Materialsammlung - Theater Marburg
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Plutos<br />
von Aristophanes<br />
Wer alle Fakten kennt, hat keins von ihnen erfasst.<br />
Wer alles weiß, weiß nicht das Geringste.<br />
Allwissenheit wäre Unwissenheit.<br />
Auszug aus Theorie 176, Martin Seel<br />
1
Hessisches Landestheater <strong>Marburg</strong>, 2014<br />
<strong>Materialsammlung</strong> zur Produktion »Plutos«<br />
Zusammengestellt von Annelie Mattheis<br />
Die in dieser Sammlung zitierten Texte dienen ausschließlich<br />
der künstlerischen und wissenschaftlichen/didaktischen<br />
Vorbereitung und Begleitung der Produktion nach §51 UrhG.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1. Aristophanes<br />
Hensel, Georg (1992): Aristophanes: Satiriker und Reaktionär S. 3<br />
Segelbach, Chr. Fr. (1832): Was hat Aristophanes im Lustspiel geleistet? S. 4<br />
2. Plutos<br />
Holzberg, Niklas (2010): Auf dem Weg zur Plutokratie S. 5<br />
Schareika, Helmut (1978): Die dyonisische Antizipation eines besseren<br />
Lebens S. 6<br />
Schareika, Helmut (1978): Das Groteske, der Karneval und die Götter S. 8<br />
3. Die antike Komödie<br />
Eder, Klaus (1968): Zur attischen Komödie S. 10<br />
Eder, Klaus (1968): Obszönes und Sprache S. 14<br />
4. Kontext<br />
Holzberg, Niklas (2010): Gesellschaftspolitische Hintergründe S. 15<br />
Grant, Michael; Hazel, John (2009): Plutos, Demeter und Iasion S. 16<br />
Ovid (1 n. Chr.): Midas S. 17<br />
Gunkel, Christoph (2011): Pazifikinsel Nauru, Mist, waren die reich! S. 21<br />
2
Aristophanes: Satiriker und Reaktionär<br />
Genaue Lebensdaten sind nicht bekannt. Vermutlich wurde er um 445 v. Chr. geboren auf der Insel<br />
Aigina vor Athen und starb um 385 in Athen. Öffentlich tätig war er von 427 bis 388. Erst der Tod<br />
des Perikles (429), der das <strong>Theater</strong> einer Zensur unterworfen hatte, gab ihm die Möglichkeit, sich<br />
als scharfer Kritiker des demokratischen Staates und als Satiriker zu entfalten. Als politischer Kopf<br />
und als Freund des Adels stellte er den heroisch-aristokratischen Geist aus der Zeit der (vor einem<br />
halben Jahrhundert beendeten) Perserkriege, die Moral der Marathonkämpfer, seinen Zeitgenossen<br />
als Vorbild hin und verspottete die neuen, aufklärerischen Gedanken, die Naturphilosophie und die<br />
künstlerischen Entwicklungen seiner Zeit. Demgemäß galt seine Liebe dem Aischylos, sein Hohn<br />
dem Euripides. Als einem Verächter des damals Modernen, der Avantgarde seiner Zeit, war ihm der<br />
Beifall der Menge sicher. Doch fühlte er sich als frommer Patriot, der bewährte Ideale zu verteidigen<br />
hat. Ob seine Satiren dazu beigetragen haben, das Vertrauen des Volkes in die Demokratie zu<br />
untergraben, oder ob die Demokratie zu ihrer Selbstreinigung solcher Satiren bedarf - das war<br />
schon damals eine Streitfrage.<br />
Aristophanes greift nach den großen Themen: Staat, Justiz, Philosophie, Erziehung, Krieg und<br />
Frieden. Er zeigt sie im Zerrspiegel grotesker Situationen, in denen das Erhabene und das<br />
Lächerliche, das Heilige und das Obszöne hart gegeneinandergestellt sind. Tierchöre und Tiertänze<br />
geben ihm die Möglichkeit, menschliches Verhalten zu parodieren. Schon seine Menschendarsteller<br />
sind Parodien: unförmig ausgepolstert und bemalt, mit karikierten Masken und einem kurzen Kittel,<br />
der den Phallus nicht bedeckt. Seine Chorlieder neigen zum Couplet, strotzen von aktuellen<br />
Anspielungen, Spottversen und Wortwitzen wie die gesungenen Chöre heutiger Kabaretts. Die<br />
Flugmaschinen werden häufig benutzt und setzen wie die Requisiten optische Pointen. Das<br />
Publikum wird gelegentlich aus der Orchestra direkt angesprochen; bei dieser aktuellen Zeitkritik,<br />
»Parabase« genannt, nimmt der Chor die Masken ab. Der von Aristophanes angegriffene Sokrates -<br />
so berichtet die Legende - habe sich von seinem Sitz erhoben, um sich dem Publikum zum<br />
Vergleich mit seinem Zerrbild in der Orchestra anzubieten. Kabarett mit Operetten- und Musical-<br />
Effekten - doch das Lachen wird nie Selbstzweck: Es ist eine pädagogische Verführung zum<br />
politisch-religiösen Ernst. Aristophanes - das ist eine Art Aischylos mit den Mitteln der Komödie.<br />
Von seinen 44 Komödien sind elf erhalten.<br />
Auszug aus: Hensel, Georg (1992): Spielplan. Area Verlag.<br />
3
Was hat Aristophanes im Lustspiel geleistet?<br />
»Was Aristophanes im Lustspiel geleistet habe?« läßt sich am leichtesten lösen, wenn man die elf<br />
Komödien, die von seinen vier und fünfzig Werken auf uns gekommen sind, mit einem kritischen<br />
Blick überschauet, dabei aber zugleich den Geist und die Sitten seines Zeitalters in Anschlag bringt,<br />
und die Urtheile sachverständiger Männer zu Rathe zieht.<br />
In Rücksicht der äußern Form des Schauspiels ging Aristophanes auf dem von Sophokles<br />
betretenem Wege fort. Er theilte seine Fabeln in fünf Handlungen (actus), und diese in Auftritte<br />
(scenae). Er unterschied die Hauptpersonen von den Nebenpersonen sorgfältig und ließ den Chor<br />
mit dessen Anführer im Zwischenspiel (episodium) meist zu Anfange oder am Schluß des Acts mit<br />
lachender Miene derbe, oft bittere Wahrheit sagen. Er bedient sich mannichfaltiger Versarten, und<br />
sein Styl erhebt sich oft zum tragischen und heroischen. Alle seine Werke tragen das Gepräge der<br />
lächerlichsten Satyre an sich, die man gewöhnlich als eine Spottsucht zu betrachten pflegt, welche<br />
weder der Philosophen und Dichter, noch der angesehensten Volkshäupter und Mitbürger, ja selbst<br />
nicht der einheimischen Götter schonte. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß alle seine Arbeiten,<br />
als Kunstprodukte, sich durch Kürze, Gediegenheit, Bündigkeit, leicht hingeworfene Scherze, mit<br />
einem Worte durch das so geliebte attische Salz auszeichnen. Schade, daß manche seiner<br />
Ausbrüche blos für sein Zeitalter berechnet waren, und der reinsten Anständigkeit nicht Probe<br />
hielten. Komiker seiner und der spätern Zeit suchten ihm nachzueifern, ohne ihn zu erreichen; doch<br />
blieb der Ton und Zuschnitt der aristophanischen Werke der alten Komödie eigenthümlich, so lange<br />
sie existierte.<br />
Auszug aus: Lindemann, Emanuel (1832): Plutos. Ein Lustspiel des Aristophanes. Einleitende<br />
Vorrede von Dr. Chr. Fr. Segelbach. Leipzig: Karl Knobloch.<br />
4
Auf dem Weg zur Plutokratie<br />
»Nein, du armer Tropf, vielmehr werde ich allein die Braven<br />
und die Vernünftigen und die Anständigen,<br />
nur sie allein, reich machen.«<br />
Wie aus den Versen hervorgeht, sieht der Große Plan des Chremylos nicht nur vor, daß Plutos von<br />
seiner Blindheit geheilt und so in die Lage versetzt wird, das Weltregiment von Zeus zu<br />
übernehmen, sondern zielt auch auf eine erzieherische Aktion: Weil Plutos sich allein in die Häuser<br />
der guten Menschen begeben soll, werden alle, weil jeder reich sein möchte, nunmehr brav,<br />
vernünftig und anständig. Das lesen wir hier nicht, es ist aber, wie sich später zeigt, impliziert, und<br />
wer will, kann sogar einen Appell zur Besserung der Sitten heraushören. Es dürfte unter anderem<br />
der »pädagogische Aspekt der Plutos-Herrschaft« gewesen sein, der den Plutos in Mittelalter und<br />
Renaissance zur beliebtesten Komödie des Aristophanes werden ließ. Das als »moralisch«<br />
geltende Stück wurde in Byzanz am häufigsten abgeschrieben und im 15./16. Jahrhundert<br />
mehrfach von Humanisten übertragen - ebenso ins Lateinische wie in verschiedene Volkssprachen.<br />
Auszug aus: Holzberg, Niklas (2010): Aristophanes. Sex und Spott und Politik. C.H. Beck Verlag.<br />
5
Die dionysische Antizipation eines besseren Lebens<br />
Die Parade des Gerechten, des Sykophanten, der alten Frau, des jungen Mannes, des Hermes, des<br />
Zeus-Priesters im zweiten, dem sog. exemplifikatorischen Teil der Komödie knüpft unmittelbar an<br />
den ersten Teil an: schon dort war von den attischen Politikern die Rede, von den Gerechten, von der<br />
Rolle der Priester und Götter. Ohne Verbindungspunkte scheinen jedoch die Alte und der Jüngling<br />
dazustehen; das wird später noch genauer zu untersuchen sein, unmittelbar einleuchten wird<br />
freilich jetzt schon, wenn man sagt, in diesen beiden Personen stehen die beiden Geschlechter<br />
symbolisch auf der Bühne.<br />
In dem »Gerechten« haben wir den gerechten, d.h. armen Athener vor uns, der alle armen Griechen,<br />
ja sogar alle armen Menschen repräsentiert. Daher seine allgemein typenhafte Bezeichnung als<br />
»Gerechter«. Er kann rasch nachweisen, daß er wirklich gerecht, rechtschaffen ist. Dadurch ergibt<br />
sich, von der Dramaturgie her gesehen, seine Funktion in der Sykophantenszene, wo er sich mit<br />
Karion in der Prüfung des Repräsentanten der Politiker, denn das ist der Sykophant, die Rolle teilt.<br />
Der Sykophant wird drastisch entlarvt als perfider Denunziant, als Perverteur der Idee der<br />
athenischen Verfassung. Damit wird genau einer ihrer grundlegenden Widersprüche aufgedeckt:<br />
Die Funktion des Staatsanwalts war unbekannt; korrekter: jeder Polit hatte diese Aufgabe<br />
permanent wahrzunehmen. Daraus entwickelte sich das Sykophantentum als Pervertierung,<br />
wenngleich konsequente Folge, des von der Idee her radikal demokratischen Gedankens. Der<br />
Sykophant wird wie Penia weggeprügelt - als Bild für die Revolte der Armen und Rechtschaffenen<br />
gegen die staatsbeherrschenden Reichen/Ungerechten/Schurken. Durch diese Parallelität der<br />
Form des Abgangs Penias und des Sykophanten ist evident und unwiderlegbar, daß Penia und der<br />
Sykophant Vertreter derselben Interessengruppe sind, daß beide ein und dieselbe gesellschaftliche<br />
Idee vertreten. […]<br />
Während es in Wirklichkeit (in der Wirklichkeit des Spiels) so ist, daß die Voraussetzungen für wahre<br />
Demokratie (wie Aristophanes es verstand) geschaffen wurden, indem Plutos wieder sehend<br />
gemacht wurde, spricht der Sykophant davon, die Demokratie sei abgeschafft worden, »ohne es<br />
beim Rat der Bürger noch in der Volksversammlung überzeugend gefordert zu haben«. Der Gedanke:<br />
Die Machtinstrumente der Herrschenden müssen benutzt werden, wenn man etwas gegen die<br />
Herrschenden unternehmen will. Nun, diesen aberwitzigen Vorschlag hatten die Bauern schon<br />
längst durch die eigene Praxis ad absurdum geführt, indem sie Penia wegjagten. Nicht zu<br />
übersehen aber ist noch, daß der Sykophant den Gott als seiner Macht ausgeliefert darstellt - wieder<br />
ein Exempel für Aristophanes ' materialistische Auffassung, daß die Götter nur als ideologische<br />
6
Handlanger der herrschenden Reichen fungieren. In der Tat, die Demokratie ist wirklich aufgelöst,<br />
abgeschafft, seit Plutos wieder sehen kann und alle Rechtschaffenen reich gemacht hat, aber nur<br />
die Demokratie für die plutokratisch-oligarchischen Kreise; wiederhergestellt wurde die Demokratie<br />
für die Armen und Rechtschaffenen, für die Masse des Demos. Gemessen an dem Geschehen, das<br />
sei noch einmal betont, liegt die besondere Komik der Szene in dem Widersinn, daß der Sykophant<br />
fordert, eine Revolte gegen die Herrschenden müsse bei den Institutionen der Herrschenden<br />
beantragt werden.<br />
Des weiteren erscheint Hermes, den der Magen kneift, weil die Menschen nicht mehr opfern und<br />
die Götter darum nichts mehr zu beißen haben. Die Folge: Die Götter haben ausgespielt - Hermes:<br />
»Ich bin verloren und verratzt«, Karion: »Du hast ganz recht«. Erneut wird der aristophanische<br />
Materialismus evident: Schlicht die Möglichkeit, sich ernähren zu können, bildet die Voraussetzung<br />
zum Leben. Es ist klar, daß hier nichts anderes erfolgt als die Verdoppelung des bisherigen<br />
Schicksals der Bauern, nun aber auf dem Rücken der bisherigen Nutznießer.<br />
Auszug aus: Schareika, Helmut (1978): Der Realismus der aristophanischen Komödie. Frankfurt am<br />
Main: Peter Lang Verlag.<br />
7
Das Groteske, der Karneval und die Götter<br />
Im Leben der Völker manifestiert sich die Groteske im Karneval: In der Antike, im Mittelalter, in der<br />
Renaissance. Das Groteske setzt karnevalistisches Weltempfinden voraus. Die Freiheit dazu war,<br />
wie jede Freiheit, relativ. Sie beschränkte sich auf die Feiertage, im Mittelalter wie in der Antike. Der<br />
Feiertag setzte gleichsam das ganze offizielle System mit seinen Verboten und hierarchischen<br />
Schranken außer Kraft. Am Festtag wird alles Negative ins Komische verkehrt und so vernichtet,<br />
denn das Lachen war stets eine freie Waffe in der Hand des Volkes. Karneval ist dabei ein<br />
Schauspiel ohne Rampe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer. Dem<br />
Karneval wird nicht zugeschaut, er wird gelebt, er feiert den Wechsel, den Vorgang der Abfolge von<br />
Altem und Neuem, Totem und Lebendigem – nicht das, was den Wechsel jeweils bringt. Der<br />
Karneval ist somit funktionell und nicht substantiell. In den lebendigen Karnevalsgestalten ist der<br />
Tod schwanger, erweist sich der gebärende Schoß als Grab. Entsprechend ihrer Herkunft und ihrer<br />
Funktionalität gehört die altattische Komödie zur Karnevalskultur. Alle Formen des rituellen<br />
Lachens, dem die alte Komödie entstammt, hingen mit Tod und Auferstehung, mit dem<br />
Zeugungsakt, mit den Symbolen der Fruchtbarkeit zusammen. Das rituelle Lachen war eine<br />
Reaktion auf die Krisen im Leben der Sonne (die Sonnenwenden – Lenaien), die Krisen im Leben der<br />
Gottheit, im Leben der Welt und des Menschen. [...]<br />
Dionysos, der Gott der Festspiele, und alle anderen Götter sind tot, vernichtet im Plutos wie in<br />
anderen Stücken des Aristophanes; was aber lebt, ist die komische, karnevalistische Haltung des<br />
Volkes gegenüber dem Negativen in der Welt, und sie ist wirksam. Die attische Komödie als Teil der<br />
dionysischen Feier (Dionysos ist der Gott der Fruchtbarkeit neben Demeter; es gibt in seinem<br />
Mythos zahlreiche Verbindungen zur Unterwelt – neben Osiris und Christus ist er eine der Gestalten,<br />
die vom Tode zum Leben auferstehen) vernichtet (ästhetisch) obsolete Realität und schafft in der<br />
Feier des Sieges eine neue Wirklichkeit. Dabei verschafft sie den Zuschauern dieselbe Freude und<br />
und fordert sie zum Mitfeiern auf. Auch in der aristophanischen Komödie existiert letztendlich keine<br />
Trennung in Akteure und Zuschauer. Das ist besonders deutlich beim Komödienschluß, aber auch<br />
in solchen Erscheinungsformen wie der steten Durchbrechung der Fiktion (z.B. mit dem Mittel des<br />
Beiseitesprechens), wodurch der Zuschauer beständig im Sinne des »tua res agitur« aktiviert wird.<br />
Das die Komödie beschließende Fest stellt also nichts anderes dar als eine ästhetische<br />
Verdoppelung des Festes, in dessen Rahmen die Komödie aufgeführt wird. Ziel der Akteure im<br />
Stück und Ziel der Festfeiernden fallen zusammen, das Ziel der Komödie dient der Verdeutlichung<br />
8
des Zieles des Festes. Dessen allgemeiner Charakter (der Begrüßung des Frühlings) findet seinen<br />
spezifischen Reflex in der Perspektive des Stückes. So dient auch der Plutos den Ideen der<br />
Demokratisierung der Gesellschaft.<br />
Auszug aus: Schareika, Helmut (1978): Der Realismus der aristophanischen Komödie. Frankfurt am<br />
Main: Peter Lang Verlag.<br />
9
Antike Komödie<br />
In seinem »Gastmahl« berichtet Platon von einem Trialog zwischen Sokrates, Agathon und<br />
Aristophanes. Nach einem langen nächtlichen Gespräch habe Sokrates den beiden Komödienschreibern<br />
klarzumachen versucht, daß es ein und desselben Dichters Sache sei, »Komödien und<br />
Tragödien schreiben zu können, denn wer seiner Kunstfertigkeit nach Tragödiendichter sei, der sei<br />
auch Komödiendichter«. Eine rhetorische, im attischen <strong>Theater</strong> nie verwirklichte Forderung; und<br />
dennoch so utopisch nicht: denn Tragödie und Komödie hatten in denselben kultischen Bereichen<br />
ihren Ursprung, müssen sich im Bewußtsein der Athener sehr bald als zwar gegensätzliche, doch<br />
gleichartige, als kontempläre, polare Ausdrucksformen derselben Sache: des Spiels, etabliert<br />
haben und wurden überdies während derselben Festlichkeiten nacheinander aufgeführt. Trotzdem<br />
wurde in Athen zwischen Tragödie und Komödie — bis hin zu ihren Ausführenden: dem Chor und<br />
den Schauspielern — entschiedener getrennt als zu manchen späteren Zeiten (und schon zwei<br />
Jahrhunderte später in Rom, wo es durchaus möglich war, daß ein und derselbe Dichter tragische<br />
und komische Spiele verfaßte). Das mag daher kommen, daß sich die Komödie von vornherein<br />
anderer Motive, anderer Spielanlässe, anderer Ausdrucksformen, anderer ästhetischer Gesetze<br />
also, bediente.<br />
Die Anfänge der attischen Komödie<br />
Vom dionysischen Tanz zum komischen Spiel: diese Formel (die Hans Herter zum Titel einer Studie<br />
über die Anfänge der attischen Komödie machte) umreißt den Weg zur Komödie als eigenständiger<br />
Kunstgattung. Die Stadien auf diesem Weg liegen im Dunkeln und lassen sich an Hand von<br />
Vasenbildern, Terrakotten (Figuren aus gebranntemTon), Dichtungs-Fragmenten und Zeugnissen<br />
antiker Poetologen (Aristoteles) nur unsicher und unvollständig rekonstruieren. Eines jedoch steht<br />
fest: die Komödie ist in ihren Vorformen an den Götter-Kult fixiert: an die Rituale für die<br />
Fruchtbarkeitsgötter Demeter und Dionysos. Mit »komos« — davon leitet sich der Name »Komödie«<br />
ab — wurden jene ausgelassenen Schwärme bezeichnet, in die sich die Dionysos-Umzüge<br />
taumelnd-fröhlich auflösten. Masken waren bei diesen festlichen Umzügen kultische<br />
Notwendigkeit. Daß es sich dabei keineswegs um metallene, starre Gebilde mit tragisch<br />
aufgerissenem Mund handelte, wie sie heute als stilisiertes Symbol des <strong>Theater</strong>s schlechthin<br />
dienen, hat bereits Siegfried Melchinger in seinem Sophokles-Band dieser Reihe angemerkt: zur<br />
Maskierung genügte es, sich das Gesicht mit Ruß oder Farbe einzuschmieren oder unter<br />
10
Laubranken verschwinden zu lassen. Man vermummte sich zu — den Dionysos begleitenden —<br />
Wesen, die halb Tier, halb Mensch waren. Diese Tiermaskierung findet sich später in zahlreichen<br />
Tierchören der aristophanischen Stücke wieder; außerdem beweisen die vielen Tiernamen in den<br />
Stücktiteln der alten attischen Komödie (auch bei Aristophanes) die Verbindung zum Dionysoskult.<br />
In die Komödie hinübergerettet hat sich auch der Phallos, der den Schauspielern überdimensional,<br />
aus rotem Leder und nicht selten erektiert (»Lysistrate«) zwischen den Beinen baumelte: er wurde<br />
bei den Umzügen — zuweilen in meterlangen Nachbildungen — als festliches Symbol der<br />
Fruchtbarkeit getragen. Zu der Phallos-Prozession gehörten auch Gesänge und Scherze;<br />
Aristophanes gibt in den »Acharnern« davon ein Bild.<br />
Es ist anzunehmen, daß sich die Mitglieder der Umzüge in spöttischen Bemerkungen und kleinen<br />
Spottversen und Spottliedern an die Zuschauer wandten, vielleicht sogar in polemischen Attacken<br />
auf bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Solche mit der Handlung nicht zusammenhängenden<br />
Liedchen singt etwa der Chor der Seligen in den »Fröschen« des Aristophanes. Unklar<br />
ist jedoch der nächste, der eigentlich dramatische Schritt: die Gegenüberstellung Schauspieler/<br />
Chor. Dazu Hans Herter: »Einen Augenblick möchte man... daran denken, daß aus der Menge der<br />
Zuschauer jemand hervorgetreten wäre, der sich in einem Agon (Wettstreit mit Worten) mit dem<br />
Chor einließ, aber schon die Übereinstimmung der Tracht des Schauspielers mit der des Chors<br />
(später in den Komödien) warnt davor, ihn für einen Zuwachs von außen zu halten; es ist ja auch<br />
schwer vorstellbar, daß eine Zufälligkeit, wie sie ein Eingreifen aus den Reihen des Publikums doch<br />
zunächst darstellen mußte, eine so entscheidende Entwicklung eingeleitet haben sollte.« Andere<br />
Altphilologen haben außerattische Einflüsse angenommen, um die Einführung des Schauspielers<br />
zu erklären; Einflüsse aus ionischem Bereich (dort waren Phallophoroi, Autokabdaloi, Ithyphalloi<br />
bekannt), Einflüsse der derben unteritalienischen Phlyaken-Dichtung und der sizilischen<br />
Dorfkomödien (Epicharm), Einflüsse vor allem der sehr derben, niederen megarischen Possen, die<br />
in Eupolis ihren bekanntesten Vertreter fanden (und die Aristophanes in den ACHARNERN kräftig<br />
verspottet). Trotz differierender Meinungen hat sich jedoch die Ansicht durchgesetzt, daß die<br />
attische Komödie eine eigenständige attische Schöpfung ist.<br />
Vom Tyrannen Peisistratos (ca. 600 bis 527) wurden die Dionysos-Umzüge zu Staatsfesten<br />
umgestaltet, etwa im zweiten Drittel des sechsten Jahrhunderts. Den Tragödien-Aufführungen, die<br />
ursprünglich mit — von den Tragödiendichtern verfaßten — Satyrspielen beschlossen wurden,<br />
wurden 486 zum ersten Mal Komödienaufführungen beigegeben. Wir wissen, daß ein Stück von<br />
einem Dichter namens Chionides aufgeführt wurde; das Stück selbst ist nicht erhalten geblieben.<br />
11
Die Komödien auf der antiken Bühne<br />
Gespielt wird zweimal im Jahr: seit 486 im Anschluß an die Tragödienaufführungen an den großen<br />
(städtischen) Dionysien im März (in dem <strong>Theater</strong> südlich der Akropolis, dessen Ruinen bis heute<br />
erhalten sind); und seit etwa 440 auch an den Lenäen im Januar (dieser Spielort — das Lenaion —<br />
ist noch nicht festgestellt). Siegfried Melchinger hat im Sophokles-Band dieser Reihe ausführlich<br />
<strong>Theater</strong> und Aufführungsgewohnheiten rekonstruiert: es sei an dieser Stelle darauf verwiesen.<br />
Aus den — lange vor dem Festtermin — eingereichten Stücken wählte ein »Archon« fünf für die<br />
Aufführung aus, bestimmte die »Choregen«, das sind die Mäzene, die die Kosten der Aufführungen<br />
zu tragen hatten, und die »Chorodidaskaloi« (Regisseure), die die Inszenierungen besorgten.<br />
Aristophanes ließ einige seiner Stücke durch solche Chorodidaskaloi zur Aufführung bringen; deren<br />
Namen wurden in staatliche Listen aufgenommen, aber der Name des Dichters war dem Publikum<br />
vermutlich trotzdem bekannt. Die Aufführungen selbst fanden als Wettbewerbe statt: über den<br />
Sieger hatte das Publikum zu entscheiden. Jede Komödie wurde zu Lebzeiten ihres Verfassers nur<br />
ein einziges Mal aufgeführt; das erklärt auch die immense Produktion der antiken Komödienschreiber,<br />
die es teilweise auf eine Stückzahl von über zweihundert brachten. Eine einzige<br />
Ausnahme ist bekannt: die »Frösche« des Aristophanes wurden noch zu seinen Lebzeiten ein<br />
zweites Mal gespielt. Die Gewohnheit des einmaligen Spiels betraf übrigens auch die Tragödien. Sie<br />
brachte eine Vielfalt von Talenten und Temperamenten im Spielplan des attischen <strong>Theater</strong>s mit<br />
sich, aber auch Schnellebigkeit der Stücke. Beifall sei nur ein Jahresgewächs, bemerkt<br />
Aristophanes in den »Rittern«; er selbst profitierte freilich davon: oft genug verspottet er Dichter,<br />
die, im Jahr zuvor noch eifrig beklatscht, nur zu rasch passé sind.<br />
ARISTOPHANES. Die Aufführungen seiner Stücke müssen noch sehr an kultische Gebräuche<br />
erinnert haben — nicht zufällig ziehen Chöre und Protagonisten am Schluß des öfteren zu<br />
Festlichkeiten aus der Arena. Kultische Gebräuche haben sich noch am ehesten im Chor (der aus<br />
vierundzwanzig Choreuten bestand) erhalten. Er imitiert des öfteren Tiere, wie gesagt: Frösche,<br />
Wespen, Vögel, Störche; stellt aber auch Imaginäres dar: Wolken, Jahreszeiten. Die Maske wird<br />
durch Schwänze, Felle, ausgebreitete Flügel ergänzt. In den »Vögeln« treten die buntbefiederten<br />
Mitglieder des Vogelstaates einzeln auf, damit die Zuschauer ausreichend Gelegenheit haben, die<br />
Kostümierung zu bewundern. Die Affinität zum Tanz liegt nahe. Ein Prototyp des Tanzes ist der<br />
(obszöne) Kordax. Die Schauspieler tragen grundsätzlich Masken. Frauenrollen werden von<br />
Männern gespielt. Die Masken imitieren zuweilen karikierend berühmte Persönlichkeiten<br />
12
(Staatsmänner; Sokrates soll sich während der Aufführung der »Wolken« von seinem Platz erhoben<br />
haben, um dem Publikum den Vergleich mit seiner karikierten Wiedergabe auf der Bühne zu<br />
ermöglichen) oder Götter (Herakles). Ansonsten bilden sie grotesk verzerrend Typen nach, mit<br />
»quellenden Glotzaugen, kleinen Stumpfnasen und breitgezogenen Mündern, die ein unheimliches<br />
Grinsen zeigen« (G. Krien). Die grotesken Übersteigerungen setzen sich im Kostüm fort: dick werden<br />
Bauch und Hintern ausgestopft; Brustwarzen und Bauchnabel werden zuweilen aufgemalt. Die<br />
grotesk verzerrende Staffage mag in einem ebenfalls übersteigerten Gebärdenspiel eine Parallele<br />
und Fortsetzung gefunden haben. Die Sprechweise war differenziert: lyrische wechselten mit<br />
drastisch-spöttischen Passagen; außerdem wurden sicherlich Tonfall und Gestus der karikierten<br />
Zeitgenossen übertreibend kopiert. Die Szene war von derjenigen der Tragödie nicht grundsätzlich<br />
verschieden. Heinz Kindermann nimmt an, daß das Dach des Skene-Gebäudes ins Spiel mit<br />
einbezogen wurde; er berichtet außerdem von einem Kran, der, an der linken inneren Ecke der<br />
Skene stehend, Götter, Menschen, Tiere oder den Mistkäfer im »Frieden« durch die Luft befördern<br />
konnte. Man muß sich — nach alledem — Aristophanes-Aufführungen als belustigende Spektakel<br />
vorstellen, in denen sich Wortspiele und Tanz, satirische Angriffe in Wort und Bild auf berühmte<br />
Zeitgenossen, <strong>Theater</strong>zauber und Götteranrufungen, phantastisches Treiben und lyrische Gesänge<br />
zu neuer Einheit verbanden.<br />
Auszug aus: Eder, Klaus (1968): Antike Komödie. Friedrich Verlag.<br />
13
Obszönes und Sprache<br />
OBSZÖNES (Aischrologie). Obszön ist, definiert Ludwig Marcuse, wenn »wer oder was irgendwo<br />
irgendwann aus irgendwelchem Grund zur Entrüstung« getrieben hat. Wenn es zum Obszönen<br />
gehört, Entrüstung zu provozieren, dann waren die Komödien des Aristophanes nicht obszön,<br />
jedenfalls nicht zur Zeit ihrer ersten Aufführung. An den stilisierten Phalloi aus rotem Leder, die<br />
nicht selten erektiert getragen wurden; am Koitus, zu dem die Schauspieler oft die Bühne verließen,<br />
am Schluß der »Lysistrate« gar in Scharen; an der Lust der alten Weiber an starken Burschen und<br />
der Lust der Männer an schlanken Knaben; an der Aufforderung zur Onanie nahm niemand Anstoß<br />
(wenigstens ist nichts Entsprechendes überliefert), und selbst derbe Ausdrücke für biologische<br />
Vorgänge — Furzen, Pissen, Scheißen, Kacken in Seegers Übersetzung — galten den männlichen<br />
Zuschauern (und nur sie waren bei den Festen als Zuschauer zugelassen) nicht als anstößig. Zwar<br />
gab es um 440 Versuche, persönliche Angriffe auf dem <strong>Theater</strong> zu verbieten, und Aristophanes<br />
mußte einmal selbst die Folgen dieses Gesetzes verspüren — aber das waren politische Gründe;<br />
weder Respektlosigkeit vor den Göttern noch eben sexuelle Drastik erregten die Richter. Wie auch:<br />
der Phallos galt damals noch als Symbol geschlechtlicher Fruchtbarkeit, Riesen-Phalloi waren noch<br />
kurze Zeit vorher auf Umzügen zu Ehren der Götter getragen worden.<br />
SPRACHE. Die für heutige Begriffe fast unglaubliche Freiheit in der Verwendung verschiedenartiger<br />
formaler Elemente zeigt sich zuerst in der Sprache. Aristophanes schrieb seine Stücke in reinem<br />
Attisch. Die Diktion ist von großem metrischen Reichtum. Als Sprechverse werden verwendet:<br />
jambische (zweiteilig, kurz-lang oder unbetont-betont) Trimeter und Tetrameter (sechs- und<br />
achtgliedrig), trochäische (kurz-lang, fallender Rhythmus) und anapästische (dreiteilig, kurz-kurzlang)<br />
Tetrameter; als episches Maß wird der daktylische Hexameter (dreiteilig, lang-kurz-kurz;<br />
sechsgliedrig) benützt, meist beim Auftritt des Chores. Und selbst über diese Maße setzt sich<br />
Aristophanes hinweg in eigenen Wortschöpfungen, die bis zu 72 Silben erreichen können.<br />
Mit Dialekten werden Personen aus der Provinz – Boiotier, Megarer, Spartaner - gekennzeichnet. In<br />
Ansätzen findet sich bereits eine Unterscheidung der Stände durch die Sprache: Vulgarismen,<br />
Drastik im Ausdruck, Zoten werden Sklaven und Bauern in besonderem Maß zugeordnet – eine<br />
Möglichkeit der Sprachformung, die zum Beispiel das deutsche Lustspiel in seinen frühen<br />
Ausprägungen – Johann Elias Schlegel – nicht kannte und erst mit Kleist für sich entdecken<br />
musste.<br />
Auszug aus: Eder, Klaus (1968): Antike Komödie. Friedrich Verlag.<br />
14
Gesellschaftspolitische Hintergründe<br />
Große Pläne in einer neuen Zeit: »Ekklesiazusen« und »Plutos«<br />
Mit der Kapitulation Athens im Frühjahr 404 v. Chr. war der Peloponnesische Krieg zu Ende. Die Polis<br />
mußte die Langen Mauern niederreißen sowie ihre Flotte bis auf zwölf Schiffe ausliefern, und der<br />
Attische Seebund wurde aufgelöst. Wieder einmal trat an die Stelle der Demokratie eine Oligarchie,<br />
wobei diesmal dreißig pro-spartanisch gesinnte Tyrannen die Herrschaft innehatten. Doch schon<br />
im Herbst 403 erhielt die Volksversammlung ihre Souveränität zurück. Und obwohl Griechenland<br />
jetzt unter der Hegemonie Spartas stand, gelang es den Athenern nach weniger als einem<br />
Jahrzehnt, den Sieger von 404 mit einer Militärmacht zu bedrohen. Sie verbündeten sich mit<br />
Theben, Korinth und Argos und führten von 395 bis 387/86 den sogenannten Korinthischen Krieg<br />
gegen die Spartaner. Da diese im Jahre 394 durch die persische Flotte, die von dem Athener Konon<br />
befehligt wurde, in der Seeschlacht bei Knidos eine schwere Niederlage hinnehmen mußten und<br />
ihren griechischen Feinden bereits im Winter 392/91 ein Friedensangebot unterbreiteten, regte sich<br />
in Athen wieder Hoffnung auf die Rückkehr zu imperialer Macht. Fand nun das alles in den beiden<br />
Komödien des Aristophanes, die uns aus der Epoche des Korinthischen Krieges erhalten sind - es<br />
handelt sich um die »Ekklesiazusen« und den »Plutos«-, seinen Niederschlag? Ja, aber nur<br />
insofern, als auf einzelne Ereignisse, die für Athen von Bedeutung sind, hie und da angespielt wird.<br />
Sie haben jedoch keinen Einfluß auf das Bühnengeschehen. Lediglich mit einem Problem, das die<br />
neue Zeit mit sich gebracht hat, befassen sich die in den zwei Stücken auftretenden Personen: mit<br />
dem einer großen Armut, die Athen heimgesucht hat. Sie zu beseitigen und darüber hinaus das<br />
Leben der Menschen in jeder Hinsicht glücklich zu machen ist das Ziel des Großen Planes, den die<br />
Protagonisten in den »Ekklesiazusen« und im »Plutos« jeweils entwickeln.<br />
Auszug aus: Holzberg, Niklas (2010): Aristophanes. Sex und Spott und Politik. C. H. Beck Verlag<br />
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Plutos, Sohn der Demeter und des Iasion. Nach der Hochzeit von Kadmos und Harmonia liebte<br />
Iasion die Göttin in einem kretischen Felde. Plutos` Name bedeutet »Reichtum«, und er schützt die<br />
Fülle der fruchtbaren Felder. Plutos wurde zusammen mit seiner Mutter in Eleusis verehrt. Es gab<br />
eine Überlieferung, nach der Zeus Plutos geblendet hatte, um ihn bei der Zuteilung der Güter<br />
unparteiisch zu machen und zu verhindern, dass die Reichen noch reicher würden. In Aristophanes<br />
»Plutos« benannter Komödie hat er das Augenlicht zurückgewonnen, um die ehrlichen von den<br />
unehrlichen Menschen unterscheiden zu können.<br />
Demeter, die große Erdgöttin, Schützerin der Fruchtbarkeit und Göttin der Eleusischen Mysterien;<br />
eine der zwölf großen olympischen Gottheiten und eins der sechs Kinder von Kronos und Rhea.<br />
Durch ihren Bruder Zeus wurde sie Mutter der Persephone. […] Ihr Name bedeutet »Mutter Erde«.<br />
[…] Demeter war auch auf der Hochzeit von Kadmos und Harmonia und begegnete dort dem<br />
Sterblichen Iasion, mit dem sie auf dreifach gepflügtem Brachland in Kreta schlief. Zeus schlug<br />
Iasion für seine Vermessenheit mit einem Donnerkeil und tötete oder verkrüppelte ihn. Demeter soll<br />
dem Iasion zwei Söhne geboren haben: Plutos (Reichtum) und Philomelos (Freund der Lieder).<br />
Iasion, […] Demeter und Iasion sollen sich zuerst auf der Hochzeit von Kadmos und Harmonia<br />
begegnet sein; nach einer anderen Darstellung war Harmonia Iasions Schwester. Sie zeugten ein<br />
Kind, Plutos (Reichtum); doch als Zeus (nach Homer) von der Verbindung erfuhr, vernichtete er<br />
Iasion mit einem Donnerkeil. Der römische Dichter Ovid versichert dagegen, Iasion habe ein hohes<br />
Alter erreicht, und dass Demeter sein graues Haar beklagte. […] Ein späterer Autor, Hyginus,<br />
erzählt, dass Demeter und Iasion einen weiteren Sohn hatten, Philomelos, der den Wagen erfand<br />
und daher in dem gleichnamigen Sternbild verewigt wurde.<br />
Auszüge aus Grant, Michael und Hazel, John (2009): Lexikon der antiken Mythen und Gestalten.<br />
Berlin List Taschenbuch.<br />
16
Midas<br />
Bacchus wandelt' einmal zu den Weinhöh'n seines Tymolos,<br />
Und den paktolischen Auen, wiewohl noch golden der Strom nicht<br />
Flutete, noch nicht Neid mit köstlichem Sande hervorrief.<br />
Seine gewöhnliche Schar, Bacchinnen und Satyre, folgt' ihm,<br />
Nur ward Silenus vermißt: den taumelnden Alten im Weinrausch<br />
Hatten phrygische Bauern gehascht, und in fesselnden Kränzen<br />
Hin zum Könige Midas geführt: dem der Thrazier Orpheus<br />
Nächtliche Feier gelehrt, mit des Cekrops Bürger Eumolpos.<br />
Dieser, sobald er erkannt den Genossen der heiligen Innung,<br />
Ehrte den kommenden Gast mit fröhlich gefeierten Schmäusen,<br />
Zehn der Tage hindurch, und zehn mitfolgende Nächte.<br />
Lucifer hatte bereits am elften Morgen den Heerzug<br />
Schwebender Sterne verscheucht, als froh in die lydischen Felder<br />
Midas ging, und Silenus dem blühenden Zöglinge darbot.<br />
Ihm gab Bacchus die Wahl, die schmeichelte, aber nicht frommte,<br />
Sich ein Geschenk zu ersehn, für den wiedergefundenen Pfleger.<br />
Übel die Gab' anwendend, erwidert' er: Schaffe, daß alles,<br />
Was mein Leib auch berührt, in funkelndes Gold sich verwandle!<br />
Machtvoll winket dem Wunsch, ein Geschenk zum Schaden gewährend,<br />
Bromius; doch er bedau'rt, daß ihm nichts Besseres einfiel.<br />
Froh des Bösen enteilt der berecynthische Hochfürst,<br />
Und das verheißene Wort versuchet er, alles berührend.<br />
Kaum nun glaubt er sich selbst, da der niedrigstämmigen Eiche<br />
Ein hellgrünendes Reis er entzog: und golden das Reis ward.<br />
Rasch erhob er den Stein; auch der Stein erblaßte zu Golde.<br />
Eine Scholle berührt' er; die Scholl' in der mächtigen Hand war<br />
Flimmerndes Erz. Er raufte sich dorrende Ähren der Ceres;<br />
Sieh, und er erntete Gold. Wenn er Obst vom Baume sich abpflückt,<br />
Scheint es der Hesperiden Geschenk. Wenn den ragenden Pfosten<br />
Kaum sein Finger genaht, gleich strahlt's von den Pfosten wie Feuer.<br />
Selbst wann jener die Händ' in lauteren Fluten gewaschen,<br />
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Konnt' auch Danaë täuschen die Flut, von den Händen gerötet.<br />
Kaum noch umfaßt sein Herz die Hoffnungen: golden erscheint ihm<br />
Alles. Den Tisch nun ordnen dem Fröhlichen emsige Diener,<br />
Voll mit leckerem Fleische gehäuft, und gebackener Feldfrucht.<br />
Aber anjetzt, sobald er mit eigener Rechte der Ceres<br />
Gabe gerührt, so erstarrte die heilige Gabe der Ceres;<br />
Oder sobald er das Fleisch mit dem Zahn zu malmen gedachte,<br />
Ward es zu gelblichem Blech, und klirrt' ihm unter den Zähnen.<br />
Traubensaft von dem Schöpfer der Wohltat mischt' er mit Wasser;<br />
Gleich schien flüssiges Gold ihm hinab in die Kehle zu gleiten.<br />
Jetzt vom befremdenden Übel geschreckt, so reich und so elend,<br />
Wünscht er dem Gut zu entfliehn, und das eben erflehete haßt er.<br />
Was er gehäuft, nichts stillet den Hunger ihm, trockener Durst auch<br />
Brennet den Gaum, und es quält das gehässige Gold nach Verdienst ihn.<br />
Und nun hebt er die Händ' und glänzenden Arme gen Himmel:<br />
Gnad', o Vater Lenäus! Verzeih! Wir sündigten! ruft er:<br />
Aber ich fleh' um Erbarmen: entreiß mich dem schimmernden Unglück!<br />
Bacchus, der freundliche Gott, sobald er die Sünde bekennet,<br />
Stellt ihn her, und löst das verliehene Ehrengeschenk auf.<br />
Daß nicht Tünche dir bleibe des übel erfleheten Goldes,<br />
Wandele, spricht er, zum Fluß ohnweit der mächtigen Sardes;<br />
Über des Bergs Anhöhn der rollenden Welle begegnend.<br />
Flügle den Weg, bis oben des Stroms Urquelle du findest.<br />
Dann, wo der schaumige Born mit Gewalt aufsprudelt, hinein dort<br />
Tauche das Haupt, und spüle zugleich mit dem Leibe die Schuld ab.<br />
Midas ersteigt die befohlene Flut; und die Kräfte des Goldes<br />
Färben den Strom, und weichen vom menschlichen Leib' in die Wasser.<br />
Jetzt annoch von dem Samen der schon hochaltrigen Ader<br />
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Starrt das Gefild', in den Glimmer der goldgefeuchteten Schollen.<br />
Er nun haßte das Gut, und bewohnete Fluren und Wälder,<br />
Dienend dem Pan, der immer in felsigen Grotten sich lagert.<br />
Aber es blieb sein feister Verstand, und schädlich wie vormals,<br />
Ward dem Besitzer von neuem das Herz voll törichten Sinnes.<br />
Weit in das Meer vorschauend mit steil aufstrebender Felswand,<br />
Starrt des Tmolos Gebirg', und in doppeltem Hange sich dehnend,<br />
Grenzt es hier an Sardes, und dort an die kleine Hypäpa.<br />
Als hier Pan sein tändelndes Lied holdseligen Nymphlein<br />
Vorblies, messend den Ton auf wachsvereinigtem Rohre,<br />
Wagt' er vor sich zu verachten den Hochgesang des Apollo:<br />
Unter dem richtenden Tmolos begann der vermessene Wettkampf.<br />
Sitzend auf eigenen Höhn urteilt der altende Berggott,<br />
Frei sein Ohr von Gebüsch; die Eiche nur gürtet des Hauptes<br />
Bläuliches Haar, und umwallt die gehöhleten Schläfen mit Eicheln.<br />
Drauf zum Gotte des Viehes gewandt: Der Richtende, sprach er,<br />
Säumet euch nicht! und sofort durchschmetterte jener das Feldrohr.<br />
Voll von Entzückung vernahm der mit zuhörende Midas<br />
Seinen barbarischen Hall. Nun wandte sein heiliges Antlitz<br />
Tmolos gegen Apollo; dem Antlitz folgte sein Wald nach.<br />
Jener, das goldene Haupt mit parnasischem Lorbeer umwunden,<br />
Schleppt den langen Talar, von lyrischem Blute gesättigt;<br />
Und sein blinkendes Spiel voll Elfenbeins und Gesteines<br />
Hält in der Linken der Gott, und hält in der Rechten den Schlägel.<br />
Stellung und Blick war würdig der Kunst. Mit kundigem Daum nun<br />
Regt er der Saiten Getön. Von der wonnigen Süße bezaubert,<br />
Heißt der Gott des Gebirgs nachstehn der Gitarre das Feldrohr.<br />
Allen gefällt die Entscheidung des wohl urteilenden Tmolos.<br />
Dennoch tadelt allein und nennt unbillig den Ausspruch,<br />
Midas in lautem Geschwätz. Nicht duldet der Delier Phöbus,<br />
Daß noch Menschengestalt die törichten Ohren behalten;<br />
19
Sondern er reckt' sie in Läng', und hüllt sie in greuliche Zotten;<br />
Unstet schafft er das untre Gelenk, und von leichter Bewegung.<br />
Übrigens Mensch, wird jener am einzigen Teile verdammet,<br />
Und mit den Ohren begabt des langsam schreitenden Esleins.<br />
Zwar verhehlt er die Schläfen, von kränkendem Schimpfe belastet,<br />
Dicht sie umher einhüllend mit purpurstrahlendem Turban.<br />
Aber ein Dienstgenoß, dem das lange Haar zu beschneiden<br />
Oblag, hatt' es gesehn. Der wagete weder der Unzier<br />
Kühnen Verrat, wie sehr auch das Herz sich zu lüften begehrte;<br />
Noch vermocht' er die Schau zu verheimlichen. Weg nun gewendet,<br />
Gräbt er die Erd', und wie seltsam die Ohren des Herrn er geschauet,<br />
Meldet er leis', und vertraut dem gehöhleten Grund ein Geflüster.<br />
Wiederum mit der Erde der Stimm' Anzeige verscharrend,<br />
Geht er hinweg stillschweigend, und läßt die verschüttete Grube.<br />
Aber ein drängender Hain von zitternden Halmen des Rohres<br />
Steiget empor; und sobald im vollendeten Jahr er gereifet,<br />
Klagt er den Ackerer an: denn jedes verscharrete Wörtchen<br />
Zischelt er, rege vom Süd, des Königes Ohren verkündend.<br />
Auszug aus: Ovid: Metamorphosen - Kapitel 50, Elftes Buch<br />
20
Pazifikinsel Nauru<br />
Mist, waren die reich!<br />
Villen, Autos und Koffer voller Geld: Die Bewohner Naurus lebten in den siebziger Jahren in Saus<br />
und Braus. Die Pazifikinsel war das reichste Land der Erde - dank Bergen von Vogelkot, der zu<br />
Phosphat geworden war. Doch was nach dem Paradies klingt, war nur Teil einer großen Tragödie.<br />
Irgendwann reinigte der Staat auch noch auf seine Kosten die Toiletten seiner Bürger. Und<br />
spendierte den abendlichen Kinobesuch.<br />
Nicht, dass das noch jemanden gewundert hätte auf der winzigen Pazifikinsel Nauru. In einem Land<br />
ohne Sorgen. In dem in den siebziger Jahren viele Menschen sechs Autos besaßen und sich nicht<br />
ärgerten, wenn ihr Jeep eine Panne hatte. Sie ließen ihn einfach am Straßenrand liegen und<br />
kauften sich einen neuen. Steuern? Fehlanzeige. Strom, Wasser, Medikamente? Alles kostenlos.<br />
Arbeitslosigkeit? Nicht vorhanden. Jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Wer arbeitet schon, wenn<br />
er im Geld schwimmt?<br />
»Paradiese, gibt's die?« fragte 1973 die »Bild«-Zeitung - und gab mit leicht neidischem Unterton<br />
selbst die Antwort: »Eines bestimmt. Es liegt 2900 Kilometer nordöstlich von Australien, mitten im<br />
blauen Pazifik, heißt Nauru. Auf dieser Insel braucht man keinen Finger zu rühren.«<br />
Das war keine der üblichen Übertreibungen des Boulevards. Und doch irrte die »Bild«. Nauru war nie<br />
ein Paradies. Sondern ein menschengemachter Alptraum. Die heute nahezu vergessene<br />
Geschichte des drittkleinsten Staats der Erde klingt wie ein groteskes kulturelles Missverständnis.<br />
In dem nur 21 Quadratkilometer großen Eiland lassen sich wie durch ein Brennglas zentrale<br />
Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts erkennen. Die Gier des Kolonialismus. Das Grauen<br />
zweier Weltkriege. Die Absurdität der Globalisierung.<br />
Ein Schatz als Türstopper<br />
»Die Geschichte Naurus könnte frei erfunden sein, wie ein Gleichnis oder eine Fabel«, schreibt der<br />
französische Journalist Luc Folliet, der jahrelang zu dem Thema recherchierte und dessen Buch<br />
(»Die verwüstete Insel«) jetzt auf Deutsch erschienen ist. »Leider ist dem nicht so.«<br />
Die Kette verhängnisvoller Ereignisse trat der Australier Henry Denson los, Kapitän der britischen<br />
Handelsgesellschaft Pacific Island Company. 1896 fand er während eines Landgangs auf Nauru<br />
21
einen seltsamen Stein, der wie versteinertes Holz aussah. Drei Jahre lang, so will es zumindest die<br />
Legende, benutzte Denson das Fundstück lediglich als Türstopper in seinem Büro, bis ein<br />
Arbeitskollege auf den Stein aufmerksam wurde und ihn analysieren ließ.<br />
Das Ergebnis war eine echte Sensation, die das Schicksal Naurus radikal verändern sollte: Der Stein<br />
bestand aus fast reinem Phosphat, einem der wichtigsten Bestandteile für Düngemittel, der<br />
zeitweilig fast so wertvoll wie Gold eingeschätzt wurde. Denson hatte versehentlich einen Schatz<br />
gehoben - und ihn ausgerechnet in das Büro der Pacific Island Company geschleppt. Die hatte<br />
schon seit Jahren mit nur wenig Erfolg nach Phospat für die kargen Böden Australiens gefahndet.<br />
»Sie sieht aus wie Scheiße«<br />
Doch jetzt war es fast zu spät. Inzwischen hatte das deutsche Kaiserreich, ohne etwas von dem<br />
gigantischen Reichtum zu ahnen, Nauru zu seinem Schutzgebiet erhoben. Damit wurde die kleine<br />
Insel erstmals zum Zankapfel der Großmächte. Und das im Grunde nur wegen uralten Kots von<br />
Millionen Seevögeln. Im Verlauf von Jahrtausenden hatten sie ihre Brutinsel meterhoch mit ihrem<br />
Dung, Guano genannt, überzogen. Durch eine chemische Reaktion mit den Kalkböden der Insel und<br />
der tropischen Witterung war daraus fast reines Calciumphosphat geworden.<br />
Der versteinerte Vogelmist, er sollte in den nächsten Jahrzehnten die Weltpolitik mitbestimmen.<br />
»Nauru ist eine Insel aus Scheiße«, sagte einmal ein australischer Anwalt über das Eiland. »Sie<br />
sieht aus wie Scheiße, und sie riecht wie Scheiße, aber wenn Sie Geschäftssinn haben, können Sie<br />
in diesem Land ganz schnell eine ganze Menge Schotter verdienen.« Das war die Leitlinie, die<br />
jahrzehntelang das Schicksal der Tropeninsel bestimmte.<br />
Erst waren es die Briten, die Anfang des 20. Jahrhunderts in zähen Verhandlungen die deutschen<br />
Kolonialherren über den Tisch zogen: Die britische Phosphatgesellschaft, Nachfolger der Pacific<br />
Island Company, sicherte sich das Recht zum Phosphatabbau; die Deutschen ließen sich mit einer<br />
Dividende für die Förderung abspeisen - und die Nauruer profitierten gar nicht von dem Deal.<br />
Ein Rohstoff wird zum Fluch<br />
Dann waren es die Australier, die im Ersten Weltkrieg die Insel einnahmen. Das deutsche<br />
Kaiserreich musste laut Versailler Vertrag sämtliche Ansprüche auf seine Kolonien abgegeben.<br />
Jetzt rangen Australien, Großbritannien und Neuseeland um das Phosphat. 1919 wurde ein<br />
kompliziertes Abkommen gefunden, von dem alle drei Staaten profitierten. Nauru wurde britisches<br />
Mandatsgebiet, aber von Australien verwaltet. Nur die Inselbewohner gingen erneut leer aus.<br />
Grundbesitzer erhielten als Entschädigung für den Abbau unter ihrem Land kümmerliche 0,009<br />
22
australische Dollar pro Tonne.<br />
Und für die Nauruer wurde der Rohstoff, an dem sie nichts verdienten, langsam zum Fluch. Denn<br />
aus Phosphat lässt sich auch Sprengstoff herstellen, und Phosphat brachte ihnen erneut den Krieg.<br />
Im Dezember 1940 zerschossen deutsche Kriegsschiffe von der See aus die Förderanlagen und<br />
versenkten australische und neuseeländische Frachtschiffe. Zwei Jahre später eroberten Hitlers<br />
japanische Waffenbrüder kampflos Nauru; die australischen Truppen waren zuvor geflohen.<br />
Die Japaner bauten nun eine Landebahn, zogen binnen weniger Monate Dutzende Bunker hoch und<br />
machten die Insel zu einem wichtigen Vorposten für die Nachschubversorgung ihrer Kriegsschiffe.<br />
Als die USA begannen, das Eiland zu bombardieren, deportierten die Japaner fast die gesamte<br />
Inselbevölkerung auf das Hunderte Kilometer entfernte Chuuk-Atoll in Mikronesien. Nauru wurde<br />
zum kleinsten Schlachtfeld des Kriegs.<br />
Die alten Verträge blieben gültig<br />
Die Rückkehr wurde für die 1200 Deportierten 1946 zum Schock. »Wir erkannten Nauru nicht<br />
wieder«, berichtet eine Zeitzeugin dem Journalisten Folliet, der die Insel für seine Recherchen<br />
mehrmals besuchte. »Hunderte von Bäumen waren gefällt worden, Granattrichter entstellten die<br />
Landschaft. Die Japaner hatten alles stehen und liegen gelassen: Waffen, Geschütze, Jeeps.«<br />
Geld für den Wiederaufbau war eigentlich genügend da, denn die Inselbewohner saßen nach wie<br />
vor auf einem gigantischen Schatz. Doch nach wie vor waren auch die alten Verträge gültig: Das<br />
Monopol am Phosphatabbau gehört der britischen Phosphatgesellschaft - und das Geld floss an<br />
deren drei Aktionäre: England, Australien und Neuseeland.<br />
Und die Gewinne waren atemberaubend: Anfang der sechziger Jahre war eine Tonne Phosphat rund<br />
40 australische Dollar wert - und im Jahr wurden rund eine Millionen Tonnen aus dem Inneren der<br />
winzigen Insel gesaugt. Das Düngemittel aus Nauru machte die europäischen Äcker fruchtbar,<br />
während der Raubbau die einst grüne Tropeninsel langsam in eine gespenstische Mondlandschaft<br />
verwandelte.<br />
Ein Land feiert eine Dauerparty<br />
Dennoch hatte das Land am 31. Januar 1968 Grund zum Feiern. Nach einem jahrzehntelangen<br />
Rechtsstreit, der bis zu den Vereinten Nationen geht, gelang es dem ehemaligen Kriegsdeportierten<br />
Hammer Deroburt, Nauru die Unabhängigkeit zu erkämpfen. Jetzt verfügte der drittkleinste Staat<br />
der Welt plötzlich über den Reichtum einer Großmacht - allerdings auf Zeit. Denn schon 1968 war<br />
klar, dass das Phosphat in spätestens 30 Jahren erschöpft sein würde.<br />
23
Der Mini-Staat, der in diesem Zeitraum fast ununterbrochen von Präsident Deroburt geführt wurde,<br />
hätte seinen Reichtum klug anlegen können: Allein 1974 nahm er aus dem Phosphatabbau 450<br />
Millionen australische Dollar ein. Stattdessen feierte das Land eine Dauerparty. Die Nauruer reisten<br />
um die Welt, kauften im Ausland die teuersten Boote, Autos und Hifi-Anlagen und bauten sich<br />
immer größere Villen. Aus Langeweile kurvten sie in ihren teuren Jeeps immer wieder um eine<br />
Insel, die schon nach wenigen Minuten umrundet war.<br />
»Es war haarsträubend«, erinnert sich Violette McKay an die siebziger Jahre auf Nauru, in denen die<br />
Insel, gemessen an ihrer Fläche, das reichste Land der Welt war. »Manchmal liefen die Leute mit<br />
Aktenkoffern voller australischer Dollar herum, nur um ein Familienfest beim China-Restaurant an<br />
der Ecke zu bezahlen. Sie kannten keine Grenzen mehr.« Auf Partys seien sogar Dollarscheine als<br />
Klopapier benutzt worden.<br />
Ein Paradies - für Briefkastenfirmen<br />
Es war der Staat, der seinen Bürgern das dekadente Haushalten vorlebte und erst ermöglichte. Er<br />
zahlte fast alles, schuf unzählige gut dotierte Stellen, die niemand brauchte und stellte Hunderte<br />
Polizisten ein, obwohl es kaum Kriminalität gab. Allein die Verwaltung der Regierung verschlang<br />
jährlich 50 Millionen Dollar - eine stolze Summe für eine Zwergrepublik.<br />
Damit nicht genug: Nauru schwang sich nun zur Großmacht auf. Es kaufte in Australien sündhaft<br />
teure Hotels und ganze Stadtviertel, baute 1977 in Melbourne den höchsten Büroturm und<br />
investierte weltweit Milliarden in dubiose Finanzgeschäfte. Die staatliche Linie Air Nauru wurde mit<br />
aller Macht zur wichtigsten Fluggesellschaft im Pazifikraum gemacht, selbst wenn ihre Maschinen<br />
oft fast völlig leer blieben. Und für vier Millionen finanzierte sich Nauru 1992 sogar ein eigenes<br />
Musical am renommierten Londoner Strand Theatre, dessen Handlung so abstrus war, dass es<br />
nach wenigen Wochen wieder abgesetzt wurde.<br />
Ähnlich abrupt stürzte Ende der neunziger Jahre das ganze Land ab, als die Phosphatreserven fast<br />
erschöpft waren. Nauru war faktisch bankrott und suchte nun verzweifelt nach anderen<br />
Einnahmequellen: Die Insel mauserte sich zum Paradies für Briefkastenfirmen und<br />
Steuerflüchtlinge. Allein die russische Mafia soll dort 70 Milliarden Dollar gewaschen haben. Für 30<br />
Millionen Dollar nahm Nauru sogar Hunderte afghanische Boatpeople auf, die Australien nicht in<br />
seinen Auffanglagern haben wollte.<br />
Angeblich verkaufte Nauru sogar Pässe für jeweils 15.000 Dollar - auch an zwei mutmaßliche<br />
Terroristen. Das vermeintliche Paradies, von dem die »Bild« 1973 noch so geschwärmt hatte, stand<br />
drei Jahrzehnte später plötzlich auf der Liste der »Schurkenstaaten«; der einst reichste Staat der<br />
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Welt war zum Entwicklungsland abgesunken. Seine Bewohner mussten sich wieder von der<br />
Fischerei ernähren. Ihre Villen verfielen, die Autos verrosteten.<br />
Der kurzfristige Wohlstand hatte sie nicht glücklich, sondern fettleibig und krank gemacht. Bis<br />
heute leidet jeder Dritte an Diabetes.<br />
Von Christoph Gunkel<br />
Siehe:http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/22667/mist_waren_die_reich.ht<br />
ml<br />
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