Elke Scherstjanoi: Gutachten über Ilse Stöbe - Institut für ...
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Erziehung im Arbeitermilieu wies der lernbegierigen <strong>Stöbe</strong> Lebensziele jenseits ihrer<br />
sozialen Herkunft. <strong>Ilse</strong> interessierte sich <strong>für</strong> Bücher, Theater, Musik, Sport, Naturerlebnisse,<br />
Reisen. Mehrere Zeitzeugen berichten, dass sie ergreifend Lieder von Brahms, Schumann<br />
und Schubert interpretierte. Über ihre Schulzeit ist fast nichts bekannt. Sie erlernte nach<br />
der Volksschule und nach vor<strong>über</strong>gehender Aufnahme auf ein Lyzeum den Beruf einer<br />
Sekretärin/Stenotypistin und blieb zugleich emotional im linken Milieu verhaftet. Zum<br />
Haushalt der Mutter unterhielt sie, auch nachdem sie eine eigene Wohnung gemietet<br />
hatte, engen Kontakt. Die Bindung ans Arbeitermilieu wurde durch ihre Berufspläne nicht<br />
beeinträchtigt. Der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, ein<br />
entschiedener Demokrat und Liberaler, der auf die seit 1929 in der Anzeigenabteilung des<br />
Verlagshauses Rudolf Mosse Arbeitende früh aufmerksam wurde, begann sie zu fördern,<br />
indem er sie in das Chefsekretariat holte. 58 <strong>Ilse</strong> <strong>Stöbe</strong> bewährte sich dort und beeindruckte<br />
durch schnelle Auffassungsgabe und klares systematisches Denken. Sie fand kluge<br />
Gesprächspartner, so neben Wolff im Jahr 1928 den als KPD-nah bekannten Journalisten<br />
Rudolf Herrnstadt und den späteren Journalisten und Theaterregieassistenten Helmut<br />
Kindler (der legt die erste Begegnung auf das Jahr 1930). Kindler sah sich als parteilosen<br />
Sozialisten. Zu beiden unterhielt <strong>Stöbe</strong> bald sehr vertrauensvolle Beziehungen, beide<br />
stellten ihr später unabhängig voneinander ein hohes Zeugnis intellektueller und<br />
menschlicher Redlichkeit aus. 59 Mit Herrnstadt verband sie von Anfang an auch eine<br />
eindeutige politische Haltung. 1929 strebten beide eine KPD-Mitgliedschaft an. Die wurde<br />
ihnen mit der Begründung verwehrt, als KPD-nahe Gewährsleute unter Intellektuellen seien<br />
sie der Partei nützlicher. 60 (Mehr dazu unten in Punkt IV)<br />
Der Forschung zufolge unterhielt <strong>Stöbe</strong> in Berlin Kontakte zu Kommunisten und<br />
Arbeitersportlern. 61 Wichtiger Partner geistiger und politischer Entwicklung blieb Rudolf<br />
Herrnstadt, der seit 1931 außerhalb Berlins, im Böhmischen und im Schlesischen, kurzzeitig<br />
in Moskau und schließlich in Warschau journalistisch <strong>für</strong> das Berliner Tageblatt tätig war.<br />
Als Wolff Anfang 1933 Deutschland verlassen musste und die Verlagsanstalt ihn als Chef<br />
des Berliner Tageblatts auch nicht mehr halten konnte, verlor <strong>Ilse</strong> <strong>Stöbe</strong> ihre Anstellung. Sie<br />
58 Der alternde Wolff entwickelte eine besondere Zuneigung zu der jungen Frau. Er veröffentlichte<br />
1937 im Exil den Roman „Die Schwimmerin“ mit einer an <strong>Stöbe</strong> angelehnten Hauptfigur. Der<br />
Geschichte ist zu entnehmen, dass Wolff sowohl die fortgesetzten Begegnungen der jungen Frau in<br />
ihrem Milieu als auch ihre subversive Tätigkeit gegen die Nationalsozialisten – letzteres vielleicht nur<br />
vage – wahrgenommen, akzeptiert und gebilligt hatte.<br />
59 Auf die in der Literatur ausgebreitete, durch einen auf <strong>Stöbe</strong> gemünzten Roman Theodor Wolffs<br />
und die Erinnerungen einzelner namhafter Personen angefachte Debatte um die ungewöhnliche<br />
weiblich-jugendliche Ausstrahlung der <strong>Ilse</strong> <strong>Stöbe</strong> soll hier nicht eingegangen werden. Sie kann als<br />
weitgehend irrelevant im Zusammenhang mit ihrer Widerstandstätigkeit angesehen werden,<br />
wenngleich sie <strong>für</strong> das Persönlichkeitsbild bedeutsam ist.<br />
60 Das geht auf einen Lebenslauf Herrnstadts, angefertigt <strong>für</strong> die sowjetischen Militäraufklärung,<br />
zurück (siehe Liebmann, Wäre es schön, S. 42-48). Siehe auch Brief Herrnstadts vom 18.3.1946 an das<br />
Sekretariat der KPD, SED-Kaderakte, BA, DY 30/IV2/11/V 590, Bl. 11f.<br />
61 Griebel/Coburger/Scheel, Erfasst, S. 86.<br />
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