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Stadtkultur als Voraussetzung und Folge einer dynamisierten ...

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Lutz Liffers<br />

Wie entwickelt sich die Stadt?<br />

<strong>Stadtkultur</strong> <strong>als</strong> <strong>Voraussetzung</strong> <strong>und</strong> <strong>Folge</strong> <strong>einer</strong> <strong>dynamisierten</strong><br />

Stadtentwicklung<br />

Die Kultur <strong>einer</strong> Stadt ist weit mehr <strong>als</strong> die Kulturproduktion ihrer kommunal<br />

geförderten Kultureinrichtungen. Sie umfasst die informelle Szene ebenso, wie<br />

sie Schnittmengen mit der Wissenschaft, dem Tourismus, den sozialen<br />

Bewegungen <strong>und</strong> zivilgesellschaftlichen Initiativen aufweist, <strong>und</strong> zur<br />

<strong>Stadtkultur</strong> gehört selbstverständlich auch die Architektur, die Geschichte, die<br />

kollektiven Rituale <strong>und</strong> die Mythen <strong>und</strong> Mentalitäten <strong>einer</strong> Stadt. Der<br />

Strukturwandel der Öffentlichkeit, gesellschaftlicher Wandel, aber auch<br />

Ökonomisierung der Kultur <strong>und</strong> ihre Bedeutung für die Imagebildung <strong>einer</strong><br />

Stadt haben zu dieser umfassenden Ausweitung des Kulturbegriffs geführt.<br />

"<strong>Stadtkultur</strong>" soll in diesem Impuls <strong>als</strong> Oberbegriff für einen solch weit<br />

verstandenen Kulturbegriff stehen.<br />

Einer der wichtigsten Parameter für <strong>Stadtkultur</strong> ist die Entwicklung der Stadt<br />

selbst. <strong>Stadtkultur</strong> in Metropolen wie Paris, London oder Barcelona unterliegt<br />

anderen Bedingungen <strong>als</strong> die <strong>einer</strong> mittleren Großstadt wie Bremen, Bielefeld<br />

oder Nürnberg. <strong>Stadtkultur</strong> <strong>einer</strong> "shrinking city" - <strong>als</strong>o <strong>einer</strong> schrumpfenden<br />

Stadt - entwickelt sich anders <strong>als</strong> die <strong>einer</strong> stagnierenden oder wachsenden<br />

Stadt. Deshalb kommt der Analyse der konkreten Bedingungen vor Ort eine<br />

große Bedeutung zu, will man einen Kulturentwicklungsplan aufstellen <strong>und</strong> die<br />

Weichen für die Zukunft der <strong>Stadtkultur</strong> in der Kommune neu stellen.<br />

Ich möchte in diesem Impuls zwei Thesen nachgehen, die aus m<strong>einer</strong> Sicht<br />

hohe Bedeutung für eine zeitgemäße <strong>Stadtkultur</strong> haben.<br />

1) <strong>Stadtkultur</strong> kann Motor für die "Renaissance der Stadt" sein<br />

In seinem Bericht "Renaissance der Stadt" hat das Deutsche Institut für<br />

Urbanistik schon 2005 einen neuen Trend in der Stadtentwicklung skizziert:


Bis zu Beginn dieses Jahrh<strong>und</strong>erts hatte es eine prosperierende Wirtschaft<br />

immer mehr Menschen ermöglicht, sich den Traum von einem Haus im<br />

Grünen außerhalb der Stadt zu erfüllen. An den Rändern der Großstädte<br />

wuchsen Suburbs, die aus endlosen, gleichförmigen Eigenheimen von der<br />

Stange bestanden mit <strong>einer</strong> kleinen grünen Wiese für die Kinder, Carport,<br />

Kriechwacholder <strong>und</strong> einem Grill. Dieses Modell hat an Attraktivität verloren.<br />

Vor allem junge, gut ausgebildete Leute zieht es in die Innenstädte. Sie<br />

verfolgen Lebensmodelle, in denen es keine strikte Trennung zwischen Arbeit,<br />

Wohnen <strong>und</strong> Freizeit mehr gibt. Sie suchen urbane Qualitäten, die hochflexible<br />

Arbeitsformen <strong>und</strong> individuelle Lebensstile ermöglichen, die soziale Netzwerke<br />

- real <strong>und</strong> digital -, sowie eine umfassende urbane Infrastruktur vor Ort<br />

vorhalten.<br />

Mit <strong>Folge</strong>n auch für die Kulturproduktion <strong>und</strong> Rezeption: Der nationale<br />

Bildungsbericht für 2012 konsterniert - wenig überraschend - eine ständige<br />

Zunahme digitaler Kulturaktivität. Ältere Jugendliche <strong>und</strong> junge Erwachsene<br />

verwirklichen ihre kulturellen Interessen vornehmlich in den neuen digitalen<br />

Medien - <strong>und</strong> vornehmlich in einem selbstorganisierten Rahmen <strong>und</strong> mit oder<br />

für ein begrenztes, quasi "privates" Publikum.<br />

Diese Präferenz <strong>einer</strong> bestimmten Altersgruppe für digitale Medien geht einher<br />

mit selbstorganisierten analogen Kulturaktivitäten. Über soziale Netzwerke<br />

verabredet man sich zum Musikevent an abgelegenen oder aufregenden<br />

urbanen Orten oder Bands treffen ihr Publikum via digitaler Verabredung.<br />

Kurz: Analoge <strong>und</strong> digitale Kulturproduktion <strong>und</strong> Rezeption schließen sich<br />

nicht aus, sondern werden selbstverständlich kombiniert genutzt, sie erhöhen<br />

wahrscheinlich den Grad der Selbstorganisation <strong>und</strong> erschweren die<br />

Steuerungsmöglichkeiten zentraler Kulturanbieter, bzw. erfordern neue Wege<br />

der Distribution, der Präsentation, der Publikumsarbeit.<br />

Von dieser Renaissance der Städte profitieren diejenigen Großstädte, die über<br />

Universitäten, hochwertige Dienstleistungen <strong>und</strong> hochwertige kulturelle<br />

Infrastruktur verfügen <strong>und</strong> darüber hinaus gezielt die urbanen Qualitäten der


Stadt fördern, zum Beispiel durch Zurückdrängung des PKW Verkehrs,<br />

Schaffung grüner Zonen, Stärkung des Fahrradverkehrs, Nutzungsmischung<br />

in den Quartieren - beziehungsweise Förderung zum Entstehen<br />

nutzungsgemischter Quartiere in leerfallenden Industrie- oder<br />

Infrastrukturbrachen, Entwicklung neuer Haustypen - wie beispielsweise<br />

hybride Häuser, wie sie kürzlich die IBA Hamburg vorstellte - Haustypen, die<br />

mehrere Nutzungswechsel ermöglichen <strong>und</strong> vertragen.<br />

Für eine neue Attraktivität der Stadt benötigt die kulturelle Peripherie eine<br />

besondere Aufmerksamkeit. Denn hier sind die "Brutstätten" (Martin Heller)<br />

<strong>und</strong> Experimentierfelder, die <strong>Stadtkultur</strong> dringend benötigt. Kultur der<br />

Peripherie findet in aufgelassenen Brachen, ehemaligen Industriearealen, aber<br />

beispielsweise auch in den von Migration geprägten Vororten statt. Diese<br />

urbanen Kulturen sind temporär, flexibel, informell, außerhalb des Kanons <strong>und</strong><br />

sie finden an Orten statt, an denen sie nicht geplant, sondern nur ermöglicht<br />

werden können. Solche urbanen Kulturen wirken sich kulturwirtschaftlich<br />

scheinbar nicht direkt aus, aber sie sind notwendiger Bestandteil <strong>einer</strong><br />

<strong>Stadtkultur</strong>, weil hier die Themen <strong>und</strong> Talente entwickelt werden können, die<br />

eine zukünftige <strong>Stadtkultur</strong> antreiben <strong>und</strong> neues hervorbringen.<br />

Angesichts der Finanznot der Städte wird aber der Raum für solche Kulturen<br />

oft eng: Immobilien oder Brachen werden eher verkauft, <strong>als</strong> sie beispielsweise<br />

<strong>einer</strong> kulturellen Zwischennutzung zugänglich zu machen oder aber statt des<br />

Risikos <strong>einer</strong> temporären, nicht steuerbaren kulturellen Nutzung zieht man ein<br />

gut kalkulierbares Event vor, das sich gut vermarkten <strong>und</strong> öffentlich darstellen<br />

lässt. Auch für die Akteure dieser Szene, den eigentlichen Kulturproduzenten,<br />

finden sich in den Kommunen immer weniger Anschlussmöglichkeiten, <strong>als</strong>o<br />

informelle, halbformale oder geregelte Arbeits- <strong>und</strong> Produktionsmöglichkeiten.<br />

Eine vitale <strong>und</strong> attraktive <strong>Stadtkultur</strong> ist <strong>als</strong>o <strong>Voraussetzung</strong> <strong>und</strong> Ergebnis der<br />

Renaissance der Städte. Vielfältige <strong>Stadtkultur</strong> ist Motor für die Attraktivität<br />

des urbanen Lebens - <strong>und</strong> umgekehrt bringt ein attraktives urbanes Leben


neue <strong>und</strong> vielfältige Formen von Kultur hervor. Kulturentwicklung ist <strong>als</strong>o ein<br />

enger Verbündeter der Stadtentwicklung.<br />

Will eine Kommune in diesem Kontext <strong>Stadtkultur</strong> in Anschlag bringen, um die<br />

Stadt zu entwickeln, bedarf es besonderer <strong>und</strong> gemeinsamer Formate der<br />

unterschiedlichen Akteure. Viele solcher Formate sind in den vergangenen<br />

Jahren in verschiedenen Kommunen erprobt worden:<br />

Mit Kulturentwicklungsplänen versuchen Kommunen ihre kulturelle<br />

Infrastruktur <strong>als</strong> Bestandteil der Stadtentwicklung zu stärken, mit der<br />

Etablierung von Festiv<strong>als</strong> leiten Kommunen beispielsweise einen<br />

umfassenden Aufwertungsprozess von altindustriellen Arealen ein, eine<br />

Biennale vitalisiert die Kulturinfrastruktur <strong>einer</strong> Stadt <strong>und</strong> bringt sie immer<br />

wieder in den Anschluss an zeitgenössische Entwicklungen, ein<br />

Museumsneubau kann die regionale Ausstrahlungskraft erhöhen. Das alles<br />

sind Formate, um Kultur für die Stadtentwicklung zu nutzen <strong>und</strong> die<br />

<strong>Voraussetzung</strong> ist jeweils ein vitaler Diskurs über die Kultur der Stadt <strong>und</strong> der<br />

Versuch, ein von den Stadtöffentlichkeit getragenes Konzept für <strong>Stadtkultur</strong> zu<br />

entwickeln.<br />

<strong>Voraussetzung</strong> ist, dass die Kulturakteure der Kommune gemeinsam mit<br />

Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung etc. ein gemeinsames Bild von der<br />

Zukunft ihrer Stadt entwerfen, ein Bild, das über das hinausweist, was für<br />

jeden leicht zu erkennen ist.<br />

Erlauben Sie mir einen Blick nach Marseille, der aktuellen europäischen<br />

Kulturhauptstadt. Für die Politiker vor Ort war lange klar, dass, wenn Marseille<br />

2013 Kulturhauptstadt werden würde, es so sauber, so elegant, so bürgerlich,<br />

so hochkulturell wie Aix en Provence werden müsse. Es dauerte einige Zeit<br />

bis die Kulturschaffenden der Stadt <strong>und</strong> die Kulturentwickler ein Umdenken in<br />

der politischen Elite erreichen konnten. Heute besinnt sich Marseille auf seine<br />

eigentlichen Stärken: Seine historische <strong>und</strong> aktuelle Schlüsselposition <strong>als</strong><br />

Brücke zwischen Europa <strong>und</strong> dem Maghreb, der sich in einem umfassenden<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Wandel befindet <strong>und</strong> neuerdings wieder


interessant für die EU wird. Und seine Identität <strong>als</strong> eine von Migranten<br />

geprägte Millionenstadt am äußersten Rand des Schengenraums.<br />

Das Kulturprogramm reflektiert diese soziale Wirklichkeit <strong>und</strong> entwickelt sie zu<br />

<strong>einer</strong> Ressource für die Stadtentwicklung: Videoperformer aus Ägypten, Rap<br />

aus der korsischen Community, Artists in Residence aus Palästina, Israel,<br />

Syrien, Libanon, Algerien, Projekte zum Thema der innereuropäischen<br />

Romawanderung, eine Ausstellung, die den Mittelmeerraum auf den Spuren<br />

Odysseus <strong>als</strong> gemeinsamen kulturellen <strong>und</strong> sozialen Raum vorstellt, kulturelle<br />

Stadtr<strong>und</strong>gänge durch diejenigen Stadtteile, in die sich Touristen<br />

normalerweise nicht vorwagen, <strong>als</strong>o ins Herz der internationalen Communities,<br />

kennzeichnen das Programm.<br />

Dieses selbstbewusste Auftreten <strong>als</strong> Stadt der Migranten, <strong>als</strong> Mittler zwischen<br />

Monde Mediterranae <strong>und</strong> Nordeuropa verortet Marseille auch neu auf der<br />

Landkarte der Metropolregion Bouche du Rhone <strong>und</strong> stiftet eine neue Identität<br />

für die Stadt.<br />

Übrigens ist auch das kein Selbstläufer, sondern ein langer Prozess. Noch vor<br />

wenigen Monaten hat das in Marseille kaum jemand geglaubt. Als zum<br />

Eröffnungsfest mit unzähligen kulturellen Highlights mehr <strong>als</strong> 450.000<br />

Menschen in die Innenstadt Marseilles strömten, waren die meisten<br />

Gastronomen der Stadt schon am frühen Abend restlos ausverkauft ... die<br />

ansonsten recht geschäftstüchtigen Kneipiers hatten einfach nicht an die<br />

Kulturhauptstadt geglaubt. Gastronomische Gewinner des Abends waren die<br />

fliegenden Händler aus Algerien, Marokko <strong>und</strong> Korsika, die routiniert die<br />

Versorgung der halbe Millionen Kulturflaneure besorgten.<br />

Das Beispiel Marseilles zeigt einmal mehr, welche Mobilisierungskräfte Kultur<br />

haben kann <strong>und</strong> wie ein städtisches Kulturkonzept neue Identitäten für eine<br />

Stadt hervorzubringen in der Lage ist <strong>und</strong> so auch eine überregionale<br />

Strahlkraft entwickeln kann.


2) <strong>Stadtkultur</strong> kann Motor für die soziale Stadtentwicklung sein<br />

Segregation, <strong>als</strong>o die räumliche Trennung sozialer Gruppen in der Stadt, wird<br />

seit vielen Jahren <strong>und</strong> sehr kontrovers diskutiert. Sie ist ein Zukunftsthema für<br />

diejenigen Städte, die wachsen. Denn diese Städte wachsen meist durch die<br />

Zuwanderung von Migrantinnen <strong>und</strong> Migranten.<br />

Viele Jahre beherrschte das Leitbild <strong>einer</strong> überall sozial durchmischten Stadt<br />

<strong>als</strong> Zielmodell die verschiedenen sozialpolitischen <strong>und</strong> stadtplanerischen<br />

Debatten. Seit geraumer Zeit weisen Stadtsoziologen wie Häußermann oder<br />

Siebel aber auch auf die positiven Funktionen segregierter Stadträume hin.<br />

"Segregation dient der Konfliktvermeidung" formuliert Walter Siebel <strong>und</strong> meint<br />

vornehmlich Konfliktvermeidung zwischen konkurrierenden einwandernden<br />

oder eingewanderten Gruppen, aber so möchte ich ergänzen, auch<br />

Konfliktvermeidung zwischen den exkludierten <strong>und</strong> den inkludierten Bürgern<br />

<strong>einer</strong> Stadt. Gefährlich für die Stadtentwicklung wird Segregation dann, wenn<br />

sie wie in vielen deutschen Großstädten, von der Stadtentwicklung<br />

abgehängte Quartiere oder Stadtteile hervorbringt <strong>und</strong> Exklusion<br />

"verräumlicht".<br />

Segregierte Stadtquartiere dienen <strong>als</strong> Ankunftsquartiere für<br />

Einwanderer/innen, sie dienen der ersten Orientierung in der neuen<br />

Gesellschaft, sie bieten vertraute sprachliche oder alltagskulturelle Muster <strong>und</strong><br />

sie sind deshalb möglicherweise nicht nur zu akzeptierendes, sondern auch<br />

notwendige städtische Struktur für die Einwanderungsgesellschaft.<br />

Für deutsche Verhältnisse nicht einfach übertragbar, aber für die Diskussion<br />

anregend sind die Thesen von Doug Sa<strong>und</strong>ers, der in s<strong>einer</strong> Reportage<br />

"arrival city" auf der Gr<strong>und</strong>lage qualitativer Interviews beschreibt, wann<br />

Migrationsbewegungen Anschluss an die Aufnahmegesellschaft finden <strong>und</strong><br />

wann nicht. Dazu hat er Favelas, Slums, Banlieus - eben Millionenstädte<br />

besucht, die sich an den Rändern globaler Megacities entwickeln. Das<br />

Problem der Migration ist s<strong>einer</strong> Meinung nach nicht die religiöse oder<br />

kulturelle Differenz, sondern vielmehr die Struktur der arrival city.


Bietet sie informelle oder sogar halblegale Möglichkeiten der Arbeit? Gibt es<br />

Freiräume für die Selbstorganisation, dem Aufbau sozialer Netzwerke? Und<br />

bietet sie irgendwann den entstehenden Mittelschichten Anschlüsse ans<br />

Bildungssystem?<br />

Auch wenn die Reportage von Sa<strong>und</strong>ers streckenweise euphemistisch wirkt,<br />

ermöglicht doch der Hinweis auf die Funktion von Strukturen in den<br />

Migrationsstadtteilen einen Perspektivwechsel: Nicht die vermeintlich fremde<br />

Kultur, Sprache oder Religion sind Integrationshindernisse, sondern die<br />

vorhandene Struktur der kommunalen Einrichtungen, gesellschaftlichen<br />

Organisationen <strong>und</strong> informellen Netzwerke erschweren oder erleichtern<br />

Integration.<br />

In deutschen Großstädten spielen die kommunalen Institutionen eine<br />

entscheidende Rolle für die Struktur <strong>einer</strong> "arrival city": Schulen <strong>und</strong> andere<br />

Bildungseinrichtungen, Theater, Museen, Soziokultur etc. nehmen eine<br />

zentrale Funktionen ein. Welche Rolle spielen sie für die Migranten <strong>und</strong><br />

Migrantinnen <strong>einer</strong> Stadt? Welche Rolle spielen sie für die segregierten<br />

Stadtteile? Spielen sie überhaupt eine Rolle für die Einwanderer <strong>und</strong><br />

Einwanderinnen der Stadt?<br />

Viele Beobachter sehen gerade in den Kultur- <strong>und</strong> Bildungseinrichtungen<br />

Institutionen, die der sozialen Kluft zwischen verschiedenen Gruppen<br />

Vorschub leisten. Etablierte Kultur kann Instrument sozialer Distinktion sein,<br />

<strong>und</strong> Bildungseinrichtungen sind von starker Segregation geprägt.<br />

Oft verlassen die sogenannten bildungsorientierten Familien zum Zeitpunkt<br />

der Einschulung ihrer Kinder die von Migration geprägten Stadtteile, um ihre<br />

Kinder in Schulen "besserer" Quartiere unterzubringen - übrigens auch <strong>und</strong><br />

vor allem Familien mit Migrationshintergr<strong>und</strong>, denen das möglich ist. Der<br />

Bruch verläuft nicht zwischen Migranten <strong>und</strong> Nicht-Migranten, sondern entlang<br />

der Position im sozialen Raum, die entweder soziale Mobilität erlaubt oder<br />

verhindert.


Im Stadtteil zurück bleiben die Familien, die zwar für ihre Kinder ebenfalls<br />

einen bestmöglichen Bildungsweg wünschen, aber oft - u.a. auch sprachlich -<br />

überfordert sind, sich im Bildungssystem zu orientieren oder nicht über die<br />

Mittel verfügen, in einem anderen Stadtteil zu wohnen.<br />

Durch diese Effekte haben sich Schulen entwickelt, in denen die Segregation<br />

besonders stark <strong>und</strong> teilweise sogar stärker ausgeprägt ist, <strong>als</strong> in der<br />

Wohnumgebung.<br />

Die soziale Segregation findet übrigens ihren Widerhall auch in der<br />

unterschiedlichen demographischen Entwicklung in den Stadtteilen: In<br />

manchen Großstädten werden Stadtteile entstehen, in denen eine überalterte,<br />

wohlhabende Bevölkerung lebt mit hoher Affinität zu Kultur <strong>und</strong> Bildung.<br />

Nebenan wird es Stadtteile geben, in denen eine relativ junge Bevölkerung<br />

heranwächst, die meist über wenige Zugänge zur Kultur der<br />

Mehrheitsgesellschaft verfügt. Diese heterogene demographische Entwicklung<br />

wird eine große Herausforderung für die Kultureinrichtungen <strong>einer</strong> Stadt sein.<br />

Neben der inneren Spaltung in den Städten ist auch eine Spaltung zwischen<br />

den Städten zu beobachten: Ehemalige Industrieregionen wie Saarland <strong>und</strong><br />

Ruhrgebiet <strong>und</strong> vor allem ostdeutsche Städte verlieren dramatisch an<br />

Bewohnern, während andere Städte Bewohner gewinnen. Bei der<br />

intrastädtischen Wanderungsbewegung sind es meist junge, gut ausgebildete<br />

Leute, vor allem junge Frauen, die den schrumpfenden Städten den Rücken<br />

zuwenden <strong>und</strong> sich Städte suchen, in denen es angemessene Arbeit <strong>und</strong><br />

angemessene sozial-kulturelle Strukturen gibt, um individuelle Lebensentwürfe<br />

zu verfolgen.<br />

Wenn die in Deutschland vorhandene kulturelle Infrastruktur Bestand haben<br />

soll, wenn sie sich angesichts steigender sozialer Disparitäten legitimieren will,<br />

sich gar qualitativ <strong>und</strong> quantitativ weiterentwickeln will, dann muss sie sich<br />

intensiver <strong>als</strong> bisher mit diesen sozialen Entwicklungen auseinandersetzen.<br />

Sie muss ebenso Attraktivität für bildungs- <strong>und</strong> kulturorientierte junge Milieus<br />

bieten, wie sie auch Element <strong>einer</strong> sozialen Stadtentwicklung sein muss (was


übrigens kein Gegensatz, sondern eher ein sich gegenseitig befruchtender<br />

Prozess sein kann).<br />

Dies aber nicht im Sinne <strong>einer</strong> normativen Moral - "Kultur solle doch bitteschön<br />

die sozialen W<strong>und</strong>en dieser Gesellschaft heilen" - sondern im Sinne eines<br />

wohlverstandenen Eigeninteresses: Denn in den Vorstädten, in den SGBII-<br />

Bedarfsgemeinschaften, in den Romafamilien aus Bulgarien - kurz, in den<br />

Milieus, die im sozialen Raum über das geringste kulturelle Kapital verfügen,<br />

wächst auch das zukünftige Kulturpublikum heran.<br />

Kunst <strong>und</strong> Kultur sind nicht per se ein Instrument, um soziale Disparität<br />

aufzuheben. Ganz im Gegenteil: Kunst <strong>und</strong> Kultur sind wie bereits erwähnt<br />

auch Instrumente sozialer Distinktion.<br />

Die Antwort darauf ist deshalb nicht die <strong>einer</strong> f<strong>als</strong>ch verstandenen Soziokultur,<br />

der man die Aufgabe anheftet, mit fre<strong>und</strong>lichen Mitmachaktionen das untere<br />

Feld des sozialen Raums kreativ zu bespielen, während die städtische<br />

Hochkultur den Kanon pflegt.<br />

Wenn vor dem Hintergr<strong>und</strong> der zunehmenden sozialen Disparität in den<br />

Großstädten Kunst <strong>und</strong> Kultur eine soziale Rolle spielen soll, muss sich das<br />

Selbstverständnis der großen kommunalen Kulturinstitute ändern.<br />

Stadtbibliotheken <strong>und</strong> Volkshochschulen, Stadttheater <strong>und</strong> andere<br />

Produktionsstätten müssen sich fragen, ob sich ihr Programm, ihr Angebot<br />

<strong>und</strong> ihre Distributionswege angesichts zunehmender Diversität der<br />

Bevölkerung nicht ändern müssen.<br />

Das bedeutet keinesfalls, dass Kulturinstitute zum verlängerten Arm der<br />

Sozialpolitik <strong>einer</strong> Stadt werden. Wenn wir vom Zusammenhang sozialer<br />

Stadtentwicklung <strong>und</strong> Kultur sprechen, dann muss gelten: Kunst <strong>und</strong> Kultur<br />

sind eng mit Freiwilligkeit, Eigensinn <strong>und</strong> Freiheit verknüpft <strong>und</strong> auf dieser<br />

Basis ist <strong>Stadtkultur</strong> ein Motor für die soziale Stadtentwicklung.<br />

Erlauben Sie mir zum Abschluss einen kleinen Ausflug nach Bremen. Ich habe<br />

dort vor mehr <strong>als</strong> einem Jahrzehnt eine lokale Kulturinitiative mitbegründet, die


sich zur Aufgabe gemacht hat, Kultur in einem prekären Stadtgebiet <strong>als</strong><br />

Entwicklungsmotor zu setzen. Im Stadtteil leben 35.000 Menschen, jeder<br />

zweite Bewohner unter 18 Jahren lebt in <strong>einer</strong> sogenannten SGB-II-<br />

Bedarfsgemeinschaft. Der Verein hat umfangreiche Angebote der kulturellen<br />

Bildung aufgebaut, jährlich sind es ca. 1500 Kinder <strong>und</strong> Jugendliche, die in<br />

mehrmonatigen Projekten kontinuierlich künstlerisch arbeiten. Die lokale<br />

Zweigstelle der Stadtbibliothek, der Volkshochschule, ein lokales Bürgerhaus<br />

<strong>und</strong> die Kultureinrichtung haben darüber hinaus ein enges Netzwerk<br />

aufgebaut, um sich programmatisch für das vielsprachige Publikum vor Ort<br />

weiterzuentwickeln.<br />

Die Kultureinrichtung hat gleichzeitig eine enge Kooperation mit dem Gerhard<br />

Marcks Haus aufgebaut, ein für Norddeutschland überregional bedeutendes<br />

Bildhauermuseum. Der Direktor des Hauses verfolgt intensiv eine Öffnung des<br />

Hauses in die sozial abgehängten Stadtteile. Das beginnt bei Verhandlungen<br />

mit den städtischen Verkehrsbetrieben, Schulklassen aus den Stadtteilen<br />

kostenlose Fahrten zu Ausstellungen zu ermöglichen, über interkulturelle<br />

Qualifizierung des Person<strong>als</strong> bis hin zu Ausstellungskonzepten, die aktiv<br />

künstlerische Positionen der Vorort-Jugendlichen einbeziehen, die in den<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendateliers des Kulturvereins erarbeitet wurden.<br />

Rezeption <strong>und</strong> Produktion sind hier eng miteinander verschränkte Prozesse<br />

unter Einbezug von jungen Leuten, die noch nie im Leben ein<br />

Bildhauermuseum besucht haben <strong>und</strong> vorläufig wohl auch nicht hätten.<br />

Aber es kommen nicht nur die jungen Leute aus der kulturellen Peripherie mit<br />

ihren Themen ins Museum, umgekehrt wird das etablierte Publikum auch<br />

hinaus in den Stadtteil komplimentiert: Teile der Ausstellung finden vor Ort<br />

statt, Vernissagen <strong>und</strong> Veranstaltungen machen den Stadtteil, in dem manch<br />

alteingesessener Bremer noch nie war, zu <strong>einer</strong> Adresse.<br />

Für solche Projekte bedarf es nicht nur bei den Kulturakteuren <strong>und</strong><br />

Kulturpolitikern ein Bewusstsein von der sozial-kulturellen Segregiertheit von<br />

Stadt <strong>und</strong> Publikum, sondern auch Konzepte, die mit den Fachleuten vor Ort


gemeinsam entwickelt werden. Es bedarf <strong>als</strong>o <strong>einer</strong> Soziokultur, die nicht der<br />

billige Abklatsch der urbanen Hochkultur ist, sondern die etwas Eigenes<br />

hervorbringt, eigene Themen, Formate, Organisationsstrukturen - eng<br />

verschränkt mit den zentralen städtischen Kulturinstituten.<br />

Interessanterweise - <strong>und</strong> hier möchte ich noch einmal den nationalen<br />

Bildungsbericht von 2012 bemühen - besteht in der breiten Bevölkerung in<br />

allen Lebensphasen ein hohes Interesse an kultureller musisch-ästhetischer<br />

Bildung <strong>und</strong> Praxis. Die Bedeutung von kultureller Praxis ist bei Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen mit Migrationshintergr<strong>und</strong> teilweise höher <strong>als</strong> das<br />

Aktivitätsniveau vergleichbarer sozialer Gruppen ohne Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />

Es stellt sich die Frage, wann <strong>und</strong> wo diese Jugendlichen eigentlich dem<br />

Kulturleben der Stadt verloren gehen?<br />

<strong>Stadtkultur</strong>, die sich <strong>als</strong> Element sozialer Stadtentwicklung begreift, sollte neue<br />

kulturelle Milieus an der Peripherie des Kulturbetriebs fördern <strong>und</strong> diese eng<br />

mit den etablierten Kulturbetrieben verzahnen. Dies ist auch insofern ein<br />

schwieriger Weg, da wir uns von Verstehens- <strong>und</strong> Deutungsmustern<br />

verabschieden müssen, die sich bis heute weitgehend aus dem<br />

Bildungsoptimismus der Arbeiterbewegung <strong>und</strong> später der Bildungs- <strong>und</strong><br />

Kulturexpansion der 1970er/80er Jahre speisen. Selbstverständlich ist mehr<br />

denn je kulturelles <strong>und</strong> soziales Kapital der wichtigste Wechsel zur sozialen<br />

Positionierung - doch wie dieses beschaffen ist, ist Gegenstand anstehender<br />

gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Bildungs- <strong>und</strong> Kulturgerechtigkeit<br />

lassen sich nicht mit den Konzepten der 1980er Jahre erreichen, sondern<br />

bedürfen wahrscheinlich eines tiefgreifenden Wandels der Kultur- <strong>und</strong><br />

Bildungsinstitutionen <strong>und</strong> damit der gezielten Weiterentwicklung der<br />

<strong>Stadtkultur</strong>.<br />

Mehr zu dieser Kooperation ist zu lesen im Katalog zur aktuellen Ausstellung des Gerhard Marcks Hauses Bremen: „Eveline van Duyl. Denkinseln“, darin der Beitrag Lutz<br />

Liffers, Es darf umgedacht werden.

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