat ihr Kind <strong>Angst</strong>, sich körperlich zu erproben (zum Beispiel beim Klettern, Schwimmen oder<br />

Fahrradfahren)?<br />

Ursachen: Hemmungen liegen oft in der Familie<br />

Zwar sind die Ursachen von <strong>Mutismus</strong> noch nicht ganz eindeutig geklärt, doch Experten gehen davon aus,<br />

dass die Störung durch ausgeprägte soziale Ängste her<strong>vor</strong>gerufen wird. Neuere Untersuchungen belegen<br />

dies: Sie zeigen, dass bei Mutisten das <strong>Angst</strong>zentrum im Gehirn überreagiert. „Das ist ähnlich wie bei<br />

Menschen mit einer Sozialphobie“, erklärt Dr. Boris Hartmann. „Sie wissen zwar, dass ihnen andere nichts<br />

anhaben können, reagieren aber dennoch mit deutlichen <strong>Angst</strong>symptomen. Bei Menschen mit selektivem<br />

<strong>Mutismus</strong>, werden solche Reaktionen eben durch Situationen ausgelöst, in denen sie mit nicht vertrauten<br />

Menschen außerhalb des engeren Familienkreises sprechen müssen.“<br />

Ein stressreiches Umfeld kann ein Risikofaktor für <strong>Mutismus</strong> sein. Auffällig ist auch, dass rund 20 Prozent<br />

der betroffenen Kinder zweisprachig aufwachsen. Erziehungsfehler oder Traumata, zum Beispiel nach<br />

sexuellem Missbrauch, scheiden nach neuen Erkenntnissen als Ursachen aus. Dagegen scheint die


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Kommunikationsangst genetisch bedingt zu sein. „Bei 95 Prozent aller mutistischen Kinder, die ich<br />

behandelt habe, hat mindestens ein Elternteil angegeben, selbst sehr gehemmt zu sein oder zur<br />

Selbstisolation zu neigen, bei etwa 75 Prozent waren Vater oder Mutter depressiv oder litten an einer<br />

<strong>Angst</strong>störung.“<br />

Therapie: In kleinen Schritten gegen die <strong>Angst</strong><br />

<strong>Mutismus</strong> muss kein Schicksal sein. Frühzeit behandelt ist die <strong>Angst</strong>störung in der Regel sehr gut<br />

heilbar. Eine wirkungsvolle Therapie sollte an verschiedenen Hebeln ansetzen und immer die<br />

individuelle Situation des Kindes berücksichtigen. Der wichtigste Ansatz ist meist eine<br />

Sprachtherapie. Ziel ist es, die Kinder behutsam in Situationen zu bringen, in denen sie sprechen<br />

müssen. Pauline, zum Beispiel, die gerade eine Therapie bei einer Logopädin macht, hat am Anfang<br />

nur einzelne Silben geflüstert. Nach einigen Wochen hat sie der Therapeutin bereits eine kurze –<br />

wenn auch leise – Antwort gegeben und sie dabei angesehen. Spricht das Kind schließlich frei in der<br />

Therapie, werden schließlich Alltagssituationen eingeübt.<br />

Neben der Sprachtherapie ist oft auch eine Psychotherapie erforderlich, um gemeinsam die Ängste<br />

des Kindes anzugehen, sowie begleitende spiel-, musik- oder ergotherapeutische Maßnahmen.<br />

Hilfreich kann auch eine Verhaltenstherapie sein. Wie bei der Desensibilisierung bei einer Allergie,<br />

wird das Kind Schritt für Schritt in Situationen gebracht, die ihm <strong>Angst</strong> machen, damit es diese<br />

Ängste mit der Zeit bewältigen kann. Sprachtherapie und psychotherapeutische Behandlungen<br />

werden nach ärztlicher Verordnung von den Krankenkassen übernommen. Bei älteren Kindern oder<br />

Jugendlichen können auch <strong>Angst</strong> reduzierende Antidepressiva helfen.<br />

Eltern: Nicht Sprachrohr, sondern Sprachtrainer<br />

Besonders wichtig ist es, die Eltern in die Behandlung einzubeziehen; mitunter ist auch eine<br />

Familientherapie erforderlich. Auch im Interesse der Behandlung des Kindes, ist eine enge<br />

Zusammenarbeit zwischen Therapeuten und Eltern dringend nötig. „Viele Mütter und Väter neigen<br />

dazu, ihr Kind zu schützen und außerhalb der Familie für es zu sprechen. Doch so verharren die<br />

Kinder in ihrer <strong>Sprachlos</strong>igkeit“, erläutert <strong>Mutismus</strong>-Experte Dr. Hartmann. „Eltern sollten nicht das<br />

Sprachrohr, sie müssen Sprachtrainer ihrer Kinder sein – und das müssen sie auch erst lernen.“ Das<br />

bedeutet: Rausgehen aus der Schonhandlung – wenn das Kind ein Eis möchte, muss es selbst eines<br />

bestellen. Auch gegenüber den Geschwistern sollte es nicht be<strong>vor</strong>zugt werden: Es sollte ebenso wie<br />

die anderen im Haushalt mithelfen und auch nicht mehr Aufmerksamkeit bekommen. Also keine<br />

Sonderbehandlung, aber auch kein übermäßiger Druck zum Sprechen, schließlich ist es für das Kind<br />

sehr schwierig, seine Ängste und das jahrelange Schweigen zu überwinden. Wenn es ein paar Worte<br />

spricht, verdient das natürlich ein Lob, aber auch dabei sollten Eltern nicht zu enthusiastisch<br />

werden. Schließlich soll das Sprechen irgendwann zur Normalität werden – bis dahin braucht es<br />

einfach eine Menge Geduld.<br />

Service<br />

Zum Weiterlesen<br />

Reiner Bahr: Wenn Kinder schweigen – Redehemmungen verstehen und behandeln. Ein


<strong>Mutismus</strong>: <strong>Sprachlos</strong> <strong>vor</strong> <strong>Angst</strong> - urbia.de<br />

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Praxisbuch. Patmos Verlag 2012, 14,90 Euro.<br />

Ornella Garbani Ballnik: Unser Kind spricht nicht: Ratgeber für Eltern schweigender<br />

Kinder. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 19,95 Euro.<br />

Boris Hartmann und Michael Lange: <strong>Mutismus</strong> im Kindes-, Jugend- und<br />

Erwachsenenalter. Schulz-Kirchner Verlag 2013, 8,99 Euro<br />

Nitza Katz-Bernstein: Selektiver <strong>Mutismus</strong> bei Kindern: Erscheinungsbilder, Diagnostik,<br />

Therapie. Rheinhardt Verlag 2011, 24,90 Euro<br />

<strong>Mutismus</strong>.de – Fachzeitschrift für <strong>Mutismus</strong>-Therapie, <strong>Mutismus</strong>-Forschung und<br />

Selbsthilfe. Erhältlich über www.mutismus-abmedia-online.de<br />

Weiterführende Links:<br />

www.mutismus.de – Website der <strong>Mutismus</strong> Selbsthilfe in Deutschland e.V. mit<br />

umfangreichen Informations- und Beratungsangebot<br />

www.boris-hartmann.de – Website des Kölner Sprachtherapeuten und <strong>Mutismus</strong>-<br />

Experten Dr. Boris Hartmann mit umfassen Informationen zum Thema.<br />

www.mutismus.net – Beratung für Eltern selektiv mustistischer Kinder

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