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ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN · EXAMINATORIUM LERNBEITRAG STRAFRECHT · VERURTEILUNG WEGEN MORDES<br />
Professor Dr. Ulrich Eisenberg, Berlin *<br />
Voraussetzungen (jugend-)strafrechtlicher Verurteilung wegen Mordes – erörtert<br />
anhand des Urteils des BGH vom 19.10.2011 – 1 StR 273/11<br />
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN<br />
Der Beitrag befasst sich mit dem Erfordernis ausgewogener<br />
Berücksichtigung tatsächlicher Feststellungen bei der Prüfung<br />
mordqualifizierender Merkmale. Zugleich veranschaulicht er<br />
die Grenzen zulässigen Eingriffs des Revisionsgerichts in Feststellungen<br />
und Würdigungen des Tatgerichts.<br />
A. AUFGABENSTELLUNG<br />
In Klausuren zum allgemeinen Strafrecht ergeben sich unterschiedliche<br />
Auffassungen dazu, ob ein mordqualifizierendes<br />
Merkmal zu bejahen ist, nicht selten weniger aufgrund dogmatischen<br />
Miss- oder auch Fehlverständnisses, als vielmehr<br />
wegen Meinungsverschiedenheiten oder gar Auslassungen in<br />
der Würdigung tatsächlicher Umstände. Ähnlich verhält es<br />
sich in der strafjustiziellen Praxis, wie das vorgenannte Urteil<br />
des 1. Strafsenats in Verbindung mit dem vorausgegangenen –<br />
und vom 1. Strafsenat aufgehobenen – tatgerichtlichen Urteil<br />
des LG Tübingen vom 16.12.2010 – 3 KLs 46 Js 3954/10 Jug<br />
auch deshalb veranschaulicht, weil beide Angeklagte in der<br />
tatgerichtlichen Hauptverhandlung zu den Tatvorwürfen geschwiegen<br />
haben und die Kammer daher auf die Einführung<br />
solcher Angaben beschränkt war, die beide Beschuldigten<br />
anlässlich der polizeilichen Vernehmungen gemacht haben<br />
sollen. Indes wird in diesem Beitrag auf beweisrechtliche<br />
Fragen der Belehrung 1 bzw. etwaiger Verwertungsverbote<br />
nicht eingegangen. Vielmehr bezweckt die Darstellung zum<br />
einen, anhand eines Originalfalles aufzuzeigen, wie sehr sich<br />
im allgemeinen Strafrecht wie im Jugendstrafrecht gerade<br />
auch bei Prüfung mordqualifizierender Merkmale die strafrechtliche<br />
Würdigung mit der Art der Interpretation, Gewichtung<br />
oder gar Nichtberücksichtigung von Tatsachen verändert.<br />
Zum anderen geht es um die Veranschaulichung der<br />
subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen mordqualifizierender<br />
Merkmale gemäß dem Grundsatz, dass die Bejahung<br />
schuldhafter vorsätzlicher Tötung sowie der objektiven Verwirklichung<br />
eines Mordmerkmals nicht ohne Weiteres zur<br />
Folge hat, dass subjektiv diese Verwirklichung als schuldhaft<br />
zu beurteilen ist.<br />
Die beiden Angeklagten des <strong>hier</strong> erörterten Falles unterlagen<br />
dem materiellen Jugendstrafrecht, was gemäß Grundsätzen<br />
des JGG gerade auch bei Prüfung der Voraussetzungen<br />
der Verurteilung wegen Mordes zu berücksichtigen ist. 2 Bezüglich<br />
eines der Angeklagten wäre die Spezialvorschrift der<br />
Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortlichkeit (§ 3 S. 1<br />
JGG) näher zu erörtern gewesen.<br />
B. TATSÄCHLICHE FESTSTELLUNGEN 3<br />
Der zur Tatzeit 18 <strong>Ja</strong>hre und 3 ½ Monate alte, nicht vorbestrafte<br />
R wurde von Gleichaltrigen seit langem als „Schwätzer“<br />
und „Angeber“ verlacht. Nachdem er dem damals 14-<br />
jährigen A, dem späteren Tatopfer, einen nach dem WaffenG<br />
verbotenen Wurfstern beschafft hatte, erstattete dessen Mutter<br />
am 8.12.2009 Strafanzeige. Daraufhin kündigte R mehrfach<br />
an, er werde A umbringen, worüber Gleichaltrige sich lustig<br />
machten, von dem zur Tatzeit 14 <strong>Ja</strong>hre und 10 Monate alten,<br />
nicht vorbestraften S und dessen Clique wurde die Ankündigung<br />
eher ernst genommen. Am 23.2.2010 schrieb S in einer<br />
SMS an K: „ich mach mir doch nich die finger an den schmutzig<br />
… ich nich!!“ sowie „ich glaub der stirbt heut abend xP<br />
…“, und auf Rückfrage von K nach dem warum, „weil der<br />
kumpel bei bullen angezeigt hat …“<br />
Am 25.2.2010 hatte R einen konkreten Tatplan zur Tötung<br />
des A. Er führte ein Seil, ein Klappmesser mit einer Klingenlänge<br />
von 76 mm und gummierte Arbeitshandschuhe mit sich.<br />
Zur Absicherung und Unterstützung wollte er den S bei der<br />
Tatbegehung dabei haben. Zusammen mit A kaufte er einen<br />
Tetrapack Eistee und eine Flasche Wodka für Mixgetränke<br />
und stachelte A auf, S im <strong>weiter</strong>en Verlauf des Tages zu<br />
schlagen, womit er eine feindselige Einstellung des S gegenüber<br />
A erreichen wollte. <strong>Sie</strong> trafen sodann die Clique um S,<br />
und es kam zwischen A und S zu einer Rangelei, die von A<br />
ausging. R trennte die Streitenden, und S wollte gehen. A<br />
stellte ihm noch ein Bein, sodass S stolperte und unter schadenfrohem<br />
Gelächter der anderen der Länge nach hinfiel.<br />
Als S sich davon machte, eilte R ihm nach, zeigte ihm das<br />
Seil und sagte, heute werde er dem A „was machen“. Er könne<br />
das aber nicht alleine tun, es müsse noch jemand dabei sein.<br />
Nach den landgerichtlichen Feststellungen ging S davon aus,<br />
R werde A mit dem Seil drosseln, aber nicht töten, um ihm so<br />
eine schmerzhafte Abreibung zu verpassen, was S auch wegen<br />
seiner eigenen vorangegangenen Auseinandersetzung mit A<br />
verdient erschien. Beide kehrten zu den anderen zurück und<br />
gaben vor, den Streit zwischen A und S klären zu wollen,<br />
woraufhin die anderen sich entfernten. Es war gegen 19:30<br />
Uhr, als R auf den A zuging und ihm einen wuchtigen Faustschlag<br />
mitten ins Gesicht versetzte, wodurch dieser zu Boden<br />
ging. Ob A sofort bewusstlos war, blieb ungeklärt. R zog die<br />
Handschuhe über, legte dem A das Seil um den Hals und<br />
drosselte ihn mindestens zwei bis drei Minuten, bis dieser nur<br />
noch röchelte.<br />
Als S bemerkte, dass A nur „noch röchelte und mit den<br />
Füßen zappelte“ bzw. „nur noch zuckte“ 4 , forderte er den R<br />
mit den Worten „es reicht jetzt“ auf, den Drosselungsvorgang<br />
zu beenden. Dieser ließ jedoch nicht von A ab und erwiderte,<br />
S könne jetzt gehen, er werde nicht mehr gebraucht. „Zumindest“<br />
nunmehr erkannte S, dass R den A töten wird – ob S<br />
dies schon vorher erkannte, konnte das LG nicht feststellen. S<br />
war auch bewusst, dass er eine Mitverantwortung für die<br />
Situation des Opfers trug und in der Lage war, dessen Tötung<br />
zu verhindern, denn R war ihm körperlich nicht überlegen,<br />
zudem hatte S ein Klappmesser und ein Mobiltelefon bei sich.<br />
S griff aber nicht ein und rief auch nicht telefonisch um Hilfe.<br />
* Der Verfasser ist o. Univ. Prof. in Berlin.<br />
1 Hierzu bestimmt das am 14.6.2012 vom Bundestag verabschiedete „Gesetz zur<br />
Er<strong>weiter</strong>ung jugendgerichtlicher Handlungsmöglichkeiten“, dem der Bundesrat am<br />
6.7.2012 zugestimmt hat, für das Jugendstrafverfahren eine besondere Gestaltung<br />
(§ 70 a I JGG).<br />
2 Dies gewinnt eine gewisse Aktualität insofern, als das in Fn. 1 genannte Gesetz –<br />
unter besonders engen Voraussetzungen – eine Erhöhung des Strafrahmens bei nach<br />
Jugendstrafrecht verurteilten Heranwachsenden von bisher 10 <strong>Ja</strong>hren auf 15 <strong>Ja</strong>hre<br />
verabschiedet hat (§ 105 III 2 JGG).<br />
3 Aus Raumgründen wurden die tatsächlichen Feststellungen insoweit gekürzt, als sie<br />
für die von den Gerichten unterschiedlich gewürdigte Frage einer Mittäterschaft des<br />
S relevant waren. Soweit der 1. Strafsenat (auch) <strong>hier</strong>in der Staatsanwaltschaft folgte,<br />
die bereits wegen Mittäterschaft angeklagt hatte, fällt auf, dass die Ermittlungsergebnisse,<br />
auf die das LG die Verneinung stützte, nicht berücksichtigt sind (Rn. 36, 37).<br />
4 So das landgerichtliche Urteil in der Wiedergabe der Aussagen der Zeugen KHK R<br />
und KHK L zu den Aussagen des S in deren Vernehmungen, nicht einmal heißt es<br />
dort „zappelte“.<br />
34 1/2013
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN · EXAMINATORIUM LERNBEITRAG STRAFRECHT · VERURTEILUNG WEGEN MORDES<br />
Nach der Beurteilung des jugendpsychiatrischen Sachverständigen<br />
wies S eine ausgeprägte Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit<br />
auch mit Bezug auf A auf. S billigte die Tötung durch<br />
R und ging nach Hause. Dort loggte er sich in den Internet-<br />
Dienst „kwick“ ein und tippte um 19:42 Uhr auf seiner Seite<br />
den Text: „Stadt heute war geil“. S hatte zur Tatzeit nicht<br />
ausschließbar eine BAK von 1,2‰.<br />
Nachdem S sich entfernt hatte, versetzte R dem A 30 Messerstiche<br />
ins Genick und in die rechte Halsseite. Die Stiche<br />
waren teils derart wuchtig, dass das Messer bis zum Heft in<br />
den Hals eindrang. <strong>Sie</strong> verletzten die rechte Halsschlagader<br />
und die tiefe Halsvene, was zum alsbaldigen Todeseintritt<br />
durch Verbluten führte. Bei R hatte sich seit geraumer Zeit ein<br />
manifester Alkoholmissbrauch entwickelt, seit Sommer 2009<br />
habe er täglich oder doch zeitweise eine halbe bis eine ganze<br />
Flasche Wodka getrunken. Zur Tatzeit hatte er nicht ausschließbar<br />
eine BAK von 1,8‰. Nach der Beurteilung des<br />
jugendpsychiatrischen Sachverständigen wies R eine deutliche<br />
Tendenz zu aggressivem Verhalten und zu „narzisstischer<br />
Selbstdarstellung oder -aufblähung“ auf, die maßgeblich dazu<br />
beigetragen haben könne, dass sich bei ihm ein äußerst massiver<br />
Handlungsdruck aufgebaut habe, sich Respekt zu verschaffen<br />
und „in aller Munde“ zu sein. Dies war das Motiv für<br />
die Tat, nicht mehr die erstattete Strafanzeige.<br />
Nach der Tatausführung begab sich R gegen 19:45 Uhr zur<br />
Wohnung des S, zeigte diesem seine blutigen Hände und<br />
führte ihn zu der Leiche. Kurz vor 20:00 Uhr rief R den G an<br />
und zeigte sodann auch diesem die Leiche, nachdem er ihm<br />
und dem zufällig vorbeikommenden M „freudig erregt“ berichtete,<br />
er habe das Tatopfer getötet, und zum Beweis das<br />
blutverschmierte Seil und die Handschuhe zeigte. Anschließend<br />
suchte R noch den X auf und berichtete auch diesem, er<br />
habe jemanden umgebracht und erbot sich, ihn zur Leiche zu<br />
führen und ihm die Tatwerkzeuge zu zeigen. Gegen 21:30<br />
Uhr traf R den B und führte auch diesen zur Leiche, wobei er<br />
angab, er habe „den geschlitzt“, er in auffallend guter Laune<br />
zu sein schien und „sich mehrfach geradezu euphorisch ins<br />
Fäustchen lachte“.<br />
C. RECHTLICHE WÜRDIGUNG<br />
Das LG verurteilte den Angeklagten R. wegen Totschlags und<br />
den Angeklagten S. wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung<br />
in Tatmehrheit mit Totschlag durch Unterlassen.<br />
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin<br />
erstrebten bezüglich beider Angeklagten eine Verurteilung<br />
wegen Mordes. Die vom Generalbundesanwalt vertretenen<br />
Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin<br />
hatten Erfolg. Der 1. Strafsenat 5 hob das Urteil des LG mit<br />
den Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung<br />
und Entscheidung an ein anderes LG (§ 354 II 1<br />
Alt. 2 StPO).<br />
I. Übereinstimmungen und Diskrepanzen zwischen den<br />
Urteilen des LG und des BGH<br />
In der rechtlichen Würdigung der Strafbarkeit des R besteht<br />
Übereinstimmung zwischen beiden Urteilen hinsichtlich der<br />
Bejahung des objektiven Tatbestandes nach §§ 212, 211 II<br />
StGB insofern, als die Tötung eines anderen Menschen – <strong>hier</strong><br />
des A – gegeben ist, und auch des tatbezogenen Merkmals<br />
grausame Begehungsweise. Demgegenüber divergieren die<br />
Auffassungen zwischen den Gerichten zum objektiven Tatbestand<br />
bezüglich des Vorliegens des tatbezogenen Mordmerkmals<br />
Heimtücke nach §§ 212, 211 II StGB. Hinsichtlich<br />
des subjektiven Tatbestandes bestehen Auffassungsunterschiede<br />
hinsichtlich des Vorliegens der zur Bejahung einer grausamen<br />
Begehungsweise erforderlichen spezifischen inneren<br />
Haltung sowie betreffend das Vorliegen eines täterbezogenen<br />
Mordmerkmals nach §§ 212 StGB, 211 II StGB – als solches<br />
kommen vorliegend niedrige Beweggründe in Betracht. 6<br />
In der rechtlichen Würdigung der Strafbarkeit des S besteht<br />
Übereinstimmung zwischen den Urteilen hinsichtlich (psychischer)<br />
Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung (§§ 224 I<br />
Nr. 5, 27 StGB) dadurch, dass S dem R durch seine Begleitung<br />
und Anwesenheit am Tatort ein Empfinden der Unterstützung<br />
vermittelte. Das Gleiche gilt für den Tatbestand des Totschlags<br />
durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) dadurch, dass S, nachdem<br />
er erkannte, dass R den A töten will, sich trotz seines Bewusstseins,<br />
seine Untätigkeit werde die Tötung des M zur Folge<br />
haben, aufgrund eines neuen Willensentschlusses vom Tatort<br />
entfernte. Der Taterfolg, dh der Tod eines anderen Menschen,<br />
liegt ebenso vor wie die Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung<br />
erforderlichen Handlung trotz tatsächlicher individueller<br />
Handlungsmöglichkeit und ebenso die (hypothetische)<br />
Kausalität zwischen dieser Nichtvornahme und dem Taterfolg.<br />
Die Pflicht zur lebensrettenden Intervention (Garantenpflicht)<br />
des S ergab sich aus seinem vorausgegangenen<br />
rechtswidrigen Verhalten (sog. Ingerenz). 7 Jedoch divergieren<br />
die Urteile hinsichtlich der Frage nach dem Vorliegen objektiver<br />
Mordmerkmale nach §§ 212, 211 II, 13 I StGB.<br />
II. Urteil des LG<br />
1. Strafbarkeit des R<br />
a) Objektive Mordmerkmale<br />
Hinsichtlich des Merkmals Heimtücke hat das LG weder<br />
einen hinterlistigen Angriff des R auf A festgestellt, noch dass<br />
dieser die Arglosigkeit und dadurch bedingte Wehrlosigkeit<br />
des Tatopfers ausgenutzt habe, um die Tat zu begehen.<br />
Bezüglich des Merkmals grausame Begehungsweise hat das<br />
LG die Tatbegehung durch R mittels anhaltender Strangulation<br />
und anschließend 30 Messerstichen gegen den Hals gewürdigt.<br />
Es hat festgestellt, dass das Vorgehen sich objektiv als<br />
besonders brutal und qualvoll darstellt und insofern das<br />
Mordmerkmal der grausamen Tatbegehung zu bejahen ist.<br />
Die Frage, ob R aus niedrigen Beweggründen handelte, dh<br />
ob der Beweggrund nach allgemeiner sittlicher Wertung auf<br />
tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist, 8<br />
hat das LG bejaht, wobei es als Tatmotiv nicht eine Vergeltung<br />
für die Anzeige bei der Polizei, sondern die Befreiung von<br />
dem (aufgrund der psychischen Umstände des R entstandenen)<br />
massiven inneren Handlungsdruck bzw. den Drang nach<br />
Respekterlangung annahm.<br />
5 Gemäß § 35 II, §§ 36, 37 (erg. § 34 II) JGG e contr handelt es sich bei dem BGH<br />
wie bei den OLGen nicht um Jugendgerichte, dh es gelten nicht die Befähigungskriterien<br />
des § 37 JGG (krit. schon Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl. 1965, § 33<br />
Rn. 5. Zu Zusammenhängen jugendstrafrechtlicher Verurteilung wegen Mordes vgl.<br />
anhand von Originalfällen aus sachverständiger jugendpsychiatrischer Sicht schon<br />
Lempp, Jugendliche Mörder, 1977.<br />
6 Der Hinweis in dem Urteil des 1. Strafsenats (Rn. 40) an das nunmehr zuständige<br />
LG, auch das mordqualifizierende Merkmal „Handeln aus Mordlust“ durch R zu<br />
prüfen, enthält keine nähere Begründung. Nach den tatsächlichen Feststellungen<br />
scheidet es aus, weil Voraussetzung wäre, dass die Tötung selbst der (einzige) Zweck<br />
der Handlung gewesen ist (vgl. nur BGHSt 34, 59 Rn. 7; NJW 1994, 2629 Rn. 6; vgl.<br />
auch SK-StGB/Sinn, Systematischer Kommentar zum StGB, Lfg. Okt. 2010, § 211<br />
Rn. 11), und dass das Tatopfer gewissermaßen austauschbar gewesen ist, woran es<br />
im vorliegenden Fall unbeschadet dessen fehlt, dass ein (vorheriges) Bestreben, sich<br />
zu rächen, in den Hintergrund getreten ist.<br />
7 Vgl. nur BGH NStZ 2002, 139 Rn. 7 = StraFo 2002, 82.<br />
8 Vgl. nur BGH NStZ 2007, 330 (331). Zu verfassungsrechtlichen Bedenken vgl.<br />
Mitsch JZ 2008, 336 (339).<br />
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN<br />
1/2013 35
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN · EXAMINATORIUM LERNBEITRAG STRAFRECHT · VERURTEILUNG WEGEN MORDES<br />
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN<br />
b) Subjektive Mordmerkmale<br />
Das LG hat eine grausame Begehungsweise verneint, weil<br />
dieses Mordmerkmal eine spezifische innere Haltung des Täters<br />
im Sinne einer als besonders unbarmherzig beurteilten<br />
Gesinnung voraussetzt. Deren Vorliegen hat das LG gemäß<br />
der Ermittlungsergebnisse zu den psychischen Umständen<br />
des R, insbesondere dem in dem Nachtatverhalten offenbar<br />
gewordenen extremen Anerkennungsbedürfnis und der Tendenz<br />
zur „Selbstaufblähung“, nicht bejaht. Es hat nicht ausschließen<br />
können, dass dem R die Einordnung der konkreten<br />
Tatbegehungsweise als grausam und deshalb besonders verwerflich<br />
verstellt war.<br />
Hinsichtlich niedriger Beweggründe hat das LG erörtert,<br />
dass der Täter sich bei der Tat der Umstände bewusst sein<br />
muss, die seine Beweggründe als niedrig erscheinen lassen.<br />
Soweit es sich um gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen<br />
handelt, muss der Täter sie gedanklich beherrschen und willensmäßig<br />
unter Kontrolle haben, wozu das LG sich auf zwei<br />
Entscheidungen des 5. Strafsenats des BGH bezogen hat. 9<br />
Kommen mehrere Motive für die Tat in Betracht, dann könne<br />
ein Mord aus niedrigen Beweggründen nur dann bejaht werden,<br />
wenn hinsichtlich des Hauptmotivs niedrige Beweggründe<br />
zu bejahen sind – <strong>hier</strong>zu hat das LG auf eine Entscheidung<br />
des 4. Strafsenats des BGH verwiesen 10 – , oder wenn jeder<br />
der in Frage kommenden Beweggründe als niedrig anzusehen<br />
ist, wozu sich das LG auf eine Entscheidung des 1. Strafsenats<br />
des BGH bezogen hat. 11 Das LG konnte nicht ausschließen,<br />
dass die psychischen Umstände des R ihm auch die Einsicht<br />
versperrt haben, aus niedrigen Beweggründen heraus zu handeln.<br />
Dieser Würdigung steht nicht entgegen, dass das LG den<br />
R als uneingeschränkt schuldfähig beurteilte (vgl. unten 3.),<br />
dh dass die in Rede stehenden psychischen Umstände keine<br />
Qualität im Sinne der §§ 20, 21 StGB erreichten, denn beide<br />
Rechtsfragen sind unabhängig voneinander zu beurteilen, wozu<br />
das LG sich auf Entscheidungen des 5. Strafsenats sowie<br />
des 4. Strafsenats des BGH bezogen hat. 12 Nicht ausdrücklich<br />
erörtert hat das LG in diesem Zusammenhang, dass R zum<br />
Tatzeitpunkt nicht ausschließbar eine BAK von 1,8‰ hatte<br />
und dass zudem eine Zäsur dadurch eingetreten ist, dass S sich<br />
vom Tatort entfernte.<br />
2. Strafbarkeit des S<br />
a) Objektive Mordmerkmale<br />
Das Vorliegen niedriger Beweggründe nach §§ 212, 211 II, 13<br />
I StGB hat das LG verneint. Nach den Urteilsfeststellungen<br />
war in seiner Person ein relevanter Grund für die Tötung des<br />
A nicht gegeben. Vielmehr ging das LG davon aus, dass das<br />
Unterlassen auf Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit beruhte.<br />
Gleichgültigkeit aber könne schon „per se“ kein niedriger<br />
Beweggrund sein, weil es solchenfalls an einer besonderen<br />
Motivation über den Tötungsvorsatz hinaus fehle. Das<br />
Vorliegen von Heimtücke nach §§ 212, 211 II, 13 I StGB hat<br />
das LG nicht erörtert.<br />
b) Subjektive Mordmerkmale<br />
Eine Prüfung war nach der vorstehend wiedergegebenen Auffassung<br />
des LG nicht veranlasst.<br />
3. Schuldfähigkeit, jugendstrafrechtliche<br />
Verantwortlichkeit<br />
Bei beiden Angeklagten hat das LG uneingeschränkte Schuldfähigkeit<br />
angenommen. Dies ist bei der nicht ausschließbaren<br />
BAK von 1,8‰ bei dem an Alkoholkonsum gewöhnten R<br />
und von 1,2‰ bei dem 14-jährigen S nicht ganz unbedenklich,<br />
entspricht aber allgemeiner Auffassung. 13 Eine Hirnuntersuchung<br />
des R wurde, obgleich die extreme Auffälligkeit im<br />
unmittelbaren Nachtatverhalten eine Aufklärung <strong>hier</strong>zu veranlasst<br />
haben könnte, soweit aus dem Urteil ersichtlich, nicht<br />
vorgenommen.<br />
Das Vorliegen der jugendstrafrechtlichen Verantwortlichkeit<br />
des S nach § 3 S. 1 JGG hat das LG bejaht. 14 Insofern<br />
könnten Zweifel bestehen, weil die als auffällig befundene<br />
Gleichgültigkeit des S auf einen Mangel an psychosozialer<br />
Reife hinweisen könnte, ein solcher Mangel aber nicht weniger<br />
Kriterium iSd Vorschrift ist wie Einschränkungen der<br />
geistigen bzw. verstandesmäßigen Entwicklung. Auch müssen<br />
die Voraussetzungen des § 3 S. 1 JGG „zur Zeit der Tat“<br />
vorgelegen haben, dh auf einen mehrere Monate später liegenden<br />
Zeitpunkt während der Hauptverhandlung kommt es<br />
nicht an, und sie müssen als für die konkrete einzelne Rechtsverletzung<br />
vorhanden gewesen positiv festgestellt werden. 15<br />
III. Urteil des BGH<br />
Hinsichtlich beider Angeklagter beanstandete der 1. Strafsenat<br />
die Verneinung der Mordmerkmale Heimtücke und aus niedrigen<br />
Beweggründen, wobei überwiegend ausgeführt wurde,<br />
die Verneinung sei unzureichend begründet. Soweit eine <strong>weiter</strong>e<br />
Aufklärung verlangt wurde, lässt das aufhebende Urteil<br />
nicht erkennen, wie das LG eine solche hätte vornehmen<br />
können bzw. wie das nunmehr zuständige LG solches nachholen<br />
könnte, nachdem beide Angeklagten in der Hauptverhandlung<br />
zur Sache schwiegen und eher anzunehmen sein<br />
wird, dass sie dies auch in der neuerlichen Hauptverhandlung<br />
tun werden. Die Beurteilungen des LG zur Schuldfähigkeit<br />
hat der 1. Strafsenat nicht beanstandet. Gleiches gilt für die<br />
Bejahung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des S nach<br />
§ 3 S. 1 JGG, obwohl die Beanstandungen hinsichtlich der<br />
Verurteilung des S weithin Fragen von dessen Normbewusstsein<br />
betreffen (vgl. unten 2.).<br />
1. Strafbarkeit des R<br />
a) Objektives Mordmerkmal<br />
Der 1. Strafsenat führt aus, der Bejahung von Heimtücke<br />
könnte zwar entgegenstehen, dass A aufgrund des überraschenden<br />
Faustschlags von vorne ins Gesicht nicht mehr<br />
arg- und wehrlos war. Der 1. Strafsenat stellt das Tatgeschehen<br />
jedoch Fallgestaltungen gleich, die zwei anderen Entscheidungen<br />
des BGH zugrunde lagen, in denen der Täter dem Opfer<br />
zwar offen feindselig entgegentrat, die Zeitspanne zwischen<br />
dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff<br />
9 BGHSt 47, 128 Rn. 18 = JZ 2002, 566 mAnm Otto JR 2002, 470 mAnm Neumann<br />
StV 2003, 19 mit Bespr. Saliger StV 2003, 38; BGH NStZ 2004, 497 Rn. 6 mit krit.<br />
Anm. Trück.<br />
10 BGH NStZ-RR 2007, 111 Rn. 9: „der Tat ihr Gepräge gibt“.<br />
11 BGH NStZ 2006, 166 Rn. 20.<br />
12 BGH NStZ-RR 2004, 44; NStZ 2004, 620 f.<br />
13 Aus Raumgründen wird insoweit auf die Spezialliteratur verwiesen.<br />
14 Dies entspricht rechtstatsächlich allgemeiner Praxis, wonach die Voraussetzungen in<br />
der Regel gleichsam routinemäßig bejaht werden, zumal ein tendenziell häufigerer<br />
Ausschluss unter anderem die Legitimation jugendstrafjustizieller Tätigkeit auf der<br />
Grundlage des Schuldprinzips im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses zunehmend<br />
in Frage stellen müsste, dh die Vernachlässigung der Prüfungspflicht ist<br />
insoweit von positiv-funktionaler Bedeutung für die Institution Jugendstrafrechtspflege.<br />
Demgegenüber ist von Gesetzes wegen bereits im Ermittlungsverfahren<br />
(auch durch die Jugendgerichtshilfe, § 38 II 2 JGG) zu untersuchen, ob die Voraussetzungen<br />
vorliegen (vgl.Egg, R./Köhnken ua, Psychologisch-psychiatrische Begutachtung<br />
in der Strafjustiz, 2012).<br />
15 OLG Jena NStZ-RR 2007, 218; OLG Hamm ZJJ 2005, 448: Urteilsaufhebung<br />
wegen Nicht-Feststellung.<br />
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aber so kurz war, dass keine Möglichkeit blieb, dem Angriff<br />
irgendwie zu begegnen. Indes bestehen in den vorausgegangenen<br />
Geschehensabläufen jener Fälle mehr Anhaltspunkte dafür,<br />
dass der vorausgesetzte innere Zusammenhang zwischen<br />
Arg- und Wehrlosigkeit vorlag, als es in dem <strong>hier</strong> vorliegenden<br />
Fall festgestellt ist. So enthält die Schilderung in dem vom<br />
1. Strafsenat entschiedenen Fall 16 keine Angaben über Streit<br />
oder Feindseligkeit in der zurückliegenden Zeit, vielmehr hätten<br />
der Angeklagte und das spätere Tatopfer zuvor „ein<br />
freundschaftliches Gespräch“ geführt (Rn. 2), und zu dem<br />
vom 5. Strafsenat entschiedenen Fall 17 ist festgestellt, der Angeklagte<br />
habe, bevor er mit einem Gewehr in den Raum zurückkehrte,<br />
„mit dem Vorwand getäuscht“, ein Schriftstück<br />
zu holen, bzw. er habe – bezogen auf die Anwesenheit seiner<br />
Eltern und eines anderen Ehepaars in dem Raum, in dem er<br />
sodann die Tat beging – den Gedanken gehabt, „niemand<br />
erwarte einen tätlichen Angriff“ (Rn. 3, 9). Zwar beendete R<br />
am Tattag die von ihm selbst provozierte Rangelei mit S als<br />
Streitschlichter, und er gab vor, den Streit zwischen S und A<br />
klären zu wollen. Ob indes – entgegen der offenen Feindseligkeit<br />
des R dem A gegenüber in der vorausgegangenen Zeit –<br />
bereits dadurch bei A „Vertrauen aufgebaut“ wurde und er<br />
„in Sicherheit gewiegt“ (aufhebendes Urteil, Rn. 24) wurde,<br />
könnte deshalb eine Unterstellung sein, weil R, ohne dass das<br />
aufhebende Urteil dies <strong>hier</strong> berücksichtigt hätte, auch in dem<br />
aktuellen Zeitabschnitt alkoholisiert war und zur Tatzeit nicht<br />
ausschließbar eine BAK von 1,8‰ aufwies. Zudem betrafen<br />
die beiden in Bezug genommenen Entscheidungen, in denen<br />
von einer Alkoholisierung des Täters nicht die Rede ist, das<br />
allgemeine Strafrecht, wogegen es sich vorliegend um Taten<br />
eines 18-Jährigen handelte, bei Personen dieser Altersgruppe<br />
aber die Relevanz von Spontanverhalten eine Übertragbarkeit<br />
von Entscheidungen aus dem Erwachsenenstrafrecht nicht<br />
ohne Weiteres erlaubt. Hinzu kommt, dass verfassungsrechtlich<br />
gemäß dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG) in<br />
Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine restriktive<br />
Auslegung des Heimtücke-Merkmals 18 verlangt ist.<br />
b) Subjektive Mordmerkmale<br />
Zu der Frage, ob bei R das bei Heimtücke erforderliche Ausnutzungsbewusstsein<br />
vorlag, 19 verhält sich das aufhebende Urteil<br />
nicht, es lässt es vielmehr bei der Aussage bewenden, dass<br />
R die durch den Faustschlag entstandene Situation des A<br />
bewusst ausnutzte. Hieran könnte es nach den Feststellungen<br />
im Urteil des LG aber fehlen, wenn dem R dieses Bewusstsein<br />
aufgrund seines psychischen Zustandes verstellt war (vgl.<br />
oben unter II.1.b).<br />
Hinsichtlich der Würdigung niedriger Beweggründe steht<br />
dem Tatgericht bezüglich der Motivlage ein Beurteilungsspielraum<br />
zu, den das Revisionsgericht nicht durch eigene Erwägungen<br />
ausfüllen darf. Daher darf es die tatgerichtliche Beurteilung<br />
unter der Voraussetzung, dass die maßgeblichen Beurteilungskriterien<br />
zutreffend erkannt sind und der Sachverhalt<br />
dementsprechend umfassend gewürdigt worden ist, auch dann<br />
nicht beanstanden, wenn es ein anderes Ergebnis als näherliegend<br />
ansieht. 20 Gleichwohl hat das aufhebende Urteil die<br />
landgerichtliche Würdigung auch <strong>hier</strong>in beanstandet, dh es hat<br />
die Verneinung des Merkmals niedrige Beweggründe als<br />
rechtlich nicht mehr vertretbar erachtet. Hierzu führt der 1.<br />
Strafsenat aus, es seien aus dem Gesamtzusammenhang der<br />
tatgerichtlichen Urteilsgründe keine Anhaltspunkte für die<br />
Annahme ersichtlich, dass R bei seinem Handeln von gefühlsmäßigen<br />
oder triebhaften Regungen bestimmt gewesen wäre,<br />
die er gedanklich nicht hätte beherrschen und willensmäßig<br />
nicht hätte steuern können. Der 1. Strafsenat hebt hervor, dass<br />
R die Tat „minuziös geplant“ und die Tatbeteiligung des S<br />
„raffiniert iniziiert“ hat, und dass er sich ausweislich sonstiger<br />
landgerichtlicher Feststellungen 21 nach der Tatbegehung<br />
durchaus darüber im Klaren war, dass es polizeiliche Ermittlungen<br />
geben werde. Indes sind diese Erwägungen nicht notwendigerweise<br />
für die Frage relevant, ob R sich dessen bewusst<br />
war, dass die Tat aus niedrigen Beweggründen heraus<br />
geschah. Vielmehr kann es zu einem „Auseinanderklaffen“ 22<br />
kommen, dh das Schuldprinzip gebietet die unabhängige Prüfung,<br />
ob bezüglich dieses Mordmerkmals eine spezifische Motivationsbeherrschung<br />
vorliegt. Diese Prüfung hat im materiellen<br />
Jugendstrafrecht grundsätzlich nicht anders zu geschehen<br />
als im allgemeinen Strafrecht, wohl aber sind im Rahmen<br />
teleologischer Vorgaben der Gesetzesauslegung gemäß den<br />
Grundsätzen des JGG (vgl. auch § 2 II JGG) alters- und<br />
reifegemäße Besonderheiten zu würdigen. Daher müssen die<br />
mit der gesetzlichen Trennung von allgemeinem Strafrecht<br />
und Jugendstrafrecht anerkannten Unterschiede zwischen Jugendlichen<br />
und ggf. auch Heranwachsenden einerseits und<br />
Erwachsenen andererseits bei der Prüfung prinzipiell beachtet<br />
werden, 23 und zwar auch bei Tötungsdelikten 24 sowie mordqualifizierenden<br />
Merkmalen. 25<br />
Demgegenüber hat der 1. Strafsenat diejenigen Feststellungen,<br />
die das LG in Erörterung des subjektiven Tatbestandes<br />
getroffen hat und die das Spezifikum des Falles ausmachen,<br />
nämlich ein normalpsychologisch nicht erklärbares exzeptionelles<br />
Anerkennungsbedürfnis, das nach der Würdigung des<br />
LG die Infragestellung der mordmerkmalsspezifischen Motivationsbeherrschung<br />
begründete, kaum berücksichtigt. Der<br />
Verweis auf eine Entscheidung des 5. Strafsenats 26 , wonach es<br />
auf die Selbstbewertung des Täters nicht ankommt, hilft <strong>hier</strong><br />
nicht <strong>weiter</strong>, denn in dieser Entscheidung ist zuvor erörtert<br />
worden, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Angeklagte<br />
bei seinem Handeln aus dieser Motivation „von gefühlsmäßigen<br />
oder triebhaften Regungen bestimmt gewesen“<br />
ist, die er gedanklich nicht hätte beherrschen und willensmäßig<br />
nicht hätte steuern können, und <strong>hier</strong>zu heißt es darin<br />
sodann verneinend, „nach den Urteilsfeststellungen war er<br />
sich seiner Beweggründe … wie der Umstände, die ihre Niedrigkeit<br />
ausmachen, klar bewusst“ (Rn. 14). Vergleichbare Fest-<br />
16 BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 3.<br />
17 BGHSt 37, 397 = JR 1992, 118 mAnm Grasnick.<br />
18 BVerfGE 45, 187 Rn. 231 ff. (Rn. 249, 250) = NJW 1977, 1525 (1534) mit Bespr.<br />
Woesner NJW 1978, 1025, Sonnen JA 1977, 524 sowie ders. JA 1980, 35, Hohmann/<br />
Matt JA 1989, 134.<br />
19 Vgl. exemplarisch etwa nur BGH NStZ 2008, 273 mit Bespr. Kudlich JA 2008, 310;<br />
BGH NStZ 2009, 30 mAnm Schneider; vgl. auch BGH NStZ-RR 2010, 144; BGH<br />
NStZ 2011, 634 = StV 2012, 84 (unbeschadet dessen, dass der Täter das Tatmesser<br />
„unter seiner Kleidung verborgen“ [Rn. 3] zum Tatort mitgebracht hatte).<br />
20 Vgl. etwa BGH NStZ 2007, 330 Rn. 8, 9.<br />
21 Hierzu führt der BGH zutreffend mehrere Zeugenaussagen dazu an, die ergeben,<br />
dass R in Gesprächen nach der Tat bemüht war, einen Verdacht von sich abzulenken<br />
bzw. sich einer Festnahme zu entziehen.<br />
22 MüKoStGB/Schneider, Münchener Kommentar zum StGB, 2003, § 211 Rn. 98 mN.<br />
23 Vgl. dazu schon Karl Peters HwbKrim 1966, 455 ff; vgl. auch Meier ua/Rössner,<br />
JGG, 2011, § 2 Rn. 25. So wurde zB der Vorsatz einer Verletzung der Erlaubnispflicht<br />
nach dem WaffG verneint (vgl. LG Ravensburg NStZ-RR 2007, 353 f [Bejahung<br />
eines Tb-Irrtums gemäß § 2 II JGG, § 16 I StGB]).<br />
24 Vgl. betreffend vorsätzlichen Totschlag BGH Beschl. v. 16.11.2000 – 4 StR 438/00<br />
Rn. 3 bzw. 7, weil gerade die vollendete Tötung ungeeignet war, seinen Freunden zu<br />
„imponieren“; ähnlich BGH NStZ 2003, 369 Rn. 6 (zumal der Angeklagte über die<br />
Möglichkeit einer tödlichen Verletzung „nicht näher nachdachte“). Vgl. zur reichhaltigen<br />
Judikatur zum Vorsatz sonstige Nachw. bei Eisenberg, JGG, 16. Aufl. 2013,<br />
§ 1 Rn. 24 d, 24 e.<br />
25 Zur Verneinung des Mordmerkmals niedrige Beweggründe etwa BGH StV 1994,<br />
182; vgl. auch BGH NStZ 2011, 35 Rn. 5–7.<br />
26 BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 27 Rn. 14 = NJW 1994, 395.<br />
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN<br />
1/2013 37
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN · EXAMINATORIUM LERNBEITRAG STRAFRECHT · VERURTEILUNG WEGEN MORDES<br />
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN<br />
stellungen finden sich in dem vorliegenden Urteil des LG<br />
gerade nicht. 27<br />
2. Strafbarkeit des S<br />
a) Objektive Mordmerkmale<br />
Der 1. Strafsenat beanstandet zum einen die Nichterörterung<br />
von Heimtücke und führt aus, als R den S vom Heimweg<br />
zurückholte, ihm das Seil zeigte und ihn um Unterstützung<br />
bat, weil er heute dem A „was machen“ werde, sei es im<br />
Hinblick unter anderem auf den Inhalt des SMS-Verkehrs mit<br />
K nicht fern liegend, dass S schon zu diesem Zeitpunkt davon<br />
ausging, R werde den A töten. Solchenfalls aber hätte er auch<br />
das Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit durch R erkannt<br />
und sich dessen Handeln angeschlossen. So selbstverständlich<br />
diese Folgerung ist, so naheliegend (und durch den Einschub<br />
„zumindest“ veranschaulicht) ist, dass das LG seinerseits dem<br />
nachgegangen ist, jedoch (unter anderem wegen des Schweigens<br />
der Angeklagten in der Hauptverhandlung) keine sonstigen<br />
Feststellungen dazu treffen konnte, ab wann S den Tötungsvorsatz<br />
des R erkannte. Wegen der Voraussetzungen von<br />
Heimtücke sei im Übrigen auf die Ausführungen zur Strafbarkeit<br />
des R verwiesen (vgl. oben 1.a), II.1.a).<br />
Zum anderen beanstandet der 1. Strafsenat die Verneinung<br />
niedriger Beweggründe und führt dazu unter anderem aus,<br />
das LG habe sich nicht mit dem unmittelbar nach dem Sich-<br />
Entfernen vom Tatort vorgenommenen Interneteintrag des S<br />
auseinandergesetzt, der sich naheliegend auf das gerade von<br />
ihm miterlebte Geschehen bezogen haben werde. Da S tatenlos<br />
nach Hause ging und die Tötung des A durch R sicher<br />
voraussah, könnte dies zu dem möglichen Schluss führen, dass<br />
er sich über die Tötung freute, eine solche Freude aber wäre<br />
als niedriger Beweggrund in seiner Person anzusehen. Indes<br />
hätte die Erörterung einer solchen Eventualität dadurch gewonnen,<br />
dass altersbezogene Umstände und Ausdrucksweisen<br />
(„geil“) sowie deren – alltägliche, inhaltlich nichtssagende<br />
– Bedeutung erwogen bzw. untersucht worden wäre. Nach<br />
Auffassung des 1. Strafsenats könnte zudem der SMS vor der<br />
Tat zwischen S und K zu entnehmen sein, dass S die Tötung<br />
des A als Bestrafung für die Anzeige bei der Polizei billigte<br />
und sich dieses Motiv zu eigen machte, wobei die Anzeigeerstattung<br />
als Tötungsmotiv <strong>hier</strong> ebenfalls als auf tiefster Stufe<br />
stehend anzusehen wäre, und zwar wegen des krassen Missverhältnisses<br />
zwischen Anlass und Tat, 28 zumal nicht A die<br />
Strafanzeige erstattete. Weiterhin beanstandete der 1. Strafsenat<br />
unter Berücksichtigung der gleichgültigen Haltung des S<br />
gegenüber dem Tatopfer, es wäre zu prüfen gewesen, ob S den<br />
Totschlag durch Unterlassen in dem Bewusstsein beging, keinen<br />
Grund für eine Tötung zu haben „oder zu brauchen“,<br />
denn die Auffassung, nach eigenem Gutdünken über das Leben<br />
des Tatopfers verfügen zu können, stellt einen niedrigen<br />
Beweggrund dar. 29 So sehr diese Darlegungen strafrechtlichem<br />
Grundlagenwissen entsprechen, so naheliegend ist es, dass<br />
auch das LG darüber verfügte, es jedoch von entsprechenden<br />
Ausführungen absah, weil es (auch wegen des Schweigens des<br />
S in der Hauptverhandlung) keine tatsächlichen Feststellungen<br />
im Sinne der erwogenen Interpretationen des SMS-Textes<br />
(eines 14-Jährigen) bzw. der Gleichgültigkeit treffen konnte.<br />
b) Subjektive Mordmerkmale<br />
Hierzu verhält sich das aufhebende Urteil nicht, auch nicht zu<br />
den gerade bezüglich des S anzuwendenden jugendstrafrechtlichen<br />
Auslegungsgrundsätzen (vgl. oben unter 1.b).<br />
D. ZUSAMMENFASSUNG<br />
Die Erörterung hat ergeben, dass Diskrepanzen nicht oder<br />
nicht so sehr auf unterschiedlichen Auffassungen zu dogmatischen<br />
Streitfragen, sondern auf unterschiedlichen Interpretationen<br />
tatsächlicher Feststellungen beruhen. Dies hat sich<br />
schon bezüglich der objektiven Voraussetzungen der mordqualifizierenden<br />
Merkmale Heimtücke (vgl. oben II.1.a) versus<br />
III.1.a)) und niedrige Beweggründe (vgl. oben II.2.a) versus<br />
III.2.a)) gezeigt, insbesondere aber in Erörterung der subjektiven<br />
Voraussetzungen des mordqualifizierenden Merkmals<br />
niedrige Beweggründe (II.1.b) versus III.1.b)). Die Ebene von<br />
Interpretationen ist allerdings nicht gefeit vor Einflüssen aufgrund<br />
von Voreingenommenheit, wie sie gegenüber Minderheiten<br />
zB des Alters geläufig sind 30 und gar dazu führen<br />
können, dass gesetzliche Bestimmungen wie zB § 3 S. 1 JGG,<br />
die Belangen solcher Minderheiten Rechnung tragen, keine<br />
Berücksichtigung finden. 31<br />
27 Soweit der 1. Strafsenat das Urteil des LG insoweit referiert, als es in Würdigung der<br />
Schwere der Schuld ausgeführt hat, „seine innere Haltung und sein eigenes Selbstwertgefühl<br />
waren davon bestimmt, dass er durch die Tat um jeden Preis als eine<br />
Persönlichkeit dastehen wollte, der andere Respekt erweisen müssen“, bezieht sich<br />
dies auf den Totschlag, dh es berührt nicht die Überzeugung des LG, nicht ausschließen<br />
zu können, dass die psychischen Umstände bei R ihm die Einsicht versperrt<br />
haben, aus niedrigen Beweggründen zu handeln.<br />
28 BGH NStZ-RR 2010, 175 Rn. 10. Diese Entscheidung des 2. Strafsenats ist nach<br />
Deliktsanlass und -gestaltung ebenso wie der Täterpersönlichkeit mit dem vorliegenden<br />
Fall nicht vergleichbar.<br />
29 Die <strong>hier</strong>zu in Bezug genommenen Entscheidungen des 5. Strafsenats bzw. des 2.<br />
Strafsenats (BGHSt 47, 128 Rn. 16 = JZ 2002, 566 mAnm Otto JR 2002, 470 mAnm<br />
Neumann StV 2003, 19 mit Bespr. Saliger StV 2003, 38 bzw. BGHR StGB § 211<br />
niedrige Beweggründe 44, Rn. 10) weisen kaum eine Vergleichbarkeit mit dem vorliegenden<br />
Fall auf.<br />
30 Vgl. <strong>hier</strong>zu, jeweils betreffend die Verurteilung Jugendlicher wegen Mordes, exemplarisch<br />
auch LG Berlin Urt. v. 13.6.2006 – 530 1 Kap Js 1874/05 KLs 101/05, nicht<br />
beanstandet von BGH NStZ 2007, 522 mit Bespr. Eisenberg/Schmitz NStZ 2008,<br />
94, sowie LG München Urt. v. 6.9.2010 – J KLs 122 Js 11947/09 – sog. „Brunner“-<br />
Verfahren –, nicht beanstandet von BGH Beschl. v. 20.9.2011 – 1 StR 326/11 mit<br />
Bespr. Eisenberg ZKJ 2012, 54 ff.<br />
31 In dem Urteil des 1. Strafsenats kommt das JGG, abgesehen von der bloßen<br />
Referierung des tatgerichtlichen Urteils zu § 17 II JGG (Rn. 26) und der Worte<br />
schädliche Neigungen (Rn. 42; dazu aber Eisenberg HRRS 2012, 23 [27]), nicht vor.<br />
ÜBUNGSBLÄTTER STUDENTEN · BASICS LERNBEITRAG ÖFFENTLICHES RECHT · GRUNDRECHTSFÄHIGKEIT<br />
Stelios Tonikidis, Mannheim *<br />
Die Grundrechtsfähigkeit und Grundrechtsberechtigung natürlicher Personen<br />
Die Grundrechtsfähigkeit und Grundrechtsberechtigung natürlicher<br />
Personen zählen zu den allgemeinen Grundrechtslehren<br />
und damit zum Pflichtfachstoff für das 1. und 2. Staatsexamen.<br />
Der folgende Beitrag, der sich nicht nur als Einstiegsliteratur,<br />
* Der Autor ist Student der Rechtswissenschaft an der Universität Mannheim sowie<br />
studentische Hilfskraft im Mannheimer Büro der Rechtsanwaltskanzlei Ernestus<br />
Rechtsanwälte_Insolvenzverwalter.<br />
38 1/2013