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Eulenspiegel Immer mehr Alte müssen dazuverdienen (Vorschau)

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DAS SATIREMAGAZIN<br />

Unbestechlich, aber käuflich!<br />

10/12 · € 2,80 · SFR 5,00<br />

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58./66. Jahrgang • ISSN 0423-5975 86514<br />

<strong>Immer</strong> <strong>mehr</strong><br />

<strong>Alte</strong> <strong>müssen</strong><br />

<strong>dazuverdienen</strong><br />

Seite 67<br />

Literatur-Eule<br />

Zur Frankfurter Buchmesse:


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Zeit im<br />

Bild<br />

Rainer Ehrt


Inhalt<br />

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Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arno Funke<br />

3 Zeit im Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Ehrt<br />

6 Hausmitteilung<br />

6 Leserpost<br />

10 Modernes Leben<br />

12 T-Shirt lüpfen für die<br />

Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atze Svoboda / Barbara Henniger<br />

14 Zeitansagen<br />

19 Es war auch Evas Mundgeruch,<br />

der uns zu Opfern machte . . . . . . . Felice von Senkbeil / Andreas Koristka<br />

22 Unsere Besten: Mehr Bums,<br />

Kameraden! – Dirk Niebel . . . . . . . . . . . . . . . Peter Köhler / Björn Barends<br />

24 Totgesagte arbeiten länger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Koristka<br />

28 O Ecuador, o Ecuador! . . . . . . . . . . . . . . . Florian Kech / Burkhard Fritsche<br />

30 Zeitgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beck<br />

32 Die Wessos kommen!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mathias Wedel / Guido Sieber<br />

35 Künstername Ramses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Röhl<br />

38 Schunkeleisprung im Oktober. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anke Behrend<br />

39 Kalenderblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Henniger<br />

Dr. Peter Kersten<br />

40 Potsdam von oben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Utz Bamberg / Reiner Schwalme<br />

42 Wahn & Sinn<br />

45 TV: Als dauernd ein Nicht verschwand. . . . . . . . . . . . . . Felice von Senkbeil<br />

47 Lebenshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Zak<br />

48 Kino: Steig hoch, du roter Schreiadler . . . . . . . . . . Renate Holland-Moritz<br />

49 Rahmenhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Glück<br />

ca. 200 Seiten, 14 x 21 cm,<br />

s/w mit Farbteil,<br />

Broschur<br />

ISBN 978-3-89798-358-8<br />

50 Artenvielfalt: Das Praktikantin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cathleen Held<br />

52 Funzel: Verschleiert im Revier<br />

54 IKEA-City . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sedlaczek / Füller / Koristka<br />

58 Fehlanzeiger<br />

Erstmals gibt der berühmte Zauberer und DDR-Künstler<br />

Einblicke in sein turbulentes Leben. Ein faszinierendes Buch<br />

voller „magischer“ Abenteuer rund um die Welt und privater<br />

Einblicke in Kindheit, Jugend und die außergewöhnliche<br />

Karriere des weltweit bekannten Zauberkünstlers. Dazu lüftet<br />

er das Geheimnis um einige seiner Zaubertricks ...<br />

Seien Sie gespannt auf seine Enthüllungen!<br />

Erscheint<br />

Oktober<br />

2012<br />

60 Schönes auf Menschenfleisch. . . . . . . . . . . Robert Niemann / Guido Sieber<br />

62 Schwarz auf Weiß<br />

64 Rätsel / Leser machen mit / Meisterwerke<br />

66 Impressum / ... und tschüs!<br />

67 Literatur-EULE<br />

Mit Beiträgen von Matthias Biskupek, Reiner Schwalme, Peter Köhler,<br />

Frank Hoppmann u.v.a.m<br />

im BuchVerlag für die Frau<br />

www.buchverlag-fuer-die-frau.de<br />

Teilen der Auflage sind Beilagen des Atlas Verlages beigefügt.<br />

4 EULENSPIEGEL 10/12


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Haus<br />

mitteilung<br />

Post<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

wir glauben ja alle, ganz genau zu wissen, wie verkommen der Politikbetrieb<br />

ist. Doch manchmal geschehen dort Dinge, die selbst abgebrühten<br />

Insidern einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Wie zum<br />

Beispiel vor einigen Wochen im Landtag von Schleswig-Holstein, als ein<br />

vor Zorn bebender FDP-Fraktionsvorsitzender dem schockierten Plenum<br />

von einer schier unfassbaren Begebenheit berichtete: Mit eigenen Augen<br />

hatte nämlich Wolfgang Kubicki beobachtet, dass Abgeordnete der<br />

Piratenpartei zu einem Antrag uneinheitlich abgestimmt hatten! Ein<br />

handfester Skandal, wie ich meine – was hat das denn noch mit Demokratie<br />

zu tun? Leider blieb der ungeheuerliche Vorgang bis heute ohne<br />

irgendwelche Folgen: Weder wurde ein Untersuchungsausschuss eingerichtet,<br />

noch hat man die Immunität der Beschuldigten aufgehoben, damit<br />

die Staatsanwaltschaft ermitteln kann. Kein Wunder, dass die Politikverdrossenheit<br />

um sich greift!<br />

★<br />

Merkwürdige sexuelle Neigungen gibt es bekanntlich wie Sand am<br />

Meer. So berichtete uns zum Beispiel ein Leser, er würde jedes Mal<br />

zum Höhepunkt kommen, wenn er im EULENSPIEGEL eine gelungene<br />

Pointe liest. Der bedauernswerte Mann hatte nun schon seit über zehn<br />

Jahren keinen Orgasmus!<br />

Noch befremdlicher mutet allerdings der Fall des Patienten Guido K.<br />

an, der unlängst in der psychiatrischen Fachzeitschrift Perverts Monthly<br />

vorgestellt wurde: Diesen armen Irren, der Geschichte studiert hat und<br />

hauptberuflich beim Fernsehen arbeitet, ergreift immer dann eine nahezu<br />

unbeherrschbare Erregung, wenn er das Wort »Hitler« ausspricht<br />

oder schreibt. Der Fall wird seitdem in der Fachwelt rege diskutiert, wobei<br />

es eine Vielzahl konkurrierender Hypothesen gibt. Manche Experten<br />

glauben, eine solche Störung sei nur durch schwere Erbgutschäden erklärbar,<br />

andere vermuten eher ein frühkindliches Trauma. Auch die kontroverse<br />

Ansicht, der Betroffene habe die Krankheit durch abertausendfaches<br />

Wiederholen des Reizwortes selbst induziert, wurde vorgebracht.<br />

Keinerlei Erklärung haben die Forscher allerdings für die gleichzeitig<br />

auftretende Neigung zu weichgezeichneten Nahaufnahmen von Kaminfeuern<br />

und glänzenden Stiefeln. Vielleicht findet sich ja des Rätsels Lösung<br />

in unserem Beitrag auf Seite 19?<br />

★<br />

Der vor Kurzem in Moskau durchgeführte Prozess gegen die Punkband<br />

»Miezekatzenaufstand« (Übersetzung von mir persönlich) hat in<br />

Deutschland einigen Wirbel ausgelöst. So zeigten sich viele Journalisten<br />

verwundert darüber, dass in Russland Regimekritiker zu Gefängnisstrafen<br />

verurteilt werden, obwohl es sich doch bei uns für die Regierenden<br />

als viel effektiver erwiesen hat, sie stattdessen einfach zu ignorieren<br />

oder von Zeitungen verbündeter Medienkonzerne herunterschreiben<br />

zu lassen. Es ist aber typisch für die Russlandberichterstattung der<br />

deutschen Medien, dass das Positive nicht wahrgenommen wird: Kaum<br />

ein Journalist äußerte sich etwa lobend darüber, dass die Damen einen<br />

richtigen Prozess bekamen und nicht etwa einfach in irgendeinem<br />

Hausflur erschossen wurden. Erstaunlich auch, wie viele deutsche Konservative<br />

sich plötzlich für blasphemische Performances begeistern<br />

können, jedenfalls wenn sie im Ausland stattfinden. Wie auch immer –<br />

ich jedenfalls bin froh, dass bei uns peinliche Aktionskunst und<br />

schlechte Musik nicht verboten sind, denn ansonsten säße ja praktisch<br />

halb Berlin-Kreuzberg im Gefängnis, und wer soll das bezahlen? Eine<br />

ausführliche juristische Analyse des Prozesses gibt es auf Seite 12.<br />

Miau, miau<br />

Chefredakteur<br />

Zum Titel Heft 09/12:<br />

Du lieber, lieber Rembrandt, du!<br />

Sei froh, mein Freund. Du hast<br />

längst Ruh.<br />

Jürgen Molzen, Berlin<br />

Der war’s gar nicht.<br />

Was soll dieser handwerkliche<br />

Pfusch auf dem Titelblatt einer<br />

honorigen Zeitschrift? Die hygienischen<br />

Verhältnisse stimmen<br />

bedenklich. Gebotsfähige Organe<br />

wie Niere, Herz oder Leber sind mit<br />

der gezeigten Schnittführung gar<br />

nicht erreichbar; mithin nicht zu beurteilen.<br />

Bauchmuskeln werden selten<br />

verlangt. Um einen Waschbrettbauch<br />

zu imitieren, genügt es, ein<br />

Implantat aus Kunststoff (sixpack)<br />

unter die Haut zu schieben.<br />

Dr. Peter-M. Schroeder, Brück<br />

Was kostet das bei Ihnen?<br />

Zu: Hausmitteilung, Heft 9/12<br />

Wer sagt’s denn:<br />

Lyrik<br />

ist gar nicht so<br />

schwyrik<br />

Dieser kunstvolle Dreizeiler entstammt<br />

nicht meiner Feder.<br />

Konrad Stöber, Halle<br />

Das hat Ihnen auch keiner zugetraut.<br />

Zu: »Berlin intim«, Heft 9/12<br />

Es mag sein, dass auch Sie sich<br />

gezwungen sehen, zwecks des<br />

verdienstvollen Erhalts Ihrer Zeitschrift<br />

sämtliche Niveaugrenzen zu<br />

unterlaufen – mit »Berlin intim« ist<br />

es Ihnen in der aktuellen Ausgabe<br />

jedenfalls geglückt: Glückwunsch<br />

zu so viel Infantilität. Nicht nur,<br />

dass der Autor sich damit rühmt,<br />

die Süddeutsche Zeitung nicht zu<br />

kennen, noch <strong>mehr</strong> dadurch, dass<br />

der diese Zeilen schreibende Hans<br />

Wurst ausgerechnet Heribert Prantl<br />

als einen solchen und als »Nobody«<br />

tituliert, macht mich leider<br />

fassungslos. Denn hier findet ja<br />

keine substanzielle Auseinandersetzung<br />

statt, die H.P. als den qualifiziert,<br />

der er laut Ihrer Kolumne<br />

sein soll, sondern billigste Häme<br />

auf dem Niveau eines pubertären<br />

Kindes, das alles und jeden dank<br />

seiner Tiefenkenntnis scheiße findet<br />

und sich moralisch darüber erhebt.<br />

Horst Kerber per E-Mail<br />

So ist er halt, der Atze.<br />

Zu: HALE – Zu Fragen der Entwicklung<br />

der Leserbriefentwicklung,<br />

Heft 9/12<br />

Jetzt üben Sie sich auch noch in Leserbeschimpfung!<br />

Mit den Worten<br />

eines Erfolgsautors sage ich: »EU-<br />

LENSPIEGEL schafft sich ab!« Die<br />

Kommentare anderer sind für mich<br />

dahingehend wertvoll, dass ich im<br />

Heft danach begreife, was ich im<br />

Heft davor nicht verstanden habe.<br />

Das gilt auch für diesen Beitrag.<br />

Bis dahin rufe ich: »Niemand hat<br />

die Absicht, einen Leserbrief zu<br />

schreiben!«<br />

Norbert Fleischmann, Holland<br />

Außer unser Leser Norbert F.<br />

Zu: »Lebt eigentlich Helmut Kohl<br />

noch?«, Heft 9/12<br />

Unser Übervater Helmut Kohl<br />

soll zu Lebzeiten mit einer<br />

Briefmarke geehrt werden. Als<br />

ehemaliger leidenschaftlicher<br />

Philatelist hätte ich da einen sehr<br />

realistischen Motivvorschlag:<br />

Helmut Kohl auf einem gut gepolsterten<br />

Sofa inmitten blühender<br />

Landschaften. Das Sofa steht für<br />

sein immer noch mit engelhafter<br />

Geduld geübtes Aussitzen der<br />

Parteispendenaffäre.<br />

Da ich zeichnerisch völlig unbegabt<br />

bin, könnte vielleicht einer Eurer<br />

begnadeten Zeichner meinen Vorschlag<br />

umsetzen.<br />

Michael Radwan, Probstzella<br />

Soll der Zeichner PARTEISPENDE<br />

aufs Sofa schreiben?<br />

Erwarten Anweisung!<br />

Zu: »Kleiner Mann im Speck«,<br />

Heft 9/12<br />

Peter Köhler schreibt von 1923<br />

und 1948, als dem kleinen<br />

Mann das Geld weggefressen<br />

wurde. Es war das Ergebnis zweier<br />

verlorener Kriege. Aber auch nach<br />

dem Kalten Krieg ging bei dem<br />

kleinen Mann im Osten alles Ersparte<br />

über 20 000 DDR-Mark auf<br />

ein Viertel zurück. Und <strong>mehr</strong> als<br />

20 000 DDR-Mark hatte nicht nur<br />

jeder Schalck auf seinem Konto.<br />

Hatte nun Ihr Peter Köhler 1990<br />

6 EULENSPIEGEL 10/12


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Post<br />

keine 20 000 DDR-Mark auf dem<br />

Konto oder ist er ein Wessi?<br />

Klaus Lange per E-Mail<br />

Der Arme hatte nur Westmark.<br />

Zu: »Auf jungen Fregatten wird<br />

weitergesegelt«, Heft 9/12<br />

Ich hatte so viel Hoffnung!<br />

Da hauen Sie Überschriften<br />

hin mit Versprechungen, die<br />

einen in Vibration versetzen:<br />

die erogenen Zonen eines Weisen<br />

kennenlernen zu dürfen, und<br />

endlich sollte die drängende und<br />

schicksalsträchtige Frage des<br />

Spinataufwärmens beantwortet<br />

werden. Aber dann: keine roten<br />

Kreise, keine Antworten. Nein,<br />

nichts, wir tappen weiter im<br />

rauchgeschwängerten Dunkel!<br />

Werner Kastens, Nidda<br />

Sofort lüften!<br />

Zu: »Unsere Besten: Sinn und<br />

Sinnlichkeit – Hans-Werner Sinn«,<br />

Heft 9/12<br />

Das Porträt – literarisch und<br />

grafisch – hat mir sehr gut<br />

gefallen. Als Anglisten gefällt mir<br />

besonders der verdeutschte<br />

Romantitel von Jane Austens<br />

Sense and Sensibility und<br />

natürlich der Vergleich mit Captain<br />

Ahab aus Herman Melvilles<br />

Moby Dick. Auch ich habe den<br />

Laureaten seit Jahren in der<br />

angelsächsischen Literatur widergespiegelt<br />

gesehen. Während der<br />

Show zur Eröffnungsfeier der<br />

Olympischen Spiele in London<br />

2012 entdeckte ich gleich <strong>mehr</strong>ere<br />

Doppelgänger unter den<br />

etwa zwölf Schlotbaronen, die<br />

gerade als Sieger der Industriellen<br />

Revolution im schwarzen Zylinder<br />

und Gehrock posierten. Da waren<br />

sie wieder: Ebenezer Scrooge,<br />

der anfänglich unbarmherzige<br />

Weinachtsmuffel aus Dickens<br />

Ein Weihnachtslied in Prosa,<br />

Thomas Gradgrind, der älteste<br />

Anzeigen<br />

neoliberale Betriebswirtschaftslehrer<br />

der Weltliteratur (nach<br />

dem postfeudalen Narren in<br />

Goethes Faust II) aus Dickens<br />

Schwere Zeiten und Lord Marney,<br />

der gefühlskalte Großgrundbesitzer<br />

aus Disrealis Sybil oder die<br />

zwei Nationen.<br />

Dr. phil. Bernd Legler, Chemnitz<br />

Endlich mal ein gebildeter Leser!<br />

Zu: »Wörtliche Betäubung:<br />

Das 57-Sekunden-Gesetz«, Heft 9/12<br />

Ernst Röhls »Wörtliche Betäubung«<br />

– die ich sonst meist gut<br />

finde – ist absolut saumäßig<br />

schlecht recherchiert. Abgesehen<br />

davon, dass dieses Thema längst<br />

ausdiskutiert ist, ist das neue<br />

Meldegesetz nämlich kein »Freibrief<br />

zum Adressverkauf«, außerdem<br />

haben Adresshändler viel<br />

bessere Datenquellen. Dieses<br />

Meldegesetz erlaubt Einwohnermeldeämtern<br />

definitiv nicht,<br />

Daten »zu verkloppen«, und schon<br />

gar nicht »meistbietend«. Die Briefkästen<br />

werden nicht vor weiterer<br />

Werbung überquellen. Bei uns in<br />

Sachsen gibt es diese angeblichen<br />

Adressverkäufe z.B. schon lange –<br />

seltsamerweise quellen die<br />

Briefkästen nicht über.<br />

Frank Nagel per Facebook<br />

Bei uns schon.<br />

Zu: »Grass! Endlich!«, Heft 9/12<br />

Womit einmal <strong>mehr</strong> bewiesen<br />

wurde, dass der EULENSPIE-<br />

GEL zur »fast gleichgeschalteten<br />

Presse« beziehungslos ist.<br />

Dietrich Schönweiß , Plauen<br />

Ist das positiv gemeint? Wenn ja,<br />

bitte noch einmal ausführlicher!<br />

Eure neue Idee – den Aufmerksamkeitstest<br />

für Leser – finde<br />

ich wirklich spannend und unterhaltsam.<br />

Da er in der Ausgabe 9/12<br />

sehr leicht war, habe ich mich entschlossen,<br />

auch mal mitzumachen.<br />

In diesem Fall fehlt lediglich ein<br />

»i«, und zwar auf Seite 64 bei der<br />

gediegenen Interpretation von<br />

Meisterwerken. Der Tyrann heißt<br />

nicht Dionysos (Zum Glück!<br />

Das wäre ja ein ganz neuer Charakterzug<br />

an dem Herrn von Wein,<br />

Weib, Gesang ...), sondern Dionysios.<br />

Gibt’s außerdem bei diesem Test<br />

auch einen Preis?<br />

Vivian Jung per E-Mail<br />

Nein, nur unsere vorzügliche<br />

Hochachtung.<br />

Zu: Zeitansagen »Letzte Frage«,<br />

Heft 9/12<br />

Mit der Vorhaut hat Der Chef<br />

nichts falsch gemacht, ist<br />

schon okay. Dumm war nur, dass<br />

Abraham sich 99 Jahre mit seiner<br />

Phimose herumgequält hat, bevor<br />

er sich selbst beschnitten hat. Und<br />

noch dümmer war, die falsche<br />

Schlussfolgerung zu ziehen und<br />

das allen als Pflicht aufzubürden.<br />

Horst Schampel, Gröditz<br />

Kritik gegen ganz oben? Der können<br />

wir uns nicht anschließen.<br />

Wenn die Juden in Deutschland<br />

ihre Jungen nicht <strong>mehr</strong> beschneiden<br />

und somit ihre Religion<br />

nicht <strong>mehr</strong> ausüben dürfen, werden<br />

sie auswandern, und die Antisemiten<br />

jubeln.<br />

Werner Klopsteg, Berlin<br />

An Geschlechtsteilen sollte der<br />

Staat nicht rühren.<br />

Ich habe vor, eine Religionsgemeinschaft<br />

zu gründen. Ich<br />

möchte mein Recht der freien Religionsausübung<br />

nutzen. Ich möchte<br />

als Ausdruck meines tiefen Glaubens<br />

den Kindern meiner Anhänger<br />

die Ohrläppchen entfernen. Dies<br />

soll natürlich von Fachärzten ausgeführt<br />

werden.<br />

Lutz Hardtmann per E-Mail<br />

Und sonst so?<br />

Habe jetzt auch ein EULE-Abo.<br />

Werde Ihnen in den nächsten<br />

14 Tagen 137 Leserbriefe senden.<br />

Hoffe, damit Ihren bisherigen<br />

Lieblingsleserbriefschreiber und<br />

Rekordhalter W. K. zu überholen<br />

ohne einzuholen.<br />

Peter Schott per E-Mail<br />

Schafft keiner!<br />

Als DDR-Bürger fand ich auch<br />

mit am besten, / das Kfz-Kennzeichensystem<br />

aus dem Westen, /<br />

und nach der Wende war es kaum<br />

zu fassen, dort war im Alphabet für<br />

den Osten Platz gelassen. / Nun<br />

bietet unser weiser Verkehrsminister<br />

an, / dass jedes Gebiet sein<br />

Kennzeichen selbst wählen kann, /<br />

Behörden und Schildermacher<br />

wittern ein Geschäft, / wenn man<br />

sich allerorts neue Kennzeichen<br />

einfallen lässt. / Ein Glück, dass<br />

Herr Ramsauer nicht Finanzminister<br />

ist, / sonst wären Wunschkontonummern<br />

bald in der Pflicht, /<br />

oder als Innenminister hätten<br />

wir vielleicht zu erwarten, /<br />

dass jeder seine Ausweisnummer<br />

könnte selber starten.<br />

E. K. per Einschreiben<br />

Können Sie das auch<br />

ungereimt?<br />

Viele Menschen versuchen<br />

immer wieder, die Steuerpolitik<br />

des Staates zu ergründen.<br />

Jean-Baptiste Colbert, der oberste<br />

Steuereinnehmer Ludwig XIV. von<br />

Frankreich, hatte eine sehr<br />

erfolgreiche Art gefunden, die bis<br />

heute noch bei uns angewandt<br />

wird: »Die Kunst der Besteuerung<br />

besteht darin, die Gans so zu<br />

rupfen, dass man bei einem Minimum<br />

an Geschnattere ein Maximum<br />

an Federn in der Hand hat.«<br />

Das Ganze ist nicht ganz einfach,<br />

aber immer wieder erfolgreich.<br />

Rolf Freiberger, Leipzig<br />

Geht das analog mit Schafen?<br />

Mensch Meier,<br />

ick wollt` doch nur ne klene<br />

Bieje fahrn!<br />

Dircksenstr. 48 Am Hackeschen Markt Mo-Fr 10-20 Sa 10-17<br />

Oranienstr. 32 Kreuzberg Mo-Mi 10-18.30 Do-Fr 10-20 Sa 10-16<br />

8 EULENSPIEGEL 10/12


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Hannes Richert<br />

Mario Lars Jan Kunz<br />

10 EULENSPIEGEL 10/12


Modernes Leben<br />

Johann Mayr<br />

Philipp Bürge<br />

Andreas Prüstel<br />

EULENSPIEGEL 10/12 11


Frauen leiden<br />

T-Shirt lüpfen für die Men<br />

Barbara Henniger


schenrechte!<br />

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Ein<br />

Gastkommentar<br />

von<br />

Atze Svoboda<br />

Nadeschda Tolokonnikowa im Berufungsprozess.<br />

Die Kameras blitzen und sie guckt niedlich. Da<br />

sitzt sie: die große Putin-Feindin. Die Nelson Mandelerin<br />

des Ostens mit festem Bindegewebe. Trotz Entbindung!<br />

Aus ihren Augen spricht Wut. Wut gegen das System,<br />

das sie martert. Doch Nadeschda Andrejewna<br />

bleibt selbstlos. »Freiheit für Pussy Riot«, ruft sie in<br />

den Verhandlungsraum. »Freiheit für Pussy Riot«, damit<br />

meint Nadeschda nicht nur sich selbst. Nein, auch die<br />

beiden hässlichen Mitglieder von Pussy Riot liegen ihr<br />

am Herzen.<br />

»T-Shirt lüpfen, Muschi zeigen!«, insistieren die Fotografen.<br />

Doch der Richter, Scherge des Putin-Systems,<br />

verbietet ihnen den Mund. Eine beklemmende Szenerie.<br />

Hier wird ein enormer Aufwand gegen junge Menschen<br />

gefahren, die sich nichts weiter zu Schulden haben<br />

Ein Plädoyer für<br />

die Weiblichkeit<br />

kommen lassen, als gegen den Landesvater Stellung zu<br />

beziehen und dabei verdammt gut auszusehen.<br />

Was haben sie gegen ihre schönen Frauen, die dunk -<br />

len Fürsten des Ostens? Sind westliche Journalisten die<br />

Einzigen, die auf ganz andere Gedanken als Verhaftungen<br />

kommen, wenn sie Frauen wie Timoschenko oder<br />

Tolokonnikowa sehen?<br />

Ist es allein den freiheitlichen und demokratischen<br />

Medien vorbehalten zu sagen: Haltet ein! Seht dort die<br />

sanften Schenkel, die sich sehnend nach Liebkosungen<br />

an die Gitterstäbe schmiegen? Ja. Denn wir <strong>müssen</strong><br />

kämpfen für eine bessere Welt. Würden wir darauf verzichten,<br />

Nacktfotos von Tolokonnikowa zu drucken,<br />

würde Russland die gleiche rückständige Autokratie<br />

bleiben, die es ist. Tun wir also unser Bestes im Kampf<br />

für Demokratie und Menschenrechte. Auf dass hiesige<br />

paradiesische Zustände einst auch in Russland<br />

gelten mögen.<br />

EULENSPIEGEL 10/12 13<br />

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Frankfurter Buchmesse 2012,<br />

10.–14. Okt. 2012, Halle 3.0, Stand K834<br />

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JFür den Euro ist der Oktober<br />

der entscheidende Monat<br />

– liest man überall.<br />

Wie zuvor die Monate Januar<br />

bis September, um<br />

nur ein paar andere entscheidende<br />

Monate dieses<br />

Jahres zu nennen.<br />

Schade, dass man »entscheidend«<br />

nicht steigern<br />

kann. Sonst wäre der Oktober<br />

natürlich der entscheidendste.<br />

Dirk Werner<br />

etzt oder nie<br />

Arme Sparschweine<br />

Die griechische Regierung<br />

hat ein 72-Punkte-Sparprogramm<br />

entwickelt. Hier<br />

die zehn wichtigsten Ziele:<br />

Bildung kannste dir sparen.<br />

Freizeit kannste dir<br />

sparen. Ein Dach über dem<br />

Kopf kannste dir sparen.<br />

Essen kannste dir sparen.<br />

Wür de kanns te dir sparen.<br />

Aufmucken kannste dir<br />

sparen. Leben kanns te dir<br />

sparen. Einen Sarg kanns -<br />

te dir sparen. Punkt zehn<br />

kannste dir sparen.<br />

Michael Kaiser<br />

Auf Augenhöhe<br />

Nachdem griechische Rent -<br />

ner aus Verzweiflung über<br />

ihre Situation das Gesundheitsministerium<br />

gestürmt<br />

hatten, bezeichnete Minister<br />

Lykourentzos die Eindringlinge<br />

als »Schufte«.<br />

Er meinte das allerdings<br />

nicht abwertend, sondern<br />

wollte offensichtlich mit ihnen<br />

fraternisieren.<br />

MK<br />

Bankensterben<br />

Der Co-Vorstandschef der<br />

Deutschen Bank, Jürgen<br />

Fitschen, sagte bei einer<br />

Fachtagung, er glaube,<br />

viele Banken werden die<br />

nächsten Jahre nicht überleben.<br />

Leider konnte er<br />

mit weiteren positiven<br />

Einschätzungen nicht aufwarten.<br />

Björn Brehe<br />

Mit zweierlei Maß<br />

Aufsehen erregte Leuttheuser-Schnarrenberger<br />

mit dem Vorschlag, den<br />

»hochproblematischen«<br />

Ankauf von »Steuer-CDs«<br />

zu bestrafen, während<br />

der Ankauf von Xavier-Naidoo-CDs<br />

weiterhin straffrei<br />

bleiben sollen.<br />

Erik Wenk<br />

Johann Mayr<br />

Harm Bengen<br />

14 EULENSPIEGEL 10/12


Zeit Ansagen<br />

Demokratie wagen!<br />

Mario Lars<br />

Dass das Bundesverfassungsgericht Inlandseinsätze der Bundeswehr<br />

erlaubt, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. In Ägypten hat<br />

vorletzten Frühling auch das Militär im Inland eingegriffen, und die<br />

haben da jetzt Demokratie.<br />

Carlo Dippold<br />

Kollegiale Hilfe<br />

Die deutschen Kassenärzte kämpfen<br />

verzweifelt gegen ihre soziale<br />

Verelendung. In Ballungszentren<br />

wie Berlin, München und Böhlen<br />

wurden bereits die ersten Ärzte gesichtet,<br />

die von »Ärzte ohne Grenzen«<br />

versorgt werden mussten.<br />

Michaela Völler<br />

Viel zu tun<br />

An alle Sanitäter, Ärzte und Oberärzte<br />

der Charité, die am Bett von<br />

Frau Timoschenko nach und nach<br />

abkömmlich sind: Bitte nicht heim<br />

nach Berlin reisen! Sie werden in<br />

vielen Besserungsanstalten unserer<br />

westlichen Demokratien – Abu<br />

Ghuraib, Guantanamo, Sing Sing,<br />

CIA-Befragungsstübchen – dringend<br />

gebraucht.<br />

Hans-Jürgen Görner<br />

Gerechtigkeitslücke<br />

Im Durchschnitt verdienen weibliche<br />

Führungskräfte in der Wirtschaft<br />

noch immer 20 Prozent weniger<br />

als ihre männlichen Kollegen.<br />

Ein Sprecher des Bundesverbandes<br />

der Deutschen Industrie kritisierte<br />

diese Ungerechtigkeit scharf,<br />

die Männer sollten auch 20 Prozent<br />

weniger bekommen. DW<br />

Können diese<br />

SPD-Pussys<br />

Merkel stürzen?<br />

Jetzt, wo wir den GAUCK haben,<br />

könnten wir da GOTT nicht streichen?<br />

Laura Stern<br />

Arno Funke<br />

Lebt<br />

eigentlich<br />

JÖRG<br />

SCHÖNBOHM<br />

noch?<br />

rp-online.de<br />

Jawoll! Sonst hätte ihm wohl kaum<br />

die brandenburgische CDU-Landeschefin<br />

Saskia Ludwig zum 75.<br />

Geburtstag in der Jungen Freiheit<br />

gratuliert. Ludwig lobte dabei<br />

Schönbohms »Eintreten gegen den<br />

politisch korrekten Gleichmachungsund<br />

Gleichschaltungswahn, der unsere<br />

Freiheit, Individualität und Tradition<br />

zerstören möchte«. Ein Skandal!<br />

Als der General a.D. davon erfuhr,<br />

standen ihm die Augenbrauen<br />

zu Berge. Wie konnte die märkische<br />

CDU so weit verkommen und ihm in<br />

seiner Hauspostille Eintreten für Individualität<br />

unterstellen! Ihm, dem<br />

ehemaligen preußischen General<br />

und Chaotenjäger!<br />

Viel hatte Schönbohm in all den<br />

Jahren unter den Brandenburgern<br />

leiden <strong>müssen</strong>. Sie wählten ihn<br />

nicht zum Ministerpräsidenten und<br />

verbuddelten ihre Leibesfrüchte auf<br />

Balkonien in der wirren Hoffnung,<br />

es mögen Babybäume wachsen. All<br />

dies hatte er ihnen verziehen und<br />

mildernde Umstände wegen der<br />

SED-Diktatur, den Russenvergewaltigungen<br />

und Kati Witt geltend gemacht.<br />

Doch die feige Attacke von<br />

Saskia Ludwig schlug dem Fass den<br />

Boden aus.<br />

Konnte die Frau nicht Rücksicht nehmen<br />

auf seine Gefühle? Wenigstens<br />

jetzt, nachdem er im März einen<br />

Schlaganfall überstanden hatte? Zumindest<br />

aus seinem rechten Auge<br />

kugelten vor Enttäuschung dicke<br />

Kullertränen auf seinen Geburtstagskäsekuchen.<br />

Da konnte ihn auch<br />

nicht <strong>mehr</strong> das Glückwunschschreiben<br />

von Matthias Platzeck aufheitern,<br />

das dem Vater der Leitkultur<br />

und der Vietnamesenabschiebung<br />

zwar keinen Platz in Walhalla, wohl<br />

aber in den Herzen aller Sozialdemokraten<br />

zuwies.<br />

Mag sein, dass sich des Generals<br />

Zorn dereinst legt. Zu wünschen<br />

wäre es ihm. Vielleicht schaltet Matthias<br />

Platzeck das nächste Mal auch<br />

einfach ein bisschen schneller und<br />

schreibt für Schönbohms nächsten<br />

Runden selbst einen Jungen Freiheit-Artikel.<br />

Das kann man von einem<br />

nicht gleichgeschalteten und<br />

freiheitsliebenden Sozialdemokraten<br />

doch hoffentlich noch erwarten!<br />

Andreas Koristka<br />

EULENSPIEGEL 10/12 15


Zeit<br />

ansagen<br />

Verhindert<br />

Wie das Bundesamt für Statistik<br />

mitteilt, haben Wochenendarbeit<br />

und Überstunden in Deutschland<br />

stark zugenommen. Man könnte<br />

nächtliche Albträume bekommen<br />

– wenn man nicht zur Schicht<br />

müsste!<br />

DW<br />

Piratentod<br />

Forscher haben herausgefunden,<br />

dass es mit der Piratenpartei zu<br />

Ende geht: Männer, die häufig einen<br />

Laptop auf dem Schoß haben,<br />

veröden damit zuerst ihre Erektions-<br />

und dann ihre Zeugungsfähigkeit.<br />

Ihre Spermien werden so<br />

langsam wie eine altertümliche<br />

Modemverbindung ins Internet.<br />

Das Netz frisst seine Kinder.<br />

Henning Wenzel<br />

Feines Mittel zum guten Zweck<br />

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit<br />

beschlossen Bundestag und<br />

Bundesrat die Privatisierung des<br />

Bundesverfassungsgerichts. Rechtsexperten<br />

von Schwarz-Gelb und Rot-<br />

Grün erklärten dazu, dieser Schritt<br />

sei im Sinne des Grundgesetzes alternativlos<br />

gewesen. Sonst hätte die<br />

Gefahr bestanden, dass die Karlsruher<br />

Richter die für 2013 geplante Privatisierung<br />

von Bundestag und Bundesrat<br />

für verfassungswidrig erklären.<br />

Das Bundesverfassungsgericht<br />

wird auch in seiner neuen Rechtsform<br />

nach streng demokratischen<br />

Prinzipien besetzt. So komme je ein<br />

Drittel der Mitglieder aus den Reihen<br />

der DAX-Unternehmen, Milliardärsclans<br />

und vorbestraften Börsenbetrüger<br />

und Politiker.<br />

Sexy Schmollmund<br />

Bundesumweltminister<br />

Peter Altmaier will nicht<br />

über seine sexuelle Identität<br />

wahrgenommen werden.<br />

Es sei nun mal so, dass er<br />

seit 54 Jahren allein durchs<br />

Leben gehe. Recht hat er.<br />

Würde er über seine nicht<br />

vorhandene sexuelle Identität<br />

wahrgenommen, müsste<br />

man ihn glatt für eine Null<br />

halten. Frank B. Klinger<br />

Bundesverfassungsgericht<br />

wird bald eine GmbH<br />

»Hätten wir diesen Schritt schon<br />

früher getan«, so ein Spitzenpolitiker,<br />

dann hätten wir schon längst Datenspeicherung,<br />

Rundumüberwachung<br />

und Wegsperren ohne Gerichtsverfahren.«<br />

Es sei »<strong>mehr</strong> als blamabel, dass<br />

wir fast 25 Jahre nach Zusammenbruch<br />

der DDR noch immer nicht das<br />

Niveau der Stasi erreicht haben.« Die<br />

Kooperation mit der NSU (»Zwickauer<br />

Zelle«) und der NPD sei zwar ein<br />

Schritt in die richtige Richtung, aber<br />

insgesamt lächerlich.<br />

Kritik an der Entscheidung der Legislative<br />

kommt überraschend vom<br />

Bundespräsidenten. Eine faschistische<br />

Diktatur dürfe nie Selbstzweck<br />

sein, sondern nur ein Mittel zur<br />

Durchsetzung der Freien Marktwirtschaft,<br />

mahnte er.<br />

Thomas Wieczorek<br />

Pflegewohnheimplatz<br />

Der republikanische Präsidentschaftskandidat<br />

Mitt Romney will<br />

Obamas Krankenversicherung wieder<br />

abschaffen. Die Ersparnisse<br />

sollen sinnvoll investiert werden.<br />

Zum Beispiel in Steuersenkungen<br />

für Millionäre, neue Golfplätze und<br />

ein Zimmer für Clint Eastwood in<br />

einem Luxus-Seniorenheim. BB<br />

Überrascht<br />

Laut Ursula von der Leyen werden<br />

Senioren ab 2030 nur noch Rente<br />

auf Sozialhilfe-Niveau erhalten.<br />

Selbst Finanzminister Schäuble<br />

zeigte sich davon überrascht:<br />

»2030 soll noch Rente ausgezahlt<br />

werden?«<br />

EW<br />

Harm Bengen (2)<br />

16 EULENSPIEGEL 10/12


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Zeit<br />

ansagen<br />

Da hat man was Eigenes<br />

Die Schotten wollen es. Die Katalanen<br />

und die Wallonen wollen es. Und<br />

die Flamen sowieso: Unabhängigkeit,<br />

Autonomie, schöneres Wetter. Nicht<br />

länger versklavt werden von anderen<br />

Völkern, mit denen man so lange<br />

friedlich hat zusammenleben <strong>müssen</strong>.<br />

Ganz klar, dass da Bayern auch<br />

raus will. Raus aus Deutschland.<br />

Raus aus Europa. Raus aus der Bundesliga.<br />

Raus aus allem, wo man irgendwie<br />

drin sein kann. Dass sich<br />

die Bayern dabei so friedlich verhalten<br />

werden wie die Tibeter, ist allerdings<br />

nicht zu erwarten.<br />

Der Anführer der bayerischen Separatistenbewegung<br />

ist der ehemalige<br />

Chefredakteur des CSU-Parteiorgans<br />

Bayernkurier, Wilfried Scharnagl.<br />

Den Inhalt seiner These hat<br />

Scharnagl in ein Buch und – weil ihm<br />

das dann doch irgendwie zu umständlich<br />

war – gleich in den Titel<br />

des Buches gepackt, so dass man<br />

sich den Rest der Lektüre sparen<br />

kann: Bayern kann es auch allein. Plädoyer<br />

für den eigenen Staat. Rums,<br />

zack! Das sitzt. Ein Staat – da hat<br />

man was Eigenes. Da werden sie sich<br />

umgucken, die Hessen und die Spanier<br />

und all das andere Preußengeschwerl!<br />

Der Gefährte an Scharnagls Seite<br />

ist der CSU-Bundestagsabgeordnete<br />

Peter Gauleiter. Die beiden haben<br />

sich die Aufklärungsarbeit für ihre<br />

Kampagne aufgeteilt. Während<br />

Scharnagl eher für grobe Zuspitzung<br />

und undifferenzierte Attacken zuständig<br />

ist, kümmert sich Gauleiter um<br />

unsachliche Scheinargumente und<br />

populistisches Gedröhne.<br />

Vor allem die Demokratiedefizite<br />

im Euro-Raum treiben die beiden Freiheitskämpfer<br />

um. So schreibt Scharnagl:<br />

»Der wirtschaftlichen Positionierung<br />

[Bayerns] auf einem in jedem<br />

nationalen und internationalen Vergleich<br />

herausragenden Rang fehlt der<br />

angemessene politische Handlungsspielraum,<br />

weil die großen Mitspieler<br />

in Berlin und Brüssel mit einem<br />

starken Mechanismus der Machtanziehung<br />

ausgestattet sind.« Einem<br />

Mechanismus, der darauf beruht,<br />

dass die Einwohner anderer Regionen,<br />

die weniger für das Bruttosozialprodukt<br />

leisten, bei Wahlen genau<br />

so viele Stimmen haben wie die Bayern.<br />

Mit Demokratie hat das schon<br />

lange nichts <strong>mehr</strong> zu tun!<br />

Der Wille des bayerischen Volkes<br />

kommt zu kurz. Und was das bayerische<br />

Volk will, wissen Wilfried Scharnagl<br />

und Peter Gauleiter immer noch<br />

am allerbesten, weil sie es ihm sagen.<br />

Es will seinen alten König Ludwig<br />

wiederhaben. Denn der Ludwig<br />

war so super! Echt jetzt. Unglaublich!<br />

Der war wirklich der Hammer! Ehrlich:<br />

<strong>Alte</strong>r Vatter, ey! Wahnsinn!<br />

Wer’s nicht<br />

ÜBRIGENS …<br />

… bezahlt Bayern jährlich sehr<br />

viel für den Länderfinanzausgleich.<br />

Aber die Gedanken- und Redefreiheit<br />

für Seehofer, Dobrindt und<br />

Friedrich ist nun mal nicht zum<br />

Nulltarif zu haben.<br />

DW<br />

glaubt, kann das gerne bei Scharnagl<br />

nachlesen. Oder bei Gauleiter.<br />

Egal, da kennen sich beide aus wie<br />

Hölle. Leck mich fett, war der geil,<br />

der Ludwig! Oder wie wir Kenner sagen:<br />

der Lupper.<br />

Doch dass mit einem neuen Kini<br />

Lupper gleich wieder alles so schön<br />

wird wie vor 150 Jahren, ist leider<br />

noch keine ausgemachte Sache.<br />

Auch wenn der konkrete Plan für die<br />

Abspaltung Bayerns schon steht: Januar<br />

2013 Aufkündigung des Länderfinanzausgleichs<br />

und kurze Debatte<br />

im Bundesrat, dann drei, vier Sezessionskriege.<br />

Eine taktische Atombombe<br />

auf Detmold führt Ende Juni<br />

2025 schließlich zum sogenannten<br />

»Frieden von kurzer Dauer«. Anfang<br />

Juli 2025 geht’s wieder los. Erst am<br />

30. April 2029 gibt Kanzlerin Merkel<br />

auf und erkennt Bayern als eigenständigen<br />

Staat an.<br />

Mit einem kleinen innenpolitischen<br />

Problem wird sich Bayern allerdings<br />

auch vor der UNO auseinandersetzen<br />

<strong>müssen</strong>: die Frankenfrage.<br />

Seit 1806 ist sie ungeklärt.<br />

Damals wurden weite Teile Frankens<br />

Bayern zugeschlagen, das fränkische<br />

Volk somit zu den Palästinensern<br />

Deutsch lands. Ohne politische Anerkennung<br />

und verteilt auf drei Bundesländer,<br />

bleibt den Franken auch<br />

nach der Unabhängigkeit Bayerns<br />

nur ihr Dialekt und der Kampf für ein<br />

Ziel: die eigene Unabhängigkeit von<br />

Bayern. Am besten in einem humanen<br />

Faschismus mit Augenmaß unter<br />

einem Diktator Markus Söder.<br />

So schmerzlich der Verlust Bayerns<br />

für den Rest der Bundesrepublik<br />

auch sein wird, so wird er doch viele<br />

neue Perspektiven eröffnen. Die CDU<br />

zum Beispiel wäre die Opposition der<br />

eigenen Schwesterpartei los. Die Medien<br />

hätten neben Österreich und<br />

Nordkorea einen weiteren bizarren<br />

Freakstaat, aus dem sie viel Skurriles<br />

berichten könnten: Seehofer<br />

hätte das Zeug zum neuen Kim Jongun,<br />

und Äußerungen von Alexander<br />

Dobrindt (Comical Alex) hätten den<br />

Unterhaltungswert wie einst Aussagen<br />

vom irakischen Informationsminister<br />

Comical Ali.<br />

Vielleicht wird die Sichtweise<br />

Scharnagls und Gauleiters auch als<br />

Vorbild dienen. Dann wäre vor allem<br />

aus Hessen und Baden-Württemberg<br />

immer öfter die Parole zu hören: »Der<br />

Osten kann es auch allein. Plädoyer<br />

für wiedermal einen eigenen Staat.«<br />

– Davon hätten alle was.<br />

Gregor Füller<br />

Zeichnung: Andreas Prüstel<br />

Anke Behrend<br />

In eigener Sache<br />

Rechtsverbindliche<br />

Vorsorgeerklärung<br />

EULENSPIEGEL erklärt vorsorglich: Die Behauptung<br />

von Günther Jauch, in der Berliner Zeitung<br />

habe gestanden, dass in Bild bald etwas stehen<br />

würde, wiederholen wir ausdrücklich nicht. Würden<br />

uns aber riesig freuen, wenn Jauch für lange<br />

ins Gefängnis müsste und Bettina Wulff trotzdem<br />

keine freudlose Jugend gehabt hätte.<br />

18 EULENSPIEGEL 10/12


Es war auch Evas Mundgeruch,<br />

der uns zu Opfern machte<br />

Sind wir, wenn Guido Knopp von uns geht, am Ende der Geschichte?<br />

Vorher hatten die Deutschen nur<br />

eine Geschichte, eine aus Dreck<br />

und Blut und Eisen. Dann kam Guido<br />

Knopp. Er machte aus der Geschichte<br />

eine »History«, teilte die Leichenberge<br />

in handliche Haufen, gerade so groß,<br />

dass sie in eine Folge passten, und<br />

fand eine Hauptfigur. Sie führte durch<br />

alle Teile und wurde deshalb »der Führer«<br />

genannt. Auch alle anderen Chargen<br />

– zumeist Schurkenrollen – besetzte<br />

er kongenial. In seiner Soap gab<br />

es jede Menge Verführung, weil der<br />

Führer so eine tolle erotische Ausstrahlung<br />

hatte. Und auch eine Mutter Beimer<br />

– das war das tüchtige, resolut zupackende<br />

deutsche Volk, das es immer<br />

nur gutgemeint hatte, und das trotzdem<br />

zum Schluss nicht recht wusste,<br />

wie ihm geschehen war. Doch das erzählte<br />

ihm ja Guido Knopp. Jetzt geht<br />

der Mann in Rente.<br />

➤<br />

Jetzt, wo er zu Hause sitzt, hat er die<br />

Muße, manchmal ganz verrückte Sachen<br />

zu machen, die er sich im Berufsleben<br />

verkneifen musste.<br />

EULENSPIEGEL 10/12 19<br />

Foto: The Sun


Knopps Helfer<br />

Knopps Hundeflüsterer<br />

Knopps Kameraeinstellungen mit niedlichen<br />

Tieren wären ohne seinen persönlichen<br />

Tiertrainer nicht möglich gewesen.<br />

Knopps Kaffeetante<br />

Alles, was Knopp über Kaffee wusste, wuss -<br />

te er von diesem Bohnenkenner. Wie man<br />

ihn richtig röstet, mahlt und welche Kolonien<br />

man erobern muss, um ihn günstig zu<br />

erhalten.<br />

Was wir ihm verdanken, verdanken wir seinem<br />

Fleiß: Hitler – eine Bilanz, Hitlers Helfer, Hitlers<br />

Frauen, Hitlers Krieger, Sie wollten Hitler töten, Die<br />

Große Flucht, Der Jahrhundertkrieg, Die SS, Die<br />

Gefangenen, Das Drama von Dresden, Die Wehrmacht<br />

– eine Bilanz und so weiter bis fast zum<br />

Endsieg. Ein Millionenpublikum lag ihm zu Füßen<br />

(einige waren schon sehr kalt). Und nun soll<br />

er einfach so abtreten?<br />

Mit Guido Knopp verliert Hitler seinen agilsten<br />

Stalker. Er ist ihm bis aufs Scheißhaus nachgeschlichen<br />

(die »versetzten Winde« hat Hitler-Tagebuch-Fälscher<br />

Kujau bei Knopp aufgeschnappt).<br />

Es gibt kaum ein Geheimnis, dass Guido Knopp<br />

und sein Team nicht gelüftet hätten. Von Blondis<br />

Blutgruppe über Hitlers Mundgeruch bis zu Evas<br />

Schnapphüfte wurden »Mythen belegt und Wahrheiten<br />

geschaffen«. Oder sollte es umgekehrt gewesen<br />

sein? Hitler und Herr Knopp gehörten zusammen<br />

wie Molle und Korn. Das Faszinosum<br />

Adolf beschrieb er 2003 so: »Hitler hat das Jahrhundert<br />

in die Schranken gewiesen und ist am<br />

Ende auf wagnerische Art umgekommen.« Weltkrieg<br />

und Völkermord als Bayreuther Spektakel<br />

mit einem Heldentenor, der dauernd über seine<br />

Grenzen ging und dabei ganze Armeen verschliss!<br />

Leider ist die Sache schlecht für den Führer ausgegangen<br />

– und damit auch die Chance für Knopp,<br />

mit Hitler ein ZDF-Sommerinterview zu führen.<br />

Zwei Fragen hätte er dem Führer gestellt: »Erstens:<br />

Woher kommt Ihr Judenhass? Zweitens: Würden<br />

Sie nicht doch lieber wieder Maler werden?«<br />

Was wäre, wenn die Wiener Kunstakademie den<br />

jungen Adolf nicht abgelehnt hätte? – Das war<br />

dank Knopp und angeschlossenen Historikern in<br />

Westdeutschland die Hauptfrage bei der »Aufarbeitung«<br />

der Vergangenheit und ist es bis heute.<br />

Die Deutschen sind eben nur wegen lauter dummen<br />

Zufällen in was Unangenehmes reingeraten.<br />

Glücklicherweise kann Knopp sich alle Antworten<br />

selbst geben. Denn Fantasie hat der Mann.<br />

Er hat nämlich die deutsche Geschichte erst erfunden.<br />

»Ich habe mit meinen Sendungen versucht,<br />

den Deutschen zu vermitteln, dass ihre<br />

Geschichte nicht nur aus den zwölf Jahren des<br />

Dritten Reichs besteht.« Aber diese Jahre hatten<br />

es ihm offensichtlich angetan. Nazis waren hip<br />

und telegen: Der Knopp-Stil verkaufte sich in<br />

55 Länder. Und schaut man sich die Dauersendungen<br />

sämtlicher Infokanäle an: Der Boom ist<br />

ungebrochen. Adolf lebt!<br />

Die typische Knopp-Doku beginnt mit einem<br />

Trailer fürs Herz: gefrorene Finger im Schnee vor<br />

Stalingrad, Mutter schleppt Kinder durch Schlesien,<br />

die Frauenkirche brennt, ein Russe fummelt<br />

sich am Hosenstall. Dann öffnet sich der Knoppsche<br />

Studiosarg, und der sprechende Chow-Chow<br />

mit der Föhnfrisur fragt sich, was damals eigentlich<br />

wirklich geschah? Er nickt heftig und presst<br />

die Fingerspitzen zusammen bei der Ankündigung<br />

des heißen Themas. Wenn es ernst wird,<br />

schüttelt Knopp den Kopp vorab, und er grinst<br />

schief, wenn es nicht so ernst gemeint ist. Sein<br />

süßes Lispeln prägt inzwischen die zweite Generation<br />

junger Historiker. Mit aufsteigendem Nebel<br />

im Hintergrund, einem verwaisten Schreibtisch,<br />

der auch als Seziertisch Gebrauch findet,<br />

und einer nicht ruhen wollenden Kamera wird<br />

es dann schauerlich dramatisch. Mt einem knopptypischen<br />

Lehnen-Sie-sich-zurück-und-genießen-<br />

Sie-den-Film-Seufzer wünscht er gute Unterhaltung.<br />

Zeitzeugen erzählen dann von ihrem Leid.<br />

Was sie vergessen haben, weiß Guido Knopp.<br />

Ganze Flüchtlingstrecks werden von seinen Praktikanten<br />

nachgestellt und nachempfunden. Wenn<br />

Wäre Hitler Kunstmaler<br />

geworden, hätten die<br />

Juden Schwein gehabt<br />

das Material dünn wird, hilft stets die Nazi-Wochenschau:<br />

toll geschnitten, musikalisch innovativ,<br />

großartige Geräuschtechnik.<br />

So wird Geschichte zur Gaudi für die ganze Familie.<br />

Besonders aufs Menschliche legt der einzigartige<br />

Hysteriker Professor Doktor Knopp –<br />

Knopps Pädagoge<br />

Guido Knopp ist ein Medienprofi, ein Kenner<br />

der Materie. Er wusste, wer gut mit Kindern<br />

kann, der kommt auch mit dem senilen<br />

ZDF-Zuschauer zurecht. Dass Letzterer<br />

eher handfesten Erziehungsstilen nahesteht,<br />

ahnte Knopp. Er machte sich darum diesen<br />

führenden Medienpädagogen des 20. Jahrhunderts<br />

zum Vorbild.<br />

Knopps Visionär<br />

Was wäre die Weltgeschichte ohne Träumer<br />

und Visionäre?! Stets beeinflussten<br />

Professor Knopp auch die Gedanken- und<br />

Imaginationswelten der kleinen Männer<br />

abseits der großen Politik. So auch die dieses<br />

österreichischen Kunstmalers, Komponisten<br />

und Rechtsträgers.<br />

den »Professor« führt er als Plauderhistoriker einer<br />

privaten katholischen Hochschule – großen<br />

Wert. Goebbels liebte Beethoven, und Hitler<br />

seine Schreibtischlampe mit dem Lederschirm.<br />

»Denn es sind die kleinen Geschichten, die das<br />

Große verständlich machen.« Allerdings nur in<br />

Bezug auf unsere Idole. Wie versuchte Göring<br />

abzunehmen? Hat Leni Riefenstahl ein Pessar benutzt?<br />

Verband Hitler und Speer eine homoerotische<br />

Neigung? Dass Schütze Arsch, bevor er an<br />

der Wol ga fiel, von einem Schweineschnitzel<br />

schwärmte – wen interessiert’s?<br />

Und Knopp als Mensch? Kaut er an den Nägeln?<br />

Heißt sein Pudel Blondi? Er kam 1978 zum<br />

ZDF (nicht der Pudel, sondern Knopp), und er<br />

be gann wie alle als kleine Wurst. Dann fiel ihm<br />

auf, dass es in diesem Saftladen keine Geschichtsredaktion<br />

gab, also ernannte er sich zu dieser.<br />

Er sortierte die deutsche Geschichte nach ihren<br />

witzigsten Episoden. Das kam nicht bei allen an.<br />

Für die meisten Historiker verkörperte Knopp<br />

20 EULENSPIEGEL 10/12


Knopps Modeberater<br />

Diese Persönlichkeit wäre vielleicht völlig dem<br />

Vergessen zum Opfer gefallen, hätte sie nicht<br />

maßgeblich das Männerbild in Knopps Werk<br />

beeinflusst. Knopps Faible für unkonventionelle<br />

Klatschhaarfrisuren mit hohem Wiedererkennungswert<br />

hat er sich von diesem ersten Modell<br />

für Herrenmode abgeschaut.<br />

Knopps Charmeur<br />

»Küss die Hand, gnä’ Frau«, und<br />

schnell mit der Popelbremse die Nägel<br />

des Gegenübers gereinigt! Dieser<br />

Frauenheld der Dreißiger sorgte<br />

für den nötigen Sexfaktor in Knopps<br />

Wirken.<br />

Knopps Ausrüster<br />

Wenn Knopp mal gar kein Thema für seine Dokumentationen<br />

einfallen wollte, dann kam ihm<br />

dieser Mann wie ein Blitz auf Kufen in den Kopf<br />

geschossen. Interessanterweise war der sonst<br />

keineswegs so gut für den Winter ausgerüstet.<br />

Knopps Lieblingspolitiker<br />

Knopps Gärtner<br />

Was wäre Guido Knopp ohne seinen Gärtner<br />

gewesen? Ein Mann, der stets anpackte,<br />

wenn es etwas zu tun gab, und im Keller<br />

stets die richtige Wunderwaffe gegen Schädlinge<br />

und Parasiten bereithielt.<br />

Knopps Entertainer<br />

Stets war Knopp bemüht, auch Spaß in<br />

die eigentlich fade Geschichtsschreibung<br />

zu bringen. Dabei machte er sich die Erfahrungen<br />

dieses Comedians zunutze, der<br />

schon früh das Volk mit dem lustigen Seifenkistensport<br />

unterhielt.<br />

Über viele Persönlichkeiten hat Guido Knopp<br />

in seinem Fernsehonkel-Leben berichtet. Aber<br />

keiner hat ihn so nachhaltig beeindruckt, so<br />

beschäftigt und berührt wie Konrad Adenauer,<br />

der Vater der deutschen Teilung. Sein Einstehen<br />

für Demokratie wird auch nach Knopps<br />

Pensionierung das große Faszinosum seines<br />

Lebens bleiben.<br />

Andreas Koristka / Fotos: Bundesarchiv<br />

»das Böse schlechthin«. Vor allem, dass die Deutschen<br />

bei ihm immer die Opfer waren, verübelte<br />

ihm eine notorisch antifaschistische Linke. Alles<br />

Blödsinn. Knopp weiß, wovon er spricht. Seine<br />

Familie stammt aus Schlesien, und er musste<br />

sein Kinderzimmer samt allen Plüschtieren den<br />

Polen überlassen. Das frisst sich ein in die Biografie!<br />

Ja, wenn Hitler auf der Kunstakademie angenommen<br />

worden wäre, wäre das nicht passiert.<br />

Seit 2000 verantwortet Guido Knopp die Geschichtsdokumentationsreihe<br />

History. Rund um<br />

ihn gibt es etliche Bücher, DVDs, Stickerhefte<br />

und Sammeltassen. Im ZDF trägt er den Titel<br />

»Chefhistoriker«. Damit setzt der eifrige Antikommunist<br />

eine SED-Tradition fort: von oben (vom<br />

Mainzer Lerchenberg) festlegen, wie Geschichte<br />

gewesen zu sein hat. Ein schweres Amt – aber<br />

einer muss es ja machen! Dafür ist Knopp Träger<br />

des Bundesverdienstkreuzes, er bekam die<br />

Goldene Kamera, den Emmy, das Seepferdchen,<br />

die Platin Visa und alles, was ein sehr, sehr guter<br />

Deutscher so kriegen kann. Seine katholischen<br />

Studenten haben ihn auf die Liste der seligzusprechenden<br />

Personen gesetzt. Und das, obwohl<br />

er in den letzten Jahren seinen Kampfauftrag<br />

etwas schleifen ließ: Mit Serien wie Unsere<br />

Besten (Zuschauerwahl der 100 bedeutendsten<br />

Und schließlich befreite er<br />

eine Frau aus dem Ostblock –<br />

durch Heirat<br />

Deutschen) oder Berühmte Paare zwischen Macht<br />

und Liebe hat er sich einen Ruf als Rosamunde<br />

Pilcher der Geschichtsschreibung erworben. »Geschichtspornograf«,<br />

rufen ihn die Neider, was natürlich<br />

Quatsch ist, denn niemals, sagt er, würde<br />

er Evas Vagina zeigen!<br />

Auch privat hat Knopp Gutes geleistet. Selbstlos<br />

befreite er eine Frau durch Heirat aus dem<br />

Ostblock, eine Ungarin, und wie man hört, behandelt<br />

er sie bis heute recht anständig. Allerdings<br />

muss sie sich etwas prostituieren, als »Zeitzeugin«<br />

auf seiner Geschichtsdatenbank für die<br />

»friedliche Revolution« in Leipzig.<br />

Mit einem Knaller krönte Knopp schließlich<br />

seine Laufbahn beim Zweiten Deutschen Fernsehen.<br />

Er erfand mit ihm eigener Mathematik seinen<br />

eigenen Krieg, den »Dreißigjährigen Krieg<br />

des 20. Jahrhunderts« von 1914 bis 1945. Die<br />

Jahre zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg<br />

zählen seiner Meinung nach nicht als Friedenszeit.<br />

Mit dieser originellen geschichtswissenschaftlich<br />

kühnen Kreation verabschiedet er sich<br />

auf seinen Zweitwohnsitz nach Florida.<br />

Zuvor aber macht er noch eine Lesereise auf<br />

der »MS Deutschland« und trägt den deutschen<br />

Opfern nach dem Lunch die schönsten Anekdoten<br />

aus dem Dritten Reich vor. Doch falls man<br />

Hitlers letzte Unterhose findet, lässt er sich sofort<br />

an Land bringen und eilt ins Studio.<br />

Felice von Senkbeil<br />

EULENSPIEGEL 10/12 21


Unsere<br />

Besten<br />

Pulverdampf, der durch eine immer dicker<br />

werdende Luft schwimmt. Geschützdonner,<br />

der die Erde wackeln lässt. Schiefe<br />

Häuserzeilen gleich einem zerschossenen Gebiss.<br />

Halbe Brücken wie abgehackte Arme. Auf der<br />

Straße ein herrenloses Bein, ein abber Kopf, ein<br />

zerschnetzeltes Kind. Man ahnt nichts Böses –<br />

und verliert plötzlich selber den Boden unter<br />

den Stiefeln, stürzt mit dem Gesicht voran auf<br />

den nähereilenden Straßenbelag zu und …<br />

Dirk Niebel schreckt hoch, langt automatisch<br />

zur Maschinenpistole – und hat den DIN-A4-Locher<br />

in der Hand. Enttäuschung hängt ihm im<br />

Gesicht, dass er sich nicht auf dem mit Gefahr<br />

und Geschossen prall gefütterten Schlachtfeld<br />

tummelt. Nein, er ist wieder mitten in der spannenden<br />

Büroarbeit in seinem hochinteressanten<br />

Entwicklungshilfeministerium eingenickt ... und<br />

mit dem bombenschweren Kopf auf den Schreibtisch<br />

geknallt, also wenigstens unverletzt geblieben.<br />

Der gelernte Minister und geborene Zeitsoldat<br />

fährt mit der Rechten prüfend über die Mulde,<br />

die seine harte Birne in drei Ministerjahren in<br />

das Holz gegraben hat, schüttelt sich den Schlaf<br />

aus dem Schädel, schiebt die Umlaufmappen und<br />

Positionspapiere beiseite und macht sich an die<br />

Arbeit: die Planung des nächsten Feldzugs für<br />

Rohstoffe und Absatzmärkte, den sein Ministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

überall im Kosmos zu führen hat.<br />

Im Brotberuf ist Dirk Niebel Minister. Doch<br />

seine Berufung ist der Soldatenrock, von 1984<br />

bis 1991 hielt er sich vollständig in einer Uniform<br />

der Bundeswehr auf. Ließ sich vollrohr von einem<br />

normalen Menschen zum Fallschirmjäger<br />

umbauen. Wurde arschklar zum Zugführer einer<br />

kernigen Eliteeinheit abgerichtet, hatte den Aufklärungs-<br />

und Erkundungszug der Luftlandebrigade<br />

»Schwarzwald« unter seinem Stiefel. Was<br />

Wunder, dass er nach seiner ehrenhaften Entlassung<br />

nie richtig ins bürgerliche Leben hineinfand,<br />

zum Donnerwetter aber auch! Während er<br />

an der Oberfläche eine zivile Existenz herzustellen<br />

sich mühte, absolvierte er mit enormem Horrido<br />

eine pfundige Wehrübung nach der anderen,<br />

um nicht gänzlich außer Dienst gestellt, nicht<br />

komplett eingemottet zu werden. Im Gegentum:<br />

2008 ward er hochgenudelt zum Hauptdirk der<br />

Reserve, ja scheiß die Wand an: zum Hauptmann<br />

der Reserve!<br />

Zwischen den Manövern musste er sich die<br />

Kampfmontur von der Pelle schälen. Um diese leeren<br />

Stunden zu füllen, errichtete er sich im Heidelberger<br />

Arbeitsamt einen Unterstand mit dem<br />

Zweck, die arbeitslosen, oft ungedienten Elemente<br />

auf Zack zu bringen. Forderte prompt, als die nicht<br />

spurten, die Bundesagentur für Arbeit dem Erdboden<br />

gleichzumachen und das Heer der Erwerbslosen<br />

unter das Kommando privater Jobvermittler<br />

zu jagen, da die staatlichen unfähig seien. Als<br />

einer von ihnen wusste er, wovon er redete. Und<br />

beschloss, Politiker zu werden!<br />

Bereits 1990 hatte er sich den Bataillonen der<br />

FDP angeschlossen, schnell diente er sich nun<br />

hoch. Nachdem er die Grundausbildung bei den<br />

Jungen Liberalen abgeleistet hatte, marschierte er<br />

1998 im Bundestag ein, ging 2005 als Generalsekretär<br />

der Partei an die mediale Front und wurde<br />

2009 zum Dienst in Merkels Kabinett einberufen.<br />

Noch im Bundestagswahlkampf hatte Niebel<br />

darauf gedrungen, das Entwicklungshilfeministerium<br />

bis auf die Knochen auszubomben. Eine<br />

Kriegslist, wie sich herausstellte, denn nach der<br />

bedingungslosen Kapitulation des rotgrünen<br />

Feindes besetzte Niebel prompt ebendieses fette<br />

Amt, das alle für <strong>mehr</strong> oder weniger inexistent<br />

hielten. Und ging sofort daran, in dem Sauladen<br />

aufzuräumen, in dem es zuvor als das Höchste<br />

galt, überall im Universum Brunnen zu pflanzen<br />

und Bäumchen in den Wüstensand zu bohren.<br />

Niebel brachte den Laden auf Vordermann und<br />

seine Kameraden aus der FDP in Stellung,<br />

pumpte das Ministerium, statt es auf Hutgröße<br />

zu schrumpfen, grinsend um 200 Stellen und 24<br />

neue Leitungsposten auf, die er durchweg mit<br />

Parteisoldaten besetzte. Von Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung musste dabei niemand im Ministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung einen echten Dunst haben, von<br />

Wirtschaft genügte. Gleich zu Dienstbeginn umriss<br />

Niebel mit dem Salz der klaren Rede die<br />

neue Strategie: die Mobilmachung seines Hauses<br />

zum strammen Globalisierungsministerium,<br />

in dem Außen-, Handels-, Sicherheits- und überraschenderweise<br />

sogar Entwicklungspolitik in einer<br />

starken Hand zusammenlaufen, um Deutschlands<br />

Wirtschaft und Wohlstand mit allem Speck<br />

am Leben zu erhalten. Schließlich rollen von jedem<br />

Euro so benamster Entwicklungshilfe 1,80<br />

Euro zurück in echte deutsche Mäuler!<br />

Da die Schwachen nur gemeinsam stark sind,<br />

legt Niebel Wert auf bilaterale Beziehungen. Hingegen<br />

er multilateralen Organisationen und Gemeinschaftsprojekten,<br />

bei denen man sich – wie<br />

beim Regenwald-Fonds in Ecuador – einordnen<br />

und womöglich einem fremden Stiefel unterordnen<br />

muss, lieber den kalten Arsch zeigt. Und der<br />

eigenen Marschroute folgt!<br />

Um Deutschland dafür mit <strong>mehr</strong> Bums auszurüsten,<br />

formierte Niebel seine Truppen neu: Die<br />

staatlich geschmierten Entwicklungshilfeorganisationen<br />

wurden zu einer unwiderstehlichen Einheit<br />

zusammengeschmolzen, zur Gesellschaft für<br />

internationale Zusammenarbeit GIZ, die als globaler<br />

Dienstleister und planetenweites Beratungsunternehmen<br />

den Einmarsch deutscher Firmen<br />

vorbereiten soll. Dabei geht Niebel in eigener<br />

Person – eine andere hat er nun mal nicht –<br />

mit Schmiss voran, setzt sich selbst an die Tete<br />

und stößt vor allem nach Afrika vor. Mit einer<br />

Sonnenbrille vor der schwarzen Zivilbevölkerung<br />

geschützt und mit einer Gebirgsjägermütze auf<br />

dem dazu angebrachten Kopf wider die feindselige<br />

Hitze ausgerüstet, dringt er dort ein, wo dieser<br />

zukunftsschwangere Kontinent rohstoffreich<br />

ist und Menschenmaterial lebt, das als Absatzmarkt<br />

nütze sein kann.<br />

Die Marschroute ist klar wie die Suppe, die<br />

aus der Arschritze rinnt: Es gilt auszukundschaften,<br />

inwiefern die Entwicklungsländer bei<br />

Deutschlands Entwicklung behilflich sein können.<br />

Mehr Bums,<br />

Kameraden!<br />

Gern hat er daher Vertreter seines »Africa Agriculture<br />

and Trade Investment Fund« an Bord, der<br />

von der Deutschen Bank gemanagt wird und dafür<br />

sorgt, dass die schwarzen Länder der deutschen<br />

Privatwirtschaft nach allen Seiten offenstehen,<br />

wenn sie nicht ganz dicht sind.<br />

Aber Niebel fliegt auch gern nach Afghanistan,<br />

um den dort stationierten Teppichen seine Solidarität<br />

zu bekunden. Und ggf. ein besonders gut<br />

gewachsenes Prachtexemplar am Zoll vorbei in<br />

sein Wohnzimmer zu schmuggeln! Erst als die<br />

Empörung der Öffentlichkeit Blasen warf, steckte<br />

man ihm, dass afghanische Teppiche überhaupt<br />

nicht zollpflichtig sind. Nicht schlimm also das<br />

Ganze, der waschechte FDP-Mann hatte sich halt<br />

nur aus Unkenntnis gesetzestreu verhalten.<br />

Überhaupt Afghanistan! Wie gern stünde der<br />

Hauptmann der Reserve jetzt im Feld, statt hier<br />

in der Heimat am sauren Schreibtisch zu hocken.<br />

Seine Gedanken marschieren ab ... und bald<br />

schwimmt Pulverdampf durch die dicker werdende<br />

Luft. Geschützdonner lässt die Erde wackeln.<br />

Da: Schiefe Häuserzeilen gleich einem zerschossenen<br />

Gebiss. Halbe Brücken wie ...<br />

Peter Köhler<br />

22 EULENSPIEGEL 10/12


EULENSPIEGEL 10/12 23<br />

Björn Barends


Totgesagte arbeiten länger!<br />

Eine goldene Uhr und danach nur Frustration? Hören,<br />

wie der Zeiger sich tickend gen Lebensabend<br />

bewegt? Von wegen! 900 000 Rentner arbeiten in<br />

Deutschland, weil es ihnen so viel Freude bereitet.<br />

Sie betrachten die Arbeit nicht als Fron, sondern nur<br />

als das, was sie wirklich ist: ein tolles Hobby, das<br />

sie fit hält und frei macht.<br />

Alice Schwarzer<br />

Wolfgang Thierse<br />

Papst Benedikt XVI.<br />

Tätigkeit vor der Rente<br />

Bis 2007 Werbeträgerin für Bild<br />

Was sie jetzt macht<br />

Seite-1-Mädchen bei Bild<br />

Was hat sie noch vor?<br />

Praktikum bei Franz Josef Wagner<br />

Tätigkeit vor der Rente<br />

Nistgelegenheit für Mehlschwalbe<br />

und Goldammer<br />

Was er jetzt macht<br />

Den Prenzlauer Berg gentrifizieren<br />

Was hat er noch vor?<br />

Sprachrohr der letzten Ostdeutschen im<br />

Prenzlauer Berg werden<br />

Jürgen Drews<br />

Margot Honecker<br />

Tätigkeit vor der Rente<br />

Chef-Inquisitor<br />

Was er jetzt macht<br />

Chef des Chefinquisitors<br />

Was hat er noch vor?<br />

Mitarbeiter verhaften, Prozesse führen,<br />

selig gesprochen werden<br />

Tätigkeit vor der Rente<br />

Erfolgreicher Schlagersänger und<br />

Busengrabscher<br />

Was er jetzt macht<br />

Schlager singen und Busen grabschen<br />

Was hat er noch vor?<br />

Irgendwas mit Mädchen<br />

Tätigkeit vor der Rente<br />

Ministerin für Volksbildung<br />

Was sie jetzt macht<br />

Renommierten Medien Interviews<br />

geben (ARD, Youtube)<br />

Was hat sie noch vor?<br />

Ihr EULENSPIEGEL-Geschenk-Abo<br />

verlängern<br />

Zeichnungen: Arno Funke<br />

24 EULENSPIEGEL 10/12


Der<br />

Katalog mit<br />

Neuem für<br />

<strong>Alte</strong><br />

Opatrickser<br />

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muss. Unser Opatrickser zieht den beliebten<br />

Enkeltrick von einer anderen Richtung auf.<br />

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Opa aus dem Pflegeheim aus und nutzen Sie<br />

den kurzen Moment der Verwirrung bei Ihrem<br />

Opfer, um ihm die Augen auszustechen und<br />

die Brieftasche »umzulagern«. Mit der ergonomischen<br />

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sers sind optionale Schläge auf den Kopf möglich.<br />

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Sie haben keinen Spaß an<br />

der Heimarbeit, weil Ihnen<br />

viel zu kleine Montageteile<br />

alles vermiesen? Das muss<br />

nicht sein! Unser seniorengerechter<br />

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Montieren und Verkaufen!<br />

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zum<br />

Arbeiten« wird<br />

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Oben befindet sich eine praktische<br />

Ablage für Reinigungsmittel. Und wenn<br />

Sie wirklich mal nicht weiterarbeiten<br />

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in der Zeitarbeitsfirma schon ordentlich<br />

Druck machen.<br />

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pensionierte Priester.<br />

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So sind Sie zu etwas nütze!<br />

Der Kampf gegen den Klimawandel<br />

und steigende Energiepreise<br />

kann so einfach<br />

sein. Minikraftwerke sind in<br />

jedem Baumarkt erhältlich<br />

und leicht montierbar. Kostenpunkt<br />

einmalig etwa drei<br />

Euro.<br />

Sie sitzen jeden Tag stundenlang<br />

im Park? Helfen Sie der<br />

Geflügelindustrie und brüten<br />

sie einige Legehennen aus.<br />

Das macht Spaß, denn die Küken<br />

sind herzallerliebst (männliche<br />

bitte sofort töten).<br />

EULENSPIEGEL 10/12 25


Wir haben’s<br />

immer noch<br />

drauf!<br />

Erfolgsgeschichten<br />

deutscher Pensionäre<br />

Lange lag die demente Rothild<br />

Rosenheimer dem Steuerzahler<br />

auf der Tasche. Und als<br />

wäre dies nicht genug, lag sie<br />

sich auf derselben wund. Ein<br />

Vermögen von 7,50 Euro die<br />

Stunde musste aufgewendet<br />

werden, um sie von einer ausgebildeten<br />

Krankenpflegerin<br />

allwöchentlich wenden zu lassen.<br />

Dann kam Frau Rosenheimer<br />

gemeinsam mit der Seniorenresidenzleitung<br />

auf die rettende<br />

Idee: Warum nicht auf<br />

dem Bau arbeiten? Denn dort<br />

hat sich noch niemand wundgelegen!<br />

Frau Rosenheimers<br />

glasige, verwirrte Augen verraten,<br />

dass sie über ihren plötzlichen<br />

gesellschaftlichen Nutzen<br />

entzückt ist. Und wer<br />

denkt, dies geschehe aus pekuniärer<br />

Not, irrt. Denn die Seniorenresidenz<br />

bestätigt, dass<br />

Frau Rosenheimer gern auf ihren<br />

zusätzlichen Gewinn zugunsten<br />

ihres geliebten Heimes<br />

verzichtet.<br />

Frau Rosenheimer vor der Aufnahme ihrer Erwerbstätigkeit: ein Häufchen Elend.<br />

Keine Anzeige<br />

Einmal frei durchatmen: Paula Kusselkopp macht’s möglich<br />

Beherrscht mittlerweile ein<br />

Potpourri abschlägiger Gesten:<br />

Heinz Kowalski.<br />

Heinz Kowalski war zu alt und<br />

berufsunfähig, dachte er zumindest.<br />

Sein leichtes horizontales<br />

Kopfschütteln, bedingt<br />

durch ein Parkinson-Leiden,<br />

brachte ihm außer Spott und<br />

Hohn nichts ein. Kinder rannten<br />

ihm auf der Straße hinterher<br />

und riefen »Doch, doch!«.<br />

Ganz Rentner und gefangen im<br />

System staatlicher Zuwendungen,<br />

konnte er sich den Fesseln<br />

seiner Unzufriedenheit<br />

nicht selbst entreißen. Bis Sparkassen-Leiter<br />

Jochen Eber ling<br />

durch Zufall auf Kowalski aufmerksam<br />

wurde. Er stellte ihn<br />

sofort für die Abteilung Kreditvergabe<br />

für Privatleute in seiner<br />

Filiale ein, wo er seitdem<br />

die Kunden betreut.<br />

Paula Kusselkopp hat sich<br />

aus den Fängen des unwerten<br />

Lebens befreit. Sie arbeitet<br />

heute ehrenamtlich als Pollenfängerin<br />

in ihrem Heimatort<br />

Wadersloh. Nur rumsitzen und<br />

die 374 Euro Grundsicherung<br />

sinnlos auf den Kopf hauen?<br />

Das kam für Frau Kusselkopp<br />

nicht infrage. Jedenfalls nicht,<br />

solange ihre Enkel an allen erdenklichen<br />

Allergien litten. Am<br />

Tag fängt Frau Kusselkopp<br />

heute 800 Pollen der unterschiedlichsten<br />

Pflanzengattungen.<br />

Das macht in den warmen<br />

Monaten des Jahres immerhin<br />

145 000 Pflanzenspermien.<br />

Ihre Achtung in der Gemeinde<br />

ist dadurch enorm gestiegen.<br />

Auch Bürgermeister<br />

Müggepiet schätzt ihr Engagement<br />

und überbrachte ihr deshalb<br />

zum 80. Geburtstag einen<br />

Blumenstrauß, den Frau Kusselkopp<br />

sofort entpollte.<br />

Andreas Koristka,<br />

Fotos: Fotolia<br />

Florida<br />

Dr. Ursula von der Leyen empfiehlt:<br />

<strong>Alte</strong>rsruhesitz<br />

Ganze 2300 V (9,5 A) für acht Sekunden, 1000 V (4 A) für 22 Sekunden!*<br />

* Die Stärke des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend subventionierten<br />

Stroms richtet sich nach der Anzahl der Verdienstjahre.<br />

Michael Garling<br />

26 EULENSPIEGEL 10/12


Anzeige


Aus<br />

land<br />

O Ecuador, o Ecuador!<br />

Wohl jeder kennt die Situation aus<br />

eigener Erfahrung: Man sitzt zu<br />

Hause am Rechner, macht aus Versehen<br />

streng geheime Depeschen<br />

aus dem Pentagon öffentlich und<br />

wird anschließend von zwei schwedischen<br />

Nymphomaninnen zum Sex<br />

gezwungen, die später das genaue<br />

Gegenteil behaupten. Für viele Mittvierziger<br />

ist das Alltag. Daher würde<br />

man sich über Julian Assange auch<br />

nicht weiter die Festplatte fusselig<br />

reden, hätte sich der australische<br />

Albino nicht zufällig in der ecuadorianischen<br />

Botschaft in London einquartiert.<br />

»Herrlich«, sagen die einen,<br />

»Hossa!«, singen die anderen.<br />

Seit Juni hält sich Assange nun<strong>mehr</strong><br />

in Hans Crescent Nr. 3 auf.<br />

Die, die täglich mit ihm verkehren,<br />

beschreiben ihn als leicht hospitalisiert,<br />

aber rundum happy. Mit 41<br />

Jahren kann Assange noch einmal<br />

von vorn anfangen, ihm winkt ein<br />

neues Leben in einem neuen Land.<br />

Hinter sich lässt er dann die hässlichste<br />

aller Inseln. Scheiß-Wetter,<br />

Scheiß-Essen, Scheiß-Linksverkehr.<br />

gierungschef mit Charisma. Auch<br />

hat. Seither ist das Land in zwei Kli-<br />

lich, sofern man sich nicht wieder<br />

Wer an England denkt, fragt sich,<br />

wirtschaftlich geht es bergauf. Die<br />

mazonen geteilt. Kaum vorstellbar,<br />

die ganze Nacht am PC um die Oh-<br />

worauf der ansteigende Meeres-<br />

erfolgreichsten Exporte sind Erdöl,<br />

dass wir Urenkelinnen und Urenkel<br />

ren geschlagen hat. Auf alle Fälle<br />

spiegel eigentlich noch wartet. Kein<br />

Schnittblumen und Malaria. Dass<br />

dieses Spalters in Ecuador mit of-<br />

kann man Botschafter Dilshod auch<br />

Fleckchen Erde lädt offensiver zum<br />

das Internet in Ecuador nur etwa<br />

fenen Blusen empfangen würden.<br />

eine E-Mail schreiben (DilBo@uzbe-<br />

Exodus ein als das Vereinigte Kö-<br />

halb so schnell Daten überträgt wie<br />

Aber wie heißt es so schön in ei-<br />

kistan.de) oder man hackt sich<br />

nigreich.<br />

eine halbseitig gelähmte Brieftaube,<br />

ner postkolonialistischen, spani-<br />

gleich in den Botschaftsserver ein<br />

Nun ist Deutschland nicht Eng-<br />

wird da sicherlich auch Hackerfresse<br />

schen Seemannsweise: »O Ecuador,<br />

und kommuniziert bequem übers<br />

land, aber auch hier lassen sich aus-<br />

Assange gerne in Kauf nehmen.<br />

o Ecuador. Dann fahr’n wir halt wo-<br />

Intranet. Natürlich sollte man nie<br />

reichend Gründe finden, einfach<br />

Nun hat die Sache allerdings ei-<br />

anders hin« (im Original: »Viva la<br />

mit leeren Händen vor einer Bot-<br />

Leine zu ziehen und das graue Da-<br />

nen Haken. Im Gegensatz zu nerdi-<br />

viva lo viva la Mexico«). Allein in<br />

schaft aufkreuzen. <strong>Alte</strong>s Diploma-<br />

sein im drögen Parlamentarismus<br />

gen Australiern mit dem Talent,<br />

Deutschland warten Hunderttau-<br />

tengesetz. Wer ein Assylange wer-<br />

gegen den abenteuerlichen Fun in<br />

Machtblöcke gegeneinander aufzu-<br />

sende von Botschaften darauf, ver-<br />

den will, muss schon was bieten<br />

der autokratischen Wohlfühloase<br />

wiegeln und einen dritten Weltkrieg<br />

zagten Westbürgern neue Perspek-<br />

oder zumindest das Zeug mitbrin-<br />

einzutauschen. Einfach mal einen<br />

anzuzetteln, ist der gemeine Deut-<br />

tiven zu bieten. Warum nicht mal<br />

gen, ein bisschen Weltgeschichte<br />

Assylange-Antrag stellen und ab<br />

sche in dem lateinamerikanischen<br />

an der Perleberger Straße 62 (Ber-<br />

zu schreiben. So konnte Julian As-<br />

geht die Post. Die Botschaft von<br />

Land nicht sonderlich gelitten.<br />

lin) Sturm läuten, schaun, ob Seine<br />

sange mit dem Pfund wuchern, im<br />

Ecuador ist nicht umsonst eine be-<br />

Schuld ist der alte Alexander von<br />

Exzellenz Dilshod Akatov zufällig zu<br />

Namen der Aufklärung unterwegs<br />

liebte Anlaufstelle für Menschen mit<br />

Humboldt. Noch immer nehmen die<br />

Hause und nüchtern ist. Die Öff-<br />

zu sein. Dank der von ihm veröf-<br />

Fernweh. Der sympathische Anden-<br />

Ecuadorinten unserem Bildungsrei-<br />

nungszeiten der usbekischen Bot-<br />

fentlichten Depeschen wissen wir<br />

staat bietet alles, woran es uns fehlt:<br />

senden übel, dass er bei ihnen einst<br />

schaft (montags bis freitags jeweils<br />

nun, dass Soldaten auf alles schie-<br />

Vulkane, den Pazifik und einen Re-<br />

den Humboldt-Strom eingeführt<br />

von 9 bis 13 Uhr) sind bürgerfreund-<br />

ßen, was nicht bei drei auf eine<br />

28 EULENSPIEGEL 10/12


Burkhard Fritsche<br />

Mine tritt, Politiker käuflich sind und die Wirkung<br />

von Globuli auf Einbildung basiert. In der<br />

Perleberger Straße hat sicherlich derjenige höhere<br />

Aufnahmechancen, der wenigstens zwei Semester<br />

in angewandter Atomphysik vorweisen<br />

kann. Und wo man schon mal da ist, sollte man<br />

auch die Flugstunden beim Segelfliegerclub »Roter<br />

Baron« nicht für sich behalten.<br />

Es gehört zu den vom Auswärtigen Amt gerne<br />

unterschlagenen Tatsachen, dass zwischen autoritären<br />

Regimen und schönem Wetter eine Korrelation<br />

besteht. Je dominanter der Potentat,<br />

desto höher die Anzahl jährlicher Sonnenstunden.<br />

Das mag vielleicht Zufall sein, ein Argument<br />

für einen überstürzten Umzug ist es allemal.<br />

Im bestens vertrauten Dschibuti beispielsweise<br />

herrscht ganzjährig Hochsommer. Heilig -<br />

abend bei gesegneten dreißig Grad unter Palmen<br />

– da lässt sich dem Jesuskind gleich viel<br />

leichter huldigen. Von allzu sichtbarem Christbaumschmuck<br />

sollte in dem muslimlastigen<br />

Land allerdings abgesehen werden. Die dschibutische<br />

Botschaft (Dschibutschaft) befindet<br />

sich in der Kurfürstenstraße 84. Kommen Gäste,<br />

werden sie von Seiner Exzellenz Mohammed Dileita<br />

Aden mit Trockenobst aus der Heimat willkommen<br />

geheißen. Öffnungszeiten gibt es allerdings<br />

keine. Dafür ist Herr Aden rund um die<br />

Uhr telefonisch erreichbar (0153/3667985). Machen<br />

Sie den Test!<br />

Klar ist leider auch: Wer von einer Botschaft<br />

aufgenommen wird, hat sein Ziel noch lange<br />

nicht erreicht. Um lästigem Anfragen und Winseln<br />

im Auswärtigen Amt zu entgehen, empfiehlt<br />

sich der abenteuerliche Abgang. Für die kostengünstigste<br />

Variante benötigt man im Grunde<br />

nicht <strong>mehr</strong> als einen handelsüblichen Hirtenstab,<br />

ein Kerkeling-Sachbuch sowie eine plausible<br />

Erklärung dafür, warum man den Jakobsweg<br />

ausgerechnet auf dem Umweg über Dschibuti<br />

zurücklegen will. Wer eher die passive Rolle bevorzugt<br />

und eine Schwäche für den Orient hat,<br />

dem sei geraten, sich in einen Perser einwickeln<br />

zu lassen. So muss er an den Grenzen nur noch<br />

darauf hoffen, dass seine Gehilfen den Text behalten<br />

konnten und glaubhaft versichern, dass<br />

es sich bei dem ranzigen Textil um einen unverzollten<br />

Teppich aus dem Entwicklungsministerium<br />

handle, den man auf diesem Wege ordnungsgemäß<br />

samt Minister retour bringen wolle.<br />

Der sicherste Transport in die Schweiz (Ottovon-Bismarck-Allee<br />

4A, Montag bis Freitag 9 bis<br />

12 Uhr), jenen kleinen, klimatisch heilsamen Unrechtsstaat,<br />

der sich wohlweislich hinter den Alpen<br />

versteckt, erfolgt noch immer im Innern eines<br />

Geldkoffers. Kontrollen sind beiderseits ausgeschlossen.<br />

Der Komfort der Ausreise lässt freilich<br />

zu wünschen übrig. Wer daher im Yogakurs<br />

für fortgeschrittene Flüchtlinge gelernt hat, die<br />

eigenen Gelenke auszukugeln und sich zusammenzufalten,<br />

ist klar im Vorteil.<br />

Natürlich lässt sich jede Flucht auch über TUI,<br />

Sonnenklar-TV oder den Vatikan (Lateinamerika)<br />

buchen. Vielleicht ist das die eigentlich frohe<br />

Botschaft.<br />

Florian Kech<br />

EULENSPIEGEL 10/12 29


30 EULENSPIEGEL 10/12


Zeit geist<br />

Beck<br />

EULENSPIEGEL 10/12 31


Die<br />

Wessos<br />

kommen!<br />

Sachsen verzeichnet als erstes Bundesland im<br />

Osten »eine positive Wanderungsbilanz«: Dorthin<br />

kommen <strong>mehr</strong> Ostdeutsche zurück, als nach<br />

der Wende rübergemacht sind. Vielleicht weil<br />

Dresden niedrige Friedhofsgebühren hat?<br />

»Ja, ich bin ein Wesso«, sagt Gerald S. (47) mit einer<br />

Mischung aus Stolz, Scham und Trotz. Er klingt fast so,<br />

als habe er den Begriff erfunden. Dabei nennen sich<br />

hier, im Notaufnahmelager Ellrich am Fuße des Harzes,<br />

gleich hinter der (immer noch »gedachten«) Grenze zu<br />

Niedersachsen alle so. »Irgendwie muss man doch<br />

seine verrückte Biografie auf den Punkt bringen«, sagt<br />

Gerald, der beruflich auf eine lange Laufbahn als Gabelstapler-Fahrer<br />

zurückblicken kann. Und das Wort<br />

»Wossi« ist ja schon von den westdeutschen Aufbauhelfern<br />

besetzt, die sich in Neufünfland festgesetzt haben<br />

und seitdem mit ihrer Leidensfähigkeit angaben!<br />

Nach diesen Reflexionen lässt sich Gerald wieder auf<br />

sein Feldbett fallen, um den Rest des Tages zu verdämmern.<br />

Aber nicht alle lassen sich hängen. Die Kleinsten beispielsweise<br />

üben schon wieder Zwei-und-Zwei-Antreten<br />

für ihren ersten Morgenappell und schmettern den<br />

ganzen Tag das Lied »Die Heimat hat sich schöngemacht<br />

/ und Tau blitzt ihr im Haar«. In Baracke sieben<br />

trudeln nach dem Frühstück einige Leute zur »Umerziehung«<br />

ein. Das ist natürlich ironisch gemeint, denn<br />

die Zeit der Gehirnwäsche, die sie im Westen erleiden<br />

mussten, ist für sie vorbei. »Bei Quelle in Fürth musste<br />

ich unterschreiben, dass ich alle Ostkontakte abbreche,<br />

nicht schwanger bin und innerhalb der Grenzen<br />

der ehemaligen BRD nicht Sächsisch spreche. Sonst<br />

hätten die mich nicht ans Band gelassen«, erzählt Isolde<br />

P. aus Harzgerode. Dabei spricht sie ein astreines Anhaltinisch!<br />

»Für die Westdeutschen waren wir alle Sachsen,<br />

sobald wir den Mund aufmachten«, erinnert sie<br />

sich flüsternd (die Angst vor Spitzeln des hessischen<br />

32 EULENSPIEGEL 10/12


Heimat liebe<br />

EULENSPIEGEL 10/12 33<br />

Guido Sieber


Heimat<br />

liebe<br />

Verfassungsschutzes ist im Lager groß). Jetzt üben<br />

sie wieder »Dreiviertel neun« zu sagen, statt »Viertel<br />

vor neun«, die Bierflasche wieder mit den Zähnen<br />

zu öffnen und Spaghetti wieder mit Messer<br />

und Gabel zu essen. »Spaghetti mit Gabel und<br />

Löffel! Können Sie sich vorstellen, wie doof wir<br />

uns dabei vorgekommen sind?«, ruft Isolde, und<br />

alle lachen befreit. Wem ein »Grüß Gott« über die<br />

Lippen huscht, der muss in die Kaffeekasse einzahlen.<br />

Ein Referent der Landeszentrale für politische<br />

Bildung informiert über die Lage in der alten<br />

Heimat – dass es Biedenkopf, die PDS und<br />

den Palast der Republik nicht <strong>mehr</strong> gibt, dafür<br />

aber Hunderte Kilometer Fahrradwege. »Gibt es<br />

denn den MDR wenigstens noch?«, fragt Isolde P.<br />

Als das bejaht und versichert wird, auch die Club-<br />

Cola und die Puhdys seien noch da, schießt ihr<br />

das Wasser in die müden Augen. Heimat, du hast<br />

einen Namen, ein Gesicht (»Maschine«) und ein<br />

Getränk!<br />

Übler Geruch breitet sich in der feuchten Baracke<br />

aus. Seit Tagen sind die Übersiedler nicht aus<br />

ihren Jogginghosen gekommen. Es herrschen unzumutbare<br />

hygienische Zustände im Lager. Die<br />

beiden Bidets, die einst für arabische Asylanten<br />

eingebaut worden waren, sind die einzige Waschgelegenheit<br />

und Quelle fürs Kaffeewasser. Bohnenkaffee<br />

spendet der kleine Supermarkt im Ort.<br />

Aber aus Nordhausen kommen nachts manchmal<br />

Nazis, die die Umwidmung des Heimes verschlafen<br />

haben, und spenden Benzin in verkorkten<br />

Weinflaschen durchs geschlossene Fenster.<br />

Kürzlich ist auch »Wessos raus!« ans Haupttor<br />

gesprüht worden. Im Dorf haben Jugendliche den<br />

Flüchtlingen hinterhergerufen: »Das Wesso ist ein<br />

blödes Tier. Hau bloß ab und bleib nicht hier«.<br />

»Das kränkt«, sagt Gerald S. im Namen aller<br />

Umsiedler, »denn vom Blut her sind wir doch alle<br />

Anzeige<br />

Ostdeutsche. Klar, wir haben einen Fehler gemacht,<br />

als wir uns mit denen da drüben eingelassen<br />

haben. Aber wir stehen dazu.«<br />

Die Scham ist groß. Wie konnten wir nur so<br />

dumm sein zu glauben, dass sich die Wessis bei<br />

sich zu Hause anständiger verhalten als im Osten,<br />

hadern viele mit sich. Mancher, der jetzt hier<br />

ist, ist in Bochum oder Wolfenbüttel Kommunist<br />

geworden – einfach weil man ihn nie mit seinem<br />

Namen, sondern immer nur mit »Kommunist«<br />

oder »Honecker« gerufen hat. Aber dürfen die<br />

Heimkehrer nicht auch etwas Dankbarkeit erwarten?<br />

Schließlich haben sie, als nach 1990 zu<br />

Hause die Sippe den Kitt aus den Fenstern fraß,<br />

ihre Familie von arbeitslosen Essern befreit. So<br />

»Meinen Gabelstaplerschein<br />

wollten sie nicht anerkennen,<br />

weil er nicht unter rechtsstaatlichen<br />

Bedingungen erworben wurde.«<br />

konnte beispielsweise die Kindersterblichkeit in<br />

Sachsen-Anhalt niedrig gehalten werden. Ein<br />

bisschen können die Lagerinsassen die Ängste<br />

der Leute in ihren Heimatgemeinden verstehen.<br />

»Aber wir wollen ihnen doch gar nicht die Arbeitsplätze<br />

wegnehmen. Wir wollen einfach nur<br />

ein Plätzchen in den Sozialsystemen«, sagt Gerald.<br />

Und einer, den alle nur »Hilde« nennen,<br />

fügt hinzu: »Und vielleicht ein Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung,<br />

Zeugwart beim Kinderballett<br />

am Theater in Anklam, das wäre schön.«<br />

85 Prozent der Wessos, die in die einstige russische<br />

Zone zurückkehren, waren im Westen »entweder<br />

glücklich, zufrieden oder nicht unglücklich«,<br />

sagt ein Meinungsforschungsinstitut. »Das<br />

ist Quatsch«, empört sich Sandy von O., eine<br />

früh gealterte Endzwanzigerin. In ihrem »ersten<br />

MUSICAL-REVUE<br />

E<br />

Leben«, wie sie sagt, hat sie in Harzgerode Frisörin<br />

gelernt. Nun bilanziert sie: »Wenn du am<br />

Bodensee täglich siebzig Betten beziehst, hast<br />

du natürlich keine Zeit, unglücklich zu sein. Und<br />

wenn dann der Chef noch nach dir greift, weil ja<br />

die ostdeutschen Frauen so herrlich unkompliziert<br />

sind, musst du hinterher natürlich auch so<br />

tun, als ob du einigermaßen zufrieden bist.« Gerald<br />

S. ist empört: »Meinen Gabelstaplerschein<br />

wollten sie nicht anerkennen, weil er nicht unter<br />

rechtsstaatlichen Bedingungen erworben<br />

wurde. Und überall war man der Ossi. Wenn du<br />

bei Aldi in der Schlange gerufen hast: ›Bitte eine<br />

zweite Kasse aufmachen!‹, haben sich alle umgedreht<br />

und gebrüllt: ›Hau doch ab nach drüben!‹<br />

Beim Bäcker habe ich die Brötchen vom<br />

Vortag und im Bordell immer das Mädchen in <strong>Alte</strong>rsteilzeit<br />

gekriegt.«<br />

Gerüchte gehen um. Auf dem Gütergleis in<br />

Wernigerode sollen bereits Waggons bereitgestellt<br />

worden sein. Ein gutes Zeichen! Einige packen<br />

schon ihr Bündel, die »Hallorenkugeln«,<br />

die ihnen bei der Ankunft in Ellrich im Auftrag<br />

des Landrats als Begrüßungsgeschenk überreicht<br />

worden waren, obenauf. Gerald S. plagen finstere<br />

Gedanken. Wie wird die Heimat ihn, den<br />

»Flüchtling« empfangen? Werden seine beiden<br />

Jungs ihn wiedererkennen? Und das kleine Mädchen,<br />

von dem ihm seine Frau geschrieben hat,<br />

wird es »Papa« oder »Onkel Gerald« zu ihm sagen?<br />

Und vor allem: Ist der Kerl, an den sie die<br />

Stube notgedrungen untervermietet hat, nun<br />

endlich ausgezogen?<br />

Wie auch immer – ein Zurück gibt es für Gerald<br />

S. nicht <strong>mehr</strong>. In Gütersloh, wo er zuletzt<br />

Stapel hob, jobben jetzt die Griechen.<br />

Mathias Wedel<br />

Von den Machern von „Durchgeknallt im Elfenwald“<br />

Regie: Reinhard Simon<br />

Premiere: 29. September ember 2012, Großer Saal<br />

Weitere Vorstellungen:<br />

12./13.10. 19:30 Uhr, 27.10. 19:30 Uhr, 28.10.<br />

15:00 Uhr, 9./10.11. 19:30 Uhr, 22.12. 19:30<br />

Uhr, 23.12. 15:00 Uhr, 31.12. 18:00 Uhr<br />

Uckermärkische Bühnen Schwedt<br />

Tickets und Informationen:<br />

Tel. 03332 538111<br />

www.theater-schwedt.de<br />

ww.theater-schwedt.de<br />

34 EULENSPIEGEL 10/12


Ver kehr<br />

Künstlername Ramses<br />

Wahrscheinlich ist er eins der letzten Genies, ein<br />

Michelangelo der Verkehrswegeplanung, ein Stephen<br />

Hawking der allgemeinen Schiffbarmachung<br />

ostdeutscher Nebenflüsse! Zumindest ist er ein<br />

Multitasking-Champ, der Minister Ramsauer. Das<br />

heißt, er greift virtuos zahlreiche Tasten gleichzeitig.<br />

Er hat seine Pianistenfinger in tausend Projekten<br />

drin. Einst versuchte er ohne Erfolg, als Rubinstein<br />

für Arme die Konzertsäle der Welt aufzumischen,<br />

machte dann aber lieber Karriere als Lebenskünstler.<br />

Bei festlichen Einweihungen ist er<br />

ein leidenschaftlicher Banddurchschneider, ab und<br />

zu aber haut er immer noch in die Klaviatur. Für<br />

die Benefiz-CD »Adagio im Auto« spielte er mit<br />

dem Orchester der Deutschen Oper Berlin das Andante<br />

aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 ein. Das<br />

macht ihm die stärkste Frau der Welt nicht nach!<br />

Erfolge säumen seinen Weg. Im Schienenverkehr<br />

erreichte er,<br />

• dass der ICE in Wolfsburg Hbf. kaum noch hält,<br />

obwohl er laut Fahrplan halten soll,<br />

• dass die Berliner S-Bahn sich nicht mit Verspätungen<br />

begnügt, sondern bei jeder Gelegenheit<br />

entgleist und<br />

• dass die Klimaanlage in jedem ICE zuverlässig<br />

ausfällt, wenn die Außentemperaturen im Sommer<br />

hoch, im Winter frostig und in den restlichen<br />

Jahreszeiten durchschnittlich sind.<br />

Im Luftverkehr erlangte er weltweit Anerkennung<br />

mit dem Großflughafen Berlin Brandenburg Internäschenel,<br />

auf dem in diesem Jahrhundert<br />

Flugzeuge weder starten noch landen werden;<br />

aus naheliegenden Gründen wird der Airport Willy<br />

Brandt deshalb umbenannt in Großflughafen<br />

Fürst Potemkin.<br />

Gern würde er auch den Fortschritt auf sein<br />

Leistungskonto verbuchen, dass überall in den<br />

Städten piekfeine, abschließbare Wohnparks für<br />

Reiche entstehen, der soziale Wohnungsbau aber<br />

vollständig zum Erliegen kommt. Denn schließlich<br />

ist er auch Bauminister! Aber er muss zerknirscht<br />

zugeben: Wohnungsbau ist Ländersache,<br />

der interessiert ihn nicht die Bohne!<br />

Im Straßenverkehr lässt Ramses gleichfalls<br />

nichts anbrennen. Auf allen Autobahnen werden<br />

die letzten Lücken geschlossen, um die Hauptverkehrsadern<br />

bundesweit zu einer durchgehenden<br />

Baustelle zu perfektionieren, Betreten für<br />

Straßenbauarbeiter streng verboten. Fällig sind<br />

auch die Fahrradfahrer, die rote Ampeln missachten<br />

und unbescholtenen Verkehrspolizisten den<br />

Stinkefinger zeigen. »Der Verrohung dieser<br />

Kampf radler«, sagte Ramsauer der Presse, müsse<br />

endlich Einhalt geboten werden.<br />

Die Wahnsinns-Kraftstoffpreise machen ihm<br />

ebenso großes Kopfzerbrechen wie dem deutschen<br />

Volk. Wenn es nach ihm geht, bleibt das<br />

Benzin unbezahlbar, allerdings <strong>müssen</strong> die Tankstellen<br />

zum sogenannten »australischen Modell«<br />

übergehen. Dies bedeutet, dass die Mineralölkonzerne<br />

ihre Preiserhöhungen vorher ankündigen,<br />

damit die Kundschaft genug Zeit hat, die<br />

Kosten für eine Tankfüllung anzusparen. Und weil<br />

sogar Aktivisten der Grünen sich weigern, Biosprit<br />

E10 zu tanken, soll künftig noch viel <strong>mehr</strong><br />

Biosprit hergestellt werden, damit der Hunger in<br />

der Dritten Welt unumkehrbar wird.<br />

Aber das sind Kleinigkeiten. Für Ramses gibt<br />

es Wichtigeres zu tun, Dinge von historischer Dimension:<br />

Marx und Engels, diese beiden, hängen<br />

als Denkmalsgestalten immer noch mitten<br />

in Berlin rum, und zwar genau dort, wo Ramsauer<br />

das Hohenzollern-Schloss wiedererrichten<br />

will. Bau-Freiheit oder Kommunismus – das ist<br />

hier die Frage! Die beiden Rauschebärte solle<br />

man zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-<br />

Friedrichsfelde verfrachten. »Dort«, sagt er im<br />

Brustton bairischer Grammatik, »gehören die bes-<br />

Uwe Krumbiegel<br />

Andreas Prüstel<br />

EULENSPIEGEL 10/12 35


Jünger & Schlanker André Poloczek Mario Lars<br />

ser aufgestellt, das ist ja so eine Art sozialistisches<br />

Restezentrum.«<br />

Frage: Warum ist Peter Ramsauer eigentlich<br />

so liebenswert? Antwort: Weil er sich mit überbordendem<br />

Eifer am liebsten auf Arbeiten<br />

stürzt, die ihn gar nichts angehen. Das Ministeramt<br />

übernahm er mit dem Schlachtruf:<br />

»Anglizismen sind bullshit!« und verpasste seinem<br />

Verkehrsmysterium ein striktes Denglish-<br />

Verbot. Sein travelmanagement wurde wieder<br />

zur Reisestelle, die task force zur Projektgruppe,<br />

die deadline zum Abgabetermin, das<br />

inhouse meeting zum hauseigenen Seminar.<br />

Der Flyer sollte wieder Handzettel sein, die<br />

Hotline eine stinknormale Telefonnummer und<br />

das nächste Santa-Claus-Event eine Weihnachtsfeier.<br />

Sein linguistischer Furor veranlasste<br />

die Zeitung Deutsche Sprachwelt, ihn<br />

zum »Sprachwahrer des Jahres 2010« zu ernennen.<br />

Tatendurstig machte er bei der Deutschen<br />

Bahn gleich weiter, wo der Team Manager<br />

immer noch der Rückbenennung zum Zugführer<br />

harrt. Und noch heute scheißen sich auf<br />

den Bahnhöfen Fahrgäste in die Hosen, weil<br />

sie nicht ahnen, dass hinter dem rätselhaften<br />

Schild »McClean« das gute, alte Bahnhofsklo<br />

steckt. Ramsauers Tatkraft wird also noch gebraucht.<br />

Denn manche seiner atemberaubend kühnen<br />

Projekte stecken noch »in der Pipline«,<br />

wie man im Managerslang sagt: Das Verkehrsschilderdickicht<br />

am Straßenrand wollte er lichten,<br />

die Flensburger Verkehrssünderkartei<br />

wollte er reformieren und forderte im Affekt<br />

ein Lastwagenverbot auf Autobahnen, weil ein<br />

Brummi-Elefantenrennen seinen Dienstwagen<br />

mal am Überholen gehindert hatte. Solche Meriten<br />

stellt er nun in den Schatten mit Kokolores<br />

der Extraklasse – mit einer 43 Seiten<br />

starken Verordnung zur »Liberalisierung der<br />

Kraftfahrzeug-Kennzeichen«. Sein Herzenswunsch<br />

ist die »regionale Identifikation der<br />

Autofahrer«: Städte und Gemeinden sollen<br />

künftig bei Autokennzeichen die freie Wahl haben.<br />

EFW – endlich freie Wahlen! Das Nummernschild<br />

wird zur »lokalpatriotischen Botschaft«.<br />

67125 Dannstadt-Schauernheim<br />

käme auf Wunsch mit DSH, 29468 Bergen-<br />

Enkheim mit BEH, 06425 Chausseehaus Plötzkau<br />

mit CHP und Kleinkleckersdorf mit KKD<br />

groß raus, 06862 Hundeluft mit HUN, 14715<br />

Kotzen mit KOT und 08543 Möse mit MÖS.<br />

Das ist er, der große Schritt zur Freiheit, der<br />

gewiss den Beifall des Bundespräsidenten<br />

Gauck (BPG) finden wird. »Ich erfülle damit<br />

Wünsche vieler Regionen«, so Ramsauer im<br />

Rausch des Eigenlobs.<br />

Bisher gibt es bundesweit 383 verschiedene<br />

Autokennzeichen, aber 11 200 Städte und Gemeinden.<br />

Es ist also noch viel Luft nach oben.<br />

Freuen wir uns auf den bevorstehenden Kennzeichenwirrwarr<br />

(KZW). Bald wird das gute,<br />

alte Kennzeichenraten (KZR) während der Autofahrt<br />

erst richtig Spaß machen! Den Erwachsenen<br />

und erst recht den süßen Kleinen.<br />

Denn die haben nun einen Kindskopf an ihrer<br />

Seite, wie sie einen kindischeren in keinem<br />

Sandkasten finden könnten.<br />

Ernst Röhl<br />

36 EULENSPIEGEL 10/12


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Fremde Völker<br />

Schunkeleisprung im Oktober<br />

lose mancherlei Geschlechts hocken dort an<br />

schmalen Tischen auf schmalen Bänken und lassen<br />

– freudig, wie es scheint – die chemische<br />

Folter über sich ergehen. Die Enge ist so drangvoll,<br />

dass in diesen Notunterkünften jährlich binnen<br />

weniger Nächte einige hundert Schwangerschaften<br />

entstehen (Eisprung infolge Schunkelns,<br />

die sogenannte Sekundenerektion beim Aufspringen<br />

mit dem Ruf »Oans, zwoa, gsuffa!«).<br />

Ein wichtiger Faktor der psychologischen<br />

Kriegs führung gegen die Münchner Einwohnerschaft<br />

ist dabei der Lärm, der durch Blechblasinstrumente<br />

in kaum gekannter Brutalität von einer<br />

patriotisch (blau-weiß) verzierten Bühne herab<br />

erzeugt wird.<br />

Schließlich ist die Urteils- und Handlungsfähigkeit<br />

des menschlichen Materials derart beeinträchtigt,<br />

dass man mit einer Freude, als ginge<br />

es gegen Stalingrad, »Ein Prosit der Gemütlichkeit«<br />

grölt. Dazu rammt man sich gegenseitig<br />

die Ellbogen in die Seiten und kübelt die Nachbarn<br />

mit einer Mischung aus Bier und Kotze voll.<br />

Hunderttausende Freiwillige aus aller Welt nutzen<br />

das Oktoberfest zu kultureller Weiterbildung<br />

im Land von Goethe, Schiller und Florian Silbereisen.<br />

Endlich können sie sich ohne Aufsicht von<br />

Mutti mal so richtig zulitern.<br />

Es herrscht Kostümpflicht. Je peinlicher die<br />

Aufmachung, umso weiter war die Anreise. Die<br />

Damen quetschen ihre Weichteile in putzige<br />

Dirndl, die Herren tragen »Lederhosn« – eine regionaltypische<br />

Uniform, eigens dafür erfunden,<br />

dass der Mann jederzeit durch die Hosenbeine<br />

und das »Hosntürle« unkompliziert Zugriff auf<br />

sein Gemächt hat – dazu dämliche Filzhüte.<br />

Nach geraumer Zeit und einigen Litern Hopfensuppe<br />

lassen die Münchnerinnen und Münchner<br />

das Wasser unter sich, teils aus Tradition,<br />

Wer bis dato glaubte, die Stars volksgemeinschaftlicher<br />

Musik und deren Fans würden in geheimen<br />

Labors gezüchtet, fernab der Zivilisation,<br />

unterirdisch in der Kalahari, der irrt. Es ist viel<br />

grausamer: Die ekelhaftesten Menschenversuche<br />

zur Herstellung dieser gutmütigen, anspruchslosen<br />

und konsumfreudigen Spezies der Gattung<br />

Homo hellwigensis finden in aller Öffentlichkeit<br />

statt. Hauptstadt dieser Bewegung ist München<br />

– die Münchner sind geübt darin zu kommen,<br />

wenn man sie ruft. Man könnte sie auch einfach<br />

einziehen, zum Arbeitsdienst oder zur Hitlerjugend,<br />

doch man lockt sie, und zwar in jedem<br />

Oktober und allein mit dem Versprechen, »eine<br />

Mordsgaudi« zu erleben.<br />

Und schon kommen die arglosen Eingeborenen<br />

aus ihren Gehäusen, man interniert sie auf<br />

einem Freigelände unter Zeltbahnen. Dort hocken<br />

sie zu Hundertschaften und löten sich bei Spülwasser<br />

mit Hopfenaroma für knapp zehn Euro<br />

(das wären 20 D-Mark!) pro Liter den Helm zu.<br />

Erstaunlich ist: Niemals regte sich Widerstand<br />

gegen diese menschenrechtsverletzende Behandlung,<br />

kein Wort des Protestes wurde jemals<br />

laut, nicht einmal Bittbriefe an den Veranstalter,<br />

doch wenigstens einmal von diesem Ritual verschont<br />

zu werden, sind bekanntgeworden.<br />

Im Gegenteil: In kollektivem Hochgefühl freut<br />

sich das indoktrinierte Volk schon so sehr auf<br />

dieses widerwärtige Spektakel, dass sich der<br />

schirmherrliche Oberbürgermeister Ude vom<br />

Mob gezwungen sieht, bereits im September das<br />

erste Fass anzustechen. So hofft er, Tumulte und<br />

Durst-Revolten mit Sturm auf die Feldherrnhalle<br />

zu vermeiden. Mit den magischen Worten<br />

»O’zapft is« eröffnet er die allgemeine Druckbetankung.<br />

Dann ist kein Halten <strong>mehr</strong>. Unter dem<br />

Motto »Occupy Wiesn« stürmen sieben Millionen<br />

Carolin-Reiber- und »Original Naabtal Duo«-<br />

Klone das Versuchsgelände auf der Münchner<br />

Theresienwiese. Dabei handelt es sich um einen<br />

riesigen Parkplatz, der zur Wahrung des schönen<br />

Scheins (damit das Gericht für Menschenrechte<br />

in Den Haag nicht aufmerksam wird) mit<br />

allerlei Belustigungsgerätschaften getarnt ist. Die<br />

Gehirnwäsche an den Massen findet in 14 schäbigen<br />

Baracken statt, jeweils mit den Ausmaßen<br />

der ehemaligen Deutschlandhalle. 1000 Willen-<br />

teils aus Bedrängnis oder aus Trägheit, oder weil<br />

der Alkohol dem Großhirn das Recht dazu gibt.<br />

Deshalb <strong>müssen</strong> einige Baracken bereits um<br />

23:30 Uhr feuerpolizeilich geschlossen werden<br />

(Ammoniakvergiftung und Rutschgefahr!).<br />

In die Nacht entlassen, greifen nun<strong>mehr</strong> schwer<br />

schwankende Männer in ihre Lederhosen und<br />

versuchen alles, was noch warm ist und lallen<br />

kann, zu begatten. Schließlich werden die beleidigten,<br />

vergifteten, erniedrigten, gehörgeschädigten<br />

Probanden dieses massenhaften Tierversuchs<br />

einfach vom Gelände geschubst.<br />

Den Preußen – und das sind alle nördlich der<br />

Donau – erinnern diese depravierten Rituale und<br />

niedrigen Reflexe an die überfüllte Holzklasse<br />

der Berliner S-Bahn, werktags gegen 18:00 Uhr<br />

zwischen Alexanderplatz und Ostkreuz bei<br />

30 Grad Celsius, eingeklemmt zwischen verschwitzten<br />

Frotteuren, Exhibitionisten und dem<br />

Fettgewebe klimaktöser Damen. Wenn es dazu<br />

noch Bier und zünftige Musi gäbe, dann wäre<br />

die Berliner S-Bahn ein schöneres Oktoberfest,<br />

als es die Münchner je gesehen haben.<br />

Anke Behrend<br />

Hannes Richert<br />

38 EULENSPIEGEL 10/12


Kalender<br />

blatt<br />

Heute vor 210 Jahren weilte Beethoven, weil er sich von den mineralhaltigen Quellen des Bades Heilung eines halben Schocks Krankheiten versprach,<br />

zur Kur in Heiligenstadt. Eines Tages ging er im Kurpark fürbass und musste den Spott zweier Buben ertragen. Es grämte ihn, dass er nicht hören<br />

konnte, was sie sangen bzw. riefen, er tippte auf Taubheit dritten Grades. Von dunklen Ahnungen getrieben, eilte er in die Ferienwohnung und schrieb<br />

in einem Zuge, als sei es die Fidelio-Overtüre, sein »Heiligenstädter Testament« nieder, lebte jedoch weitere 25 Jahre, verstarb nach der »Neunten«<br />

und viel Rotwein, wie Kenner seiner Musik zu wissen meinen.<br />

Zeichnung: Barbara Henniger<br />

EULENSPIEGEL 10/12 39


Der Deutsche an sich neigt selten<br />

zu Revolten. Und wenn sie<br />

dann doch mal kommen, ist er danach<br />

meist noch jahrelang eingeschnappt.<br />

So haben sich die Deutschen<br />

vom letzten Krawall im Jahre<br />

’89 bis heute nicht erholt, und zwar<br />

weder im Osten noch im Westen.<br />

Umso seltsamer wird es, wenn<br />

ganz heimlich und hintenrum doch<br />

noch mal was Revolutionäres passiert<br />

wie in der Stadt Potsdam. Sie<br />

döste in den neunziger Jahren nichts -<br />

ahnend vor sich hin – also mit Augen<br />

geradeaus und Stillgestanden,<br />

wie man in Preußen eben so döst –<br />

als dort ein unbeschäftigter Revolutionär<br />

aus dem Zug fiel. Er hieß natürlich<br />

nicht Lenin, sondern Gün ther<br />

Jauch. Unauffällig schaute er sich um<br />

und erblickte mächtig viele Häuser<br />

mit lauter Gegend drumrum. Das<br />

war schön anzusehen. Und noch<br />

schöner würde es anzusehen sein,<br />

wenn einem die Häuser mitsamt Gegend<br />

auch noch gehörten, dachte<br />

unser Günther und machte sich,<br />

ganz Revolutionär, daran, als erstes<br />

in der schnarchenden Stadtverwaltung<br />

aufzuräumen und das herumliegende<br />

Knüllpapier so lange glattzubügeln,<br />

bis lauter hübsche Grundbuchauszüge<br />

daraus geworden waren.<br />

Da standen zwar nur Zahlen<br />

und Flurstücke drauf, aber o Wunder:<br />

Aus all den seltsamen Amtshieroglyphen<br />

wurden am Ende Anwesen<br />

über Prachtbauten, und der Erwerb<br />

von Sanssouci scheiterte wahrscheinlich<br />

nur daran, dass irgendeinem<br />

Beamten gerade die Stempelfarbe<br />

ausgegangen war. Ob der <strong>Alte</strong><br />

Jauch heute <strong>mehr</strong> von Potsdam sein<br />

Eigen nennt als seinerzeit der <strong>Alte</strong><br />

Fritz, kann man allerdings nicht feststellen,<br />

denn der gute Günther verfolgt<br />

gute Grundbuchrecherchen mit<br />

guten Anwälten. Fest steht, dass ihm<br />

von Anfang an eine Villa am Heiligen<br />

See mit Schlossblick, Wassergeplätscher<br />

und sämtlichem Trallala<br />

gehörte, das sich ein zugereister<br />

Weltverbesserer nur wünschen<br />

konnte. Vor lauter Freude ging unserem<br />

Günther damals erst das Herz<br />

und dann das Portemonnaie auf:<br />

Großzügig spendierte er sich selbst<br />

noch einen Neubau, dessen öde Trutzigkeit<br />

auch gut in den Westwall ge-<br />

Potsdam<br />

passt hätte, und dem ollen Marmorpalais<br />

gegenüber einen neuen An-<br />

Sie jetzt aber gedacht!), fungiert als<br />

Der Mann ist Ostfriese (Das haben<br />

strich. Man will ja nicht immer nur Bürgermeister und wohnt da, wo<br />

auf eine Ruine gucken, selbst wenn alle Potsdamer wohnen – zumindest,<br />

die von Friedrich Wilhelm II. erbaut wenn sie’s sich leisten können: in<br />

wurde – übrigens einem Liederjan, Alexandrowka.<br />

Die J-Klasse *<br />

wie er im Geschichtsbuch steht. Ossi<br />

bleibt eben doch Ossi.<br />

So was würde Günther J. natürlich<br />

nie sagen, denn erstens verbietet<br />

er sich selbst, Derartiges auch<br />

nur zu denken, und zweitens verbietet<br />

es ihm seine bürgerliche Erziehung.<br />

Die aber kommt in Potsdam<br />

so gut an, dass mittlerweile sogar<br />

von einer neuen bürgerlichen Revolution<br />

gemunkelt wird. Nur in netter<br />

Form und ohne Kopf ab.<br />

Nette neue Bürger gibt es jedenfalls<br />

schon genug. Und sie heißen<br />

alle irgendwie mit J: Joop zum Beispiel<br />

– davon hat die Stadt mittlerweile<br />

etliche Kisten voll: Der Modefuzzi<br />

Wolfgang Joop kaufte sich sogar<br />

<strong>mehr</strong>ere Villen, um damit zu zeigen,<br />

wie viel ihm sein Geburtsort<br />

wert ist. Wie viel Euro vor allen Dingen.<br />

Seinen Töchtern Florentine und<br />

Jette Joop gehören dagegen<br />

große Teile eines Guts in Bornstedt,<br />

um welches sich die<br />

gesamte Sippe zuvor lautstark<br />

gestritten hatte. Womit<br />

bewiesen wäre, dass<br />

unter »nette neue Bürger«<br />

doch jeder was anderes<br />

versteht.<br />

Bei Jann Jakobs, einem<br />

weiteren Zuzügler aus der<br />

J-Klasse, verzichten<br />

wir deshalb auf<br />

solche hinterlistigen<br />

Freundlichkeiten<br />

und bleiben<br />

lieber bei den Fakten.<br />

Andere leisten sich dagegen was<br />

anderes: Mathias Döpfner zum Beispiel,<br />

von Beruf Chefspringer, sitzt<br />

in der Weißen Villa am Heiligen See,<br />

seine Übermutti Friede Springer residiert<br />

in einem Potsdamer Stadthaus,<br />

Model Nadja Auermann ließ<br />

sich an der Puschkinallee was im<br />

Stil des französischen Klassizismus<br />

zurechtfalten, Softwaremogul Hasso<br />

Plattner fühlt sich ein bisschen wie<br />

Winston Churchill, dessen ehemalige<br />

Villa am Griebnitzsee er jetzt<br />

bewohnt, und der oberste<br />

BER-Flughafenversager Rainer<br />

Schwarz darf<br />

sich ganz in<br />

der Nähe<br />

auch<br />

mal<br />

wichtig fühlen, wo er doch im Dienst<br />

immer entbehrlicher wird.<br />

Kein Wunder, dass bei so viel Bedeutung<br />

inzwischen schon Neubürgervereine<br />

darüber nachdenken, ob<br />

man die armen Besserbetuchten<br />

nicht irgendwie vor den armen Armen<br />

bzw. »vor dem sich unflätig gebärdenden<br />

Plebs« (Spiegel) schützen<br />

muss. Nötig ist das allerdings<br />

kaum noch, denn die meisten Plebejer<br />

sind längst ausgelagert worden.<br />

Von den alten Potsdamern waren<br />

das 114 000 Leute, also nahezu<br />

die gesamte Einwohnerschaft, und<br />

die letzten verbleibenden Hanseln,<br />

die nicht schnell genug weglaufen<br />

konnten, werden heute sicher in<br />

Schließfächern am Schlaatz oder<br />

Stern verwahrt.<br />

40 EULENSPIEGEL 10/12


Pro vinz<br />

von oben<br />

Und da sollen sie sich mal nicht<br />

über die schöne bürgerliche Revolution<br />

aufregen. 1789 hätte sie das<br />

Bürgertum in Frankreich mit bloßen<br />

noch überflüssiger machen können,<br />

als beide vorher schon<br />

waren? Volker Schlöndorf darf<br />

weiter Blödsinn über die<br />

lage zu sichern. Und Christian Thielemann<br />

weiß schon, warum er sich<br />

nach Feierabend beim Sinfonieorchester<br />

rasch noch auf ein nettes<br />

Händen zum Frühstück gefressen; DEFA schwadronieren,<br />

Potsdamer Seegrundstück dirigiert<br />

heute nimmt es in Potsdam dazu<br />

wenigstens Messer und Gabel.<br />

ohne freilich so blöd<br />

zu sein, sich keine<br />

hat. Auch Anno August Jagdfeld fehlt<br />

Und ist es nicht ein Glücksfall für gute Potsdamer<br />

»Ich kann es mir<br />

die Stadt, wenn sich in ihr<br />

jetzt Koryphäen wie der<br />

Bild-Kommandeur<br />

Kai Diekmann oder<br />

die zugezogene<br />

Hupfdohle<br />

Desiree<br />

Nick<br />

Wohn-<br />

leisten, und es bleibt<br />

in der Familie.«<br />

Günther Jauch im Spiegel<br />

über seine Potsdamer<br />

Immobiliensammlung<br />

nicht: Der Immobilienfiffi hat zwar<br />

das Grandhotel Heiligendamm in<br />

eine veritable Pleite geführt, wuss -<br />

te sich selbst aber noch uner -<br />

schro cken mit einer netten<br />

Potsdamer Wasserimmobilie<br />

auf dem<br />

belohnen.<br />

Stinthorn zu<br />

Auch Ulrich<br />

Meyer und<br />

Georgia Tornow erstanden hier von<br />

den Fernsehtoten wieder auf – als<br />

gutgelaunte Villenbewohner der Berliner<br />

Vorstadt.<br />

So sind sie, Potsdams weltberühmte<br />

und wohlerzogene Neubürger.<br />

Sie lassen Wohltaten vom Himmel<br />

regnen wie das Fortunaportal<br />

vom Stadtschloss, mit denen sie<br />

dann solange Druck auf die Politik<br />

machen, bis selbst der Ministerpräsident<br />

nur noch eilfertig nicken kann.<br />

Manchmal simulieren sie auch revolutionäre<br />

Aufmärsche wie unlängst<br />

wegen Plattners Kunsthalle, als sie<br />

sogar so taten, als würden sie das<br />

alte Mercure-Hotel in die Luft jagen.<br />

Zum Schluss aber fehlte Plattner<br />

selbst der rechte revolutionäre Elan,<br />

und er winkte nur ab, woraufhin alle<br />

friedlich nach Hause gingen.<br />

Und wenn den Revolutionären<br />

doch noch mal einer den Vogel zeigt<br />

und nicht dankbar sein will oder sich<br />

weigert, mit in den allgemeinen Lobgesang<br />

einzustimmen? Dann erwacht<br />

in ihnen vielleicht doch der<br />

Robespierre, und sie holen die Guillotine<br />

raus. Die Potsdamer Querulanten<br />

sollten sich jedenfalls vorsehen!<br />

Utz Bamberg<br />

Zeichnung: Reiner Schwalme<br />

*<br />

EULENSPIEGEL 10/12 41


Knut ist gut<br />

Als vor zehn Jahren der gemeine Hartzi entstand, ahnte<br />

Knut K. – damals noch in der JVA Tegel sorglos versorgt –<br />

nicht, dass auch er einmal diesen Beruf ergreifen würde.<br />

Heute ist K. Deutschlands treuester ARGE-Kunde – und<br />

glücklich dazu. EULENSPIEGEL sprach mit dem Selfmade-<br />

Aufsteiger.<br />

Knut, Sie tragen eine Schweizer<br />

Uhr, Maßanzug und eine<br />

Blondine unterm Arm. Gehen<br />

Sie der Schwarz-… äh der<br />

Nachtarbeit nach?<br />

I wo! Das sähe die Arge gar<br />

nicht gern! Die Uhr, der Anzug,<br />

die Nutte – damit kleide ich<br />

mich für den Kundenkontakt.<br />

Nach Feierabend bin ich ein<br />

nackter Mann, dem niemand<br />

in die Taschen greifen kann.<br />

Die Villa, der Maserati, der<br />

Learjet … alles Betriebsausgaben?<br />

Beim Jobcenter firmiere ich als<br />

Berater für Urban Gardening.<br />

Ja, da kiekt ihr blöd, wa! Noch<br />

nie was von der Transition-<br />

Town-Bewegung gehört?<br />

Sind das nicht die Irre gelei te -<br />

ten, die auf innerstädtischen<br />

Brachen und verseuchten Böden<br />

in Konservendosen Bio-<br />

Petersilie anbauen? Oder meinen<br />

Sie das Yuppie- und Hipster-Gesindel<br />

auf dem Prenzlauer<br />

Berg, das sich ein Gewächshaus<br />

auf die Terrasse<br />

des Penthouses setzt und unter<br />

Kunstlicht Bonsaizucchini<br />

und Cocktailmelonen züchtet<br />

– mit Ökostrom und Mineralwasser<br />

aus dem Lidl-Markt,<br />

versteht sich?<br />

Genau die meine ich. Ich bin<br />

Experte für den urbanen Kräutergarten,<br />

für den Anbau orientalischer<br />

Gewächse in der<br />

Berliner Stadtlandschaft. Ich<br />

helfe den Yuppies und Geldproleten,<br />

Hasch, Kokasträucher<br />

und Schlafmohn wachsen<br />

zu lassen. Und das alles<br />

völlig legal, denn ich berate<br />

ja nur, installiere die Anlage<br />

und empfehle Samenhändler<br />

in Österreich und den Niederlanden.<br />

Säen, Hegen und Ernten<br />

<strong>müssen</strong> der Investmentbanker,<br />

der EULENSPIEGEL-<br />

Chefredakteur und der Herr<br />

Professor schon selbst.<br />

Und das Jobcenter spielt da<br />

mit?<br />

Ich bin ein verlässlicher Abnehmer<br />

von Langzeitarbeitslosen.<br />

Aber nur von solchen<br />

mit dem Eintrag »Verstoß gegen<br />

das Betäubungsmittelgesetz«<br />

im Führungszeugnis.<br />

Fachleute sollten sie schon<br />

sein.<br />

Und wenn sich plötzlich der<br />

Staatsanwalt für Sie interessiert?<br />

Dann mache ich den Laden<br />

dicht und verziehe mich auf<br />

mein Anwesen in Malibu.<br />

Ha, ha, da <strong>müssen</strong> wir aber<br />

doch mal lachen – mit welchem<br />

Geld denn?<br />

Da verkaufe ich dem Staat<br />

mal was: Ich habe da eine<br />

dichtgepackte CD mit den Daten<br />

meiner Kunden aus<br />

Politik, Medien, Wirtschaft<br />

und Kirche.<br />

Sadhu van Hemp<br />

Nomen est omen<br />

Welchen Namen gebe der Einrichtungen, der<br />

ich meinem Kind? – Eine Rest ist zum militanten<br />

Frage, die werdende Eltern<br />

Islam konvertiert. Die<br />

umtreibt. Recht so! Kevins in Afghanistan<br />

Denn vom Vornamen heißen Walid.<br />

geht eine prägende Mein Urologe heißt<br />

Kraft auf die frühkindliche<br />

übrigens Johannes! Zu-<br />

Entwicklung aus. fall? Für die Vornamen-<br />

Zudem ist er ein Fingerzeig<br />

findung <strong>müssen</strong> oft Prokunft.<br />

auf die soziale Herminente<br />

herhalten.<br />

Dies machen sich Kürzlich beobachtete ich<br />

u. a. Lehrer zunutze: eine Frau in einer Bar<br />

»Kennst du einen Kevin, beim Frustsaufen. »Jim<br />

kennst du alle« – diese Beam?«, vermutete ich.<br />

Maxime aus den Neunzigern<br />

»Nein!«, sagte sie, »der<br />

gilt heute für die geht doch noch in den<br />

Justins. Die Kevins von Kindergarten. Jimmy<br />

damals trifft man fast Blue, meinen Ältesten,<br />

gar nicht <strong>mehr</strong> – die haben die Bullen eingebuchtet.«<br />

meisten befinden sich in<br />

der Obhut entsprechen-<br />

Guido Pauly<br />

Kamagurka<br />

Matthias Kiefel<br />

Der Preisträger<br />

Es war eine gute Idee von<br />

Willi gewesen, sämtliche<br />

Post auf die Adresse seiner<br />

alten Mutter umzuleiten.<br />

Und gut ist, dass er alle<br />

sechs Wochen bei ihr badet.<br />

Sonst hätte ihn der Brief des<br />

Energieunternehmens nie<br />

erreicht. Jetzt aber sitzt er<br />

im <strong>Alte</strong>n Rathaus der Stadt<br />

Bonn in der ersten Reihe, bekleidet<br />

mit einem grün-braunen<br />

Pullover, der einmal<br />

weiß war, löchriger Hose<br />

und abgelatschten Sandalen,<br />

aus denen schwarze Zehen<br />

lugen. Der Geruch Mar -<br />

ke »Pumakäfig« breitet sich<br />

aus. Doch der scheint den<br />

Anwesenden zu gefallen.<br />

Schon als er den Saal betrat,<br />

wurde Willi von vielen Leuten<br />

für sein ökologisches<br />

Outfit achtungsvoll gemustert.<br />

Nun gibt es eine Laudatio<br />

von Claudia Roth –<br />

und da begreift Willi, dass<br />

er als »Energieeffizienz-<br />

Preis träger« ausgezeichnet<br />

wird. Für zehn Jahre Leben<br />

ohne Strom! Als Frau Roth<br />

seine Hand loslässt, ihren<br />

freundlichen Blick vom Blitzlichtgewitter<br />

zu ihm wendet<br />

und fragt, was er denn mit<br />

dem vielen Preisgeld anstellen<br />

wolle, weiß er die Antwort<br />

sofort: »Strom, endlich<br />

wieder Strom, die letzten<br />

zehn Jahre waren schlimmer<br />

als die Seuche!«<br />

GP<br />

42 EULENSPIEGEL 10/12


Nur keine Angst!<br />

Es scheint, als ob wir<br />

Sachsen unserer Freude<br />

nur schwerlich Ausdruck verleihen<br />

könnten. Nicht-Sachsen<br />

glauben oft, dass wir mit<br />

der Bratpfanne geweckt werden<br />

– so niedergeschlagen<br />

klingen wir. Wenn wir ein<br />

»frouhes neies Joahr« wünschen,<br />

»frouhe Ousdoarn«<br />

und »frouhes Weihnochdn« –<br />

dann hört sich das an, als<br />

würden wir weinen.<br />

Schuld daran ist unser O.<br />

Im Gegensatz zum deutschen<br />

Durchschnitts-O, das sich locker<br />

& leicht den Lippen entwindet,<br />

muss unser O einen<br />

fürchterlichen Leidensweg<br />

durch die sächsische Gusche<br />

durchschreiten, sich brutal<br />

Der Ou-Sound<br />

durch die Zähne einer verspannten<br />

Kinnlade pressen<br />

lassen, bis es an die frische<br />

Luft kann.<br />

Ganz hinten im Hals darf<br />

das O noch O sein. Am Ende<br />

wird es als heulender, depressiver<br />

Ou-Laut erbrochen.<br />

Wörter, wie »Mouduoor«,<br />

oder erst recht »Oddoumouduoor«<br />

(nach seinem Erfinder,<br />

dem Herrn Otto), sind Solitäre<br />

der deutschen Phonetik!<br />

Meine Cousine macht jetzt<br />

(endlich!) eine Diät, die sich<br />

wie eine einzige Marter anhört.<br />

Sie ernährt sich mit<br />

»broubioudischem Drinkjoughoord«.<br />

Und keiner kann ihr<br />

helfen!<br />

Torsten Riedel<br />

Man findet mich seltsam<br />

– dabei führe ich ein normales<br />

Leben! Wegen meiner<br />

manifesten Optophobie<br />

1 lasse ich mich, sollte<br />

ich aus Versehen eingeschlafen<br />

sein, frühzeitig<br />

wecken, vor dem ersten<br />

Hahnenschrei aus Nachbars<br />

Garten. Denn meine<br />

Alektorophobie 2<br />

zwingt<br />

mich, rechtzeitig das<br />

Fenster zu schließen. Automysophobisch<br />

3 wie ich<br />

bin, dusche ich täglich,<br />

schon wegen meiner akuten<br />

Bromidrosiphobie 4 .<br />

Dabei trage ich allerdings<br />

einen Neoprenanzug, um<br />

mich vor einem aquaphobischen<br />

5 Anfall<br />

zu<br />

schützen.<br />

Dann das<br />

Frühstück – die wichtigste<br />

Mahlzeit<br />

am<br />

Tage!<br />

Wenn<br />

man, wie<br />

ich,<br />

leicht<br />

sitiophobisch 6<br />

veranlagt<br />

ist, kann es jedoch zur<br />

Qual werden. Besonders<br />

die Arachibutyrophobie 7<br />

lässt mich gewisse Brotaufstriche<br />

meiden. Aber<br />

was soll ich sonst essen?<br />

Meine Se plopho bie 8 –<br />

eine Folge der Kriegs -<br />

erlebnisse – ist daran<br />

schuld, dass man meinen<br />

Kühlschrank »sehr übersichtlich«<br />

nennen könnte.<br />

Wie jedermann ver -<br />

lasse auch ich das Haus<br />

am liebsten bei schönem<br />

Wetter. Dass ich bei Regen<br />

regelmäßig den DRK-<br />

Rettungsdienst alarmiere,<br />

mag man übertrieben finden<br />

– es liegt aber nur an<br />

meiner genetisch bedingten<br />

Pluviophobie 9 . Schon<br />

mein Vater litt darunter,<br />

bei mir kam aber noch<br />

eine schreckliche Tonitrophobie<br />

10<br />

dazu, die dazu<br />

führt, dass ich bei Gewitter<br />

einnässe (ganz nor -<br />

mal für dieses Krankheitsbild).<br />

»Auf Regen folgt<br />

Sonne« – diesen Spruch<br />

verabscheue ich. Das<br />

wird jeder verstehen, der<br />

einmal eine hand feste<br />

Phengophobie 11<br />

durchgemacht<br />

hat.<br />

Ich bin sowieso lieber<br />

zu Hause. Meine pogonophobischen<br />

12 Schübe machen<br />

es mir unmöglich,<br />

mich gelöst in der Öffentlichkeit<br />

zu bewegen (und<br />

es gibt auch bärtige<br />

Frauen!). Außerdem entgehe<br />

ich so meinen<br />

schrecklichen uranophobischen<br />

13 Phantasien.<br />

Fußgängerzonen sind<br />

mir eigentlich angenehm,<br />

schon wegen meiner Ocho -<br />

Marian Kamensky<br />

pho bie 14 . Allerdings gibt<br />

es Fußgängerbereiche, in<br />

denen Straßenbahnen<br />

fahren, was bei mir regelmäßig<br />

einen siderodromophoben<br />

15 Anfall auslöst.<br />

Darum sitze ich oft zu<br />

Hau se. Aber da kommen<br />

die Erinnerungen – das ist<br />

nichts für einen Mnemophobiker<br />

16 . Ich lebe a l-<br />

lein, seit meine einstige<br />

Schwie germutter mich in<br />

eine syngenesophobische<br />

17<br />

Episode trieb. Die<br />

Venustraphobie 18 , die mir<br />

endlich bewusst geworden<br />

ist, schützt mich vor<br />

leichtsinnigen Verbindungen.<br />

Meine Art, mich zu<br />

klei den, schreckt außerdem<br />

Frauen ab. Feinen<br />

Zwirn oder einen schnöden<br />

Pullover an einer<br />

Vestiphobie 19<br />

vorbei zu<br />

schmug geln, ist nahezu<br />

unmöglich. Ich verbiete<br />

mir regelrecht, Frauen hinterherzuschauen.<br />

So halte<br />

ich meine Medeco pho -<br />

bie 20<br />

einigermaßen im<br />

Griff. Meine Virginitiphobie<br />

21 hat sich leider bisher<br />

als völlig grundlos erwiesen.<br />

Also, eigentlich alles in<br />

Ordnung. Wenn da nicht<br />

meine latente Zemmiphobie<br />

22 wäre. Sie lässt mich<br />

schier verzweifeln. Manchmal<br />

denke ich sogar an<br />

Suizid. Glücklicherweise<br />

bin ich aber so stark an<br />

Thanatophobie 23 erkrankt,<br />

dass es noch nicht dazu<br />

gekommen ist.<br />

1 Angst, die Augen zu<br />

schließen<br />

2 Angst vor Hühnern<br />

3 Angst, schmutzig zu<br />

sein<br />

4 Angst vor Körpergeruch<br />

5 Angst vor Wasser<br />

6 Angst vor Nahrungsmitteln<br />

allgemein<br />

7 Angst, dass Erdnussbutter<br />

am Gaumen<br />

kleben bleibt<br />

8 Angst vor Fäulnis<br />

9 Angst vor Regen<br />

10 Angst vor Donner<br />

11 Angst vor Sonnenschein<br />

12 Angst vor Bärten<br />

13 Angst vor dem Himmel<br />

14 Angst vor Fahrzeugen<br />

15 Angst vor Schienen<br />

16 Angst vor Erinnerungen<br />

17 Angst vor Verwandten<br />

18 Angst vor schönen<br />

Frauen<br />

19 Angst vor Kleidung<br />

20 Angst, eine Erektion<br />

sähe man an der<br />

Beule in der Hose<br />

21 Angst vor Schändung /<br />

Vergewaltigung<br />

22 Angst vor Maulwürfen<br />

23 Angst vorm Sterben<br />

Henning Wenzel<br />

EULENSPIEGEL 10/12 43


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Markus Lanz, der smarte Junge mit den glattgewichsten<br />

Grinsebäckchen, hegt offenbar einen<br />

verwegenen Plan. Kurz vor dem Start der ersten<br />

Wetten, dass ...?-Show ohne richtigen Showmaster<br />

wird der Saubermann vom Dienst frech. Mit<br />

seinem gekonnten Schlag gegen den Altmeister<br />

Gottschalk wagte er das Unfassbare. Einer Zeitung<br />

sagte er: »Ich bin mir ganz sicher, dass er<br />

Wetten, dass …? schaden will.« Eine naheliegende<br />

Vermutung – denn Gottschalk produziert sich<br />

zeitgleich mit Lanzens Wetten, dass …? bei RTL.<br />

Aber so was sagt man doch nicht!<br />

Nachdem seine Frau die Koffer gepackt und<br />

ihm Gütertrennung angedroht, die Mutter ihn enterbt<br />

und der Sendechef die Espressomaschine<br />

aus seinen Büro entfernen lassen hat, kamen<br />

dem dreisten Wüterich Zweifel, und er verwünschte<br />

im Stillen seinen Todesmut und seine<br />

seit der Kindheit in ihm pochende Neigung zu<br />

denken, dass er den Größten hat und der Größte<br />

ist. Plötzlich war er wieder das feige, hinterhältige<br />

Würstchen, als das wir ihn kennen, und bereute<br />

tief: Jemand habe ihm aus jenem Satz über<br />

den großen Gottschalk das »nicht« geklaut! Tja,<br />

die Leute stehlen ja alles, was nicht niet- und<br />

nagelfest ist. »N i c h t schaden wolle«, müsse<br />

es heißen.<br />

Dass Nichts wegkommen, geschieht häufiger,<br />

als allgemein angenommen. Viele Aussagen der<br />

Weltgeschichte müssten in diesem Lichte noch<br />

einmal überprüft werden: Seit 5:45 Uhr wird nicht<br />

zurückgeschossen, niemand hat nicht die Absicht,<br />

eine Mauer zu errichten, wer nicht zu spät kommt,<br />

den bestraft das Leben bzw. wer zu spät kommt,<br />

den bestraft das Leben nicht, vielen wird es nicht<br />

besser gehen, keinem schlechter usw.<br />

Lanz kam noch mal mit einer Bremsspur im<br />

Armani-Anzug davon. Aber vielleicht ist die ganze<br />

Nummer nur Teil einer Selbstinszenierung, mit<br />

der Lanz endlich seinen schlechten Ruf als<br />

Schwiegermutters Liebling loswerden will – er<br />

will ein Ekel werden. Schließlich kam der Gottschalk<br />

mit seiner Großfresse auch ganz nach<br />

oben. »Jetzt mach ich mal auf Badboy«, muss<br />

Lanz gedacht haben. Und ging ins Studio, und<br />

zwar um die Markus Lanz vom 5. September zu<br />

moderieren.<br />

Jürgen Trittin ließ sich protestlos neben Dieter<br />

Thomas Heck platzieren. Neben diesem fanden<br />

sich die wohl unbekanntesten und völlig überflüssigen<br />

ZDF-Moderatorengesichter Micky Beisenherz<br />

und Joachim Llambi ein. (Diese beiden<br />

werden in Kürze das ZDF mit einer Neuauflage<br />

der Sechziger-Jahre-Show Die Pyramide blamieren.)<br />

Daneben hockte eine Petra Joy, Regisseurin<br />

und Produzentin (wie es auf der ZDF-Presseseite<br />

heißt). Tatsächlich dreht die Lady Pornos.<br />

Mit Niveau, versteht sich! Der letzte im Stuhlkreis<br />

ist der Soap-Senior aus Gute Zeiten<br />

schlechte Zeiten Wolfgang Bahr.<br />

Diese illustere Runde will Herr Lanz nun aufmischen.<br />

Frech, provokant, subversiv und ironisch<br />

– ein Tausendsassa aus dem ZDF-Selbstbaukasten.<br />

Und ganz der Gottschalk eben. »Herr<br />

Trittin, mögen Sie sich selber?« Oi, das hat gesessen!<br />

Zufrieden sucht Lanz Blickkontakt zur<br />

Kamera. »Ja, ich komm gut klar mit mir«, antwortet<br />

der eiskalte Hund, seit geschätzten 40<br />

Jahren im Politikgeschäft. »Wann haben Sie sich<br />

das letzte Mal über sich geärgert?«, giert Lanz<br />

weiter. Er hofft, Trittin würde nun über seine<br />

Kanzlerkandidatur aussagen. Doch welche Überraschung,<br />

»über einen misslungenen Fischtopf«<br />

hat er sich gegrämt. Und schon ist die Luft raus.<br />

Markus, der dreiste Klassenprimus, ist sichtlich<br />

verunsichert, findet keine Anschlussfrage und<br />

muss Rettung beim alten Heck suchen: »Wann<br />

würden Sie die Grünen wählen?« Aber Heck denkt<br />

nicht daran, dem Buben aus der Patsche zu helfen.<br />

Da spürt Lanz es siedend heiß: Es ist höchste<br />

Zeit für ein paar Tittenwitze!<br />

Ob der Trittin, der olle Zausel, als Darsteller<br />

für Sie in Frage käme, wanzt er sich an die Pornotante.<br />

Sie sagt »ja«, und keiner lacht. Die Sendung,<br />

vermutet man, ist damit schon an ihrem<br />

furchtbaren Ende. Doch Lanz hat ein Ass im Ärmel:<br />

Ein Einspieler zeigt, wie Trittin einer knackigen<br />

Parteifreundin auf den Hintern stiert. Erwischt,<br />

freut sich Lanz, denn das Leben beweist<br />

ja: Wer einer Frau auf den Hintern schaut, ist ein<br />

Pornowicht. Doch Trittin bleibt unbeeindruckt,<br />

und das Publikum auch.<br />

Dann ist Heck dran. Der soll erzählen, wie er<br />

von seinen verarmten Rentnerkumpels angepumpt<br />

wird. Aber ach, da hat wohl jemand ein<br />

Fern sehen<br />

Als dauernd ein Nicht verschwand<br />

Nicht geklaut: Heck wird gar nicht von seinen<br />

Freunden angepumpt. Wieso auch? Er ist ja völlig<br />

inprominent, seit er in Spanien als Hütchenspieler<br />

lebt. Jetzt ist die Show endgültig tot. Aber<br />

Markus hat noch Sendezeit zu füllen.<br />

Der Soapdarsteller in der Runde, so Lanz eifernd,<br />

soll gesagt haben, bei GZSZ gebe es hinter<br />

den Kulissen <strong>mehr</strong> Sex als davor. Und schon<br />

wieder hat einer ein Nicht geklaut: Dieser Schauspieler<br />

will das nämlich nicht gesagt haben. Lanz,<br />

dieser Lausbub, gibt kokett zu, er habe sich das<br />

ausgedacht.<br />

Nun spielt er mit den beiden schlaffen Nachwuchsmoderatoren<br />

Begrifferaten. Das Wort beginnt<br />

mit »Geschlechts...«. Na, wer weiß es? Der<br />

Heck bekommt Stressflecken. Niemand? Lanz,<br />

ganz Kumpel, hilft: »Anderes Wort für ›bumsen‹!«<br />

Das Studiopublikum beginnt zu kichern, und der<br />

Lanz sieht im Geiste seinen Handabdruck schon<br />

neben dem von Thommy in den Hollywoodboulevard<br />

gepresst. So frech, so wild, so spritzig<br />

fühlt er sich. Die Pornofilmerin soll beschreiben,<br />

was sie beruflich so treibt. »Wir machen alles;<br />

oral und blasen und lecken und vertikal und anal<br />

und in Po, in die Nase und unter Wasser auch.«<br />

Heck schüttelt das Toupet. »Dat hättes bei mir<br />

nischt jejeben.«<br />

Dann ist es Gott sei Dank vorbei.<br />

Wer jetzt noch sagt, der Lanz, das sei der Thomas<br />

Gottschalk von heute und morgen, der tut<br />

dem Herrn Gottschalk wirklich bitter Unrecht.<br />

Felice von Senkbeil<br />

Zeichnung: Andreas Prüstel<br />

EULENSPIEGEL 10/12 45


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Trotz verordneter christlicher<br />

Nächs tenliebe mag der Herr Wichmann<br />

von der CDU den Herrn Meckel<br />

von der SPD zum Teufel gewünscht<br />

haben, als der ihm vor zehn<br />

Jahren beim Wahlkampf in der Uckermark<br />

das Direktmandat für den Bundestag<br />

weggeschnappt hatte. Inzwischen<br />

weiß kaum noch jemand, wer<br />

dieser Markus Meckel eigentlich war<br />

und wo er abgeblieben ist, während<br />

sein einstiger Konkurrent erneut die<br />

Titelrolle eines Andreas-Dresen-Films<br />

spielt. Im liebevoll Kreml genannten<br />

Brandenburger Landtag grüßt<br />

Herr Wichmann aus<br />

der dritten Reihe<br />

Dort hat er nicht viel zu melden, aber<br />

das stört ihn nicht. Ihm genügt<br />

schon, wenn er den gebündelten Protest<br />

gegen eine fragwürdige Polizeistrukturreform<br />

zur Regierungs bank<br />

tragen und mit gebändigter Süffisanz<br />

konstatieren kann, dass die Annahme<br />

des Unterschriftenpakets die<br />

letzte Amtshandlung des gefeuerten<br />

Innenministers Rainer Speer ist. Ansonsten<br />

steht Herr Wichmann seinen<br />

Wählern, und als solche möchte er<br />

am liebsten jeden betrachten, der<br />

ihm über den Weg läuft, freimütig<br />

Rede und Antwort. Darüber zum Beispiel,<br />

wie so ein Landtagtag abläuft:<br />

Applaus von der Regierungs<strong>mehr</strong>heit<br />

für die Redner der Opposition<br />

gibt es so wenig wie umgekehrt, und<br />

ein Vorschlag von der Opposition<br />

wird nur akzeptiert, wenn ihn die Regierungs<strong>mehr</strong>heit<br />

nach einiger Zeit<br />

als ihren eigenen verkauft. Kindergarten<br />

also. Aber der 33-jährige Jurist<br />

verrät auch, dass sich die jungen<br />

Mitglieder aller fünf Fraktionen<br />

regelmäßig treffen, um jenseits allen<br />

Parteiengezänks Probleme zu beraten.<br />

Auf Wunsch einer Schulklasse beziffert<br />

Henryk Wichmann seinen persönlichen<br />

Besitzstand wie folgt: 1<br />

Frau, 3 Töchter, 2 Schildkröten, 4<br />

Häschen, 6 Meerschweinchen, 8<br />

Hühner, 1 Hahn, 1 Skoda. Soviel<br />

kann er sich gerade mal leisten bei<br />

einem Abgeordnetengehalt von<br />

4500,- Euro brutto, von dem nach<br />

sämtlichen Abzügen (einschließlich<br />

Parteizwangsspende und eigenfinanziertem<br />

nächsten Wahlkampf)<br />

ein bisschen <strong>mehr</strong> als Hartz IV übrig<br />

bleibe. Das wirkt so unglaubwürdig<br />

wie die Sache mit dem Regionalzug,<br />

der laut Prignitzer Eisenbahndirektionsdirektive<br />

auf der Station<br />

Vogelsang sicherheitshalber die<br />

Türen nicht öffnen durfte. So kamen<br />

die dort wohnenden Kinder beim<br />

Ein- und Aussteigen nicht zu Schaden,<br />

aber leider auch nicht zur<br />

Schule. Bis Herr Wichmann vermittels<br />

spontan anberaumter, filmdokumentarisch<br />

begleiteter Pressekonferenz<br />

das Sesam-öffne-dich bewirkte.<br />

Dieser Sieg machte ihn mindestens<br />

so stolz wie der über den Schreiadler.<br />

Obwohl das scheue Geflügel<br />

seit Ewigkeiten nahe der Autobahn<br />

friedlich brütet, glaubten militante<br />

Naturschützer, ihm den ungewohnten<br />

Anblick von Radfahrern nicht zumuten<br />

zu können, weshalb der Ausbau<br />

des Radweges Berlin-Usedom<br />

immer wieder abgelehnt wurde.<br />

Nach sage und schreibe achtjährigen<br />

Diskussionen erzwang der Abgeordnete<br />

Wichmann die Zusage unter<br />

der Kompromissbedingung, den<br />

Weg nicht zu asphaltieren, sondern<br />

mit einer wassergebundenen Decke<br />

zu befestigen. Warum? Damit sich<br />

die Frösche beim Spaziergang nicht<br />

die Füße verbrennen und die Eidechsen<br />

beim Sonnenbaden nicht überfahren<br />

werden.<br />

Trotzdem steht bei Herrn Wichmann<br />

immer noch der Mensch im<br />

Mittelpunkt. Das spürt man, wenn<br />

er am Seniorentag den Schleiertänzern<br />

vom Roten Kreuz zujubelt, den<br />

Models von der Volkssoli Komplimente<br />

für ihre quergestreiften Pullover<br />

macht und die Sorgen des alten<br />

Ausbilders um die Uckermärker<br />

Lehrlinge teilt, die ja nicht mal <strong>mehr</strong><br />

»mit die Grundrechenarten« klarkommen.<br />

Wenn sich aber nach einem<br />

langen Arbeitstag die Gelegenheit<br />

bietet, Gast einer Militärparade<br />

zu sein, da mag es stürmen und tosen,<br />

Katzen und Hunde regnen, da<br />

will der Herr Wichmann nur noch<br />

fröhlich sein und singen. Am liebsten<br />

die Nationalhymne. Schließlich<br />

weiß er genau, welche Strophe es<br />

sein darf.<br />

★<br />

Was auch immer der schlaksige<br />

Marko (Lars Eidinger) studiert hat,<br />

jetzt ist er Schriftsteller, denn sein<br />

erstes Buch wurde veröffentlicht.<br />

Wovon es handelt und ob es etwas<br />

taugt, erfährt man nicht. <strong>Immer</strong>hin,<br />

Mutter Gitte (Corinna Harfouch) hat’s<br />

gelesen, und das gleich zweimal.<br />

Markos jüngerer Bruder Jakob (Sebastian<br />

Zimmler) verfügt über ein<br />

abgeschlossenes Studium der Zahnmedizin<br />

sowie über modern ausgestattete<br />

Praxisräume, die noch kein<br />

Patient betreten hat. Ist zwar frustrierend,<br />

macht aber nix. Vater Günter<br />

(Ernst Stötzner) kann Pleiten verkraften.<br />

Er hat seinen (vermutlich<br />

ererbten) Literaturverlag gewinnbringend<br />

verkauft, die Söhne statusgerecht<br />

etabliert, die gemütskranke<br />

Gattin Gitte ist medikamentös<br />

ruhiggestellt, und auch die junge<br />

Geliebte (Birge Schade) verhält sich<br />

still.<br />

Was bleibt?<br />

Die Einberufung des Familienrats.<br />

Vater Günter teilt den Seinen mit,<br />

dass er nun endlich auch mal was<br />

für sich tun will. Eine ausgiebige<br />

Reise nach Jordanien schwebt ihm<br />

vor, um das schon lange geplante<br />

Steige hoch, du<br />

roter Schreiadler!<br />

Buch über die Erzählstrategien bei<br />

den Assyrern und Sumerern zu<br />

schreiben. Da klopft zu aller Überraschung<br />

Mutter Gitte ans Glas und<br />

verkündet nichts Geringeres als ihre<br />

Desertion vom angestammten<br />

Schonplatz. Sie will nicht länger mit<br />

Glacéhandschuhen angefasst und<br />

vor Konflikten bewahrt werden. Sie<br />

ist stark und fühlt sich jeder Krise<br />

gewachsen, und das schon seit zwei<br />

Monaten. Seit sie nämlich die Antidepressiva<br />

abgesetzt hat.<br />

Die doch eigentlich beruhigende<br />

Mitteilung löst Panik aus. Vor allem<br />

bei Vater Günter, der seine Reisebegleitung<br />

ja längst gebucht hat, und<br />

bei Sohn Jakob, der sich im Falle eines<br />

Rückfalls womöglich um die<br />

kranke Mutter kümmern müsste.<br />

Dass Marko seine Mama gern behielte,<br />

um für sein nächstes Buch<br />

wenigstens einen Leser zu haben,<br />

klingt so zynisch wie vorstellbar.<br />

Aber wer in der kleinsten Zelle der<br />

Gesellschaft dermaßen im Wege ist<br />

wie Gitte, hat sein Bleiberecht definitiv<br />

verloren.<br />

Was also bleibt? Der Verdacht,<br />

dass der renommierte Regisseur<br />

Hans-Christian Schmid (Crazy, Lichter,<br />

Requiem) zur Zeit die falschen<br />

Medikamente nimmt.<br />

Renate Holland-Moritz<br />

48 EULENSPIEGEL 10/12


Rahmen handlung<br />

Gerhard Glück<br />

EULENSPIEGEL 10/12 49


Arten vielfalt<br />

Das Praktikantin<br />

Jeder Chef würde sich gerne ein oder zwei Stück Macht. Es muss nicht viel sein, Hauptsache jung,<br />

davon für sein Büro anschaffen, um a) einen großäugig (staunen! bewundern! strahlen!),<br />

Sklaven zu haben, der den Kopierer auslastet weiblich, unbezahlt. Nicht stur, nicht übelnehmerisch,<br />

aber humorbegabt. Denn im Konflikt-<br />

und b) für andere Dinge – denn das Leben ist<br />

ja nicht nur Arbeit und Aufopferung, sondern fall wird das Praktikantin gern gefragt, ob es<br />

auch Schönheit und Spiel!<br />

denn keinen Spaß verstehe, der Herr Sowieso<br />

Fast jedes weibliche Wesen unter 25, oder sagen<br />

wir: sogar unter 30, das tapfer BWL, Afrika-<br />

Das Praktikantin gibt es auch männlich, als<br />

habe eben manchmal so eine direkte Art …<br />

nistik, Medienwissenschaften, internationale Beziehungen<br />

oder sonst was studiert hat und dem Das wird eines Tages unter großen Mühen Vor-<br />

Praktikant. Aber das ist eine freudlose Form.<br />

das BAFÖG-Amt als Gläubiger im Nacken sitzt, stand in einem deutschen Dax-Unternehmen<br />

würde es gern sein – Praktikantin! Fast keine oder Chef einer Anwaltskanzlei. Dem Praktikantin<br />

jedoch stehen ganz andere Wege offen. Z.B.<br />

würde es ablehnen, ihre Bluse für diesen Traumjob<br />

über den Chefsessel zu hängen. Denn Gründe einen um zwanzig Jahre älteren Herrn zu finden,<br />

gibt es viele: Das Praktikantin ist »ganz dicht der eine Finca hat plus Yacht und in Kitzbühel<br />

dran« – am Vorstand, am Chefredakteur, am Urlaub macht. Vorher muss er sich allerdings<br />

Hauptabteilungsleiter, am Präsidenten – an der noch von seiner Gattin trennen.<br />

Das Praktikantin heißt überwiegend Monica,<br />

»hey, du da« oder Fräulein Lewinsky. Es lernt in<br />

den ersten Tagen Essenzielles – wie es sich zu<br />

kleiden, wie es zu duften, wie es den Kaffee zu<br />

machen und was es zu tun hat, wenn die Frau<br />

des Chefs anruft. Es lernt, mit Komplimenten<br />

umzugehen, versehentlichen Körperkontakt<br />

nicht zu tragisch zu nehmen und sich beim Verlassen<br />

des Chefzimmers nicht plötzlich umzusehen.<br />

Es weiß, dass es nicht gerade hässlich ist.<br />

Es hat die Hässlichen sitzen sehen, die sich mit<br />

ihm um die Praktikantenstelle bewarben …<br />

Unklar bleibt, wie diese spezielle Art des »Lehrstuhls«<br />

entstand. Irgendein intelligenter Impresario<br />

muss es fertiggebracht haben, das »Handwerk«<br />

des Praktikantin so interessant an die<br />

Frau zu bringen, dass sich Chefs vor Bewerbungen<br />

für diese Maloche kaum retten können. Es<br />

gibt auch definierte Tätigkeiten (Stellenbeschreibung):<br />

Das Praktikantin macht alles, worauf die<br />

gutbezahlten, festangestellten Mitarbeiter keinen<br />

Bock haben – Bleistifte anspitzen, Toner<br />

auffüllen, aus alten Zeitungen Toilettenpapier<br />

gewinnen oder dem Chef beim Auspacken seiner<br />

Zigarre behilflich sein. Es wird auch gerufen,<br />

wenn es im Frauenklo eine Havarie gibt, damit<br />

es seinerseits den Notdienst ruft. Die Arbeitszeit<br />

des Praktikantin ist mit Begriffen, wie »nach<br />

betrieblicher Anforderung« oder »entsprechend<br />

des Arbeitsablaufes« weit gefasst.<br />

Hat sich das Praktikantin als geschickt erwiesen,<br />

darf es das Kaffeekochen an nachfolgende<br />

Praktikantinnen delegieren oder auf sogenannten<br />

Geschäftsreisen nach Italien und Ungarn dem<br />

Chef und seinen Partnern Gesellschaft leisten.<br />

Bei dieser Gelegenheit wird es oft gefragt, ob<br />

es wisse, was diese Dienstreise »für eine Wertschätzung«<br />

darstelle. Schon allein für solche<br />

Wertschätzungen wagt es nie, nach Entlohnung<br />

zu fragen.<br />

Das Praktikantin wird auf die harte Welt des<br />

Business und auf den Bürostuhl so gut es geht<br />

ganzheitlich vorbereitet. Vielleicht nie wieder<br />

wird es so unmittelbar und brutal cholerischen<br />

Anfällen des Vorgesetzten ausgeliefert sein. Nie<br />

wieder wird es so intensiv erleben, was es heißt,<br />

von langgedienten Mitarbeiterinnen im Klimakterium<br />

bis aufs Blut gemobbt zu werden.<br />

Und der Satz »Sie könnten auch bei Aldi an<br />

der Kasse sitzen oder das städtische Hallenbad<br />

putzen«, wird ihm immer in den Ohren klingen.<br />

Wenn es Glück hat, wird es ihn eines Tages selber<br />

sagen.<br />

Cathleen Held<br />

Collage: Andreas Prüstel<br />

50 EULENSPIEGEL 10/12


Anzeige


Funzel<br />

SUPER<br />

Unverkäuflich – aber bestechlich!<br />

Das Intelligenzblatt für Andersdenkende<br />

Seit der Großen Revolution 89/90 unabhängig vom <strong>Eulenspiegel</strong><br />

Verschleiert<br />

im Revier<br />

Unserem<br />

FUNZEL-<br />

Fotoreporter<br />

reichte es allmählich:<br />

<strong>Immer</strong> wieder<br />

wurde er kritisiert,<br />

weil seine nur mäßig<br />

bekleideten<br />

Damen nur mäßig<br />

bekleidet waren.<br />

Das sollte endlich<br />

ein Ende haben.<br />

Deshalb beschloss<br />

er bei seinem<br />

nächsten Einsatz<br />

größte Vorsicht walten<br />

und keine falschen<br />

Schlussfolgerungen<br />

<strong>mehr</strong> vor<br />

dem geistigen Auge<br />

des Betrachters aufkommen<br />

zu lassen.<br />

Eine Verhüllung<br />

musste her! Schließlich<br />

hatte schon<br />

Christo damit beste<br />

Erfahrungen gemacht,<br />

als er vor Jahren das<br />

deutsche Parlament<br />

unter einem Haufen<br />

Stoff versteckte und<br />

alle Deutschen sich<br />

wohler fühlten als<br />

vorher.<br />

Gesagt, getan.<br />

Schnell hatte er auch<br />

die alleinstehende Revierförsterin<br />

Petra M.<br />

aus Waldesruh davon<br />

überzeugt, dass die<br />

Marktwirtschaft lehrt:<br />

Eine zünftige Verpackung<br />

kann durchaus die Absatzchancen<br />

verbessern!<br />

Hui, wie staunten da die<br />

Bäume, als ihnen plötzlich<br />

ein paar luftige Zipfel<br />

um den Stamm wehten!<br />

Alle Gräser drehten sich<br />

um, und die Ameisen bauten<br />

sogar große Haufen,<br />

nur um einen besseren<br />

Ausblick zu haben. Das<br />

ganze Revier war begeistert,<br />

und Fräulein Petra wäre<br />

bestimmt auf der Stelle zur<br />

Oberforsträtin befördert worden,<br />

wenn die harmonische<br />

Szene nicht ein abruptes<br />

Ende gefunden hätte.<br />

Mit lautem Wutgeschrei<br />

näherte sich nämlich von hinten<br />

die Gattin unseres Reporters.<br />

(Aus Sicherheitsgründen<br />

nicht im Bild.) Sie gab nicht<br />

eher Ruhe, bis sie endlich ihre<br />

Wohnzimmergardine wiederhatte.<br />

ru/ke


Leute heute<br />

Der Gedenkturner Stein<br />

Aus dem Spannstütz über<br />

die Tiefhalte in den Beugehang,<br />

dann links überspreizen,<br />

von der Hockwende mit<br />

einem Pendelschwung zur<br />

Laufkehre und ab in den<br />

Grätschsitz – nichts einfacher<br />

als das für Meister -<br />

turner Tim Stein! Er machte<br />

die Ellgriffkippe, kam über<br />

die Sturzbeuge zur Schwung -<br />

st emme rückwärts und<br />

hock te in den Oberarmstand<br />

durch. Jetzt die Kreisbücke!<br />

Mit dem Zwiegriffrücksprung<br />

senk te er sich<br />

über die Außenschere zum<br />

Grätschwin kelstütz, mach t e<br />

Funzel historisch<br />

eine gestreckte Kraftrolle<br />

in den Ristfelgkreisel zur<br />

Kippschraube und landete<br />

mit einem einfachen<br />

Kehrschwung im seitlichen<br />

Schrittüberschlag. Aber<br />

was jetzt? Die Flugschere<br />

drehweise einschwenken<br />

oder den Schwenkflug<br />

sche renweise ausdrehen?<br />

Tim Stein hockte sich hin,<br />

stützte einen Ellenbogen<br />

aufs Bein und dachte nach.<br />

Ja! Ja! Genau das war’s!<br />

Souverän belegte er den ersten<br />

Platz im »Auguste-Rodin-Gedenkturnen«!<br />

pk<br />

Soziales<br />

Netzwerk<br />

1963 lo<br />

Mit seiner Hundertschaft<br />

war Polizeikommissar<br />

Schlem mer ein<br />

wenig in der Fußgängerzone<br />

bummeln, als<br />

sich plötzlich in einem<br />

nahegelegenen Bistro<br />

eine weit hin hörbare<br />

Ge schmacks explosion<br />

er eignete. Als die Beamten<br />

am Tatort eintrafen,<br />

war sofort klar: Die Vereinigung<br />

Islamistischer<br />

Gewürze hatte mal wieder<br />

zugeschlagen. Eine<br />

weitergehende Gefahr<br />

für die Bevölkerung<br />

konnte jedoch abgewendet<br />

wer den. Alle Beweismittel<br />

wurden auf<br />

der Stelle sichergestellt<br />

und von den aufopferungsvollen<br />

Beamten<br />

vernichtet. cd / ph<br />

Hallihallo, Hallimasch!<br />

Kaffee-Service<br />

Amerikanischen Wissenschaftlern<br />

ist es<br />

endlich gelungen, den<br />

ersten sprechenden<br />

Pilz zu entwickeln.<br />

Und das geht so: Sobald<br />

sich ein Pilzsammler<br />

dem Objekt<br />

seiner Begierde nähert,<br />

sagt der Pilz: »Hallihallo,<br />

ich bin ein Hallimasch<br />

und bin genießbar!«<br />

Oder falls es<br />

ein giftiger Pilz ist, sagt<br />

er: »Hallihallo, ich bin<br />

ein Knollenblätterpilz<br />

und bin nicht genießbar!«<br />

Dadurch können<br />

viele Pilzvergiftungen<br />

vermieden werden.<br />

Auf dem Foto sieht<br />

man den Sohn des leitenden<br />

Ingenieurs (aus<br />

erster Ehe) mit einem<br />

»Gelben Breitblättrigen<br />

Regenschirmweib -<br />

ling«, der immerzu<br />

sagt: »Hallihallo, ich<br />

bin ein Gelber Breitblättriger<br />

Regenschirm -<br />

weibling, und ich weiß<br />

nicht, ob ich genießbar<br />

bin oder nicht!« Daran<br />

muss wohl noch gearbeitet<br />

werden.<br />

lo<br />

Personalproblem<br />

MENSCH<br />

& NATUR<br />

lo<br />

von Hellmuth Njuhten<br />

sk<br />

Coffee-to-go in den Kudamm-Cafés:<br />

Draußen nur Kännchen! kriki<br />

Die Neubesetzung der Seelsorgerstelle machte leider einige<br />

Veränderungen erforderlich.<br />

ub / ss<br />

lo<br />

Mein erstes Tattoo<br />

lo<br />

Große Funzel-Erfindungen<br />

(XVI)<br />

ar<br />

Funzel-RÄTSEL<br />

FUNZEL-<br />

Rätsel<br />

nicht<br />

gelöst?<br />

Wirst<br />

hk<br />

I M P R E S S U M :<br />

Liebe macht blind, aber Liebe zum<br />

<strong>Eulenspiegel</strong> macht auch noch<br />

doof, wissen die FUNZEL-Mitarbeiter<br />

Archimura, Utz Bamberg, Lo<br />

Blickensdorf, Carlo Dippold, Klaus<br />

Ender, Peter Homann, Sören Knoll,<br />

Peter Köhler, Harald Kriegler, Kriki,<br />

Siegfried Steinach und Reinhard<br />

Ulbrich.


Anzeigen · Veranstaltungen<br />

TICKETLINE: (030) 5 42 70 91<br />

Fr<br />

5.10.<br />

20.00<br />

Sa<br />

6.10.<br />

20.00<br />

So<br />

7.10.<br />

16.00<br />

ELEMOTHO & BAND<br />

„The New Sound of<br />

the Kalahari“– Live-Konzert<br />

„WENN DIE NEUGIER<br />

NICHT WÄR´…“<br />

Der besondere Talk von und mit<br />

Barbara Kellerbauer<br />

Zu Gast: Barbara Schnitzler<br />

„MUSIK<br />

AM LAGERFEUER“<br />

mit Gojko Mitic, Uwe Jensen,<br />

Nicole Freytag und den City Dancers<br />

Fr<br />

12.10.<br />

20.00<br />

Sa<br />

13.10.<br />

15.00<br />

Sa<br />

13.10.<br />

20.00<br />

ROBERT CARL BLANK<br />

Der begnadete Songschreiber und<br />

Weltreisende präsentiert sein neues<br />

Album. Live-Konzert<br />

MUSIKALISCHER SALON<br />

Franz Schubert: Trio für Klavier,<br />

Violine und Violoncello Es-Dur Op.<br />

100 und andere Werke von Schubert<br />

PIANLOLA –<br />

KABARETTISTISCHES<br />

CHANSONTHEATER<br />

„Berliner Kabarett &<br />

Argentinische Tangomusik –<br />

eine wunderbare Mischung“<br />

„11. LANGE NACHT<br />

So<br />

DER SENIOREN“<br />

14.10.<br />

19.00<br />

präsentiert von Siegfried Trzoß<br />

mit Peter Wieland, Susan<br />

Schubert, Steffi & Bert u.a.<br />

An der Markthalle 1-3<br />

09111 Chemnitz<br />

56 EULENSPIEGEL 10/12


Anzeigen · Veranstaltungen<br />

Satirisches Theater und Kabarett e.V.<br />

Ratskeller/ Marktplatz 2a · 15230 Frankfurt/Oder<br />

www.oderhaehne.de<br />

<strong>Vorschau</strong><br />

Spielplan Oktober 2012<br />

Lügen schaffts Amt<br />

4./5./11. und 26. Oktober 2012<br />

Big Helga<br />

6. Oktober 2012<br />

Fridericus Superstar<br />

12. und 13. Oktober<br />

Harte Zeiten, weiche Kekse<br />

18./19./20. (Premiere) 21. (15 Uhr)<br />

23. (15 Uhr)<br />

25. und 27. Oktober 2012<br />

Gastspiel<br />

am 14. Oktober 2012 – 17 Uhr<br />

Margit Meller und Michael Bootz<br />

„Das Blaue vom Himmel – das Gelbe<br />

vom Ei“das Gelbe vom Ei“<br />

Vorstellungsbeginn ist um 20 Uhr<br />

im Ratskeller<br />

Ticket-Hotline: 03 35 / 23 7 23<br />

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Denkt doch<br />

was ihr sollt !<br />

mit Marion Bach<br />

und Hans-Günther<br />

Pölitz<br />

neues Programm<br />

Damenwahl –<br />

zwei Weiber mit Schuß<br />

mit Marion Bach,<br />

Heike Ronniger a.G. und<br />

Oliver Vogt a.G.<br />

GASTSPIELE<br />

Dresdner<br />

Herkuleskeule<br />

„Leise flehen<br />

meine Glieder“<br />

4. Oktober, 20 Uhr<br />

Jürgen Becker<br />

„Der Künstler ist anwesend“<br />

23. Oktober, 20 Uhr<br />

Himmel, Arsch<br />

und Hirn<br />

mit Lothar Bölck a.G.<br />

und Hans-Günther<br />

Pölitz<br />

Der Spielplan: www.zwickmuehle.de<br />

Magdeburger Zwickmühle<br />

Leiterstraße 2a, 39104 Magdeburg<br />

Telefon: (03 91) 5 41 44 26<br />

EULENSPIEGEL 10/12 57


Und Kaiser Nero!<br />

Aus: Ostsee-Zeitung<br />

Einsender: Dr. Marion und<br />

Thomas Müller, Rostock<br />

Besser dort als gar nicht.<br />

Aus: Thüringer Allgemeine, Einsender: Bernd Kühn, Eisenach<br />

Seine Affenliebe?<br />

Aus: Thüringische<br />

Landeszeitung<br />

Einsender:<br />

Manfred Schulter,<br />

Leinatal<br />

Riesenrammler!<br />

Aus: Märkische Oderzeitung<br />

Einsender: Eckhard Beer,<br />

Schwedt/O.<br />

Auch das noch!<br />

Aus: Berliner Zeitung<br />

Einsender: Werner Klopsteg,<br />

Berlin<br />

Wie sie leibt und lebt!<br />

Aus: Amtsblatt Sömmerda<br />

Einsenderin: Christine Selter,<br />

Sömmerda<br />

Damit’s nicht noch <strong>mehr</strong><br />

Tierschützer gibt.<br />

Aus: Sächsische Zeitung<br />

Einsender: Frank Gräßler,<br />

Hoyerswerda<br />

Dankend angenommen!<br />

Verwarnung des Ordnungsamtes Frankfurt/Oder, Einsender: R. Schnabel, Frankfurt/O.<br />

In vino veritas<br />

in cervisia est aqua.<br />

Werbung von Interspar<br />

Österreich<br />

Einsender: G. Schneider,<br />

Schönebeck<br />

Ferkelfernsehen!<br />

Aus: Super-TV<br />

Einsenderin: Martina Braun, Dresden<br />

Dabei rangen alle mit der Sprache.<br />

Aus: Ostthüringer Zeitung<br />

Einsender: Mario Eichhorn, Probstzella<br />

Oder als Vorbau.<br />

Aus: Anzeigenkurier, Einsender: Roland Gorsleben, Zarnekla<br />

58 EULENSPIEGEL 10/12


Fehl anzeiger<br />

Wieder Schluss mit artgerechter Haltung?<br />

Aus: Ostsee-Zeitung, Einsender: S. Lobedarz, Stralsund<br />

Wir sind nicht gern Würstchen!<br />

Etikett Halberstädter Bockwürstchen<br />

Einsender: Thomas Daniel, per E-Mail<br />

Waren die Blauen noch blauer?<br />

Aus: Lübecker Nachrichten<br />

Einsender: Dieter Schacht, Lübeck<br />

Polizei ermittelt: beide fahruntüchtig!<br />

Aus: Berliner Zeitung, Einsender: Detlef Krüger, Berlin, u. a.<br />

Poetische Kostbarkeit<br />

Wir sähen lieber korrekte Rechtschreibung.<br />

Aus: Extratip, Einsender: Udo E. Baukus, Gudensberg<br />

Querschläger.<br />

Aus: Hamburger Abendblatt,<br />

Einsender: Ralph Schermann,<br />

Görlitz<br />

Selbst ist das Pferd!<br />

Aus: Märkische Allgemeine<br />

Einsender: Dr. Reinhard<br />

Stamm,<br />

Ludwigsfelde<br />

Wenn Leichtathleten umziehen.<br />

Aus: Mitteldeutsche Zeitung, Einsender: Lothar Günther, Annaburg<br />

Aus: Leipziger Gartenfreund, Einsender: Harri Heit, Leipzig<br />

Historie von hinten.<br />

Aus: Neues Deutschland<br />

Einsenderin: Gabriele Parakeninks,<br />

Berlin<br />

Oder Hartplastik aus Stahl.<br />

Aus: Rheinpfalz<br />

Einsender: Anne Haffner u.<br />

Bernd Rudolph, Kaiserslautern<br />

Besonders der<br />

Schluckspecht<br />

Aus: Freies Wort<br />

Einsender: Wolfgang Triebel,<br />

Suhl<br />

Wahrscheinlich war<br />

kein Arzt dabei.<br />

Aus: Berliner Zeitung<br />

Einsender: Bernhard Rauche,<br />

Berlin<br />

Besser als Gezerre daran.<br />

Aus: Märkische Allgemeine Zeitung, Einsender: Dieter Eckelmann, Potsdam<br />

Liebe mit Biss.<br />

Aus: Wochenspiegel<br />

Einsender: Ralf Sikorski, Suhl<br />

EULENSPIEGEL 10/12 59


Schönes auf<br />

Tattoos und Piercings werden von vielen<br />

abgelehnt, weil sie hässlich sind. Aus demselben<br />

Grund werden sie von anderen getragen.<br />

Letztere werden immer <strong>mehr</strong>. Einst<br />

dienten sie als Symbol. Sträflinge tätowierten<br />

sich, wenn Kreuzworträtsel keine Herausforderung<br />

<strong>mehr</strong> darstellten, aus Langeweile<br />

eine Träne in den Augenwinkel oder<br />

eine Spinne auf den Hals. Männer, die<br />

rechts einen Ohrstecker trugen, signalisierten:<br />

»Bin schwul.« Männer, die links einen<br />

Ohrstecker trugen: »Bin auch schwul, hab’<br />

aber blöderweise rechts und links verwechselt.«<br />

<strong>Immer</strong> stand es für Außenseitertum<br />

und Unterschicht. Das ist jetzt anders. Das<br />

Färben und Durchlöchern der Epidermis hat<br />

sein herkömmliches Milieu verlassen, wie<br />

ein Urlaub in von Vertretern der englischen<br />

Mittelschicht belegten Strandhotels am Mittelmeer<br />

beispielhaft zeigt. Um die Pools<br />

liegt ganztägig ein geschlossener Ring aus<br />

ganzkörpertätowierten Fettgewebemassen,<br />

mit oberschenkeldicken Ringfingern und<br />

Körperöffnungen, die einzig der Aufnahme<br />

und Ausscheidung von All-inclusive-Getränken<br />

und darin aufgeweichten Pommes frites<br />

dienen. Es riecht nach verbranntem<br />

pertätowierungen nicht das irritierende Gefühl,<br />

man hätte es mit einem größeren Gegenstand<br />

zu tun, von dem das Geschenkpapier<br />

noch nicht entfernt wurde?<br />

Bei Männern erfreut sich das Prinz-Albert-Piercing<br />

besonderer Beliebtheit. Es beruft<br />

sich auf den Gatten der englischen<br />

Queen Victoria. Angeblich trug er dieses<br />

PP (Penis-Piercing), um seinen royalen P<br />

beim Reiten in die rechte, meint wohl: eine<br />

druckfreie und damit weniger beschädigungsträchtige<br />

Position zu bringen. Ein<br />

Funktionspiercing also, einer Stecknadel<br />

ähnlich … Oder ist das nur eine Ausrede,<br />

und es war in Wirklichkeit ein kleines Krönchen?<br />

Der neueste Tattoo-Trend sind Augapfeltattoos.<br />

Tattoos auf Milz, Leber und Großhirnrinde,<br />

Piercings in Nierchen, Dickdarm<br />

Bei Tieren heißt die Tätowierung<br />

»Kennzeichnung«. Sie soll verhindern,<br />

dass der Landwirt aus Versehen<br />

das falsche Schwein zum Schlachter<br />

gibt. Warum aber tätowieren sich<br />

Menschen? Und wozu tragen sie<br />

Piercings, die im ländlichen Raum<br />

gewählt. Sie konnten, wenn ihre Zeit abgelaufen<br />

war, einfach abgelegt werden:<br />

lange Haare, Parkas, Atomkraft-Nein-<br />

Danke-Aufnäher. Metallteile wurden in die<br />

Jeansjacke gestanzt, nicht in die Oberlippe.<br />

Ein Tattoo und eine Piercing-Narbe hast du<br />

aber lebenslang. Es ist, als würde man, um<br />

es seinen spießigen Eltern mal so richtig<br />

zu zeigen, sich mit sechzehn ein Bein abhacken.<br />

Die Freude am Tragen von Tätowierungen<br />

scheint mit einer gewissen Grunddreistigkeit<br />

einherzugehen. So jedenfalls bei jener<br />

17-jährigen Münchnerin, die sich für<br />

50 Euro ein Tattoo stechen ließ. Als ihr das<br />

nicht hübsch genug war, verklagte sie das<br />

Studio auf Entfernung des Hautbildchens,<br />

Kostenpunkt: 800 Euro. Zudem auf Schadensersatz<br />

und Schmerzensgeld mit der<br />

Begründung, sie sei ja noch gar nicht voll<br />

geschäftsfähig und habe – jetzt wird es<br />

niedlich – ohne Einwilligung ihrer Eltern<br />

gehandelt. Das Amtsgericht München wies<br />

die Klage mit einem auch als Tätowierung<br />

beliebten »Fuck off!« zurück. Nicht wörtlich,<br />

aber sinngemäß (AG München, AZ:<br />

213 C 917/11).<br />

Fleisch. Kommt das vom Grill? Nein, es sind Blechmarken heißen?<br />

Ähnlich lag der Fall, als Berliner Eltern<br />

metallene Piercings, die bei der Affenhitze<br />

ihrer dreijährigen Tochter Ohrlöcher stechen<br />

in ihren Stichkanälen leise im eigenen Saft<br />

schmurgeln. Normale Menschen würden unter<br />

solchen Umständen selbst Dinge gestehen,<br />

die sie gar nicht wissen. Doch Engländer<br />

sind seit dem Verlust ihrer Kolonien vollkommen<br />

schmerzunempfindlich.<br />

Tätowieren und Piercen wird als Sport<br />

gesehen. Wer hat die meisten Tattoos? In<br />

wem ist die größte Menge an rostfreiem<br />

Stahl verbaut? Den Weltrekord hält eine US-<br />

Amerikanerin mit über 3000 Piercings. Liefert<br />

man die Dame beim Schrotthändler ab,<br />

zahlt der <strong>mehr</strong> als für einen dreißig Jahre<br />

alten VW-Bus. Dabei geht das Piercen den<br />

üblichen Weg: die Piercings werden immer<br />

größer und schwerer. Wo früher ein in Millimetern<br />

zu bemessender Brilli eingesetzt<br />

wurde, da werden heute knapp eifelturmgroße<br />

Eisenteile montiert.<br />

Weit vorn in der Gunst liegen Genitalpiercings.<br />

Es gibt spezielle für Sie und für Ihn.<br />

Sie sollen das Lustempfinden steigern. Wie<br />

darf man sich das vorstellen? Ist es erotisierend,<br />

wenn es beim Sex leise scheppert?<br />

So wie es klingt, wenn man im Geschirrspüler<br />

zwei Töpfe zu dicht aneinander gestellt<br />

hat? Und vermitteln farbige Ganzkör-<br />

und linkem Lungenflügel fehlen bisher.<br />

Jede Wette: Es gäbe sie längst, wenn man<br />

sie in der Öffentlichkeit herzeigen könnte.<br />

Und sei es nur als Foto auf Facebook.<br />

Die Gesundheit spielt nur ganz am Rande<br />

eine Rolle. Zu Recht, denn das Stechen eines<br />

Tattoos ist im Grunde nichts weiter als<br />

Nähen mit Farbe. Und Piercings bereiten<br />

ohnehin keine Probleme. Wenn sie richtig<br />

gepflegt werden. Diesen Beipackzettelsatz<br />

gibt’s gratis dazu. Doch wie gestaltet sich<br />

die Pflege konkret? Etwa bei einem frisch<br />

gestochenen Anal-Piercing? Wie schafft<br />

Mensch in den Wochen bis zur Abheilung<br />

das finale Stoffwechselprodukt aus dem<br />

Körper? Osmose? Hochziehen und Ausspucken?<br />

– Ekelhaft? Gewiss. Doch es gibt<br />

Dinge, die muss man sich einfach einmal<br />

im Detail vorstellen, um sie wirklich mögen<br />

zu können.<br />

Natürlich geht es um jugendliche Rebellion,<br />

um Anderssein, um Provokation. Aber<br />

das vergeht, spätestens, wenn man mit<br />

den anderen auf dem Arbeitsmarkt um die<br />

Wette hechelt. In früheren Jahren wurden<br />

die Symbole der Aufsässigkeit gegen Eltern<br />

und Establishment daher mit Bedacht<br />

ließen. Weil das Kind dabei schrie<br />

und weinte, verlangten sie Schmerzensgeld.<br />

Als der Richter fragte, warum sie denn<br />

überhaupt mit dem Kind ins Piercing-Studio<br />

gegangen seien, antworteten sie, es<br />

habe die Ohrlöcher unbedingt haben wollen,<br />

da hätten sie gar nichts machen können.<br />

Das überzeugt. Wenn Dreijährige etwas<br />

wollen, ist man als Erziehungsverpflichteter<br />

praktisch machtlos. Welche Mutter<br />

wagt zu widersprechen, wenn der Wonneproppen<br />

sein Aa mit bloßen Händen in<br />

den Teppich schmieren will oder auszuprobieren<br />

wünscht, ob das Meerschweinchen<br />

brennt? Der Richter zog zwar eine strafbare<br />

Körperverletzung in Betracht, sprach<br />

aber letztlich im Vergleichswege den Eltern<br />

das gewünschte Schmerzensgeld zu.<br />

Tröstlich: Die zweite Runde beim Staatsanwalt<br />

steht noch aus.<br />

Man kann dazu stehen, wie man will.<br />

Um eines aber muss man jeden Piercingträger<br />

beneiden: Um seinen klasse Abgang<br />

– er klappert in der Urne.<br />

Robert Niemann<br />

Zeichnung: Guido Sieber<br />

Menschenfleisch<br />

60 EULENSPIEGEL 10/12


Peter Thulke<br />

Alff<br />

Piero Masztalerz<br />

62 EULENSPIEGEL 10/12


Schwarz auf<br />

weiss<br />

Lo Blickensdorf<br />

Michael Damm<br />

EULENSPIEGEL 10/12 63<br />

Andreas Prüstel


LMM 1479 … Leser machen mit 1 2 3 4 5 6 7<br />

LMM-Gewinner der 1478. Runde<br />

Ein glückliches Händchen hatten:<br />

»Ich wusste, dass bei der<br />

33. Extraktion die AOK<br />

kommt und wir auffliegen.«<br />

Tim Sonnenberg,<br />

Rostock<br />

»Tür zu, Schatz!<br />

Knie-OP ist gleich<br />

beendet.«<br />

Thomas Richter,<br />

Dresden<br />

Liefern Sie uns zu<br />

dieser Zeichnung<br />

eine witzige Unterschrift.<br />

Für die drei originellsten<br />

Sprüche berappen wir<br />

16, 15 und 14 €.<br />

LMM-Adresse:<br />

<strong>Eulenspiegel</strong>,<br />

Gubener Straße 47,<br />

10243 Berlin<br />

oder per E-Mail an:<br />

verlag@eulenspiegelzeitschrift.de<br />

Absender nicht<br />

vergessen!<br />

Kennwort: LMM 1479<br />

Einsendeschluss:<br />

8. Oktober 2012<br />

Zeichnungen: Heinz Jankofsky<br />

»Mist! Ich dachte,<br />

ich komme vor<br />

meinem Mann.«<br />

Uwe Salomon,<br />

Hoyerswerda<br />

8<br />

9 10 11<br />

13 14<br />

18 19<br />

12<br />

20 21 22<br />

23<br />

24 25<br />

Waagerecht: 1. Inhalt einer Labor -<br />

idee, 5. Zuckerrohrschnaps auf Selenbasis,<br />

8. blüht in der Friaulagave, 9.<br />

altenglischer Königshäusler, 10. Städteverbindung<br />

Schwarzenberg-Plauen-Arnstadt,<br />

12. ausgeräumtes Schmuddelhaus,<br />

13. erste Siebenbrückenbaukolonne,<br />

15. steht vor Knecht oder nach<br />

Carl Maria von, 18. englisch abgelehntes<br />

Rilsk, 20. allseits begrenzte Demut,<br />

21. vom Legastheniker notierter Essraum,<br />

23. Ballspielart ohne T-Träger,<br />

24. hauptstädtisches Weißweinglas,<br />

25. vertippte Flößerstange.<br />

Senkrecht: 1. Färberei in der Sabbat -<br />

ikone, 2. kopfloser Verwandter, 3. Städteverbindung<br />

Ichtershausen-Lauchstädt-Oschatz,<br />

4. agierender Mime,<br />

5. Ralf Wolters zweites Ich in Karl-May-<br />

15 16 17<br />

Filmen, 6. altdeutsch für pink, 7. plätschert<br />

im Klimaaspekt, 11. Bratenersatz<br />

für Gans und Ente, 14. steht vor Busen<br />

und Bombe, 16. Abzockerparkett,<br />

17. steckt im Haremeklat, 18. ausgeweideter<br />

Nebenbuhler, 19. Kompagnon der<br />

Ehre, 22. Aufforderung an einen englischen<br />

Hund.<br />

Auslösung aus Heft 9/12:<br />

Waagerecht: 1. Ewald, 4. Kunst,<br />

8. Arosa, 9. Ehe, 11. Korso, 12. Columbo,<br />

13. Spelt, 15. Stift, 17. Italien,<br />

20. Hagen, 22. Ori, 23. Odeum, 24. Natur,<br />

25. Egart.<br />

Senkrecht: 1. Erec, 2. Apel, 3. Dalmatiner,<br />

4. Kokospalme, 5. Uso, 6. Narbe,<br />

7. Trost, 10. Hort, 14. Leer, 15. Schön,<br />

16. Ingot, 18. Iowa, 19. Niet, 21. Edu.<br />

eisterwerke Kunst von EULENSPIEGEL-Lesern, gediegen interpretiert<br />

64 EULENSPIEGEL 10/12<br />

Alexander Kats, Leipzig<br />

Lässt sich die Zukunft beeinflussen?<br />

Kann man, indem man in die Vergangenheit<br />

reist und dort seine Eltern tötet, die<br />

eigene Geburt verhindern? Und wenn<br />

man seine Geburt verhindert, wer reiste<br />

dann in die Vergangenheit und tötete die<br />

Eltern? – Mit solcherlei hochphilosophischen<br />

Fragen beschäftigt sich dieser Cartoon.<br />

Konkret geht es darum: Kann Herr<br />

Meier die Frage seines Gegenübers abwenden,<br />

indem er die Antwort gibt, bevor<br />

die Frage gestellt wurde?<br />

Offenbar kann er es nicht. Dabei hat<br />

sich Herr Meier alle Mühe gegeben. Er<br />

hat die Gravitation der Quanten seines<br />

Gegenübers genutzt, um mit dieser Materie,<br />

die bei steigender Entfernung von<br />

der Rotationsachse den Raum krümmt,<br />

Raumzeitpunkte zu erschaffen, zu denen<br />

er mühevoll hineilt – der Grund dafür,<br />

weshalb er so fertig aussieht und so<br />

schwitzt.<br />

Doch wenn ausgerechnet seine Zeitreise<br />

Ursache für seinen unguten Zustand<br />

ist, hat er damit selbst die Frage seines<br />

Gegenübers ausgelöst? Und wenn ja,<br />

wieso lügt er dann und erzählt etwas von<br />

Urlaub mit der Familie? Oder noch anders:<br />

Befindet sich vielleicht der Mann<br />

rechts im Bild in der Zukunft und stellt<br />

dort eine Frage, die obsolet geworden ist?<br />

Oder haben sich einfach zwei Deppen getroffen,<br />

die völlig aneinander vorbeireden?<br />

Und wie muss sich das auf dem Gemälde<br />

im Hintergrund gezeigte Gesicht<br />

im Raum krümmen bzw. strecken, um aus<br />

diesem Blickwinkel auf diesen Fluchtpunkt<br />

zuzulaufen?<br />

Die Mysterien von Raum und Zeit –<br />

wir werden sie nie zu lösen vermögen.<br />

H. Lesch


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2012_10


Und tschüs!<br />

Herausgeber<br />

Hartmut Berlin, Jürgen Nowak<br />

Geschäftsführer und Verlagsleiter<br />

Dr. Reinhard Ulbrich<br />

verlag@eulenspiegel-zeitschrift.de<br />

Redaktion<br />

Dr. Mathias Wedel (Chefredakteur),<br />

Gregor Füller, Andreas Koristka,<br />

Dr. Reinhard Ulbrich<br />

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Gestaltung & Satz<br />

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Der nächste EULENSPIEGEL erscheint am 25. Oktober 2012 ohne folgende Themen:<br />

• Von der Leyen will Zuschuss-Rente – Hat Wulff sie schon beantragt?<br />

• Fußballfans immer brutaler – Fordern sie sogar eine Rückkehr von Waldemar Hartmann?<br />

• Nach Urheberrechtsurteil gegen Samsung – Verklagt Apple Opel, weil auch dort unnütze<br />

und viel zu teure Produkte angeboten werden?<br />

• Bio-Lebensmittel nicht gesünder – Sind glückliche Schweine zu undankbar, um <strong>mehr</strong> Vitamine<br />

zu produzieren?<br />

Petra Kaster<br />

Druck<br />

möller druck und verlag gmbh, Berlin<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Utz Bamberg, Beck, Anke Behrend,<br />

Harm Bengen, Matthias Biskupek,<br />

Lo Blickensdorf, Peter Butschkow,<br />

Carlo Dippold, Rainer Ehrt, Ralf-Alex<br />

Fichtner, Matti Friedrich, Burkhard<br />

Fritsche, Arno Funke, Gerhard Glück,<br />

Barbara Henniger, Renate Holland-<br />

Moritz, Frank Hoppmann, Rudi<br />

Hurzl meier, Michael Kaiser, Christian<br />

Kandeler, Florian Kech, Dr. Peter<br />

Köhler, Kriki, Cleo-Petra Kurze, Ove<br />

Lieh, Werner Lutz, Peter Muzeniek,<br />

Nel, Robert Niemann, Michael Panknin,<br />

Ari Plikat, Enno Prien, Andreas<br />

Prüstel, Erich Rauschenbach, Ernst<br />

Röhl, Reiner Schwalme, Felice v.<br />

Senkbeil, André Sedlaczek, Guido<br />

Sieber, Klaus Stuttmann, Atze Svoboda,<br />

Peter Thulke, Kat Weidner,<br />

Freimut Woessner, Erik Wenk,<br />

Dr. Thomas Wieczorek, Martin Zak<br />

Für unverlangt eingesandte Texte,<br />

Zeichnungen, Fotos übernimmt der<br />

Verlag keine Haftung (Rücksendung<br />

nur, wenn Porto beiliegt). Für Fotos,<br />

deren Urheber nicht ermittelt werden<br />

konnten, bleiben berechtigte<br />

Honorar ansprüche erhalten.<br />

Blumenspenden, Blankoschecks,<br />

Immobilien, Erbschaften und<br />

Adoptionsbegehren an:<br />

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Gubener Straße 47,<br />

10243 Berlin<br />

66 EULENSPIEGEL 10/12


Z u r F r a n k f u r t e r B u c h m e s s e<br />

Literatur<br />

Eule<br />

Mit Beiträgen von<br />

Matthias Biskupek,<br />

Reiner Schwalme,<br />

Peter Köhler,<br />

Frank Hoppmann<br />

u.v.a.m<br />

REINER SCHWALME


Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 2<br />

Das Funkeln der<br />

Prosa bei Nacht<br />

Von Kollegen weiß ich, dass ihr Unterbewusstsein<br />

weiterschreibt, während sie<br />

schlafen. Am Morgen stehen sie ausgeruht<br />

auf, wissen, wie der Hase läuft, und<br />

machen los. Am Ende haben sie den<br />

nächsten Roman fabriziert, ohne eine Ahnung<br />

zu haben, wie.<br />

Wenn ich mittags völlig fertig zu mir<br />

komme, weiß ich nur, dass meins wieder<br />

mal sein eigenes Ding gemacht hat. Wahrscheinlich<br />

sind ihm meine Kurzgeschichten<br />

zu popelig, um daran mitzuwirken:<br />

Es entwirft selber welche.<br />

Um mich kleinzukriegen, hinterlässt<br />

es mir beim Aufwachen die Erinnerung<br />

an einen schöpferischen Glückstaumel,<br />

wie er mich bei der Arbeit nie überkommt.<br />

Freilich verweigert es mir den Zugriff,<br />

lässt mich ewig Passwörter suchen, obwohl<br />

ich dichten müsste. Neuerdings geht<br />

es mit mir in der Tiefschlafphase Satz für<br />

Satz die geschliffenen Storys durch, ermahnt<br />

mich, auch ja nichts zu vergessen.<br />

Im Traum bau ich mir Eselsbrücken zum<br />

Plot (wenn ich den behalte, ist der Rest<br />

ein Klacks!), versuche das Bewusstsein im<br />

abgesicherten Modus kontrolliert hochzufahren<br />

– noch funkelt aus der Tiefe das<br />

Kabinettstückchen in allen Facetten.<br />

Dann, der Schatz ist so gut wie gehoben,<br />

entgleitet er mir wie die Hand des<br />

Freundes überm Abgrund!<br />

Vor Wut geh ich nach dem Kaffee zurück<br />

ins Bett, doch das Unterbewusstsein<br />

tut einen Teufel, Stroh zu Gold zu spinnen.<br />

Wo das Schöne versank, blubbern<br />

Blasen, Sprechblasen unklarer Herkunft:<br />

Welches Volk hättest du Schlaumeier<br />

denn erwählt, he?<br />

Ich werd’ wach von dem Bockmist, ertappe<br />

aber das bisschen Tagesgrips schon<br />

bei der Arbeit. Im Schnelldurchlauf rattert<br />

durch, was sich anbieten könnte: ...<br />

Haida, Himba, Maori, Massai, Nanai ... Polen,<br />

Tschechen, Tschuden, Tschuk tschen ...<br />

Xavante, Yanomami, Zuni ... Abasinen, Abnaki,<br />

Aimara ... Bei den Arabern angelangt,<br />

strample ich die Decke weg, worauf<br />

die arme Birne, noch während ich<br />

versuche hochzukommen, kurzerhand<br />

auf Stämme der Nachkommen des Propheten<br />

umschaltet: Al-Awa di, Al-Hakim,<br />

Al-Husseini, Al-Marashi, Al-Marasma, Al-<br />

Sadr, Al-Yasir ...<br />

Ich flüchte in die Küche, kappe den Filter<br />

an der Fluppe, schnipse am Feuerzeug<br />

rum, nehm’ einen Zug. Ich ruf Hans Dieter<br />

an. Als Sexualtherapeut hoffnungslos<br />

überbucht, geht er immerhin ran, wenn<br />

er sieht, wer anruft.<br />

»Und wo ist das Problem?«, fragt er,<br />

als ob ich ihm von einem Dreier im Lotto<br />

erzählt hätte.<br />

»Mann«, brüll ich, »meine Hirnhälften<br />

hassen einander!«<br />

»Wichsen«, sagt Hans Dieter, »ein Naturheilverfahren,<br />

das ich dir immer wieder<br />

verordne.«<br />

»Okay, ich bin faul«, geb ich zu,<br />

»könnte ja wieder mal an deine Steffi<br />

denken.«<br />

Ein Päuschen tritt ein, in dem Hans<br />

Dieter überlegt, ob er den Betablocker<br />

genommen hat. Dann sagt er: »Samen.«<br />

»Wie, Samen ...?«<br />

»Ich tät die Sami auserwählen. Die<br />

würden wenigstens den Kopf behalten.<br />

Mach was draus, ich hab hier noch <strong>mehr</strong><br />

Irre rumsitzen.«<br />

Im heißen Fichtennadelbad versuch<br />

ich mir Hans Dieters Lappen vorzustellen:<br />

zwei alte Leutchen mit Topfwärmern<br />

auf dem Kopf, die ihn in eine gemütliche<br />

Erdhütte einquartieren. In ihrer<br />

nebenan hat’s sogar Luxus: Deckenfunzel,<br />

Satellitentelefon und DVD-Play -<br />

er – alles mit Strom vom Wasserrädchen.<br />

Sie füttern Hans Dieter mit Trockenfleisch<br />

in Bohnenkaffee und gezuckertem<br />

Fisch – frisch filetiert. Weil die Bevölkerungsdichte<br />

im Land der Auserwählten<br />

gegen Null geht und keiner es<br />

ihnen neidet, sind sie friedlich und heiter,<br />

hätten selbst Hans Dieter glatt adoptiert.<br />

Ich mal mir das mal aus: ein Tal, ein<br />

See, ein Polarlicht. Das Wolfsrudel heult<br />

aus der Weite des Fjälls, ein Schneesturm<br />

zieht auf. Der Wanderer beginnt<br />

zu rennen, schlägt hin und bricht sich<br />

den Fuß. Mit dem letzten Geldschein<br />

kriegt er unterm Baum noch Feuer an;<br />

genau dort, wo der Schnee dann vom<br />

Ast rutscht ...<br />

Der Anruf erreicht mein Unterbewusstsein<br />

bei der Arbeit an einem Glanzstück<br />

von Prosa, diktiert von der Eiskönigin<br />

der Nacht. Schneller als ich mir irgendwas<br />

merken kann, schaltet es um<br />

auf Bewusstsein, das von der plötzlichen<br />

Anforderung überlastet ist.<br />

»Weißte, was mir noch einfällt?«,<br />

scheppert es aus der Ferne. »Dort lagen<br />

Porno-DVDs neben dem Player, Hardcore<br />

made in Hongkong!«<br />

»Du Arsch«, weckt mich meine eigene<br />

Stimme.<br />

»Mach weiter, <strong>Alte</strong>r!«, lacht Hans Dieter.<br />

Rainer Klis<br />

Gelungene Briefabschlüsse<br />

Ein dicker Schmatz<br />

Von Ringelnatz<br />

Bis dann und wann,<br />

Dein Thomas Mann<br />

Deine Warzen,<br />

alte Kröte,<br />

küsst Geheimrat<br />

Wolfgang Goethe<br />

Stets der Deine,<br />

Heinrich Heine<br />

Wie zumeist<br />

grüßt Heinrich Kleist<br />

Grüß noch König Lear<br />

von mir,<br />

alles Gute,<br />

Dein Shakespeare<br />

Mit letzter Tinte,<br />

schon ganz blass,<br />

grüßt der berühmte<br />

Günter Grass<br />

Von der Straße<br />

dringt Krawöll,<br />

ein stiller Gruß<br />

von Heinrich Böll<br />

Muss schließen,<br />

denn da kommt<br />

Godzilla,<br />

rasche Grüße!<br />

Friedrich Schiller<br />

Vollzugsbekanntmachung<br />

zum deutschen Brief<br />

Liebe Bürgerinnen und Bürger,<br />

wir bedauern, Ihnen schriftlich mitteilen<br />

zu <strong>müssen</strong>, dass die deutschen<br />

Behörden zum Jahresbeginn<br />

endgültig Abschied nehmen vom<br />

deutschen Brief mit amtlichem<br />

Gruß.<br />

Der deutsche Brief in seiner bekannten<br />

Hochform als Bescheid, Erlass<br />

oder Anordnung hat leider ausgedient.<br />

Obwohl der deutsche Behördenbrief<br />

ein wichtiger Bestandteil der<br />

deutschen Leitkultur war, wurde er<br />

vom deutschen Untertan immer<br />

schändlich behandelt und oft gedemütigt.<br />

Kaffeeflecken und Bierdosenabdrücke<br />

auf Hartz-IV-Bescheiden<br />

waren in den letzten Jahren leider<br />

häufig vorhanden, Eselsohren<br />

und anderweitige Verschmutzungen<br />

die Normalität.<br />

In Einzelfällen mussten Sachbearbeiter<br />

und Beamte Aids-Handschuhe<br />

beim Lesen der Korrespondenz<br />

benutzen. Dies hat natürlich<br />

zu immensen Mehrkosten geführt:<br />

Krankenhaus- und Therapieaufenthalte<br />

von Mitarbeitern und allgemein<br />

eine zunehmende Demotivation<br />

bei der Sachbearbeitung waren<br />

die Folge.<br />

Aus diesem Grund hat sich die Regierung<br />

entschlossen, die hoheitliche<br />

schriftliche Verwaltung folgendermaßen<br />

zu verändern:<br />

1. Anstelle von Bescheiden erhalten<br />

Sie nur noch Rechnungen.<br />

2. Dort, wo keine Rechnungen ausgestellt<br />

werden, gibt es den offenen<br />

Vollzug.<br />

3. Gebühren, Steuern und Abgaben<br />

erfolgen durch Lastschriftaufträge.<br />

4. Die Demokratie findet nur noch<br />

unschriftlich bei Wahlen statt,<br />

und diese bleiben für Bürgerinnen<br />

und Bürger geheim.<br />

Werner Lutz<br />

HARM BENGEN<br />

Kriki<br />

2 LITERATUREULE 10/12


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i<br />

Goethe in Pflege<br />

Welch gütiges Geschick, dass ich Euch hier<br />

antreffe, Herr Geheimrat! Fast hättet Ihr<br />

die Kaffeetafel verpasst, alle anderen sind<br />

schon da!« Mit resolutem Griff fasste Schwester Amalia<br />

Goethe unter und führte ihn von der Terrassentür,<br />

an der der Dichterkönig vergeblich hantiert hatte,<br />

um sie zu öffnen, zurück in den Speisesaal. »Schaut,<br />

der Herr Kleist, der Herr Hölderlin, sogar das Euch<br />

so gewogene Fräulein Droste-Hülshoff warten schon<br />

auf Euch! Setzt Euch getrost dazu, ja, so ist es schön.<br />

Und schaut, da ist sogar ein großes Stück Käsekuchen<br />

auf Eurem Teller bereitet. Lasst es Euch munden,<br />

Herr Geheimrat!«<br />

Goethe lächelte, und ein Appetitfaden zog sich an<br />

seinem Mundwinkel herunter. Schwester Amalia entfernte<br />

sich. Sie wusste mittlerweile, wie man Goethe<br />

nehmen oder, wie sie es nannte, »lesen« musste. Früher<br />

hatte sie ihn einfach mit Gewalt an den Ess- oder<br />

Kaffeetisch zu schieben und zu zerren versucht. Goethe<br />

aber war das zu hoch, er rief »Fort! Fort! In die<br />

Ecke, Besen!«, kniff sie, schimpfte sie am Ende gar<br />

»dummes Stinkloch«. Kujoniert worden war sie von<br />

dem alten Sauranzen und Scheißmatz!<br />

Uhrzeit und Pünktlichkeit hatten für Goethe jede<br />

Bedeutung eingebüßt. Zwar dachte er ständig ans Essen,<br />

aber auch die Essenszeiten kümmerten ihn nicht<br />

<strong>mehr</strong>. Wenn es ihn hinausdrängt ins Freie, dann will<br />

er los, geschwind zu Pferde! »Lüfte deinen Sitz, Schwager<br />

Kronos«, ruft er, »ich komme!«<br />

Und das nicht nur tags; nachts ist es oft ein Gleiches.<br />

Dann wandert Goethe, während in allen Zimmern<br />

Ruh’ ist, durch die Gänge des Pflegeheims in<br />

Weimar am Frauenplan, und ist es ein Glück, wenn<br />

ihm Schwester Ottilie begegnet, die artig fragt: »Herr<br />

Geheimrat, Ihr wollt in Euer Gemach? Kömmt, ich<br />

mache Euch auf!« »Ach, da weißt du <strong>mehr</strong> als ich,<br />

mein Kind!«, erwidert Goethe erfreut und tätschelt<br />

der Schwester das Pfötchen: »Dank dir, Ottilie!«<br />

Brav betritt Goethe sein Zimmer, setzt sich auf den<br />

Schreibtischstuhl und lässt unter sich. Dass itzt die<br />

Schwester unschicklich aufschreit und ihn in groben<br />

Worten schilt, kann er nicht verstehen. Sie hat ihn<br />

doch hierhergeführt!<br />

Fürwahr, schwer ist dem Herrn Geheimrat oft ums<br />

Herz. Ein widriges Geschick treibt seine Foppereien<br />

mit ihm! Da leben zum Exemplum hier im Hause<br />

die beiden Theodore, Storm und Fontane – wie soll<br />

er die bei diesem Vornamen denn auseinanderhalten?<br />

Item die Musizi Schubert und Schumann, die<br />

leugnen, miteinander verwandt zu sein!<br />

Nein, Goethe musste fort! Und reitet los bei Nacht<br />

und Wind, an alten Weiden vorbei, Nebel streift ihn<br />

wie ein Gespenst, doch er hat das Kind in seinem<br />

Arm, er fasst es sicher, hält es warm. »Was zieht Ihr<br />

für ein banges Gesicht?« – »Ich sehe den Erlkönig<br />

vor mir, ganz dicht!« – »Aber Herr Geheimrat, ich<br />

bin’s, Nachtschwester Ulrike! Führen wir denn wieder<br />

Selbstgespräche?«<br />

»Ah! Das ist gut, dass du da bist, Ulrike!«, merkt<br />

Goethe auf und fodert mit wiedergewonnener Überlegenheit:<br />

»Gib mir das grüne Wams.« – »Jetzt? Es<br />

ist Schlafenszeit!« – »Mich bekümmern Zeiten nicht<br />

<strong>mehr</strong>, sondern nur das Essen, das weißt du doch, Kindchen.<br />

Und ist jetzt Essenszeit?« – »Nein, Herr Geheimrat.«<br />

– »Na, siehst du. Also gib mir das grüne<br />

Wams.« – »Ist Euch denn kalt?« – »Wahrlich, hab’ ich<br />

doch sonst nichts an, Riekchen! Und muss annoch hinüber<br />

zu Professor Adorno, über die Straße.« – »Aber<br />

Herr Geheimrat! Ich ziehe Euch besser das Nachtgewand<br />

an.« – »Und darin soll ich hinaus auf die Straße?<br />

Liebes Kind! Gib mir mein Wams.« – »Aber es ist<br />

Zeit, ins Bett zu gehen, Herr Geheimrat.« – »Mein<br />

Wams!« – »Nein!« – »Mein Wams!!«<br />

Eine Erinnerung schoss Goethe durch den Kopf,<br />

eine fürchterliche Ahndung: Du hast es dreimal gesagt!<br />

Tatsächlich ging die Tür auf, und Schwester Amalia<br />

trat ein: »Was ist denn hier los?« An Goethen gewandt:<br />

»Wo wollen wir denn hin, Herr Geheimrat?«<br />

»Zu Professor Adorno! Er gibt in seinem Garten<br />

eine Illumination zu Ehren der klassischen deutschen<br />

Bildung und Kultur!«<br />

»Aber Herr Geheimrat, das hat doch Zeit. Jetzt gehen<br />

wir alle schlafen!« Sie nahm das Wams, heftete<br />

seinen Lieblingsorden an – den der Ehrenlegion, den<br />

ihm Wilhelm II. verliehen hatte – und zog es Goethen<br />

über das Nachthemd, der brav auf seinen Pfühl<br />

glitt. »Warte nur«, flüsterte sie zu Schwester Ulrike,<br />

»balde schnarchet er schon.«<br />

Am nächsten Morgen ist alles vergessen. Als<br />

Schwester Marianne erscheint, ihm aus dem Bette<br />

zu helfen, beim über alles geliebten Hauptgeschäft<br />

zu assistieren, die Windeln zu wechseln und die<br />

Schuhe zu binden, beschwert sich Goethe gleich als<br />

Erstes, dass ihm jemand im Schlaf ein grünes Wams<br />

mit einem kuriösen Klunker übergezogen hat.<br />

Überhaupt, Marianne ist ein Schatz. Sie reicht ihm<br />

beim Frühstück an, sagt ihm auch, wenn er zu kauen<br />

oder zu schlucken vergisst. Ist sowohl Fräulein als auch<br />

schön und könnte gern mit ihm ins Bettchen gehn!<br />

Aber leider ist sie schon über 40 und zu alt für ihn!<br />

Trotzdem, Marianne mit ihrer Frohnatur und Wohlgestalt<br />

regt ihn an, lässt ihn frühlingsfrische Wörter<br />

finden und hat gewiss auch einen Wunderschoß. Dagegen<br />

diese Freifrau vom und zum Stein, die eingebildete<br />

Gans! In einer Tour stellt sie ihm nach, schreibt<br />

ihm Billette für und für. Und ist sogar noch älter als<br />

er, er, äh...<br />

Ja, wie alt war er eigentlich? Öh ... Wie lange weil -<br />

te er schon hier auf der Akademie? Hm ... Längst war<br />

seinem Kopf entglitten, wie er eines Tages beim Ankleiden<br />

die Orientierung verloren hatte. »Wer das<br />

erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen<br />

nicht zu Rande«, hatte er heiter notiert und nicht<br />

geahnt, dass es damit nicht sein Bewenden haben<br />

sollte. Dann fand er von Schiller nicht <strong>mehr</strong> den Weg<br />

nach Hause; irgendwann verlernte er, wie man eine<br />

lockere Schraube festzieht, und endlich wusste er<br />

nicht einmal <strong>mehr</strong>, wer dieser alte Trottel war, der<br />

ihn immerzu im Spiegel verfolgte!<br />

In seinen helleren Augenblicken war Goethen<br />

wohl bewusst, wie sehr ihn manche Kollegen hier<br />

auf der Arbeit inkommodierten. Dieser irre Pastor<br />

Nietzsche zum Beispiel, der immerfort sächsisch deklamiert,<br />

noch dazu welch hanebüchenen Unsinn!<br />

»Edel ist der Mensch, hilfreich und gut«, da lachen ja<br />

die Hühner! Oder dieser Zausel Einstein, der den ganzen<br />

Tag würfelt! Nimmt ihm ein Pfleger endlich Würfel<br />

und Becher weg, schreit und greint der alte Narr:<br />

»Ich spiele Kniffel mit dem lieben Gott!«<br />

Sehr gern sitzt Goethe dagegen mit seinem Freund<br />

Karl May zusammen, der ihm von seinen Reisen<br />

nach Amerika erzählt. Auch über den Doktor Freud<br />

muss er oft schmunzeln, der Schwester Hanna für<br />

seine Tochter Anna hält, ihr jedesmal seinen Sigmund<br />

zeigen will und ihr darob Inzestverlangen vorwirft.<br />

Oder dieser Ausländer, der sich wie König Lear aufführt<br />

und doch bloß ein ungebildeter englischer Kaufmann<br />

ist, wie hieß er gleich ... na ... stattdessen fällt<br />

Geheimrat Dr. jur. Goethe jetzt etwas anderes ein,<br />

zwei Zeilen sind’s, von Eduard Kästner vielleicht:<br />

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n? Ich<br />

kannte es! Und hab’ es leider vergessen.«<br />

Peter Köhler<br />

Zeichnung: Peter Thulke


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FRanK HoPPMann<br />

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Ansichtssachen<br />

Meister der<br />

Komischen Kunst:<br />

Frank Hoppmann,<br />

Verlag Antje Kunstmann,<br />

112 S., 16,00 Euro<br />

Hunter Bund<br />

Till still standing<br />

Angela Dorothea Merkel<br />

Mit Brüsten brüsten<br />

LITERATUREULE 10/12 5


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Die Sprache des Gra u<br />

Lesezeichen: RoBeRt nie Mann<br />

KAT WEIDNER<br />

Das schlechteste Englisch der Welt wird in Rom gesprochen.<br />

Denn in Rom gilt das Motto: Niemand<br />

kann so schnell kein Englisch wie wir! Q.I.E. ist überall:<br />

Quick Italian English. Es klingt wie ein kurzer<br />

Feuerstoß aus einem Maschinengewehr. Das beginnt<br />

bei den Durchsagen auf dem Flughafen und setzt<br />

sich im Hotel fort. Das Pronomen versteht man noch,<br />

der Rest bleibt unklar: »You wonna ssissorset?« –<br />

»Äh … yes.« – »And you wonna ssissorset!« – »Ja, äh<br />

… okay?« Aber zum Glück ist an sol chen Orten ja<br />

nahezu alles selbsterklärend. In meinem Falle bedeutet<br />

es offenbar, dass ich eingewilligt habe, das<br />

gebuchte Zimmer mit Blick auf das Kolosseum gegen<br />

ein Zimmer zu tauschen, das einen Blick auf alles<br />

Mögliche hat, aber nicht auf das Kolosseum. Als<br />

ich vorsichtig darauf hinweise, kriege ich ein Zimmer<br />

auf der anderen Seite. Das Kolosseum ist auch<br />

von dort aus nicht zu sehen. Kein Wunder, es liegt<br />

ja auch ganz woanders, wie ein Blick auf den Stadtplan<br />

zeigt. Als ich den Hotelmanager darauf an -<br />

spreche, dass er in allen Prospekten mit dem großartigen<br />

Blick auf Roms berühmtestes Bauwerk<br />

werbe, dieses jedoch von keinem einzigen Zimmer<br />

aus gesehen werden könne, strahlt er mich an wie<br />

einen Bruder: Das sei ihm auch schon aufgefallen.<br />

Dann beginnt das wirkliche Grau en. Unablässig<br />

und allerorts springen einen freiberufliche Stadt- und<br />

Museumsführer mit einem: »Do you speak English?«<br />

an. War man den einen los, warfen sich zwei andere<br />

in den Weg: »Do you speak English?« Schüttelte man<br />

wahrheitswidrig den Kopf, ratterte es gnadenlos weiter:<br />

»Spanish? French? Russian?« Vor den Vatikanischen<br />

Museen habe ich erst Ruhe, als ich angebe,<br />

eine Führung in Latein zu wünschen. Aber auch damit<br />

kann man wahrscheinlich auf die Nase fallen,<br />

denn wer so perfekt kein Englisch spricht, der kann<br />

möglicherweise auch kein Latein gut.<br />

Vor meiner Reise nach Rom hatte ich mich überwiegend<br />

bei älteren Mitmenschen mit Informationen<br />

über die Ewige Stadt versorgt. Vor Q.I.E. hatte<br />

mich niemand gewarnt. Aber ich wusste, dass es<br />

praktisch unmöglich ist, einen Romaufenthalt lebend<br />

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KAT WEIDNER<br />

uens<br />

zu überstehen. Wenn man Rom bereiste, trug man<br />

daher am besten eine schusssichere Weste, schwere<br />

Lederstiefel sowie einen Helm. Es war ratsam, diese<br />

Bekleidung auch im Hotelzimmer niemals abzulegen,<br />

die Fensterläden stets fest verschlossen zu halten<br />

und die Nachtruhe im Zimmersafe zu verbringen,<br />

aber erst, nachdem man den Kleiderschrank<br />

vor die Tür geschoben und mit einer kleinen Reiselandmine<br />

taktisch gesichert hatte.<br />

In Rom, so war ich vorinformiert, sind zudem auf<br />

den Straßen überall mit zwei Mann besetzte Motorroller<br />

unterwegs. Der Hintermann entreißt einem<br />

hinterrücks die Handtasche. Gibt man die nicht frei,<br />

wird man mitgeschleift – bis nach Neapel, wo man<br />

blutig auf einem von der Mafia bewachten Müllberg<br />

aufschlägt. Mei ne Erwartungen waren hoch. Sogar<br />

eine Handtasche nahm ich mit. An mir sollte es<br />

schließlich nicht liegen! Die Schilderungen waren<br />

so plastisch, dass ich mich bereits im Flugzeug bei<br />

jedem Geräusch erwartungsvoll nach einer von hinten<br />

kommenden Vespa umschaute.<br />

Alles vergebens. Denn die Vespas in Rom sind inzwischen<br />

sehr viel leiser als noch vor einem Jahrzehnt.<br />

Das martialische Geknatter von früher, als<br />

man immer dachte, man sei aus Versehen in ein Artilleriegefecht<br />

geraten, ist dahin. Die Roller surren<br />

nur noch wie eine elektrische Nähmaschine. Oder<br />

wie ein das Ti-Eitsch übender Italiener. Kein Wunder,<br />

dass kein römischer Heranwachsender noch Lust<br />

verspürt, mit so etwas Raubüberfälle zu begehen.<br />

Geklaut wurde mir aber auch sonst nichts. Stattdessen<br />

war ich es, der fremdes Eigentum in Besitz<br />

nahm. Auf einer Parkbank lag ein verlassener Reiseführer.<br />

Bis auf die Seite mit dem Forum Romanum,<br />

wo offenbar einmal eine Scheibe Schinken als Lesezeichen<br />

eingelegt worden war, ist er in gutem Zustand.<br />

Aber auf Lettisch. Das ist ganz wunderbar:<br />

Wenn man es sich ganz schnell selber vorliest, klingt<br />

es fast wie Q.I.E. Was bedeutet: Man versteht nicht<br />

das Mindeste. Aber es ist ganz nahe dran am Originalsound<br />

von Bella Roma!<br />

Rober Niemann:<br />

Besser ein Vorurteil<br />

als gar keine Meinung,<br />

<strong>Eulenspiegel</strong>-Verlag,<br />

144 Seiten, 7,95 Euro<br />

Klassiker neu gelesen:<br />

Saure Gurken,<br />

trübe Tassen<br />

Dostojewskis »Schuld und Sühne« im<br />

Zerrbild der Clowniteskaja<br />

Weiße Gesichter, rote Nasen, Pluderhosen und<br />

Quadratlatschen in Clownsgröße – so erfreuen<br />

sie uns bereits seit Jahrhunderten: die Possenreißer<br />

und Spaßmacher, die Harlekine und Pantomimen,<br />

die Narren dieser Welt. Denn sie halten<br />

den Mächtigen in ihrer unbeholfenen Andersartigkeit<br />

ihren Schminkspiegel vors Gesicht. Kein<br />

Wunder also, dass in so vielen literarischen Meisterwerken<br />

dem Clown eine zentrale Rolle zugedacht<br />

ist.<br />

Ich sitze auf einem Treppenabsatz eines Hauses<br />

in der Nähe des Petersburger Heumarkts und<br />

mümmele lustlos meine Lunchbemmen, die mir<br />

meine Wirtin, eine gewisse Amália Lippewechsel,<br />

für einen Wucherpreis geschmiert hat. Auf der<br />

Suche nach den Clowns befinde ich mich gerade<br />

auf einer Lesereise durch Dostojewskis »Schuld<br />

und Sühne«. Den ganzen Tag schon bin ich durch<br />

stinkende Querstraßen und Gassen, billige Kaschemmen<br />

und beklemmende Dachstuben gepilgert<br />

und habe mit Bettlern und Betrunkenen, mit<br />

Soldaten und Dirnen gesprochen. Einen Clown<br />

jedoch konnte ich in dem Wimmelbild des bunten<br />

Treibens bislang nirgends ausmachen.<br />

Ein junges Pärchen, Rucksackliteraturtouristen<br />

aus Ibbenbüren, leistet mir Gesellschaft. Gemeinsam<br />

warten wir auf die Literaturführung durch<br />

das Mordhaus. Ob sie denn schon Clowns oder<br />

Pantomimen gesehen hätten, frage ich sie. Nein,<br />

das nicht. Aber sie hätten auch nicht so darauf<br />

geachtet, weil sie wegen der Rettung der Wale<br />

hier seien. Die junge Frau, eine etwas käsige und<br />

sehr neunmalkluge Germanistikstudentin im 17.<br />

Semester, schlägt mir vor, ich solle mal Bölls Ansichten<br />

eines Clowns lesen oder den Yorick aus<br />

der Friedhofsszene im Hamlet studieren. Ich erkläre<br />

freundlich, dass mein spezielles Interesse<br />

dem Pierrot des russischen Unifor malismus gelte,<br />

da osteuropäische Clowns wie Oleg Popow oder<br />

Boris Jelzin besonders viel Melancholie bzw. Alkohol<br />

ausatmeten. In Wahrheit war Böll vergriffen,<br />

und Yorick ist mir zu hirntot.<br />

Inzwischen ist der Literaturführer eingetroffen.<br />

Er zeigt uns eine Wohnung im zweiten Stockwerk,<br />

die gerade renoviert wird. Ich frage einen der Handwerker,<br />

ob man nicht vielleicht eine Clowns-Tapete<br />

anbringen und den Raum mit ein paar Harlekin-Puppen<br />

aufrüschen könne. Der etwas tumbe<br />

Mensch, ein Gastarbeiter aus Lortzings Zar und<br />

Zimmermann, schüttelt schwerfällig den Kopf und<br />

versteift sich auf die weithergeholte These, dass<br />

sich das Absurde Theater mit dem Russischen Realismus<br />

beißen würde.<br />

Über uns ertönt plötzlich ein spitzer Schrei.<br />

Wir hören etwas Schweres auf den Boden knallen.<br />

»Das wird wahrscheinlich nur die <strong>Alte</strong> sein,<br />

die gerade von diesem jungen Taugenichts umgebracht<br />

wird«, erklärt uns einer der Handwerker<br />

gelangweilt. <strong>Immer</strong>hin – das ist das Lustigste,<br />

was mir in diesem Roman bislang passiert ist,<br />

seitdem im zweiten Kapitel ein Teller mit sauren<br />

Gurken gereicht wurde.<br />

Ich verabschiede mich von dem Pärchen aus<br />

Ibbenbüren, das in der Etagentoilette eine größere<br />

Walpopulation gesichtet haben will. Sie wünschen<br />

mir noch viel Glück bei meiner Suche nach<br />

den Clowns. Aber mir ist längst klar geworden,<br />

dass Schuld und Sühne in erster Linie ein Buch<br />

über unnötige Wanderschaften ist, und dass ich<br />

es gar nicht abwarten kann, wenn in knapp neunzig<br />

Jahren die Petersburger Metro ihren Betrieb<br />

aufnimmt. Meine viel zu großen Sohlen qualmen<br />

vor Wut, und ich frage mich, ob sich auf einer der<br />

folgenden rund 650 Seiten überhaupt noch mal<br />

ein Clown blicken lassen wird. Ich habe die<br />

Schnauze voll vom Kaffeesatzlesen in einer trüben<br />

Tasse.<br />

Also lege ich das Buch beiseite und widme mich<br />

einer <strong>Eulenspiegel</strong>ei, bei der die Schuldfrage noch<br />

ungeklärt, die ungewollte Clownerie aber garantiert<br />

gesühnt wird: Angela Merkels Regierungserklärung<br />

zum Fiskalpakt.<br />

Michael Kaiser<br />

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Biskupeks auslese (i)<br />

Belle triste<br />

Ein großer Verlag macht derzeit sein<br />

großes Geschäft mit Texten, die angeblich<br />

ein geheimes Verlangen des Publikums,<br />

speziell des weiblichen, ausdrücken:<br />

sich mit allerlei Marterinstrumenten<br />

traktieren zu lassen. Und so bleibt<br />

es an kleinen Editionshäusern, das einstige<br />

Hauptgeschäft zu übernehmen:<br />

eher leisen Gedichten oder Theatermonologen,<br />

die sich nicht als Event vermarkten<br />

lassen, zu einer Öffentlichkeit<br />

zu verhelfen.<br />

In Sina Gumpert war ich jung verliebt<br />

(mitteldeutscher verlag) ist so einer,<br />

wir hören, wie die I’s und die U’s einander<br />

umschlingen und miteinander<br />

schnäbeln (auch ein hübsches Wort aus<br />

dem vergangenen Jahrhundert). Wir begreifen,<br />

wie Sina Gumpert uns auslächelt;<br />

Sina Gumpert, die eben nicht<br />

Mandy Schober heißen darf, obwohl sie<br />

vermutlich wie Mandy Schober aussieht<br />

und die Herzen und Unterhosen der<br />

Jungs in angespannte Sphären versetzt.<br />

In Graz beim Literaturverlag Andre Schinkel nennt sein Gereimtes<br />

Droschl erschienen Gedichte des Augsburger<br />

Buchhändlers Max Sessner:<br />

Warum gerade heute. Wem da ein<br />

Fragezeichen zu fehlen scheint, der mag<br />

das erste Gedicht des Bandes »Eine<br />

Frage bitte« lesen.<br />

★<br />

Die kleinen Verlage bringen es gelegentlich<br />

auch fertig, ihre Bücher so auszustatten,<br />

dass man sie gern zur Hand<br />

nimmt. Das ist bei der »Edition Ornament«<br />

so, die im quartus Verlag, der im<br />

Dorf Bucha seinen Sitz hat, ihren Vertrieb<br />

gefunden hat. Die schmalen<br />

schwarzen Bände erinnern mit ihren<br />

aufgeklebten Titel-Etiketten, mit Lesebändchen,<br />

farbigem Vorsatzpapier und<br />

beigefügten Grafiken an die legendären<br />

Bücher des Kurt Wolff Verlages vom<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts. Herausgeber<br />

Jens-Fietje Dwars hat einem jungen<br />

Autor ein Podium geboten, der wiederum<br />

einem ollen Protokollanten die<br />

Ehre gibt. Jan Decker: Eckermann<br />

oder die Geburt der Psychoanalyse<br />

– Theatermonolog in drei Bildern<br />

mit Zeichnungen von Kay Voigtmann.<br />

In diesem Stück soll der brave Eckermann<br />

begründen, warum er immer<br />

wieder scheiterte, an sich und natürlich<br />

an Goethe. Ob das spielbar ist, bleibt<br />

vorerst eine Frage, gut lesbar ist es,<br />

meint der Rezensent, Vertreter einer<br />

Spezies, die Goethe bekanntlich gern<br />

totschlagen ließe.<br />

★<br />

Manche Buchtitel schwingen, Vokale<br />

trällernd, so hübsch in die Welt, dass<br />

man sie gern als Belletristik akzeptiert.<br />

»Übermütige Texte«, und die Nach-<br />

rede über ihn vermeldet: »lebt als steckbrieflich<br />

gesuchter Aufschneider, Daktylen-Sumotori<br />

und wandelndes Synthiepop-Lexikon<br />

in der düsteren Provinz<br />

Hallodristan«. Schinkels »Lob der guten<br />

Tat«, das die Luther-Dekade in ihrer landschaftlichen<br />

Gebundenheit preist und<br />

lobt, dürfen wir zur Hälfte zitieren: »Hinter<br />

Torgau musste Luther kacken, / Es<br />

erwischte ihn am Waldrand kalt; / Man<br />

sah beherzt die Kutte sacken / Und hörte,<br />

wie’s im Strauchwerk knallt. // Bald erleichtert<br />

trat der Reformator / Befreit<br />

und blass zum Wäldchen raus – / Ach,<br />

es wäre jetzt ein Ventilator / Gut … der<br />

den Geruch zerbraust …« Wer nun noch<br />

wissen will, was Angela (»schläfrig«) und<br />

Guido (»kühl und käfrig«) im Reime miteinander<br />

machen, der muss die Seite 32<br />

dieses Werkes lesen.<br />

★<br />

Eine Literaturtasche Wortwechsel<br />

bleibt zu begutachten – in der Tat ein<br />

elfenbeinfarbenes, textiles Beutelchen,<br />

das neben einzeln gehefteten Gedichten<br />

u. a. von Daniela Danz, Alban Nikolai<br />

Herbst und Jan Volker Röhnert Briefe<br />

zum Elend der deutschen Literatur-Alltagspraxis<br />

enthält. Und damit es auch<br />

überall käuflich ist, besitzt es eine ISBN,<br />

nämlich diese: 978-3-936305-25-8. Meines<br />

Erachtens ist das die erste ISBN für<br />

einen Stoffbeutel. Die Herausgeber Romina<br />

Voigt & Moritz Gause bestehen<br />

übrigens darauf, dass die Herstellung<br />

der Tasche in mühevoller Handarbeit<br />

durch echte, lebendige Dichter erfolgte.<br />

Wie schreibt man einen Roman?<br />

Gebraucht wird zuerst ein Thema.<br />

»Ein Thema« beginnt mit »ein«, das<br />

merken wir uns. Dann benötigen wir<br />

einen Helden. »Einen Helden« endet<br />

zweimal mit »en«, eins davon prägen<br />

wir uns fest ein. Schließlich brauchen<br />

wir noch Rotwein, das meiste davon<br />

schlucken wir runter, nur das »Ro« behalten<br />

wir im Kopf. Schließlich wird<br />

neues aus der Literaturwissenschaft<br />

Mehr als der Inhalt verrät uns die<br />

Sprache eines Buches über den<br />

Autor. So stammen z.B. Bücher, die in<br />

russischer Sprache verfasst sind, nicht<br />

selten von einem Menschen jenseits<br />

der polnischen Grenze.<br />

Leider wird wohl das Lesen nicht<br />

<strong>mehr</strong> olympische Disziplin. Da<br />

man heutzutage mit einem Buch in<br />

BECK<br />

beim Schreiben »manche Stunde«<br />

draufgehen, von der wir uns das<br />

»man« merken wollen.<br />

Wenn wir nun unser Gedächtnis<br />

durchforsten, alles zusammenfügen<br />

und aufschreiben, was haben wir dann<br />

geschrieben? Richtig: »einen Roman«.<br />

Fertig!<br />

Ove Lieh<br />

JAN TOMASCHOFF<br />

der Hand immer häufiger scheel angeguckt<br />

wird, hat es aber gute Chancen,<br />

wenigstens paraolympisch zu werden.<br />

Warum gibt es keine Nachttischlampen<br />

für Katzen? Ganz einfach:<br />

weil sie düstere Romane auch<br />

im Dunkeln lesen können.<br />

Dirk Werner<br />

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innovative textgestaltung<br />

Zunächst, scheint uns, sollten Texte<br />

aus Buchstaben bestehen, die zu Wörtern<br />

zusammengesetzt werden.<br />

Wie man schöpferisch Ziffern integrieren<br />

kann, um sie aus den Fängen<br />

der Mathematiker zu befreien, die sie<br />

nicht selten als gebrochene Zahlen hinterlassen,<br />

führt Büchner-Preisträger<br />

Reinhard Jirgl vor.<br />

Er schreibt zum Beispiel statt »eindeutig«<br />

innovativ »1deutig« und<br />

macht das Wort damit <strong>mehr</strong>deutig,<br />

was bei »eindeutig« eindeutig lustig<br />

ist. Denn es liest sich jetzt auch als<br />

Eins-deutig, also auf die Eins gerichtet,<br />

was wiederum bedeuten könnte<br />

»zum Besseren hin« oder zum Wenigen<br />

oder einfach nach links, wenn<br />

man sich mal einen bei Null beginnenden<br />

Zahlenstrahl vorstellt.<br />

Texte werden so noch ~~~deutiger<br />

(<strong>mehr</strong>deutiger oder Meer-deutiger),<br />

was zugleich auf ein größeres Gewässer<br />

hinweisen kann. Die Methode<br />

hat Potenzial. Man könnte etwas unauffälliger<br />

über 6 schreiben. Oder<br />

missverstehen, wenn jemand 9 sagt,<br />

aus der Bücherwelt<br />

Herr Kachelmann. Darauf sollten wir<br />

<strong>mehr</strong> 888 (achten). Man spart etliches<br />

an Tinte %imeter. Jedenfalls wenn<br />

man außer Ziffern noch Zeichen und<br />

Bilder, aber keine Buchstaben <strong>mehr</strong><br />

benutzt.<br />

Allerdings wäre das 1deutig nicht<br />

neu, sondern eine 3ste Nachahmung.<br />

Ove Lieh<br />

Die Buddenbrooks hatten »Krieg und<br />

Frieden« nie gelesen, aber hassten es.<br />

Ähnlich war es um Ulysses bestellt:<br />

Die »Odyssee« konnte er nicht ausstehen.<br />

Was sollte das für eine Odyssee<br />

sein, in der der Held nicht mal nach<br />

Irland, geschweige denn Dublin kam!<br />

Ganz und gar nicht grün waren sich<br />

auch Effi Briest, Madame Bovary und<br />

Anna Karenina. Aber gegen Jane Grey,<br />

Emma und diese aus Stolz und Vorurteil<br />

bestehende Elizabeth Bennet<br />

oder wie diese Engländerinnen auf der<br />

Jagd nach dem Märchenprinzen alle<br />

hießen, hielten sie zusammen wie<br />

Pech und Schwefel.<br />

Alle, ausnahmslos alle, von Gilgamesch<br />

und Sinuhe über Hamlet und<br />

Faust bis zu Zeno Cosini und dem großen<br />

Gatsby, erschauderten, wenn die<br />

Blechtrommel geschlagen wurde.<br />

Kotz!<br />

Peter Köhler<br />

Die traumpaare der Weltliteratur<br />

Macky Messer<br />

und Hedda Gabler<br />

Winnetou<br />

und Lady Chatterley<br />

Moby Dick<br />

und Daisy Duck<br />

Balu<br />

und Lulu<br />

John Silver<br />

und Goldmund<br />

MIROSLAV BARTÁK<br />

Kriki<br />

Biskupeks auslese (ii)<br />

Criminale<br />

Ein Krimi sollte vor allem ordentlich Autor lernfähig ist, verzichtet er demnächst<br />

auf die Verquickung von »Sta-<br />

ausgerechnet sein; eine vernünftige<br />

Sprache ist nicht von Schaden, und sioffizier« und »VEB Plaste und<br />

wenn dann die Spannung immer mal Elaste«. Derlei mag allein noch Darmstädtern<br />

imponieren, deren Horizont<br />

wieder ansteigt, ist das Sommerloch<br />

im Kopf des Lesers gefüllt.<br />

hinter Bebra endet.<br />

Die Rachegöttin (Rotbuch) hat<br />

★<br />

Christa Faust klug komponiert und An Tote Fische beißen nicht (List)<br />

Gerold Hens ganz ordentlich ins Deutsche<br />

gebracht. Es »sagt« zwar in jeder nellste: Auerbach & Keller. Die bei-<br />

sind die Autorennamen das Origi-<br />

fünften Zeile, ab und zu »fragt« und den Damen tauchen in ihrem Fall, der<br />

»antwortet« es auch; das heißt dann in Südfrankreich spielt, sogar mal<br />

wohl werkgetreue Übersetzung. selbst auf. Das versöhnt leider nicht<br />

Die Story ist die Fortsetzung der mit der biederen Geschichte. Pippa<br />

Abenteuer des ehemaligen Porno-Stars Bolle, ermittelnde Heldin, möchte als<br />

Angel Dare; gelegentlich wird auf das Übersetzerin ihr Geld verdienen und<br />

bloße Vorleben verwiesen. Weil jene streut immer mal längliche Betrachtungen<br />

zur Sprache ein. Ansonsten geht<br />

Angel ihre Geschichte erzählt, wissen<br />

wir, sie darf auch zum Schluss noch leben,<br />

nachdem sie einen Schützling, ei-<br />

die als verquält Spätpubertierende auf-<br />

es um eine angelnde Männergruppe,<br />

nen »verdammt gut aussehenden Kleinen«<br />

zu einer Fernsehshow »All Ame-<br />

gutgetan, aber wohl nicht viel retten<br />

treten. Eine Prise »Rachegöttin« hätte<br />

rican Fighter« nach Las Vegas gebracht können. Witzig ist das Umschlagbild<br />

hat. Übrigens erfolglos, was dem Genre von Gerhard Glück, aber mit 8,99 etwas<br />

zu teuer bezahlt.<br />

etwas widerspricht. Wer vom Krimi<br />

Grausamkeit, gern auch sexuelle, erwartet,<br />

ist hier genau richtig. An den Der Einfall für Meer Morde (Diana<br />

★<br />

Beschreibungen scheint ein gewisser Verlag): Nimm einen griesgrämigen<br />

Chandler mitgestrickt zu haben; insgesamt<br />

gibt es viele Leichen, leider trifft’s Assistentin mit Küchenkenntnissen,<br />

Kommissar mit Hund, Polizeischülerdie<br />

Guten, auf die wirklich Bösen (Kroaten!)<br />

wartet nun die Fortsetzung. Nordseeküste hinzu und verteile das<br />

gebe nacheinander vier Inseln von der<br />

★<br />

Spielmaterial unter vier Autoren (Michael<br />

Koglin, Philip Tamm, Andrea Va-<br />

Mit nur zwei sprechenden Personen<br />

kommt Christian Gudes Kammerspiel<br />

(Gmeiner) aus. Der Darmstäd-<br />

sich nun alle redlich, im »Blutigen<br />

noni und Regula Venske). Die mühen<br />

ter Privatdetektiv Rünz wird von einem<br />

Psychiater mit einer Suche benügend<br />

Leichen zu verstecken und ei-<br />

Watt« oder »Tödlichen Strandgut« geauftragt.<br />

Allein in Dialogen (drei Akte nen Fall abzuschließen. Dabei <strong>müssen</strong><br />

mit Zwischenspielen) wird die Geschichte,<br />

lokal geerdet, nach und nach lesen haben – Schluss-Autorin Vens -<br />

sie ihre jeweiligen Vorschreiber gut ge-<br />

entwickelt. Und immer wieder gebrochen.<br />

Gude beherrscht das Genre, den Kommissar bereits ein Buch vor-<br />

ke darf auch noch einen Fall lösen, der<br />

spielt mit allen Erwartungen, zeigt her (»Blutiger Advent«) zunächst in<br />

sich als Meister jäher Wendungen und den Aktenkeller verbannte. Wie das<br />

unerforschlicher Ratschlüsse (vgl. J. W. alles aus-, um- und zusammengerechnet<br />

wurde, darüber müss te Herausge-<br />

Stalin), bringt Ex-Frau, Neu-Freundin<br />

und jede Menge Whiskymarken ins berin Uta Rupprecht den Abschlussbericht<br />

verfassen. Doch dessen Anfer-<br />

lustvolle Spiel. Wenn der Leser ein<br />

Kenner von Krimi-Strukturen ist, hat tigung ist nicht nur bei deutschen Polizisten<br />

er doppelten Genuss – und wenn der unbeliebt.<br />

LITERATUREULE 10/12 9


Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 10<br />

Biskupeks auslese (iii)<br />

<strong>Immer</strong> sachlich<br />

Das gute Buch<br />

Was sind Schriftstellerbiografien?<br />

Manche geben sich als Romane eines<br />

Lebens, andere zählen sachlich Lebensstationen<br />

auf. Zum hundertsten Todestag<br />

und dem hundertsiebzigsten Geburtstag<br />

hat Karl May dieses Jahr viel<br />

Nachruhm erfahren. »Eine sächsische<br />

Biografie« nennt Klaus Walther sein<br />

im Chemnitzer Verlag erschienenes<br />

Kompendium. Bemerkenswert, dass<br />

der Autor auf zwei Seiten die Biografien<br />

der Konkurrenz lobt und mit kollegialer<br />

Fairness kurz vorstellt (»die<br />

vielleicht schönsten Lebensdarstellungen«,<br />

»es gibt nichts an Ereignissen,<br />

Daten und Fakten, die man hier nicht<br />

finden könnte«, »liest man mit Vergnügen<br />

den Karl-May-Roman von Erich<br />

Loest«). Eine Novum in diesem Büchlein:<br />

die Karl-May-Orte mitsamt ihren<br />

Reliquien. An die sechzig sind es in Mitteleuropa,<br />

darunter ganz abenteuerlich<br />

auch Höhlen und Gipfelkreuze. Im Geburtsort<br />

Hohenstein-Ernstthal finden<br />

sich überall Wohnhäuser, Schulen, Kirchen,<br />

Bahnhof und Buchhandlung, die<br />

vom Karl-May-Leben künden – und<br />

gar viele Kneipen.<br />

★<br />

Als Abenteuerautor gilt gelegentlich<br />

auch Joseph Conrad, auch ihn<br />

erreichten erst spät Ruhm und Geld.<br />

Renate Wiggershaus beschreibt in<br />

ihrer dtv-Biografie die polnische Kindheit<br />

des Konrad Korzeniowski in zaristischer<br />

Verbannung, die Seemannsjahre<br />

in aller Welt, als er das Kapitänspatent<br />

erwarb und nicht nur den Geburtsnamen,<br />

sondern auch die Muttersprache<br />

zugunsten des Englischen<br />

ablegte – der Autor großer Romane<br />

soll aber bis ins <strong>Alte</strong>r mit deutlichem<br />

Akzent gesprochen haben. Als Mittvierziger<br />

erhielt er eine Zuwendung<br />

von 300 Pfund vom Royal Literary<br />

Fund zur Milderung der desolaten finanziellen<br />

Situation; auch damals<br />

wurden Nachwuchsautoren gefördert.<br />

★<br />

Streitschriften sind meist dünne Bücher,<br />

bei Jutta Ditfurths Worum es<br />

geht (Rotbuch) gilt das im übertragenen<br />

Sinn. Die einstige Grüne, die es<br />

versteht, alle früheren Freunde zu Gegnern<br />

werden zu lassen, erklärt auf 50<br />

Seiten, wie die Welt geregelt werden<br />

müsste. Die Autorin gibt sich heftig<br />

antireligiös, verurteilt aber Islamphobie<br />

als Grundübel der westlichen Welt.<br />

Das Allerschlimmste ist ihrer Meinung<br />

nach die Occupy-Bewegung,<br />

nämlich eine »weit offene Flanke«. Bei<br />

den Versuchen, starke Bilder (!) zu<br />

schmieden (!), wird es lustig: Hungersnöte<br />

»breiten sich wie Wüstensand<br />

aus«, Angst wird »geschärft«, »trojanische<br />

Pferde galoppieren als Kavallerien«<br />

heran, ein »stählerner Wille«<br />

lässt Menschen sterben, und »Tote sind<br />

nur eine Nadelspitze der Eisbergkette«.<br />

★<br />

Ingo Schulze ist nun einer, der mit<br />

Sprache umgehen kann, und so wird<br />

bei ihm auch eine »gegen marktkonforme<br />

Demokratie – für demokratiekonforme<br />

Märkte« gerichtete Streitschrift<br />

zum Lesegenuss. Nicht nur,<br />

weil er Andersens berühmtes Kaiser-<br />

Märchen in Unsere schönen neuen<br />

Kleider (Hanser Berlin) zur Gänze zitiert,<br />

sondern weil er Wörter befragt:<br />

Zwar ahnt jeder, dass »Arbeitgeber«<br />

Leute sind, die Arbeitskraft nehmen,<br />

man muss es aber auch aussprechen.<br />

Und dass »gelenkte« (ganz böse, weil<br />

von Putin) und »marktkonforme«<br />

(sehr gut, weil von Frau Merkel) Demokratie<br />

sich gleichen, steht hier klug<br />

formuliert.<br />

Der Text geht auf eine Rede zurück,<br />

die Schulze am 26. Februar 2012 in<br />

Dresden gehalten hat. Und so kann<br />

man jetzt nachblättern, wie der<br />

Schluss von Andersens Märchen wirklich<br />

lautet. Dass das Volk, von einem<br />

kleinen Jungen angeregt, ruft: »Aber<br />

er hat ja gar nichts an!«, hat der Märchenkenner<br />

noch im Ohr. Doch die<br />

letzten zwei Sätze beschreiben viel anschaulicher<br />

unsere gegenwärtige Welt:<br />

Der »Kaiser (…) dachte bei sich: ›Nun<br />

muss ich aushalten.‹ Und die Kammerherren<br />

gingen und trugen die Schlep -<br />

pe, die gar nicht da war.«<br />

Und so muss man auch nicht wie<br />

Frau Ditfurth lauthals und in schiefen<br />

Bildern mitteilen, was das Volk weiß;<br />

viel ersprießlicher – und nützlicher –<br />

ist es, jene Kammerherren zu beschreiben,<br />

die eine Schleppe tragen, die gar<br />

nicht da ist.<br />

ARI PLIKAT (2)<br />

BERND ZELLER<br />

10 LITERATUREULE 10/12


Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 11<br />

Lesezeichen: KonStantin WeCKeR<br />

Jeder Augenblick<br />

Allein<br />

Da waren doch so viele Tage<br />

und sie verflogen im Nu.<br />

Und jetzt bleibt die quälende Frage:<br />

Wozu?<br />

Wozu nur dieses Gegockel<br />

und all die Angebereien.<br />

Am Ende fällst du vom Sockel.<br />

Allein.<br />

Alleine mit deinen Migränen,<br />

trotz Rente und Zugewinn.<br />

Es fehlte den Lebensplänen<br />

der Sinn.<br />

Askese und Ekstase,<br />

du warst nie wesentlich.<br />

Nur eine Seifenblase:<br />

dein Ich.<br />

Das meiste war unverständlich,<br />

trotz Stunden des Lichts.<br />

Wie alles zerfällst du letztendlich<br />

in nichts.<br />

Warum sich ans Leben krallen,<br />

lass aus und lass dich ein.<br />

Du findest nur im Zerfallen<br />

dein Sein.<br />

Surfen und Schifahren,<br />

Schifahren und Surfen.<br />

Im Winter Surfen,<br />

im Sommer Schifahren.<br />

Frühjahr und Herbst:<br />

Schisurfen,<br />

später dann<br />

Schurfen und Sifahren<br />

Sifahren und Schurfen.<br />

Im Winter Schurfen,<br />

im Sommer Sifahren.<br />

Im Herbst Schischurfen.<br />

Abends hat man sich viel zu sagen:<br />

Schurfen Schie auch, Fräulein?<br />

Nein, ich schare nur Schi.<br />

Schade.<br />

Ich und Goethe<br />

Manchmal wär ich gerne weise,<br />

möchte mild, vor allem leise<br />

über Idioten lächeln,<br />

nicht <strong>mehr</strong> hinter Mädchen hecheln.<br />

Auf der Parkbank ab und an<br />

ein Gespräch von Mann zu Mann<br />

oder mit den Göttern scherzen,<br />

all die großen, kleinen Schmerzen<br />

aus dem Körper meditieren,<br />

Jugendliche faszinieren<br />

und selbst diese Eitelkeiten<br />

lässig schwebend überschreiten.<br />

Lächelnd mit dem Sensenmann<br />

Sechsundsechzig spieln und dann<br />

ungeniert das Spiel verlieren<br />

und verklärt ins Grab stolzieren.<br />

Leider lehrt uns die Geschichte,<br />

dass entsprechende Berichte<br />

zwar galant die Nachwelt schmücken,<br />

doch die Wahrheit unterdrücken.<br />

Denkt nur an den großen Meister<br />

Goethe, Johann Wolfgang heißt er<br />

der begann in hohem <strong>Alte</strong>r<br />

hinter Mädchen, wie ein Falter<br />

in den letzten Sommertagen<br />

greisengierig herzujagen.<br />

Und man mag es kindisch nennen,<br />

hinter Röcken herzurennen,<br />

wenn dir schon der Zahn der Zeit<br />

jegliche Standhaftigkeit<br />

sportlich oder überhaupt<br />

eigentlich nicht <strong>mehr</strong> erlaubt<br />

und ich will auch, ganz bescheiden<br />

jede Anmaßung vermeiden,<br />

doch ich fürchte, diese Nöte<br />

teile ich dereinst mit Goethe.<br />

Noch ’ne Erinnerung an Marie A.<br />

(für B.B.)<br />

Wir trafen uns in einem Regenbogen,<br />

der Regen war schon lange fortgezogen,<br />

nur noch des Bogens Bogen spannte sich<br />

uns übers Haupt und glänzte fürchterlich.<br />

Du warst im Blau und ich im Rot gesessen,<br />

wir haben fast die Welt um uns vergessen,<br />

da drücktest du dir einen Pickel aus,<br />

der war sehr weiß und sah sehr picklig aus.<br />

Ich will dagegen allgemein nichts sagen,<br />

denn jeder kann mal einen Pickel haben.<br />

Jedoch zur Zeit der höchsten Weltentrückung<br />

verschafft derselbe seltene Verzückung.<br />

Du pickeltest, nun gut, ich sah zu Boden,<br />

der Regenbogen hat sich schon verzogen,<br />

kaum war noch Blau, kaum war noch Rot zu sehn.<br />

Nur noch der Pickel war sehr weiß und blieb bestehn!<br />

Werd mich also weder weise<br />

noch behutsam oder leise,<br />

eher jammernd, tobend, kreischend<br />

und vor Angst ins Betttuch scheißend<br />

weigern, zitternd um mein Leben,<br />

meinen Löffel abzugeben.<br />

KALLE<br />

Konstantin Wecker:<br />

Jeder Augenblick ist ewig,<br />

Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />

266 S., 9,90 Euro<br />

LITERATUREULE 10/12 11


Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 12<br />

Pferdekotentfernung bei<br />

eingeschränkter Sehleistung<br />

Kleiner Leitfaden zur laienhaften Gedichtinterpretation<br />

Oft genug sind sich die Leser unserer Zeitschrift unsicher, wie sie die abgedruckten<br />

Gedichte zu verstehen haben. Ihnen fehlt dabei hauptsächlich der Mut, zu ihrem eigenen<br />

Bauchgefühl zu stehen. Dabei sind doch gerade Gedichte darauf angelegt, vieldeutig zu<br />

sein: Eine eigene Meinung ist also immer richtig, sofern sie sich durch das Gedicht<br />

begründen lässt. An dem folgenden Beispiel soll nun gezeigt werden, welche Ansätze<br />

zutreffen können:<br />

Detlev von Liliencron (1844-1909)<br />

Four in hand<br />

Vorne vier nickende Pferdeköpfe,<br />

Neben mir zwei blonde Mädchenzöpfe,<br />

Hinten der Groom mit wichtigen Mienen,<br />

An den Rädern Gebell.<br />

In den Dörfern windstillen Lebens Genüge,<br />

Auf den Feldern fleissige Eggen und Pflüge,<br />

Alles das von der Sonne beschienen<br />

So hell, so hell.<br />

Begriffserklärung<br />

Four in hand – ein Krawattenknoten<br />

Groom – Beifahrer<br />

Und so gehen Sie vor:<br />

1. Der sachliche Ansatz: Ein Kutscher führt<br />

seine Pferde übers Land.<br />

2. Der stimmungsvolle Ansatz: Das Gedicht beschreibt<br />

eine sonntägliche Landpartie.<br />

3. Der ökologische Ansatz: Der Kutscher minimiert<br />

durch den bewussten Verzicht auf ein<br />

Automobil den CO 2 -Ausstoß in Mitteleuropa.<br />

4. Der biografische Ansatz: Das scheinbare Fehlen<br />

eines lyrischen Ichs charakterisiert das<br />

mangelnde Selbstwertgefühl des Autors.<br />

5. Der pädagogische Ansatz: Einem Kind werden<br />

herkömmliche Verfahren des Ackerbaus<br />

gezeigt.<br />

6. Der herrschaftliche Ansatz: Jemand kontrolliert<br />

die landwirtschaftliche Arbeit.<br />

7. Der polizeiliche Ansatz: Ein Verkehrsteilnehmer<br />

achtet nicht auf den Straßenverkehr und<br />

provoziert mit seinem fahrlässigen Verhalten<br />

einen vermeidbaren Unfall.<br />

8. Der romantische Ansatz: Oh, wie schön ist<br />

doch Mutter Erde!<br />

9. Der wirtschaftliche Ansatz: Handel und Ackerbau<br />

beeinflussen einander.<br />

10. Der erotische Ansatz: Der Kutscher sucht<br />

ein geeignetes Plätzchen für ein kommendes<br />

Stelldichein.<br />

11. Der sozialistische Ansatz: Kapitalistische<br />

Verklärung des Landlebens durch besitzenden<br />

Kutscher.<br />

12. Der perverse Ansatz: Der pädophile Kutscher<br />

neben dem ahnungslosen Mädchen<br />

symbolisiert die ländliche Inzucht.<br />

13. Der perspektivische Ansatz: Ein Fremder<br />

kutschiert durch unser Dorf.<br />

14. Der zensorische Ansatz: Der Mangel an offener<br />

Kritik jedweder Art macht dieses Gedicht<br />

äußerst verdächtig.<br />

15. Der medizinische Ansatz: Der Kutscher ist,<br />

soweit sich feststellen lässt, in seiner Sehleistung<br />

nicht eingeschränkt.<br />

16. Der ordnungsamtliche Ansatz: Der Kutscher<br />

ist für die Entfernung von Pferdekot auf<br />

dem Weg selbst verantwortlich.<br />

17. Der gesellschaftliche Ansatz: Der Kutscher ist<br />

auf seine Anonymität bedacht, was ihn als<br />

asozial erscheinen lässt.<br />

18. Der sozialgeschichtliche Ansatz: Der Kutscher<br />

nimmt die Produktionsbedingungen<br />

des arbeitenden Volkes nicht wahr und provoziert<br />

damit auf lange Sicht eine Revolution<br />

von unten.<br />

19. Der linguistische Ansatz: In diesem Text<br />

wird mithilfe von Anglizismen Sprachpanscherei<br />

betrieben.<br />

20. Der tierliebe Ansatz: Pferde <strong>müssen</strong> regelmäßig<br />

bewegt werden!<br />

Bernhard Spring<br />

OLIVER OTTITSCH<br />

Deutsch mit Bastian tick:<br />

Der Sprachwärter hat die Wörter<br />

oder: Der Sprachwart hat das Wort<br />

Können Sie Deutsch? Wissen Sie, was einzelne Wörter<br />

annoch bedeuten? Vergewissern Sie sich geflissentlich<br />

der Bedeutung unbekannter Vokabeln, sintemalen<br />

es Ihren Wortschatz erweitert? Oder kümmern<br />

Sie sich den Deut darum? Dünkt Sie solches<br />

lässlich, weil es Ihnen lässlich deucht?<br />

So es Ihnen aber nicht an Beflissenheit mangelt,<br />

wird es Sie kaum dauern, dass Ihnen diese mitnichten<br />

hanebüchene Miszelle so gebenedeite Wörter<br />

beut. Gebricht es Ihnen bass an Verständnis, so entbürden<br />

Sie sich behänd sotanen sprachlichen Gebrestens<br />

vermöge eines Glossars – und stehen Sie nichts<br />

weniger als an, sich hierzu freislich zu unterstehen!<br />

Riefeln Sie also nicht Ihre Stirn, knaupeln Sie nicht<br />

benaut an Ihren Fingern und gnatzen Sie nicht! Denn<br />

wer sich hier als lass erweist, den wird männiglich<br />

im sprachlichen Beritt auch fürder als einen Schluffen<br />

schmälen oder wie Schrofel abtun können.<br />

Und begibt sich solches gleichwohl, so wissen Sie<br />

wenigstens, als was man Sie da verglimpft. Darum<br />

ist Deutsch doch die beste aller Sprachen: maßen<br />

man jedes Wort versteht.<br />

Traun, meiner Treu!<br />

Peter Köhler<br />

12 LITERATUREULE 10/12


Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:34 Seite 13<br />

Michael Kohlhaas<br />

gegen den Teuro<br />

An den Ufern der Pleiße lebte um den Anfang des<br />

21. Jahrhunderts ein Fahrradhändler namens Michael<br />

Kohlhaas. Dieser außerordentliche Mann<br />

hätte bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines<br />

guten Staatsbürgers gelten können, wären<br />

nicht die wilden Euro-Zeiten gewesen.<br />

In schwüler Sommerhitze ritt er einst mit seinem<br />

Eisenross in der Badehose zum Tagebausee<br />

vor die Tore der Stadt, und während<br />

die Sonne nicht enden wollte, auf seinen<br />

Rücken niederzuprasseln, der<br />

Durst die Kehle zuschnürte, erblickte<br />

er alsbald am Nordstrande eine Restauration. »Eiskaffee<br />

ToGo« stand in großen Lettern auf einer<br />

Schiefertafel, und als er den Preisanschlag des togolesisch<br />

anmutenden Getränks näher betrachtete,<br />

wurde er gewahr, dass es bloß um kalten Kaffee<br />

ohne Eis ging. Aber mit Sahne. Wollte man Eis<br />

dazu, musste man einen Obolus blechen.<br />

Eiskaffee ohne Eis? Ja, könnte er dann nicht auf<br />

die Idee kommen, seine Eisenrösser ohne Räder,<br />

wenig stens die bloßen Felgen ohne Mäntel zu veräußern?<br />

Fahrrad light? Vielleicht noch den Rahmen<br />

extra berechnen? Und erst recht den Lenker!<br />

Blieben nur die Vorder- und die Hinterleuchte übrig,<br />

mit einem Draht verbunden, an dem der Dynamo<br />

baumelt. <strong>Immer</strong>hin: das roch verdammt nach<br />

Kunst; ein Plätzchen neben so manchem Gerümpel<br />

im neuen, völlig neumeisterlichen Albertinum<br />

würde sich noch finden!<br />

So brach Michael mit seinem Eisenross denn auf,<br />

um den Großkanzler des Freistaates um Audienz<br />

zu bitten. Entweder Schluss mit der Teuro-Abzocke<br />

oder einen Platz im Albertinum! Mit schmerzenden<br />

Waden nelbst Nackenpein und – ach was! – fällisch<br />

groggie un gladsch nass, mit platten Reifen<br />

und <strong>mehr</strong>eren polizeilichen Verweisen von der Autobahn<br />

erreichte Michael den Altmarkt der Landeshauptstadt,<br />

ließ sich sogleich im erstbesten Gasthause<br />

nieder und bestellte ausgehungert für 3 Eurönchen<br />

90 eine echte Sächsische Kartoffelsuppe<br />

mit Wiener Würstchen. Ja, hier lebte der antipreußische<br />

Geist fort: Sachsen und Österreich vereint<br />

auf einem Teller! Was kam, sah allerdings wie das<br />

Ende des Siebenjährigen Krieges aus. Mehrmals<br />

musste Michael seine Brille zurechtrücken,<br />

schwamm doch, als das Süppchen, nein Süppelchen,<br />

ach Süppelinchen eingetroffen, die sogenannte Wiener<br />

immer wieder aus dem Blickfeld. Was hieß da<br />

Würstchen – ein drei Zentimeter langes Kastratenstummelchen<br />

tummelte sich auf einem gerade noch<br />

mit Suppe benetzten Tellerchen! »Wollder misch<br />

vorhohnebiebeln?«, brüllte Michael in sich hinein<br />

und zahlte mit Trinkgeld.<br />

Außer sich vor Wut ließ er die Audienz Audienz<br />

sein, pumpte Luft in sein Fahrrad und schaffte es<br />

in einer Stunde bis vor die Grenze von Leipzig-Mölkau,<br />

fiel erschöpft vom Fahrrad, dessen Reifen auf<br />

dem heißen Asphalt weggebrannt waren. Zum<br />

Glück passierte das gerade vor den Stufen des alten<br />

Griechen, aber das war doch der, der den Weinessig<br />

auf dem Tisch durch normalen Speiseessig ersetzt<br />

hatte? Nein, dann lieber weiterquälen bis zur<br />

nächsten S-Bahn-Haltestelle, einen Verkehrsverbundfahrschein<br />

lösen und nichts wie heim! Aber<br />

hatte er nicht jüngst gelesen, dass selbiger Gepäckstücke<br />

extra zu berechnen plante, ein Köfferchen<br />

etwa … »Ihr Vorhohnebiebler!«, vibrierte es in Michael,<br />

und er vergaß, seinen<br />

Fahrschein abzustempeln.<br />

Nun, Kohlhaas, du Fahrradhändler,<br />

dem solchergestalt<br />

Genugtuung geworden, mache dich bereit, verkehrsverbundlicher<br />

Majestät, deren Anwalt hier<br />

steht, wegen des Fahrens mit ungültigem Tickete<br />

deinerseits Genugtuung zu geben, sprach der<br />

Schaffner.<br />

Es vergingen einige Tage, da brachte Michael<br />

den Überweisungsschein mit der empfindlichen<br />

Strafe zur Bank, schwang sich auf sein Eisenross<br />

Richtung Tagebausee, eine Kanne kalten Kaffees<br />

und eine Dose Wiener Würstchen im Rucksack.<br />

Hier endigt die Geschichte vom Kohlhaas.<br />

Birk Engmann<br />

neufassung nach<br />

Heinrich von Kleist<br />

Warum Lyrik immer<br />

den 3. Preis gewinnt<br />

Mal ehrlich, wären Sie gerne in einem Lyrikeck?<br />

Würden Sie sich da wohlfühlen? Da riecht es immer<br />

ein bisschen muffig, meist liegt es neben dem<br />

Lager oder neben dem Klo und ist unglaublich<br />

schlecht sortiert.<br />

Wenn man nachfragt, wird man angesehen, als<br />

ob man sehr einsam wäre, verständnisvoll blättert<br />

die Buchhändlerin im Computer und denkt sich: Die<br />

arme Sau. Mitte Zwanzig und schon auf Lyrik.<br />

Ob der wirklich so depressiv ist? Wahrscheinlich<br />

muss er schwere Medikamente schlucken und seine<br />

Frauen schicken ihn nach spätestens zwei Wochen<br />

in die Wüste.<br />

Am schlimmsten ist es, wenn man dann auch<br />

noch Lyrik schreibt.<br />

Wer Lyrik schreibt, ist ein kompletter Vollidiot. Der<br />

trifft sich ständig mit anderen Dichtern und dann<br />

reden sie über ihre Zyklen und nicken dazu mit den<br />

breiten Köpfen, während sie »sehr interessant, wirklich«<br />

in ihre Bärte nuscheln und ihre eigenen Werke<br />

gut finden. In ihren Versen schreiben sie gerne von<br />

der »schweren Süße des Jasmins«, hüsteln permanent<br />

in ein Wasserglas, schreiben alle verse in allen<br />

strophen zu allen zeiten in kleinbuchstaben, lassen<br />

sich jeden Tag vor einer Bücherwand fotografieren,<br />

während sie den Daumen-, Zeige- und Mittelfinger<br />

der rechten Hand saublöd um den Mund gruppieren,<br />

und hatten in jedem Fall eine Phase, in der sie<br />

sich mit Gelegenheitsjobs wie Leichenwäscher,<br />

Schlachthoflagerist oder Hafenarbeiter durchs Leben<br />

schlugen.<br />

Was würden wir dafür geben, wenn wir Erzählungen<br />

schreiben könnten! Witzige, seitenlange Beschreibungen<br />

über soziale Miss-Stände. Tolstoi-Romane<br />

und Dostojewski-Szenen oder wenigstens<br />

Schmierblöcke voll platter Komik, aneinandergereiht,<br />

grob sortiert und als Roman bezeichnet. Das<br />

wär’s. Stattdessen fallen uns immer wieder Gedichte<br />

zu. Wir hassen Lyrik, gebt uns also den dritten Preis,<br />

damit wir uns nicht ganz so beschissen vorkommen:<br />

Wir leben ja immerhin in einem Sozialstaat. Da<br />

darf man ein bisschen Mitleid doch wohl erwarten,<br />

oder?!<br />

Matthias Kröner<br />

KARSTEN WEYERSHAUSEN<br />

LITERATUREULE 10/12 13


Eule_2012_10_67_106 web_Eule_0906_ 11.09.12 12:35 Seite 14<br />

Ichzeit, Duzeit, Er-Sie-Es-Zeit<br />

Lesezeichen: HeiKo WeRninG<br />

Ich kann nicht einschlafen. Zweifel quälen mich.<br />

Woher kommen wir? Wohin gehen wir? In welcher<br />

Epoche schreiben wir? Das sind so die Fragen, die<br />

mich kein Auge zutun lassen. Mich tief empfindenden<br />

Schriftsteller. Wenn da nicht immer diese Selbstzweifel<br />

wären! Ist das überhaupt Literatur? Schreibe<br />

ich überhaupt zeitgemäß? Habe ich zu viel Kaffee<br />

getrunken am Nachmittag?<br />

Aber ich kenne sie gut, die Nächte, in denen ich<br />

nicht einschlafen kann. Ich habe vorgesorgt. Ich habe<br />

mir die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ans<br />

Bett gelegt. Und es trifft sich gut, dass einer von uns,<br />

nämlich Maxim Biller, endlich einige Antworten für<br />

uns gefunden und sie in die Zeitung hineingeschrieben<br />

hat, unter dem schönen Titel »Ichzeit«: »Wir leben,<br />

lesen und schreiben schon lange in einer literarischen<br />

Epoche und wissen es nicht.« Und in der<br />

Tat – ich hätt’s nicht gewusst. Aber hätte ich es zumindest<br />

ahnen können?<br />

»Vielleicht ahnen wir es, wenn wir nach der Lektüre<br />

von Tellkamps Turm denken, das war noch besser<br />

als eine Folge von Breaking Bad.« Nein, ich hätte<br />

es nicht ahnen können. Denn mir gefällt nicht nur<br />

jede einzelne Folge von Breaking Bad besser als Tellkamps<br />

wichtigtuerischer Langeweiler-Turm, sondern<br />

jede Ausgabe der Sendung mit der Maus.<br />

Umso wichtiger also, dass Maxim Biller endlich<br />

mit der Sprache rausrückt, selbst wenn ich dafür seinen<br />

ganzen, langen, wahrscheinlich sehr tief empfundenen<br />

Artikel in der FAS lesen muss, sonst werde<br />

ich es nie erfahren, denn außer Maxim Biller kam,<br />

glaube ich, noch keinem von uns in den Sinn, dass<br />

die besten Romane der letzten 25 Jahre <strong>mehr</strong> verbindet<br />

als ihre Qualität: »Dass die besten Romane<br />

der letzten 25 Jahre <strong>mehr</strong> verbindet als ihre Qualität,<br />

kam, glaube ich, noch keinem von uns in den<br />

Sinn.« Ich lese gebannt weiter.<br />

Angefangen hat alles, so Biller, mit Rainald Goetz,<br />

weil der sich beim Vorlesen »selbst verletzte«, indem<br />

er sich nämlich vor der Kamera beim Vorlesen<br />

eine kleine Schnittwunde zugefügt hat, womit er »etwas<br />

unerhört Neues wagte«, denn »er stellte seine<br />

ganze verletzende und verletzliche Person stolz ins<br />

grelle öffentliche Licht«. Darauf hätte im Grunde natürlich<br />

auch schon vorher mal jemand kommen können:<br />

Einfach mal seine eigene Person ins grelle, öffentliche<br />

Licht stellen! Nach all den Jahrhunderten<br />

voll schwächlicher, unglaubwürdiger, langweilender<br />

Er-Erzähler: »Die Literatur braucht wieder ein starkes,<br />

glaubhaftes, mitreißendes Erzähler-Ich – sonst<br />

hört ihr uns, die tief empfindenden Dichter und Denker,<br />

im immer lauter werdenden Medienlärm nicht<br />

<strong>mehr</strong>.« Und Biller im Medienlärm nicht <strong>mehr</strong> zu hören<br />

– das ginge ja nun gar nicht!<br />

Dem Neues wagenden Goetzschnitt folgte Fausers<br />

Rohstoff: »Dieser Roman tut weh, so schön und tief<br />

empfunden ist er. Und genau das ist er auch.« Also:<br />

Das genau ist er: schön und tief empfunden. Das tut<br />

weh. »Wie schade, dass der existentielle Trinker Fauser,<br />

der ein paar Jahre später morgens um vier auf<br />

einer bayerischen Autobahn betrunken überfahren<br />

EXOT. Zeitschrift für<br />

komische Literatur Nr. 13,<br />

www.exot-magazin.de<br />

128 Seiten, 5,00 Euro<br />

wurde, über seinen Amy-Winehouse-Tod nicht <strong>mehr</strong><br />

selbst schreiben konnte. Es wäre sein stärkster Text<br />

geworden.«<br />

Das ist in der Tat sehr schade. Man könnte den<br />

Gedanken vielleicht sogar noch einen Tick weiterspinnen<br />

und bedauern, dass im Grunde ja nicht nur<br />

Jörg Fauser seinen Tod ebenso wenig beschreiben<br />

konnte wie Amy Winehouse den ihrigen nicht <strong>mehr</strong><br />

zu besingen in der Lage war, sondern auch sonst hat<br />

im Grunde ja noch niemand fundiert über seinen<br />

eigenen Tod schreiben können. Ein Jammer, manch<br />

schöner Text ist uns dadurch sicherlich verloren gegangen.<br />

Und wahrscheinlich wird dieses große literarische<br />

Projekt wieder keinen angehen, wenn Biller<br />

es nicht eines Tages selbst tut. Meinen Segen<br />

hätte er. Und seinen auch, denn: »Viele der besten,<br />

wichtigsten Bücher der letzten zweieinhalb Jahrzehnte<br />

wären ohne den extremen persönlichen Einsatz<br />

ihrer Verfasser undenkbar gewesen.« Wer hätte<br />

das gedacht? Bücher schreiben kostet persönlichen<br />

Einsatz! Warum hat mir das vorher niemand gesagt?<br />

Als ich noch etwas anderes hätte lernen können,<br />

Bauarbeiter oder <strong>Alte</strong>npfleger oder irgendwie so was<br />

halt. Aber zumindest Ihr, Ihr emporstrebenden, tief<br />

empfindenden Nachwuchsschriftsteller, Ihr seid nun<br />

gewarnt. Ihr könnt noch umkehren!<br />

(gekürzt)<br />

ANDREAS PRÜSTEL<br />

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Der Autor mit Ambition benötigt eine vorzeigbare<br />

Vita. Eine Biografie mit richtig was drin.<br />

Denn Weltliteratur entsteht nur aus intensivem<br />

Leben: aus Kämpfen und Wirrnissen, aus Nahtoderfahrungen<br />

und dem, was man empfindet, wenn<br />

einem schon wieder irgendwer die Luft aus den Fahrradreifen<br />

gelassen hat. Hemingway zum Beispiel war<br />

Kriegsberichterstatter, Stierkämpfer, Großwildjäger<br />

und ist mit dem Helikopter abgestürzt. Thomas Mann<br />

kam immerhin aus gutem Hause, musste emigrieren<br />

und hatte nach jedem Ortswechsel Riesenprobleme,<br />

eine angemessene Villa zu finden. Thomas<br />

Brussig ging durch die Hölle einer behüteten Kindheit,<br />

Frank Schätzing besitzt einen gepflegten Bart,<br />

Patrick Süßkind geht nicht raus, und Herta Müller<br />

kann nicht schreiben. In diesem Ozean aus Erlebtem<br />

lässt sich natürlich gut fischen.<br />

Böll zieht an seiner Zigarette, und<br />

ich frage mich, wie ich Irmgard<br />

später erklären soll, dass er auf ihre<br />

Plauener Spitze ascht. Für jedes dieser<br />

kleinen, schwarz umrandeten<br />

Löcher wird sie mich gnadenlos<br />

auspeitschen – so gut kann der Böll<br />

ja gar nicht schreiben, dass sich so<br />

ein Ärger lohnt …<br />

Dann kommt auch noch der<br />

Grass, wie immer zu spät. Schlimmer<br />

kann es jetzt nicht <strong>mehr</strong> kommen.<br />

Erst stopft er sich die Pfeife und<br />

sieht sich ein bisschen um. »Schön<br />

hast du’s hier«, sagt er gönnerisch<br />

und lässt sich noch mal nachschenken.<br />

Dann kramt er ein Manuskript<br />

aus seiner Tasche und beginnt einfach<br />

zu lesen, obwohl doch grad der<br />

Siegfried Lenz noch liest. Für einen<br />

Moment lesen sie parallel, dann hört<br />

Lenz aufgelöst auf und entschuldigt<br />

sich mal kurz.<br />

Grass liest und sieht dabei nicht<br />

auf. Ich glaube, der Hildesheimer<br />

ist inzwischen eingepennt. Oder er<br />

macht auf unauffällig. Aber den<br />

Walser hält es nicht zurück. »Der<br />

und sein ewiges Danzig«, knurrt<br />

Martin also und verpisst sich in die<br />

Küche ans Büfett. Grass hat das gar<br />

nicht mitbekommen. Er liest und<br />

liest und liest, und eigentlich nuschelt<br />

er auch ein bisschen an seiner<br />

Pfeife vorbei. Gabriele Wohmann<br />

hat ihn mal darauf aufmerksam<br />

gemacht, aber da hat er sie<br />

gleich in einem seiner Romane verheizt,<br />

und seitdem traut sich das<br />

keiner <strong>mehr</strong>. Arme Gabi! Jetzt<br />

kommt sie gar nicht <strong>mehr</strong>, wenn<br />

sie weiß, dass der Grass auch da<br />

ist. Und dabei haben wir schon so<br />

wenig Frauen in unserer Gruppe<br />

47! Grass, also wirklich! Aber es<br />

sagt ja niemand was.<br />

Enzensberger hat jetzt doch leise<br />

vor sich hin gelacht, und davon ist<br />

Hildesheimer aus seinem Nickerchen<br />

aufgewacht und hat gegluckst.<br />

Jetzt sieht sogar der Grass mit Runzelstirne<br />

auf. Er schmeißt sein Manuskript<br />

missmutig in die Ecke<br />

Gruppenabend<br />

und wühlt in seiner Tasche. »Hat<br />

jemand Feuer?«, fragt er in die<br />

Runde, und Böll hält ihm wortlos<br />

ein Streichholz hin. »Wir müssten<br />

politischer werden«, schlägt Grass<br />

vor, während er an seiner Pfeife<br />

zieht. »Anders geht das nicht <strong>mehr</strong>.«<br />

Hildesheimer und Böll sind dagegen,<br />

weil sie denken, dass es schon<br />

jetzt genug ist mit der Politik, aber<br />

Enzensberger lacht nur spöttisch auf,<br />

und so kommt es natürlich zu keiner<br />

ernsten Unterhaltung. Nun<br />

drückt sich auch noch der Lenz ins<br />

Zimmer zurück und fragt Hildesheimer,<br />

was denn eigentlich los sei,<br />

und damit ist die Unruhe komplett.<br />

Zu allem Überfluss zeigt Grass jetzt<br />

auch noch seine neuen Grafiken –<br />

wieder Pimmelpilze – und schreit<br />

laut: »Genau das hab ich gemeint!<br />

Genau das!«<br />

Da steht der Uwe Johnson auf,<br />

obwohl er sonst ja nicht so ist, und<br />

langsam wird es stiller. »Lies doch<br />

mal weiter!«, fordert Uwe Grass auf,<br />

und während alle ziemlich entsetzt<br />

aufstöhnen, fühlt sich Grass geschmeichelt<br />

und sucht sein Manuskript<br />

zusammen. Böll rollt mit den<br />

Augen. Er kommt zu mir rüber und<br />

flüstert: »Find ich ganz groß von dir,<br />

dass du deiner Irmgard das mit dem<br />

Hoch gestapelt ist<br />

halb gewonnen<br />

Doch was ist der Normalfall? Abitur, Studium der<br />

Kulturwissenschaften oder Romanistik, erste Texte für<br />

eine Schülerzeitung und das Bordmagazin der Lufthansa.<br />

Lebt mit Ehepartner und zwei Katzen abwechselnd<br />

in München und auf Mallorca. Ganz ehrlich, was<br />

soll man da schon anderes erwarten als fünfbändige<br />

Historien-Trilogien oder herrlich freche Frauenromane,<br />

denen man Zeile für Zeile das Bemühen ansieht, von<br />

Frisch gönnst.« Ich verstehe nicht<br />

und will schon nachfragen, aber da<br />

ascht der Böll wieder auf die Tischdecke,<br />

und ich verbeiße mir einen<br />

Kommentar.<br />

Die Zeit vergeht schleichend ...<br />

Drei Grass’sche Pfeifen später klingelt<br />

es und ich reibe mir die Fäuste.<br />

Das wird doch endlich Irmgard<br />

sein, aber denkste! Der Reich-Ranicki<br />

steht in der Tür. Er kommt gar<br />

nicht dazu, mich zu grüßen, als er<br />

den Grass drinnen lesen hört. Stattdessen<br />

stürmt er in das Wohnzimmer<br />

und schreit laut: »Ein Unbuch!<br />

Günter, das kann doch nicht dein<br />

Ernst sein! Schreib doch endlich<br />

wieder mal was Besseres.«<br />

Grass fällt vor Schreck die Pfeife<br />

aus dem Mund. Walser, der hinter<br />

Reich-Ranicki ins Zimmer gekommen<br />

ist, und Enzensberger lachen.<br />

Grass schäumt. Hildesheimer<br />

pennt schon wieder, wird aber von<br />

Johnson geweckt. Böll ascht gelassen<br />

auf die Plauener Spitze. Lenz<br />

geht lieber wieder zurück ins Bad.<br />

Es klingelt.<br />

Irmgard, verstört. Ich, verstört.<br />

»Stimmt das mit Max Frisch?«,<br />

frage ich und weiß es ja schon. Es<br />

steht in ihren Augen. »Ach, tu doch<br />

nicht so …«, sagt sie, und ich knall<br />

ihr eine. »Siehste, genau deshalb!«,<br />

ruft sie und macht kehrt. Weg ist<br />

sie.<br />

Im Wohnzimmer geht es drunter<br />

und drüber. Ich habe keine Lust,<br />

mir das jetzt anzutun. Ich gehe ins<br />

Bad, mein Gesicht zu waschen.<br />

Lenz hockt im Dunkeln auf dem<br />

Wannenrand. »Das macht mich<br />

echt fertig«, jammert er. »Ich glaube,<br />

wir haben zu viel Grass in der<br />

Gruppe.«<br />

Ja, sage ich. Und zu wenig<br />

Frauen.<br />

Bernhard Spring<br />

der ARD-Kitschklitsche Degeto verfilmt zu werden?<br />

Bücher, in denen alleinerziehende attraktive Frauen in<br />

bundeslandgroßen Lofts herumstöckeln und ihren allerliebsten<br />

achtjährigen Töchtern, die sooo gern mit<br />

der Mama spielen möchten, gehetzt zurufen, sie müssten<br />

doch noch »die Präsentation« vorbereiten. Und wenn<br />

die Tochter dann traurig guckt, sagt die Mama mit ganz<br />

viel Liebe in der Stimme: »Aber am Wochenende machen<br />

wir etwas ganz Tolles zusammen, nur wir beide<br />

– versprochen!« Woran man by the way erkennt, dass<br />

sie im Grunde ja kein schlechter Kerl ist und ganz gut<br />

zu dem gerade eingezogenen alleinstehenden jungen<br />

Arzt von gegenüber passen würde, mit dem sie am<br />

Vortag an der Haustür so süß zusammengebumst ist.<br />

Das ist natürlich keine »Litterratuhrr« (Reich-Ranicki).<br />

Verlage mit Anspruch sind daher dazu übergegangen,<br />

sich erst einmal mit dem Lebenslauf des Einsenders<br />

zu befassen, ehe sie erwägen, dessen Manuskript<br />

auch nur aus dem Umschlag herauszufingern. Es gilt<br />

das Prinzip der Casting-Shows: Schicksal schlägt Können.<br />

Das Ersinnen einer bemerkenswerten Biografie<br />

sollte daher an jedem Literaturinstitut bereits im Grundkurs<br />

durchgenommen werden. Denn die Chance, dass<br />

Ihr Manuskript angenommen wird, erhöht sich erheblich,<br />

wenn Sie wenigstens einen der nachfolgenden<br />

Punkte erfüllen:<br />

• Sie waren in Ihrem Leben schon einmal Fremdenlegionär,<br />

Totengräber, verfassungsfeindliches Symbol<br />

oder nutellasüchtig.<br />

• Sie sind ein total verrückter Typ, über den sogar schon<br />

die Lokalpresse berichtet hat. Sie bleiben zum Beispiel<br />

beim Grünen Pfeil so lange stehen, bis der hinter<br />

Ihnen hupt. Sie trinken bereits zum Frühstück immer<br />

eine ganze Tasse Caro-Landkaffee. Und zwar auf<br />

ex. Und Sie haben verschiedenfarbige Schnürsenkel<br />

in den Schuhen.<br />

• Sie waren die heimliche Geliebte Adolf Hitlers.<br />

• Sie haben sich schon einmal im Extrem-Selbstversuch<br />

vier Wochen lang nur von Molkepulver, Biomöhrchen<br />

und Ihren Fingernägeln ernährt.<br />

• Sie verfügen »als Frau und Mutter einer Tochter« bzw.<br />

als »Frau und Tochter einer Mutter« über besondere<br />

Fachkompetenz und Glaubwürdigkeit.<br />

• Sie haben den Untergang der »Costa Concordia« nur<br />

deshalb knapp überlebt, weil Sie nicht auf dem Schiff,<br />

sondern zu Hause waren.<br />

• Sie waren der heimliche Geliebte Adolf Hitlers.<br />

• Sie zeichnen sich durch ghandischen Gleichmut und<br />

große Friedfertigkeit aus. Beim »Mensch ärgere dich<br />

nicht« haben Sie sich tatsächlich schon einmal nicht<br />

geärgert. Damals, als Sie gewonnen haben.<br />

• Sie sind Adolf Hitler.<br />

Nix davon zu sehen in Ihrer Bio? Pech gehabt. Überlassen<br />

Sie das Anfertigen von Literatur Geeigneteren. Und<br />

schrei ben Sie selbst bitte nur Sachen, wo am Ende geheiratet<br />

wird.<br />

Robert Niemann<br />

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Wieworte pur<br />

Adjektive satt, Sprache gut, Deutsch prima:<br />

Das Wiewort kommt heute nicht <strong>mehr</strong> nur<br />

von vorne, sondern auch von hinten.<br />

Aber nicht nur die Stellung ist wichtig,<br />

sondern auch die Kunst, richtig zu steigern,<br />

ja sogar richtiger zu steigerern! Außer<br />

Sportlern ist das nur dem Wiewort gestattet,<br />

zum Beispiel: gutmöglichst – bessermöglicher<br />

– bestmöglich. Oder auch: superlativ –<br />

komparativer – am positivsten! Optimaler<br />

geht es nicht, denn so ist es am bestesten.<br />

Das Wiewort: Es ist anderst als andere<br />

und deshalb von allen Wortarten das Einzigste,<br />

das man auf keinste Weise missen<br />

möchtste. Und so kommt sie noch und nöcher:<br />

die erfülltesteste Liebe zum Wiewort!<br />

Peterster Köhlerer<br />

Zeichnung: Matthias Kiefel

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