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1. Anlage und Durchführung <strong>de</strong>r Untersuchung<br />
1.1 Die Ausgangslage – Die „Krise <strong>de</strong>s Ehrenamts“<br />
Jürgen Wolf<br />
In <strong>de</strong>r öffentlichen Aufmerksamkeit hat das Thema <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements<br />
in <strong>de</strong>r jüngsten Vergangenheit einen konstanten Spitzenplatz eingenommen.<br />
Einen Höhepunkt erreichte die Aufmerksamkeit 2001 im „internationalen<br />
Jahr <strong>de</strong>r Freiwilligen“. Dabei hat eine Akzentverschiebung stattgefun<strong>de</strong>n. Das<br />
hergebrachte Ehrenamt hat zugunsten neuartiger Formen <strong>de</strong>s freiwilligen o<strong>de</strong>r<br />
bürgerschaftlichen Engagements an Attraktivität eingebüßt. So hat eine Reihe von<br />
Untersuchungen in <strong>de</strong>r letzten Deka<strong>de</strong> einen Rückgang <strong>de</strong>s „traditionellen“ehrenamtlichen<br />
Engagements konstatiert – sowohl beim sozialen Ehrenamt, z.B. im<br />
Rahmen <strong>de</strong>s sozialen Engagements in Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>n, als auch im interessenpolitischen<br />
Ehrenamt, z.B. im Rahmen von Gewerkschaften. Zurückgeführt<br />
wird dieser Rückgang auf die Prozesse <strong>de</strong>s Wertewan<strong>de</strong>ls und <strong>de</strong>r Individualisierung,<br />
mit <strong>de</strong>nen zugleich jene sozialen Milieus geschwächt wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren Zugehörigkeit<br />
<strong>de</strong>m Engagement in weltanschaulich, konfessionell und politisch orientierten<br />
Organisationen zugrun<strong>de</strong> lag (vgl. ausführlich Heinze / Strünck 1999).<br />
Im konzeptionellen Rahmen <strong>de</strong>r „Zivilgesellschaft“und <strong>de</strong>s „Wohlfahrtsmix“<br />
(vgl. Evers / Olk 1996), haben empirische Studien dagegen gezeigt, dass es weniger<br />
zu einem Rückgang als zu einem Formwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements<br />
gekommen ist, <strong>de</strong>r im Begriff <strong>de</strong>r neuen Ehrenamtlichkeit zusammengefasst<br />
wird (vgl. Olk 1988). Diese Form <strong>de</strong>s Engagements fin<strong>de</strong>t sich in selbstorganisierten<br />
Gruppen, Initiativen und Projekten, in <strong>de</strong>nen die traditionellen Orientierungen<br />
<strong>de</strong>r „Ehre“und <strong>de</strong>s „Amts“von <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rneren <strong>de</strong>r Selbstverwirklichung<br />
und <strong>de</strong>r freiwilligen Assoziation abgelöst wor<strong>de</strong>n sind (vgl. Braun 2001a1997). Für<br />
diese als neu apostrop<strong>hier</strong>te Form <strong>de</strong>s Engagements wird keine Ab, son<strong>de</strong>rn eine<br />
<strong>de</strong>utliche Zunahme festgestellt. 1 Ab Mitte <strong>de</strong>r 70er Jahre gab es einen „Gründungsboom“(Priller/Zimmer<br />
1998) von Initiativen und Projekten, die auf dieser<br />
Form <strong>de</strong>s Engagements beruhten und beruhen – von lokalen Bürgerinitiativen<br />
über Selbsthilfegruppen bis hin zur Partei <strong>de</strong>r GRÜNEN, die sich zumin<strong>de</strong>st in<br />
<strong>de</strong>n ersten Jahren als Sammelbecken und Sprachrohr dieser Vereinigungen<br />
verstand.<br />
Der Hintergrund dieser Entwicklung ist zum einen die nachlassen<strong>de</strong> Bin<strong>de</strong>wirkung<br />
und Verpflichtungskapazität von Großorganisationen gegenüber ihren<br />
Mitglie<strong>de</strong>rn, zum an<strong>de</strong>ren ein gewan<strong>de</strong>ltes Verständnis <strong>de</strong>s Verhältnisses <strong>de</strong>r<br />
Bürgerinnen und Bürger zum Gemeinwesen und <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Prozess.<br />
„Aktive Bürgerschaft“und freiwilliges Engagement wer<strong>de</strong>n als Momente <strong>de</strong>r gelebten<br />
Demokratie in einer „Bürgergesellschaft“(EnqueteKommission 2002a; b)<br />
interpretiert, in <strong>de</strong>r die gesellschaftliche Integration immer weniger über die Erwerbsarbeit<br />
und die an sie gekoppelten Ansprüche auf soziale Anerkennung und<br />
materielle Sicherung verläuft. Das Engagement, <strong>de</strong>m nun die Aufmerksamkeit gilt,<br />
1 Für <strong>de</strong>tailliertere Angaben vgl. unten, 1.3.
8 <br />
knüpft in diesem Rahmen eher an die Traditionen <strong>de</strong>r Bürgerinitiativen und <strong>de</strong>r<br />
Selbsthilfe an als an die organisierte Interessenvertretung im Rahmen von Großorganisationen.<br />
An<strong>de</strong>rerseits sind die Mitglie<strong>de</strong>rorganisationen – Vereine, Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>,<br />
Kirchen, Gewerkschaften – auf das Engagement ihrer Mitglie<strong>de</strong>r angewiesen,<br />
wenn sie nicht in einen Anonymisierungs und Bürokratisierungsprozess geraten<br />
wollen. Auch die Mitglie<strong>de</strong>r und „Kun<strong>de</strong>n“sind darauf angewiesen, <strong>de</strong>nn die<br />
Organisationen und Verbän<strong>de</strong> erfüllen zentrale Funktionen im korporatistischen<br />
System <strong>de</strong>r Interessenaushandlung und wirken somit auf die Lebensbedingungen<br />
großer Teile <strong>de</strong>r Bevölkerung ein.<br />
Vor diesem Hintergrund richtet sich die vorliegen<strong>de</strong> Untersuchung auf die<br />
Frage nach <strong>de</strong>n Entwicklungsbedingungen für die neuen, mo<strong>de</strong>rnen Formen <strong>de</strong>s<br />
Engagements innerhalb <strong>de</strong>r „alten“Verbän<strong>de</strong>. Diese Fragestellung beruht auf<br />
zwei Hypothesen:<br />
• Nicht nur in Selbsthilfegruppen und bürgerschaftlichen Assoziationen, son<strong>de</strong>rn<br />
auch unter Mitglie<strong>de</strong>rn „traditioneller“Mitglie<strong>de</strong>rorganisationen haben sich Orientierungen<br />
im Sinne <strong>de</strong>r „neuen Ehrenamtlichkeit“herausgebil<strong>de</strong>t. Hierdurch<br />
wird die subjektive Wahrnehmung <strong>de</strong>r Betätigungsmöglichkeiten im Rahmen<br />
<strong>de</strong>r verbandlichen Arbeit bestimmt. Die „traditionellen“und gegenwärtig noch<br />
weit verbreiteten Formen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements sowie <strong>de</strong>r überwiegend<br />
funktionale Umgang mit Ehrenamtlichen durch die Hauptamtlichen<br />
sind mit diesen Orientierungen schwer verträglich und vermutlich mitverantwortlich<br />
für <strong>de</strong>n Rückgang <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements. Vor diesem Hintergrund<br />
muss die Engagementför<strong>de</strong>rung verstärkt die „allgemeinen“, nicht<br />
unmittelbar auf die Verbandsinteressen bezogenen Interessen und Orientierungen<br />
aufgreifen und Strukturen schaffen, die in <strong>de</strong>r Lage sind, die Individuen<br />
zu aktivieren, in<strong>de</strong>m geeignete Verfahren <strong>de</strong>r Anerkennung und Belohnung<br />
<strong>de</strong>s Engagements etabliert wer<strong>de</strong>n.<br />
• Die seit einiger Zeit vorherrschen<strong>de</strong> Begriffsvielfalt für das ehrenamtliche Engagement<br />
ist einerseits Ausdruck einer schärferen Konkurrenz um Mitglie<strong>de</strong>r<br />
und finanzielle Ressourcen, an<strong>de</strong>rerseits aber auch Ausdruck <strong>de</strong>r Konkurrenz<br />
um die Schlüsselkonzepte <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Integration (Erwerbsarbeit<br />
versus Bürgergesellschaft). Welche Formen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements<br />
von <strong>de</strong>n intermediären Mitglie<strong>de</strong>rorganisationen ermöglicht und geför<strong>de</strong>rt<br />
wer<strong>de</strong>n, hat <strong>de</strong>shalb gesellschaftspolitische Auswirkungen – auf die<br />
Wahrnehmung <strong>de</strong>r Verbän<strong>de</strong> als gestalten<strong>de</strong> Kräfte bei <strong>de</strong>r Bewältigung <strong>de</strong>r<br />
sozialen Kosten <strong>de</strong>s ökonomischen Prozesses und ihre Fähigkeit, eine aktive<br />
Funktion bei <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>s Verhältnisses von arbeitsgesellschaftlichen<br />
Strukturen und <strong>de</strong>r „Kultur <strong>de</strong>s Sozialen“einzunehmen.<br />
Der Frage wird in <strong>de</strong>r Untersuchung in ausführlichen Fallstudien zu innovativen<br />
Ansätzen <strong>de</strong>s freiwilligen Engagements in <strong>de</strong>n Gewerkschaften und in bürgerschaftlichen<br />
Vereinigungen nachgegangen. Auf <strong>de</strong>r Basis einer schriftlichen<br />
Befragung <strong>de</strong>r Verwaltungsstellen bzw. Bezirksverwaltungen <strong>de</strong>r IG Metall, IG<br />
BCE, ver.di und IG BAU sowie 45 Experteninterviews mit Repräsentanten von<br />
Vereinigungen, Verbän<strong>de</strong>n und Behör<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n die Fallstudien in <strong>de</strong>n Bereichen<br />
<strong>de</strong>r Jugend, Erwerbslosen und Seniorenarbeit in <strong>de</strong>n alten und neuen
9 <br />
Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn angefertigt. Dabei wur<strong>de</strong>n 40 Einzelinterviews und 16 Gruppendiskussionen<br />
durchgeführt.<br />
Die Untersuchungsergebnisse sollen die Realisierungsbedingungen innovativer<br />
Formen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements nachvollziehbar machen und<br />
anhand von Fallbeispielen exemplifizieren. Hierbei wird ein beson<strong>de</strong>res Gewicht<br />
auf folgen<strong>de</strong> Punkte gelegt:<br />
• die Bestimmung von Inhalten und Formen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements<br />
aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Interessen und Orientierungen <strong>de</strong>r Beteiligten (Mitglie<strong>de</strong>r).<br />
Dabei fin<strong>de</strong>t keine Begrenzung auf die Erwerbsinteressen statt; vielmehr<br />
wird danach gefragt, wie allgemeine, lebenslagenbezogene und biographische<br />
Interessen mit <strong>de</strong>r Betätigung in <strong>de</strong>r Organisation verknüpft wer<strong>de</strong>n<br />
können<br />
• die Bestimmung von Schnittstellen <strong>de</strong>r Handlungsfel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements in <strong>de</strong>n Schwerpunkten <strong>de</strong>r Interessenorganisation einerseits,<br />
<strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements an<strong>de</strong>rerseits<br />
• die Realisierungsmöglichkeiten einer Brückenfunktion <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements<br />
zum Arbeitsmarkt, d.h. Möglichkeiten, die sich aus <strong>de</strong>m Engagement<br />
für eine (Re) Integration <strong>de</strong>r Beteiligten in <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt eröffnen.<br />
Angesichts <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r institutionellen Arrangements zwischen<br />
Erwerbsarbeit, „drittem Sektor“und Privatbereich stellt sich die Frage nach <strong>de</strong>r<br />
Gestaltung und organisatorischen Verankerung neuer Formen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements, durch welche die Verbän<strong>de</strong> als intermediäre Akteure darauf<br />
hinwirken können, dass das gesellschaftliche Engagement auch über sie und mit<br />
ihnen verläuft. Die Gewerkschaften nehmen in diesem Prozess eine herausragen<strong>de</strong><br />
Rolle ein. Gegenüber <strong>de</strong>r „Staatslastigkeit“<strong>de</strong>r Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong> (Anheier<br />
et al. 1998, S. 58 ff.) zeichnen sie sich als Akteure <strong>de</strong>r Interessenvermittlung<br />
aus und verstehen sich als politische Gegenmacht, die ihre Stärke zu einem wesentlichen<br />
Teil aus <strong>de</strong>r Mobilisierung <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r gewinnen. Für das ehrenamtliche<br />
Engagement ist <strong>de</strong>shalb von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung, die Differenzen zum<br />
Engagement in an<strong>de</strong>ren Organisationen o<strong>de</strong>r Assoziationen herauszuarbeiten.<br />
Dies bezieht sich auf die Schnittstelle zwischen betrieblichem und außerbetrieblichem<br />
Engagement, das Verhältnis von Haupt und Ehrenamtlichen und die Ziele<br />
<strong>de</strong>s jeweiligen Engagements.<br />
Damit wird auch die politische Frage nach <strong>de</strong>n einflussreichen Akteuren bei<br />
<strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Lebensbedingungen und nach <strong>de</strong>r Balance zwischen <strong>de</strong>r Befähigung<br />
zur Eigeninitiative und <strong>de</strong>r Garantie von Schutzrechten. Im Konzept <strong>de</strong>r<br />
„Bürgergesellschaft“(vgl. Dettling 1998) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s „Dritten Sektors“(vgl. Anheier et<br />
al. 2000) wird mit <strong>de</strong>r Ausweitung <strong>de</strong>s freiwilligen und bürgerschaftlichen Engagements<br />
auch <strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>r Sozialpolitik neu <strong>de</strong>finiert. Gegenüber <strong>de</strong>n Schutzund<br />
Sicherungsfunktionen <strong>de</strong>s Staates und <strong>de</strong>r Sozialversicherung wird in stärkerem<br />
Maße die aktivieren<strong>de</strong> Funktion <strong>de</strong>r Sozialpolitik betont (vgl. Behrens 1999),<br />
mit <strong>de</strong>r die Bürgerinnen und Bürger zu Koproduzenten <strong>de</strong>r Wohlfahrt wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m<br />
sie die soziale Sicherung in verstärktem Maße auf das Engagement in <strong>de</strong>n<br />
unmittelbaren Solidarbeziehungen legen. Diese Aktivierung wird dabei mit <strong>de</strong>n<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen zur Kostendämpfung im sozialen Bereich verbun<strong>de</strong>n. Der Vorschlag<br />
<strong>de</strong>r „Bürgerarbeit“, <strong>de</strong>r in jüngerer Zeit von <strong>de</strong>r Kommission für Zukunfts
10 <br />
fragen <strong>de</strong>r Freistaaten Bayern und Sachsen (1997, S. 146 ff.) formuliert wur<strong>de</strong>,<br />
radikalisiert diesen Gedanken. Soziales und gemeinwesenorientiertes Engagement<br />
soll <strong>de</strong>mnach Ansprüche auf soziale Sicherung begrün<strong>de</strong>n und als Mittel zur<br />
Bekämpfung <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit wirken (zur Kritik vgl. Klammer / Bäcker 1998;<br />
Wagner et al. 1998).<br />
Die Bereitschaft zum Engagement scheint bei einem erheblichen Teil <strong>de</strong>r<br />
Bürger vorhan<strong>de</strong>n zu sein. Die entsprechen<strong>de</strong>n Befun<strong>de</strong> über das aktive Bürgerengagement<br />
relativieren die gängigen Zeitdiagnosen <strong>de</strong>r „Ellbogengesellschaft“<br />
die durch Entsolidarisierung und Vereinzelung gekennzeichnet sei (vgl. z.B. Putnam<br />
2000). Offen bleibt jedoch die Frage, ob <strong>de</strong>m konzeptionellen Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s<br />
Leitbil<strong>de</strong>s vom pflichtbewussten Mitglied zum engagierten Bürger, das von Teilen<br />
<strong>de</strong>r Wissenschaft und Politik propagiert wird, ein entsprechen<strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l in <strong>de</strong>n<br />
Motiven und Orientierungen <strong>de</strong>r Bürgerinnen und Bürger gegenübersteht.<br />
So stellen beispielsweise SchmitzScherzer et al. (1994, S. 70) fest, dass<br />
die Herausbildung <strong>de</strong>r „neuen Ehrenamtlichkeit“mit einer stärkeren Professionalisierung<br />
<strong>de</strong>r Tätigkeiten und zugleich mit einer Abkehr vom Prinzip <strong>de</strong>r Unentgeltlichkeit<br />
einher gehe – die ehrenamtlichen Tätigkeiten also <strong>de</strong>n Charakter „schlecht<br />
bezahlter Erwerbsarbeit“annähmen. Hinter <strong>de</strong>m Engagement dürfte in diesem<br />
Fall also eine Orientierung auf die Wie<strong>de</strong>reinglie<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt stehen.<br />
Selbst wenn man diesen Charakter in Kauf nehmen wollte, weil damit Arbeitslosigkeit<br />
gemin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n könnte und für die Betroffenen <strong>de</strong>nnoch sinnvolle<br />
Tätigkeiten eröffnet wür<strong>de</strong>n (vgl. Kommission 1997, S. 146 f.), bleiben ungelöste<br />
Fragen offen. Die dringendste Frage richtet sich auf die <strong>de</strong>n Umgang mit <strong>de</strong>r ungleichen<br />
Chancenstruktur und daraus resultieren<strong>de</strong>n Ausschlussgefahren. So<br />
kommen auch Wagner et al. (1998) in ihrer Untersuchung zum Schluss, dass <strong>de</strong>r<br />
Vorschlag, Ehrenamt als „Bürgerarbeit“zu entlohnen, lediglich für gut gebil<strong>de</strong>te<br />
Ehrenamtliche attraktiv“sei, da das ehrenamtliche Engagement ein<strong>de</strong>utig mit Bildung<br />
und Qualifikation korreliert. Für die Problemgruppen <strong>de</strong>s Arbeitsmarktes, die<br />
gering Qualifizierten, stün<strong>de</strong>n dagegen we<strong>de</strong>r Erwerbsarbeit noch „Bürgerarbeit“<br />
offen. Sie sähen sich also einem verschärften Risiko <strong>de</strong>s sozialen Ausschlusses<br />
gegenüber (vgl. auch Klammer/Bäcker 1998).<br />
1.2 Die Rolle <strong>de</strong>r Gewerkschaften<br />
Die geschil<strong>de</strong>rten Beobachtungen stellen beson<strong>de</strong>re Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />
für die korporatistischen Großorganisationen dar und werfen Fragen nach ihrer<br />
gesellschaftspolitischen Rolle auf:<br />
• Auf Seiten <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r ist die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement<br />
zurück gegangen. Bei <strong>de</strong>n Engagierten hat sich die Bereitschaft zum kontinuierlichen,<br />
dauerhaften Engagement reduziert. Die traditionellen Kernbereiche<br />
<strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mnach ebenso wie die an<strong>de</strong>ren<br />
Bereiche zunehmend unter <strong>de</strong>m Problem <strong>de</strong>r Diskontinuität. Angesichts <strong>de</strong>r<br />
begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen sind diese Organisationen<br />
an<strong>de</strong>rerseits verstärkt auf freiwilliges Engagement bzw. ehrenamtliche Arbeit<br />
angewiesen.
11 <br />
• Die politische Legitimität <strong>de</strong>r Verbän<strong>de</strong>, wird zunehmend an ihren Fähigkeiten<br />
gemessen, Möglichkeiten <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Bewältigung <strong>de</strong>r Folgen <strong>de</strong>r<br />
Arbeitslosigkeit und <strong>de</strong>r Krise <strong>de</strong>r sozialstaatlichen Sicherung mit zu gestalten.<br />
• Durch <strong>de</strong>n wachsen<strong>de</strong>n Anteil <strong>de</strong>r Erwerbslosen, Vorruheständler und Ruheständler<br />
ist z.B. <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r ohne betriebliche Anbindung<br />
und entsprechen<strong>de</strong> Betreuung erheblich gestiegen – in <strong>de</strong>r IG Metall<br />
liegt dieser Anteil bei 48% (2002). Damit wird die seit längerem aufgeworfene<br />
Frage nach <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Organisation verstärkt zum Thema.<br />
Das geringer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Angebot an Erwerbsarbeit und <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungszuwachs<br />
<strong>de</strong>r außerberuflichen Lebensbereiche war in <strong>de</strong>r Gewerkschaftsforschung<br />
bereits in <strong>de</strong>n 80er Jahren <strong>de</strong>r Anlass für die For<strong>de</strong>rung nach einem außerbetrieblichen<br />
Organisationszentrum <strong>de</strong>r Gewerkschaften (vgl. Negt et al. 1989; kritisch:<br />
Wolf et al. 1994: 74 ff). Auch die Schwächung <strong>de</strong>s Verpflichtungsgefühls und die<br />
stärkere Betonung <strong>de</strong>r Selbstentfaltungsmotive beim Engagement hat sich in Untersuchungen<br />
zu <strong>de</strong>n Mitgliedschaftsmotiven von Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>rn gezeigt.<br />
Wolfgang Streeck fasst die entsprechen<strong>de</strong>n Beobachtungen für die Gewerkschaften<br />
im Begriff <strong>de</strong>r „institutionellen Mitgliedschaftsmotive“ zusammen<br />
(Streeck 1987: 393), die an die Stelle persönlicher o<strong>de</strong>r milieugeprägter Bindungen<br />
getreten seien. Gewerkschaftsmitglied ist man <strong>de</strong>mnach nur noch unter an<strong>de</strong>rem<br />
und unter relativ klar begrenzten Bedingungen. Die Mitgliedschaft kann als<br />
ein Verhältnis <strong>de</strong>r „partiellen Inklusion“(Wiesenthal 1987) charakterisiert wer<strong>de</strong>n,<br />
die je<strong>de</strong>rzeit kündbar ist, wenn sie <strong>de</strong>n eigenen Interessenlagen und Orientierungen<br />
nicht mehr entspricht. Neben <strong>de</strong>r stärkeren Be<strong>de</strong>utung utilitaristischer Motive<br />
sind aber zugleich auch die moralischen und politischen Ansprüche an die Gewerkschaften<br />
gestiegen. Die Mitglie<strong>de</strong>r verstehen sich mehr o<strong>de</strong>r weniger als<br />
Kun<strong>de</strong>n und die Gewerkschaft als Dienstleister und/o<strong>de</strong>r als engagierte Bürger<br />
und die Gewerkschaft als Interessenvertretung, die sich gegenüber allgemeinen<br />
Wertorientierungen legitimieren muss. Entsprechend wer<strong>de</strong>n die Mitgliedschaft<br />
und das Engagement sowohl unter utilitaristischen („was habe ich davon?“) und<br />
selbstentfaltungsbezogenen („macht es mir Spaß?“) als auch unter politischen<br />
(„stimme ich <strong>de</strong>n Zielen zu?“) und moralischen („stimmt die Praxis mit <strong>de</strong>m Programm<br />
überein?“) Gesichtspunkten wahrgenommen (vgl. Wolf et al. 1994, S. 153<br />
ff.).<br />
Die Aussage von André Gorz (1989, S. 327), nach <strong>de</strong>r „die Gewerkschaft<br />
... sich selbst als Bestandteil einer sehr viel weiteren und vielgestaltigeren Bewegung<br />
für die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation begreifen“müsse, gilt<br />
unter diesen Voraussetzungen in verstärktem Maße. Für die Forschung stellt sich<br />
dabei die Aufgabe, die spezifisch gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten im<br />
Zusammenhang mit <strong>de</strong>m allgemeinen bürgerschaftlichen Engagement zu<br />
bestimmen. Für diese Frage bietet die neuere Verbän<strong>de</strong>forschung theoretische<br />
Anschlussmöglichkeiten. Demnach steht das gewerkschaftliche nicht im Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
zum bürgerschaftlichen Engagement. Entgegen <strong>de</strong>n Thesen <strong>de</strong>r KorporatismusKritik<br />
<strong>de</strong>r 80er Jahre hat die neuere Verbän<strong>de</strong>forschung darauf hingewiesen,<br />
dass nicht nur erwerbsbezogene, son<strong>de</strong>rn auch „schwache“ Interessen<br />
(Frauen, Ökologie, Behin<strong>de</strong>rte, Alte) organisations und konfliktfähig sind. Da<br />
komplexe Großverbän<strong>de</strong> „overlapping memberships“ integrieren, sind sie ge
12 <br />
zwungen, aber auch in <strong>de</strong>r Lage, auch ressourcenschwache (d.h. nicht an das<br />
Erwerbssystem gekoppelte) Gruppierungen und Interessen zu vertreten und ihnen<br />
mittelbaren Anschluss an die korporatistischen Verhandlungssysteme zu verschaffen<br />
(vgl. Scharpf 1993; Willems / v. Winter 2000; zu empirischen Beobachtungen<br />
im Bereich <strong>de</strong>r Altenpartizipation vgl. Evers / Wolf 1997).<br />
1.3 „Neue Ehrenamtlichkeit“ – Zum Forschungsstand<br />
Frank Ernst<br />
1.3.1 Ausgangsüberlegungen und Thesen<br />
In Verbän<strong>de</strong>n und Organisationen ist ehrenamtliches Engagement seit längerem<br />
rückläufig. Laut wissenschaftlichen Untersuchungen ist aber gesamtgesellschaftlich<br />
ein Anstieg freiwilligen Engagements zu verzeichnen. 2 Auch die Bereitschaft,<br />
sich freiwillig zu engagieren nimmt zu. 3 Helmut Klages verweist auf eine<br />
„riesige schlafen<strong>de</strong> Ressource“. Bei <strong>de</strong>r Mehrheit <strong>de</strong>r Bevölkerung bestehe „eine<br />
Grundbereitschaft zum Engagement“. (Klages 1998: 34)<br />
Für die großen Mitglie<strong>de</strong>rorganisationen und Verbän<strong>de</strong> stellt sich die Frage:<br />
Wie attraktiv kann und muss ehrenamtliche Arbeit sein, um Ehrenamtliche zu<br />
halten, zu gewinnen und um potentielle Ehrenamtliche abzuholen? Bei <strong>de</strong>r Suche<br />
nach Antworten auf diese Fragen muss berücksichtigt wer<strong>de</strong>n, dass sich ein<br />
„Strukturwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Ehrenamtes“(Beher et. al. 2000) vollzogen hat. 4 Die Motive,<br />
Bedürfnisse, Ansprüche und Erwartungen <strong>de</strong>r Engagierten an das Engagement<br />
haben sich verän<strong>de</strong>rt. Diese verän<strong>de</strong>rten Haltungen in bezug auf ehrenamtliches<br />
Engagement wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r wissenschaftlichen und politischen Debatte im Begriff<br />
<strong>de</strong>s „neuen Ehrenamtes“zusammengefasst.<br />
Unter „neuem Ehrenamt“wird eine neue Verbindung von<br />
• sozialer Gesinnung<br />
• persönlicher Betroffenheit<br />
• Selbstverwirklichungsmotiven und<br />
• politischem Verän<strong>de</strong>rungswillen verstan<strong>de</strong>n. (s. Heinze/ Strünck 2001: 236)<br />
Neue Ehrenamtlichkeit zeichnet sich allgemein durch<br />
• seinen Projektbezug (themenorientiert)<br />
• eine zeitliche Begrenzung<br />
• die Ausrichtung an <strong>de</strong>n Orientierungen <strong>de</strong>r einzelnen Mitglie<strong>de</strong>r und<br />
• einen geringeren Formalisierungsgrad aus.<br />
2 In <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik sind 34% aller Bun<strong>de</strong>sbürger ehrenamtlich tätig. Im inner<strong>de</strong>utschen Vergleich<br />
engagieren sich 28% <strong>de</strong>r Ost<strong>de</strong>utschen gegenüber 35% <strong>de</strong>r West<strong>de</strong>utschen. Vgl. v. Rosenblatt<br />
2001: 18ff.<br />
3 37% <strong>de</strong>r Bevölkerung sind laut Freiwilligensurvey 1999 bereit, sich freiwillig zu engagieren. (s.<br />
Klages 2001: 200) 31% <strong>de</strong>r Engagierten geben an, ihr Engagement möglicherweise noch auszuweiten.<br />
(ebd: 69)<br />
4 Ein „Strukturwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Ehrenamtes wird seit <strong>de</strong>n 80er Jahren konstatiert. Wertewan<strong>de</strong>l und<br />
Individualisierung waren dabei Grundmomente <strong>de</strong>r Argumentation.
13 <br />
Die Strukturen in Verbän<strong>de</strong>n, die eher auf das „alte Ehrenamt“ausgelegt<br />
sind, hemmen neue Engagementformen eher, als dass sie sie för<strong>de</strong>rn. Dieses<br />
Manko lässt sich auch aus <strong>de</strong>r Feststellung erklären, dass insgesamt ein Anstieg<br />
von freiwilligem Engagement zu beobachten ist, während die ehrenamtliche Bereitschaft<br />
in <strong>de</strong>n Verbän<strong>de</strong>n abnimmt. Deshalb müssen „Prozesse <strong>de</strong>r Selbstentfaltung<br />
und <strong>de</strong>r eigenständigen Problembearbeitung (...) ermöglicht wer<strong>de</strong>n“.<br />
(Heinze/Strünck 2001: 236) Demgegenüber sind altruistische persönliche Einstellungen<br />
und Pflichtgefühle zunehmend weniger ein Anstoß, ein Engagement aufzunehmen.<br />
Das ehrenamtliche Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Engagierten wird mehr und mehr von<br />
ihren individuellen Interessen geprägt statt von <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r Organisationen.<br />
Heinze und Strünck (ebd.) stellen fest, dass die gesellschaftlichen Zentralwerte<br />
wie christliche Nächstenliebe und Klassensolidarität, durch die das „alte<br />
Ehrenamt“legitimiert wur<strong>de</strong>, an Be<strong>de</strong>utung verlieren. Das Selbstverständnis <strong>de</strong>r<br />
Art und Weise, <strong>de</strong>s Sinns und <strong>de</strong>r Dauer <strong>de</strong>s „alten Engagements“löst sich mit<br />
zunehmen<strong>de</strong>m Verlust <strong>de</strong>r Bin<strong>de</strong>kraft spezifischer Sozialmilieus auf. Auf dieses<br />
Verständnis kann bei <strong>de</strong>m Versuch <strong>de</strong>r Aktivierung von Engagement immer weniger<br />
zurück gegriffen wer<strong>de</strong>n.<br />
1.3.2 Das Interesse am engagierten Bürger<br />
Das breite Interesse, das die Forschung und die Politik ehrenamtlichem<br />
Engagement in <strong>de</strong>n letzten Jahren entgegenbringt, erklärt sich aus <strong>de</strong>m diagnostizierten<br />
starken sozialen Wan<strong>de</strong>l mit seinen Folgeproblemen sowie aus <strong>de</strong>n Potentialen,<br />
die man <strong>de</strong>m ehrenamtlichen Engagement zuspricht. Roland Roth<br />
spricht in diesem Zusammenhang von einem „ungehobenen Schatz“, <strong>de</strong>r – so<br />
wird angemahnt – von <strong>de</strong>n politischen und gesellschaftlichen Institutionen schleunigst<br />
geborgen wer<strong>de</strong>n sollte. (Roth 2003: 19 ff.)<br />
Der politisch aktive Bürger wird in dieser Debatte zum politischen Programm<br />
erhoben, auf <strong>de</strong>ssen Klaviatur Parteien und Organisationen verschie<strong>de</strong>nster<br />
Couleur spielen. Ausgangspunkt <strong>de</strong>s Interesses ist die Krise, in die marktwirtschaftliche,<br />
<strong>de</strong>mokratisch verfasste und sozialstaatlich abgesicherte Gesellschaften<br />
geraten sind. Braun fasst diese arbeitsmarktliche und wohlfahrtsstaatliche Krisensituation<br />
in drei Schwerpunkten zusammen: die „Krise <strong>de</strong>r Arbeitsgesellschaft“,<br />
die „Krise <strong>de</strong>s Sozialstaates“sowie die „Krise <strong>de</strong>r Demokratie als Partizipationsgemeinschaft“.<br />
(Braun 2001b: 84 ff.)<br />
In verschie<strong>de</strong>nen Lösungsansätzen rückt <strong>de</strong>r ehrenamtlich engagierte Bürger<br />
stärker in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>r Diskussion. Er soll helfen, diese Krisen einzudämmen<br />
und zu beheben. Zentral ist die Frage nach <strong>de</strong>r sozialen Integration mo<strong>de</strong>rner<br />
<strong>de</strong>mokratischer Gesellschaften. Der Angst vor Auflösung, Ausschluss und<br />
Ausgrenzung begegnet <strong>de</strong>r engagierte Bürger durch Selbstorganisation und Eigenverantwortung,<br />
Partizipation sowie gemeinwohlorientiertes Han<strong>de</strong>ln. (vgl.<br />
Braun 2001a, 2001b)<br />
Der ‚engagierte Bürger’ist kein geronnener Fakt aus sozialwissenschaftlicher<br />
Empirie, son<strong>de</strong>rn vielmehr ein Postulat politischer Machbarkeitsi<strong>de</strong>en. Er ist<br />
<strong>de</strong>r eigentliche Garant für die Aufrechterhaltung von Standards westlicher Demokratien,<br />
in <strong>de</strong>nen sich <strong>de</strong>r Staat aus Sicherungs und Integrationsfunktionen im
14 <br />
mer mehr zurück zieht. Die Gewährleistung sozialer Sicherung und politischer<br />
Teilhabe wird stärker in die Eigenverantwortlichkeit <strong>de</strong>s Bürgers gelegt.<br />
1.3.3 Bürgerschaftliches Engagement als „Begriffsbrücke“<br />
Der Begriff <strong>de</strong>s Ehrenamts konzipiert <strong>de</strong>n Bürger vor allem als Funktionsträger<br />
und Amtsinhaber in gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen. Im<br />
Ehrenamt übernimmt <strong>de</strong>r einzelne Aufgaben innerhalb einer institutionellen Struktur.<br />
Diese können von <strong>de</strong>r Übernahme <strong>de</strong>s Vereinsvorsitzes über karitative Pflegeleistungen<br />
bis zur Ausübung eines Mandats in politischen politischen Gremien<br />
reichen.<br />
Der begriffliche Rahmen für freiwillige Tätigkeiten reicht von ‚bürgerschaftlichem<br />
Engagement’bis ‚Ehrenamt’, von ‚Selbsthilfe’bis ‚Freiwilligenarbeit’. Diese<br />
Diffusität ist nicht zuletzt <strong>de</strong>m Anspruch geschul<strong>de</strong>t, alle freiwilligen, unentgeltlichen<br />
Tätigkeiten zu erfassen. Solche Tätigkeiten fin<strong>de</strong>n aber nicht nur unter verschie<strong>de</strong>nen<br />
Umstän<strong>de</strong>n und Rahmenbedingungen statt, son<strong>de</strong>rn sie unterschei<strong>de</strong>n<br />
sich auch in Motivation, Anspruch und Voraussetzung. Gemeinsam ist ihnen,<br />
dass sie freiwillig und unentgeltlich sind. Auf einen begrifflichen Nenner lassen<br />
sich freiwillige Tätigkeiten nicht bringen. Dies ist auch eine Erklärung dafür, warum<br />
verschie<strong>de</strong>ne Studien in <strong>de</strong>n letzten Jahren so stark voneinan<strong>de</strong>r abweichen<strong>de</strong><br />
Einschätzungen in bezug auf die Engagementquote lieferten. Einzelne Untersuchungen<br />
kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nach<strong>de</strong>m mit welchem<br />
Begriff sie operieren und was sie in diesem diffusen Feld konkret suchen. 5<br />
Den Freiwilligen ist ebenfalls oft selbst nicht klar, dass sie ‚ehrenamtlich’,<br />
‚bürgerschaftlich’o<strong>de</strong>r ähnlich engagiert sind. Nicht nur weil sie für ihre Tätigkeit<br />
einen an<strong>de</strong>ren Begriff als <strong>de</strong>n abgefragten wählen, son<strong>de</strong>rn weil ihnen überhaupt<br />
nicht bewusst ist, dass ihr Engagement unter einen <strong>de</strong>r Begriffe fallen könnte.<br />
(vgl. Klages 1998: 30 f.)<br />
Das Bun<strong>de</strong>sministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat<br />
2001 in Anlehnung an Thomas Rauschenbach vier Begriffe freiwilliger Tätigkeit,<br />
die häufig synonym verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, kurz zusammengefasst und voneinan<strong>de</strong>r<br />
abgegrenzt:<br />
Ehrenamt:<br />
• Traditionelle Bezeichnung für freiwilliges Engagement<br />
• In <strong>de</strong>r Regel organisierte und unentgeltliche Mitarbeit in Verbän<strong>de</strong>n, Vereinen,<br />
Kirchen, Gewerkschaften o<strong>de</strong>r Parteien; Basis ist die Mitgliedschaft<br />
• I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>n Zielen Werten <strong>de</strong>r Verbän<strong>de</strong><br />
Selbsthilfe:<br />
• Organisationsferne Form <strong>de</strong>s Engagements<br />
• Autoritäts und expertenskeptische, wertpluralistische Milieus<br />
• Entwickelte sich in <strong>de</strong>n 70er und 80er Jahren als Gegenpol zum traditionellen<br />
Ehrenamt<br />
5 Engagementquoten aus verschie<strong>de</strong>nen Erhebungen: ZeitbudgetErhebung <strong>de</strong>s statistischen<br />
Bun<strong>de</strong>samtes 1991: 17%, European Volunteering Study (EuroVol) Anfang <strong>de</strong>r 90er Jahre: 18%,<br />
Speyerer Wertesurvey 1997: 38%, ISOInstitut 1999: 18,2%, Freiwilligensurvey 1999: 34%
15 <br />
Bürgerschaftliches Engagement:<br />
• Hat seinen Ursprung im bürgerschaftlichen Wohlfahrtsgedanken <strong>de</strong>s 19.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
• Selbstverpflichtung und praktische Solidarität<br />
• Wie<strong>de</strong>rbelebung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Gemeinwohlorientierung<br />
Freiwilligenarbeit:<br />
• Begriff unabhängig von sozialen Milieus<br />
• Individuell, spontan han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Menschen<br />
• Hilfe auf Gegenseitigkeit für sich und an<strong>de</strong>re, in einer Gruppe o<strong>de</strong>r allein<br />
Festzuhalten ist: Freiwillige Tätigkeiten wer<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>n Formen ihrer<br />
Ausübung sowie nach <strong>de</strong>n Bereichen, in <strong>de</strong>nen sie ausgeübt wer<strong>de</strong>n unterschie<strong>de</strong>n.<br />
6 Darüber hinaus wer<strong>de</strong>n sie unter verschie<strong>de</strong>ne gesellschaftspolitische Ansprüche<br />
und Gestaltungsi<strong>de</strong>en subsumiert. Hinter <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Begriffen<br />
stehen damit nicht nur verschie<strong>de</strong>ne Verständnisse von freiwilligen unentgeltlichen<br />
Tätigkeiten, son<strong>de</strong>rn auch unterschiedliche politische I<strong>de</strong>en und Konzepte.<br />
Das Konzept <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements ist eine Antwort auf die<br />
Krisen mo<strong>de</strong>rner Gesellschaften. Der Wan<strong>de</strong>l (o<strong>de</strong>r Abbau) wohlfahrtsstaatlicher<br />
Strukturen und die wachsen<strong>de</strong> Zahl von Erwerbslosen birgt Gefahren zunehmen<strong>de</strong>r<br />
Ausgrenzung. Die Teilhabe am politischgesellschaftlichen Leben <strong>de</strong>r Individuen<br />
wird als notwendige Bedingung lebendiger Demokratien verstan<strong>de</strong>n. So<br />
wer<strong>de</strong>n Ausgrenzungsten<strong>de</strong>nzen nicht nur als soziales, son<strong>de</strong>rn auch als gesellschaftspolitisches<br />
Problem betrachtet. Bürgerschaftliches Engagement soll dagegen<br />
die Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess stärken bzw. ermöglichen. Es<br />
wird als eine Voraussetzung für die Partizipation <strong>de</strong>r Bürger an öffentlichen politischen<br />
Prozessen in <strong>de</strong>n Kommunen angesehen und trägt somit zur Aufrechterhaltung<br />
<strong>de</strong>mokratischer Strukturen bei. Angesichts <strong>de</strong>r Arbeitsmarktkrise wird<br />
bürgerschaftliches Engagement für jene, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen<br />
sind, auch als gesellschaftliche Integrationsmöglichkeit verstan<strong>de</strong>n.<br />
Ein weitere Effekt bürgerschaftlichen Engagements ist die Entstehung von<br />
sozialem Kapital (siehe unten). Dieses Vermögen stärkt die sozialen Gemeinschaften,<br />
trägt zur Wohlfahrt bei und hilft zugleich, die Kommunen und <strong>de</strong>n Bund<br />
in Zeiten <strong>de</strong>r schwierigen Haushaltslage zu entlasten. Deshalb gelte es, bürgerschaftliches<br />
Engagement zu ermutigen, zu för<strong>de</strong>rn, zu stärken und Gelegenheiten<br />
für ein Engagement zu schaffen.<br />
Um diesem Anspruch gerecht wer<strong>de</strong>n zu können, müssen die Formen und<br />
Motive freiwilliger unentgeltlicher Arbeit Berücksichtigung fin<strong>de</strong>n. Diese sind in<br />
Bewegung geraten und haben sich verän<strong>de</strong>rt. Der „Strukturwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Ehrenamtes“wird<br />
als Wan<strong>de</strong>l vom „klassischen Ehrenamt“zum „neuen Ehrenamt“verstan<strong>de</strong>n.<br />
För<strong>de</strong>rstrukturen müssen <strong>de</strong>shalb auf Selbstentfaltungsansprüche und<br />
eigenständige Problembearbeitungen zugeschnitten sein und außer<strong>de</strong>m eine<br />
„biographische Passung“ (Jakob 1993) aufweisen. Diese entsteht, wenn die<br />
6 Die EnqueteKommission nennt folgen<strong>de</strong> Formen bürgerschaftlichen Engagements: politisches<br />
Engagement, soziales Engagement, Engagement in Vereinen, Verbän<strong>de</strong>n, Kirchen; Engagement<br />
in öffentlichen Funktionen, Formen <strong>de</strong>r Gegenseitigkeit, Selbsthilfe, bürgerschaftliches Engagement<br />
in und von Unternehmen. (EnqueteKommission 2002: 27 f.; vgl. auch Roth 2000: 30 f.)
16 <br />
Strukturen und Gelegenheiten <strong>de</strong>s Engagements <strong>de</strong>n lebensphasenspezifischen<br />
Bedürfnissen, Erwartungen und Möglichkeiten <strong>de</strong>r Individuen gerecht wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Konjunktur <strong>de</strong>s Begriffs <strong>de</strong>s „bürgerschaftlichen Engagements“darf<br />
aber nicht nur auf die I<strong>de</strong>e vom politisch aktiven Bürger zurückgeführt wer<strong>de</strong>n. „In<br />
seiner Unbestimmtheit“– befin<strong>de</strong>t Roland Roth – „ist <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s ‚bürgerschaftlichen<br />
Engagements’aber beson<strong>de</strong>rs ‚anschlussfähig’“. (Roth. 2003: 19) Es<br />
gehe darum, „Brücken zu schlagen, d.h. alte und neue Formen gemeinsam und<br />
nicht gegeneinan<strong>de</strong>r zur Sprache zu bringen“. (Roth 2000: 32) Verschie<strong>de</strong>ne Engagementformen<br />
wer<strong>de</strong>n „mit Bedacht in <strong>de</strong>n gleichen Begriffstopf geworfen“.<br />
(Roth ebd.) So wer<strong>de</strong>n etwa nicht nur „neue ordnungspolitische Leitbil<strong>de</strong>r in einen<br />
Gesamtzusammenhang gestellt, son<strong>de</strong>rn auch disparate Handlungsformen und<br />
Tätigkeiten synthetisiert“. (Heinze/ Olk 2001: 15)<br />
Die EnqueteKommission <strong>de</strong>s Deutschen Bun<strong>de</strong>stages „Zukunft <strong>de</strong>s Bürgerschaftlichen<br />
Engagements“ 7 hat die „Brückenfunktion“<strong>de</strong>s Sammelbegriffs <strong>de</strong>s<br />
bürgerschaftliches Engagements hervorgehoben. Dabei ist trotz <strong>de</strong>r viel<strong>de</strong>utigen<br />
Begrifflichkeit freiwilliger Tätigkeiten das Leitbild <strong>de</strong>s „wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckten“aktiven<br />
Bürgers zentral. „Bürgerschaftliches Engagement ist eine freiwillige, nicht auf das<br />
Erzielen eines persönlichen materiellen Gewinns gerichtete, auf das Gemeinwohl<br />
hin orientierte, kooperative Tätigkeit. Sie entfaltet sich in <strong>de</strong>r Regel in Organisationen<br />
und Institutionen im öffentlichen Raum <strong>de</strong>r Bürgergesellschaft.“(Enquete<br />
Kommission 2002a: 40) Bürgerschaftliches Engagement ist, wenn man so will,<br />
Klammer und gleichzeitig Programm. Darin besteht auch seine <strong>de</strong>finitorische Fragilität.<br />
Grundsätzlich beinhaltet <strong>de</strong>r Begriff „bürgerschaftliches Engagement“aber auch<br />
Abgrenzungen. Obwohl er als begriffliche Klammer für unterschiedliche Engagementformen<br />
dient, grenzt er sich von Tätigkeiten auf <strong>de</strong>r Erwerbsebene und <strong>de</strong>r<br />
privaten Familiensphäre ab. Bürgerschaftliches Engagement muss auch jenseits<br />
staatlicher Intervention operieren. Der Begriff kann „sein Differenzierungspotential<br />
(...) nur dann zur Wirkung bringen, wenn bei <strong>de</strong>ssen Verwendung tatsächlich<br />
,bürgerschaftliche‘von an<strong>de</strong>ren Engagementformen unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können“.<br />
(Heinze / Olk 2001: 16) Roth bemerkt <strong>hier</strong>zu kritisch, dass nicht je<strong>de</strong>s Engagement,<br />
das zwischen Staat, Markt und Familie angesie<strong>de</strong>lt ist, „mit <strong>de</strong>m Titel<br />
bürgerschaftlich gea<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n kann“. Denn: “Nicht je<strong>de</strong>s Beziehungsnetzwerk in<br />
<strong>de</strong>r ‚Zivilgesellschaft’ist sozial und bürgerschaftlich gestimmt“. (Roth 2000: 31)<br />
1.3.4 Bürgerschaftliches Engagement in verschie<strong>de</strong>nen Diskursen<br />
Das EngagementVerständnis lässt sich nach Evers (1998: 186) grundsätzlich<br />
zwei Polen zuordnen. Einem individualistischliberalen Verständnis, das die<br />
Interessen und die Neigungen <strong>de</strong>s einzelnen in <strong>de</strong>n Mittelpunkt stellt, und einem<br />
kommunitaristischen Verständnis von Gemeinwesen und Zivilgesellschaft, in welchem<br />
das Engagement als produktiver Beitrag für die Entwicklung von Gesellschaft<br />
und Gemeinschaft thematisiert wird. (vgl. Evers 1999: 53 f.) Bei<strong>de</strong> Begründungszusammenhänge<br />
sind zeitlich versetzt aufgetreten. So hat die Debatte um<br />
7 Im folgen<strong>de</strong>n Text zitiert als EnqueteKommission.
17 <br />
Gemeinwohl und Bürgersinn erst in <strong>de</strong>n letzten Jahren an Be<strong>de</strong>utung zugenommen.<br />
„Für die Verwendung <strong>de</strong>s Begriffs [bürgerschaftliches Engagement, Anm. F.<br />
Ernst] spricht, dass damit (...) auf die gesellschaftliche Be<strong>de</strong>utung und die Gemeinwohldimension<br />
hingewiesen wird.“(BackhausMaul et al. 2003: 12)<br />
Mit <strong>de</strong>r Konstatierung zunehmen<strong>de</strong>r Individualisierungsten<strong>de</strong>nzen kam<br />
auch die These vom Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Ehrenamts ins Spiel. Die Motive <strong>de</strong>r Freiwilligen,<br />
ihr Anspruch an die Tätigkeiten sowie ihre zeitliche Einbindungsabsicht haben<br />
sich verän<strong>de</strong>rt. Begrün<strong>de</strong>t wird dies mit <strong>de</strong>n Freisetzungsprozessen durch die Individualisierung<br />
mo<strong>de</strong>rner Gesellschaften. Die Herauslösung aus <strong>de</strong>n Bindungen<br />
von Klasse, Milieu, Stand und Status haben auch <strong>de</strong>n normativen Einfluss auf die<br />
Motivation von Engagement verän<strong>de</strong>rt. Die freiwillig Tätigen formulieren verstärkt<br />
eigene Ansprüche an Form, Inhalt und Dauer <strong>de</strong>s Engagements.<br />
Im liberalindividualistischen Diskurs wird <strong>hier</strong>bei die mikrosoziologische<br />
Ebene beleuchtet. Im Vor<strong>de</strong>rgrund stehen die individuellen Motive <strong>de</strong>s Engagements,<br />
und es wird in diesem Zusammenhang <strong>de</strong>shalb häufig als „freiwilliges Engagement“gefasst.<br />
Im Diskurs über Gemeinschaft und Gemeinwesen wird Engagement<br />
eher als bürgerschaftliches Engagement bezeichnet, betrachtet wird <strong>hier</strong><br />
die makrosoziologische Ebene. Dabei wer<strong>de</strong>n Fragen nach <strong>de</strong>n sozialen, politischen<br />
und gesellschaftlichen Folgen und Voraussetzungen von Engagement gestellt.<br />
Im liberalindividualistischen Diskurs wird die Freisetzung aus <strong>de</strong>n traditionellen<br />
Bindungen als Auffor<strong>de</strong>rung zu Selbstentfaltung und Unabhängigkeit verstan<strong>de</strong>n.<br />
Freiwillige Tätigkeit wird unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt <strong>de</strong>s Nutzens für <strong>de</strong>n<br />
einzelnen betrachtet. Hierbei wer<strong>de</strong>n unterschiedliche Perspektiven eingenommen.<br />
So kann es sich bei freiwilligen Tätigkeiten um die Verfolgung individueller<br />
Interessen han<strong>de</strong>ln (utilitaristische Konzepte) o<strong>de</strong>r aber auch um die innere Befriedigung<br />
<strong>de</strong>s einzelnen (psychologische Ansätze). (vgl. Evers 1999: 54 f.) Die<br />
erste Form beruht auf <strong>de</strong>r Grundannahme eines nutzenmaximieren<strong>de</strong>n rationalen<br />
Akteurs, die zweite Form zielt auf das psychische Wohlbefin<strong>de</strong>n durch Sinn und<br />
Befriedigung durch ein Engagement. (vgl. Heinze/ Olk 1999: 82)<br />
Im Rahmen <strong>de</strong>s republikanischkommunitaristischen Diskurses stehen<br />
Fragen nach <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Funktionen freiwilliger unentgeltlicher Tätigkeiten<br />
im Mittelpunkt. Es interessiert vor allem, welche Be<strong>de</strong>utung diese Tätigkeiten<br />
in bezug auf Gemeinwohl und Gemeinsinn im Verständnis eines politischen<br />
Gemeinwesens haben. Engagement ist Ausdruck <strong>de</strong>r Zugehörigkeit zur Gemeinschaft.<br />
Weiter steht das politische Gemeinwesen im Mittelpunkt, in <strong>de</strong>m „Bürgerschaftlichkeit<br />
– Ausdruck <strong>de</strong>r Mitgliedschaft in einem republikanischen Gemeinwesen<br />
– zu einem Motiv für die Beteiligung wird“. (Evers 1999: 57) In diesem Diskurs<br />
spielt <strong>de</strong>shalb auch <strong>de</strong>r Netzwerkgedanke eine wichtige Rolle. Die Konzepte,<br />
die sich innerhalb dieses Diskurses mit <strong>de</strong>m politischen Gemeinwesen auseinan<strong>de</strong>rsetzen,<br />
haben einen gesellschaftsreformerischen Anspruch.<br />
1.3.4.1 Arbeitsgesellschaftlicher Diskurs<br />
In Abgrenzung zu dieser eher sozialmoralischen und politischen Diskussion<br />
thematisiert das Konzept gesellschaftlicher Arbeit die „Krise <strong>de</strong>r Arbeitsgesell
18 <br />
schaft“innerhalb einer sozioökonomischen Debatte. Engagement wird <strong>hier</strong> als<br />
Tätigkeit verstan<strong>de</strong>n, die sich von <strong>de</strong>r Erwerbstätigkeit abgrenzt. „Aus <strong>de</strong>m arbeitsgesellschaftlichen<br />
Diskurs heraus entsteht ein Konzept <strong>de</strong>r Bürgerschaft als<br />
Gemeinschaft <strong>de</strong>r Tätigen.“(EnqueteKommission 2002d: 38) Vorschläge, die auf<br />
einen Umbau arbeitsgesellschaftlicher Strukturen orientieren, greifen oftmals auf<br />
das Konzept <strong>de</strong>r „Tätigkeitsgesellschaft“bei Hannah Arendt zurück. Die Verän<strong>de</strong>rungen<br />
auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt wer<strong>de</strong>n dabei als Chance begriffen, die Zentrierung<br />
auf Erwerbsarbeit aufzubrechen und Tätigkeitsformen jenseits <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit<br />
gesellschaftlich aufzuwerten sowie eine Flexibilität zwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />
Tätigkeitsformen herzustellen.<br />
Zwei Konzepte sind in dieser Debatte in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund getreten: die I<br />
<strong>de</strong>e einer „Tätigkeitsgesellschaft“von Mutz (1997) und das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r „Bürgerarbeit“von<br />
Beck (1997 u. 1999). Ein wesentlicher Punkt in <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll von Beck,<br />
das im Rahmen <strong>de</strong>r bayrischsächsischen „Kommission für Zukunftsfragen“1997<br />
entwickelt wur<strong>de</strong>, ist, dass „Bürgerarbeit“auch als Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit<br />
verstan<strong>de</strong>n wird. Ausgangspunkt solcher Überlegungen ist die steigen<strong>de</strong><br />
Arbeitslosigkeit, die nicht als Übergangsproblem, son<strong>de</strong>rn als Dauerszenario<br />
verstan<strong>de</strong>n wird. Mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaften gehe auf Dauer die Arbeit aus, so<br />
lautet – in Anlehnung an Rifkin (1995) eine Kernthese in diesem Zusammenhang.<br />
8 Erwerbsarbeit hat aber innerhalb <strong>de</strong>r „Arbeitsgesellschaft“einen zentralen<br />
Stellenwert für die soziale Integration ihrer Mitglie<strong>de</strong>r. Wie kann man, wenn immer<br />
mehr Menschen aus <strong>de</strong>m Arbeitsprozess ausgeglie<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, die gesellschaftliche<br />
Integration garantieren, die ja überhaupt erst eine Teilhabe am gesellschaftlichen<br />
Leben sichert?<br />
Übereinstimmung gibt es unter <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Ansichten und Ansätzen<br />
darin, dass von einem grundlegen<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r „Arbeitsgesellschaft“ausgegangen<br />
wird. Konsens gibt es ebenfalls in <strong>de</strong>r Annahme, dass Arbeit ihre gesellschaftlichen<br />
Integrationsmechanismen nur aufrecht erhalten könne, wenn Tätigkeiten<br />
außerhalb <strong>de</strong>r erwerblichen Arbeit diese Funktion mit übernehmen. Dazu<br />
müssen Tätigkeiten außerhalb <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit aufgewertet und mit dieser (im<br />
I<strong>de</strong>alfall) gleichgestellt wer<strong>de</strong>n. Die Unterscheidung ist dann eine funktionale, keine<br />
graduelle.<br />
Bisher dominiert die Erwerbsarbeit alle an<strong>de</strong>ren Tätigkeitsformen – sie gilt<br />
als wertschöpfend, sozial anerkannt und individuell sinnstiftend. (vgl. Kühnlein/Mutz<br />
1999: 291) Mutz sieht nicht das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r „Arbeitsgesellschaft“, son<strong>de</strong>rn<br />
möglicherweise das <strong>de</strong>r Erwerbsgesellschaft, an <strong>de</strong>ren Horizont eine „neue Arbeitsgesellschaft“schimmere.<br />
Der Begriff <strong>de</strong>r Arbeit wird bei Mutz aus <strong>de</strong>r Zentrierung<br />
um die Erwerbsarbeit gelöst. „Die Neue Arbeitsgesellschaft ist, ebenso wie<br />
die <strong>de</strong>rzeitige Erwerbsgesellschaft, eine beson<strong>de</strong>re Ausprägung <strong>de</strong>r Arbeitsgesellschaft.“(Mutz<br />
1999: 6) Sie umfasse nicht „das gesamte Feld <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
[Hervorh. F. Ernst] Arbeit“. (Mutz 2001: 142) Das Problem ist laut Mutz<br />
nicht, dass Arbeit eine knappe Ressource sei, son<strong>de</strong>rn Zeit. (<strong>de</strong>rs. 1999: 7) So<br />
gesehen ist die Krise <strong>de</strong>r „Arbeitsgesellschaft“keine vorübergehen<strong>de</strong> und be<strong>de</strong>ute<br />
auch keinen Abschied von Arbeit. „Vielmehr han<strong>de</strong>lt es sich um einen komple<br />
8 Dahrendorf und Offe hatten diese Problematik schon 1983 und 1984 aufgegriffen.
19 <br />
xen Entwicklungsprozess, <strong>de</strong>r die bislang dominieren<strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>r Organisation<br />
gesellschaftlicher Arbeit mit ihren starren Raum Zeitmustern in Frage stellt.“<br />
(Mutz 2001: 149) In <strong>de</strong>r „neuen Arbeitsgesellschaft“– <strong>de</strong>ren Ausprägung sich<br />
durch „abzeichnen<strong>de</strong> Transformationspotentiale“ in Richtung Tätigkeitsgesellschaft<br />
à la Arendt bewegt –, stehen drei Elemente von Arbeit nebeneinan<strong>de</strong>r: Erwerbsarbeit,<br />
Eigenarbeit und bürgerschaftliches Engagement. (vgl. Mutz 1999: 6) 9<br />
Im Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r „Bürgerarbeit“von Ulrich Beck, geht es in erster Linie um<br />
gemeinwohlorientierte Arbeit, die für <strong>de</strong>n einzelnen sinnstiftend ist, Integrationsmöglichkeiten<br />
eröffnet und eventuell <strong>de</strong>n Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert.<br />
Gleichzeitig wird dadurch die Teilhabe <strong>de</strong>r Bürger am politischen Gemeinwesen<br />
ermöglicht und gestärkt sowie durch die (Re)Produktion sozialer Netzwerke <strong>de</strong>r<br />
Umbau sozialstaatlicher Strukturen erleichtert und abgefe<strong>de</strong>rt. „Bürgerarbeit“<br />
meint:<br />
• organisierten, schöpferischen Ungehorsam<br />
• Selbstbestimmung<br />
• Selbstverwirklichung in Form eines freiwilligen politischen und sozialen Engagements<br />
• projektgebun<strong>de</strong>ne, kooperative, selbstorganisierte Arbeit für Dritte<br />
• die unter <strong>de</strong>r Regie eines Gemeinwohlunternehmers durchgeführt wird. „Bürgerarbeit“soll<br />
be nicht entlohnt wer<strong>de</strong>n durch Bürgergeld, Qualifikationen,<br />
Anerkennung von Rentenansprüchen und Sozialzeiten, Favor Credits. Die<br />
Höhe <strong>de</strong>s Bürgergelds könnte dabei an das Arbeitslosengeld o<strong>de</strong>r die Arbeitslosen<br />
und Sozialhilfe angepasst wer<strong>de</strong>n. (Beck 1999: 132 f.)<br />
Das Mo<strong>de</strong>ll „Bürgerarbeit“stößt bei einigen Experten/innen auf Kritik: Zum<br />
einen weil es das Tätigbleiben unterstützen, gleichzeitig aber das Untätigbleiben<br />
von staatlicher Alimentierung abkoppeln will. So erklärt Beck: „Eine Quelle <strong>de</strong>s<br />
Bürgergel<strong>de</strong>s sind beispielsweise die Unsummen, die in Europa in Form von Arbeitslosen<br />
und Sozialhilfe dafür ausgegeben wer<strong>de</strong>n, dass jemand nichts tut.“<br />
(<strong>de</strong>rs. 1999: 128) Damit gerät dieses Ansinnen gera<strong>de</strong> innerhalb <strong>de</strong>r gemeinwohlorientierten<br />
kommunitaristischen und <strong>de</strong>r auf Bürgerpflichten rekurrieren<strong>de</strong>n republikanischen<br />
Diskussion in die Nähe <strong>de</strong>s Konzeptes „Arbeitszwangs statt Sozialhilfeberechtigung“.<br />
(vgl. Kistler/ Hilpert: 1999: 270) So verlangt beispielsweise<br />
Priddat (2000: 164) „die leistungslosen Sozialeinkommen zu been<strong>de</strong>n“, um einen<br />
strikten Distributionsprozess zu legitimieren: „Transfer wird nur noch gegen Tätigkeitsleistungen<br />
gegeben.“<br />
Ein weiterer Schwachpunkt wird von an<strong>de</strong>ren Kritikern in <strong>de</strong>r Gefährdung<br />
<strong>de</strong>s „Eigensinns“freiwilligen Engagements durch die „Bürgerarbeit“gesehen. Jakob<br />
verweist darauf, dass „in <strong>de</strong>r Konstruktion von ‚Bürgerarbeit’... eine Angleichung<br />
freiwilligen Engagements an Erwerbsarbeit und eine Indienstnahme <strong>de</strong>s<br />
Engagements für die Lösung gesellschaftlicher Probleme wie <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit<br />
und <strong>de</strong>r Sozialstaatskrise angelegt“sei. (Jakob 2001: 176) Eine Differenz<br />
9 Erwerbsarbeit ist gesellschaftsbezogen und hat gleichermaßen einen individuellen und gesellschaftlichen<br />
Nutzen. Eigenarbeit als personenbezogene Arbeit ist vom individuellen Nutzen dominiert.<br />
Im gemeinschaftsbezogenen Bürgerschaftliches Engagement dominiert <strong>de</strong>r gesellschaftliche<br />
Nutzen. (vgl. Kühnlein/ Mutz 1999: 298)
20 <br />
zwischen bei<strong>de</strong>n Tätigkeiten ergibt sich aber, weil bei<strong>de</strong> unterschiedliche gesellschaftliche<br />
Funktionen erfüllen und verschie<strong>de</strong>ne individuelle Be<strong>de</strong>utungen haben.<br />
Auch brauche es für kontinuierliches, sinnstiften<strong>de</strong>s Engagement Anknüpfungspunkte<br />
in <strong>de</strong>r Biographie.(Jakob 2001: 181 f.) Engagement kann kein<br />
gleichwertiger Ausgleich für eine fehlen<strong>de</strong> Erwerbsarbeit sein und diese schon gar<br />
nicht ersetzen. Solche Instrumentalisierungsversuche liefen Gefahr, die beson<strong>de</strong>ren<br />
Sinnstrukturen freiwilligen Engagements zu zerstören, da sie die individuelle<br />
und gesellschaftliche Be<strong>de</strong>utung von Erwerbsarbeit ignorierten, welche in <strong>de</strong>r Regel<br />
die Voraussetzung <strong>de</strong>s freiwilligen Engagements darstellt. (dies.: 183)<br />
1.3.4.2 In welcher Beziehung steht bürgerschaftliches Engagement zur Erwerbsarbeit?<br />
Die EnqueteKommission stellt fest: „Es [das bürgerschaftliche Engagement,<br />
F.E.] rückt als eigenes Tätigkeitsfeld neben <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit und Familienarbeit<br />
ins Blickfeld.“(EnqueteKommission 2002d: 46) Bürgerschaftliches Engagement<br />
soll zur I<strong>de</strong>ntitätsbildung beitragen, gera<strong>de</strong> weil dies durch Erwerbstätigkeit<br />
nicht mehr umfassend geleistet wer<strong>de</strong>n kann. Es soll eine Bandbreite von<br />
Tätigkeiten in sinnvollen gesellschaftlichen Handlungsfel<strong>de</strong>rn offerieren und nicht<br />
zuletzt zur Reform <strong>de</strong>s Sozialstaates seinen Beitrag leisten. (vgl. Heinze/ Olk<br />
2001: 12) Die EnqueteKommission sieht im bürgerschaftlichen Engagement folgen<strong>de</strong><br />
Brückenfunktionen: Männern soll ein Hinüberwechseln von <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit<br />
in die Familie und Frauen ein Hinüberwechseln in umgekehrter Richtung erleichtert<br />
wer<strong>de</strong>n. Zweitens soll ein Wechseln vom bürgerschaftlichen Engagement<br />
in die Erwerbsarbeit o<strong>de</strong>r in die Familie gewährleistet wer<strong>de</strong>n bzw. umgekehrt.<br />
Und schließlich soll es eine Brücke bauen, die aus <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit in die Erwerbsarbeit<br />
führe. (EnqueteKommission 2002: 46)<br />
Allerdings ist Skepsis angeraten, wenn bürgerschaftliches Engagement als<br />
Problemlösung für die Krise auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt herangezogen wird. Es taugt<br />
nicht als „arbeitsmarktpolitisches Instrument und lässt sich auch nicht politisch<br />
verordnen“. (Jakob 2001: 167) Laut Mutz kann bürgerschaftliches Engagement<br />
nicht als Ersatz für Erwerbsarbeit dienen, da es „immer nur eine Ergänzung zur<br />
Erwerbsarbeit“ist und streng genommen Erwerbstätigkeit sogar voraussetze. Es<br />
„ist eine nichterwerbswirtschafltiche Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit“.<br />
(Mutz 2001: 157f.) Ähnlich diskutieren auch Böhle und Kratzer. Engagement könne<br />
nur als Komplementärverhältnis zu Erwerbstätigkeit gesehen wer<strong>de</strong>n, ähnlich<br />
wie Freizeit. Falle Erwerbsarbeit weg, zerbricht auch ein solches Komplementärverhältnis.<br />
„Es kann also ‚nur’um eine stärkere ‚Komplementarität’von Erwerbsarbeit<br />
und Ehrenamt gehen, nicht um die Substitution <strong>de</strong>s einen durch das an<strong>de</strong>re.“(Böhle/<br />
Kratzer 1999: 287)<br />
Angesichts <strong>de</strong>r hohen Arbeitslosenzahlen stellt sich in Anbetracht solcher<br />
Aussagen die Frage nach einer Verteilung von Erwerbsarbeit. Wie kann und sollte<br />
je<strong>de</strong>m Bürger <strong>de</strong>r Zugang zu Erwerbsarbeit sichergestellt wer<strong>de</strong>n, um ihm u.a. so<br />
seine Bürgerrechte zu garantieren. Die Verwehrung <strong>de</strong>s Zugangs zu Erwerbsarbeit<br />
hat die Desintegration von Bürgern zur Folge. Sie gefähr<strong>de</strong>t damit die Partizipation<br />
am politischen Gemeinwesen.
21 <br />
Beson<strong>de</strong>rs in Ost<strong>de</strong>utschland, wo die Arbeitslosenzahlen Rekordstän<strong>de</strong><br />
halten, muss in bezug auf bürgerschaftliches Engagement beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit<br />
erfahren. Hier hat sich „eine Praxis herausgebil<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>r das Engagement<br />
als sinnstiften<strong>de</strong> Betätigung während <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit gezielt genutzt<br />
wird“. (Jakob 2003: 65) Allerdings wird gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn das<br />
bürgerschaftliche Engagement „nachhaltig von <strong>de</strong>r Dynamik <strong>de</strong>r Arbeitsmärkte<br />
geprägt“. (Roth 2000: 38) Es besteht die Gefahr, dass bürgerschaftliches Engagement<br />
zu einer unentgeltlichen Erwerbsarbeit mutiert, in <strong>de</strong>r sich seine spezifischen<br />
Eigenschaften auflösen.<br />
Trotz <strong>de</strong>r dargestellten Skepsis, die bei einer Verbindung von Erwerbslosigkeit<br />
und bürgerschaftlichem Engagement angebracht ist, bleibt zu fragen, welchen<br />
Potentiale sich aus dieser Verbindung eröffnen.<br />
1.3.5 Zum Konzept <strong>de</strong>s „Sozialkapitals“<br />
Im Zusammenhang mit bürgerschaftlichem Engagement ist es sinnvoll, auf<br />
die Debatte um „Sozialkapital“einzugehen. Soziales Kapital wird über bürgerschaftliches<br />
Engagement aufrechterhalten bzw. hergestellt. Es soll vor allem auch<br />
helfen, Desintegrationsprozessen entgegenzuwirken (grundsätzlich <strong>hier</strong>zu: Putnam<br />
1995; 2000).<br />
Soziales Kapital fasst die sozialen Beziehungen von Individuen, die auf<br />
Vertrauen basieren und quasi als „Schmiermittel“bei <strong>de</strong>r Verfolgung gemeinsamer<br />
Interessen dienen. Es fin<strong>de</strong>t sich in interpersonalen Beziehungen (Familie,<br />
Nachbarschaft, Freun<strong>de</strong>skreis, religiöse Gemeinschaft), im intermediären Bereich<br />
(in Vereinen, Verbän<strong>de</strong>n Parteien, Unternehmen, regionalen Zugehörigkeiten)<br />
und im gesellschaftlichen Großbereich. (vgl. Immerfall 1999: 121ff.) Putnam sieht<br />
soziales Kapital vor allem in religiösen, politischen, beruflichen und gesellschaftlichen<br />
Vereinigungen, die durch Mitgliedschaft einen Zugang zu Gemeinschaften<br />
herstellen.<br />
Aufmerksamkeit hat das Konzept <strong>de</strong>s sozialen Kapitals in <strong>de</strong>r Debatte um<br />
bürgerschaftliches Engagement erlangt, weil mit zunehmen<strong>de</strong>r Individualisierung<br />
sein Rückgang o<strong>de</strong>r gar Verlust befürchtet wird. Gemeinwohlorientierte Haltungen<br />
nähmen zugunsten entsolidarisierter individualistischer Haltungen ab. In Krisenzeiten<br />
wohlfahrtstaatlich <strong>de</strong>mokratisch verfasster Staaten nimmt das Interesse an<br />
sozialem Kapital zu, weil in seiner För<strong>de</strong>rung eine Möglichkeit zur Überwindung<br />
<strong>de</strong>r daraus resultieren<strong>de</strong>n Dilemmata gesehen wird. Es ist eine „kommunitaristische<br />
Hoffnung“, dass die För<strong>de</strong>rung und Stärkung von Gemeinwohlorientierungen<br />
und Bürgertugen<strong>de</strong>n die gesellschaftlichen sozialmoralischen Grundlagen in einer<br />
zunehmend individualisierten Gesellschaft verbessert bzw. wie<strong>de</strong>rherstellt.<br />
Unabhängig von gesellschaftlichen Krisen ist soziales Kapital generell für<br />
das Funktionieren <strong>de</strong>mokratischer Gesellschaften von Be<strong>de</strong>utung. Es wird <strong>hier</strong>bei<br />
ein Zusammenhang zwischen freiwilligem, gemeinwohlorientierten Engagement<br />
und Demokratie hergestellt. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist, dass „soziales<br />
Kapital, bürgerschaftliches Engagement und Gemeinsinn ... vorteilhaft für die<br />
Lebensbedingungen und <strong>de</strong>n Wohlstand in einer Gesellschaft“sind. (Jungbauer<br />
Gans 2002: 190) Laut EnqueteKommission wer<strong>de</strong>n mit sozialem Kapital vor al
22 <br />
lem ‚Netzwerke bürgerschaftlichen Engagements’, ‚Normen generalisierter Gegenseitigkeit’und<br />
‚soziales Vertrauen’beschrieben. Der Ort sozialen Kapitals ist<br />
die Bürgergesellschaft, in <strong>de</strong>ren Strukturen sich das soziale Kapital bil<strong>de</strong>. (vgl.<br />
EnqueteKommission 2002c: 34) Positiv wer<strong>de</strong>n die Wirkungen sozialen Kapitals<br />
eingeschätzt, wenn es hilft, „durch soziale Netzwerke ethnische, soziale, generationelle,<br />
geschlechtliche und religiöse Grenzziehungen zu überwin<strong>de</strong>n“. (ebd.)<br />
Putnam, auf <strong>de</strong>n diese Überlegungen zurückgehen, bezeichnet diese Funktion als<br />
„bridging social capital“. Soziales Kapital, das zur Elitenbildung und sozialen<br />
Trennung beiträgt, <strong>de</strong>finiert er dagegen als „bonding social capital“.<br />
Offe (1999: 115f ) äußert Skepsis wenn es um die „Entwicklungschancen“<br />
von sozialem Kapital in kommunitaristischer Absicht geht. 10 Der Geltungsbereich<br />
<strong>de</strong>r Normen und Routinen, die Kooperation för<strong>de</strong>rn, beziehe sich auf feststehen<strong>de</strong><br />
soziale Gemeinschaften (lokale, religiöse, familiale). Aus zivilgesellschaftlicher<br />
Disposition wer<strong>de</strong> kooperatives Han<strong>de</strong>ln nicht nur innerhalb von Gruppen motiviert,<br />
son<strong>de</strong>rn auch zwischen diesen. Hier bleibe <strong>de</strong>r soziale Geltungsbereich <strong>de</strong>s<br />
sozialen Kapitals ausgesprochen diffus. Relevant für för<strong>de</strong>rpolitische Absichten<br />
erscheinen in diesem Zusammenhang Formen, die ein niedriges Maß an Exklusivität<br />
aufweisen. Es komme darauf an, ob bürgerschaftliches Engagement in kleinräumigen<br />
Verwurzelungen gefangen bleibe o<strong>de</strong>r sich als generalisierungsfähig<br />
erweise.<br />
Da die Entstehung und Erhaltung <strong>de</strong>s Sozialkapitals auf Netzwerken beruht<br />
und Vernetzung konstituiert, wird ihm von <strong>de</strong>r EnqueteKommission eine produktive<br />
gesellschaftliche Funktion zugesprochen. Es trägt dazu bei, Vertrauen auszubil<strong>de</strong>n<br />
und eine Kooperationskultur zu entwickeln. Gleichzeitig wer<strong>de</strong> damit „politisches<br />
Institutionenvertrauen und ökonomische Stabilität“gesteigert. (vgl. EnqueteKommission<br />
2002: 46) Dieses <strong>de</strong>m sozialem Kapital zugesprochene Potential<br />
erklärt auch seine Entwicklung vom analytischen Begriff zum gesellschaftspolitischen<br />
Programm. Ursprünglich von Putnam als unersetzliches Vermögen für die<br />
Funktionsfähigkeit marktwirtschaftlicher Demokratien analysiert, wur<strong>de</strong> es gera<strong>de</strong><br />
in <strong>de</strong>r Debatte um Gemeinwohl und Zivilgesellschaft zum politischen Programm<br />
erhoben, das es zu unterstützen und zu för<strong>de</strong>rn gelte.<br />
Will man mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s Sozialkapitals die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s freiwilligen<br />
Engagements begrün<strong>de</strong>n, muss berücksichtigt wer<strong>de</strong>n, dass er kulturell unterschiedliche<br />
Be<strong>de</strong>utungen aufweist. So verweist Joas (2001) auf die unterschiedlichen<br />
kulturellen Traditionen zwischen <strong>de</strong>n USA und <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland.<br />
Zwei geistesgeschichtliche Traditionslinien sind bei <strong>de</strong>r Motivation zum Engagement<br />
in <strong>de</strong>n USA prägend. Eine biblische Tradition (christlich und jüdisch)<br />
sowie eine republikanische Tradition, die auf die Tradition <strong>de</strong>r Selbstregierung<br />
tugendhafter freier Bürger abstellt. (vgl. Joas 2001: 19) In Deutschland hat die<br />
republikanische Tradition keine große Rolle gespielt und entbehrt einer breiten<br />
Basis. Die biblische Tradition spielt dagegen in ganz an<strong>de</strong>rer Form eine Rolle.<br />
Jedoch gibt es in Deutschland zwei an<strong>de</strong>re Traditionslinien <strong>de</strong>s Gemeinsinns: ei<br />
10 Auf die Probleme bei <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung von Sozialem Kapital im allgemeinen weist z. B. Immerfall<br />
hin. Da Soziales Kapital extrem flüchtig sei, lasse es sich kaum regenerieren. „Der Versuch, Soziales<br />
Kapital direkt herbeiführen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt.“(Immerfall 1999: 125)
23 <br />
ne sozial<strong>de</strong>mokratischgewerkschaftliche und eine konservativnationale Tradition.<br />
Joas argumentiert dahingehend, dass die Auflösung sozialer, sich voneinan<strong>de</strong>r<br />
abgrenzen<strong>de</strong>r Milieus nicht zu sozialer Desintegration führen müsse, son<strong>de</strong>rn<br />
– über Mobilität, sozialen Aufstieg und Angleichung <strong>de</strong>r Lebensverhältnisse – zu<br />
einer Integration in eine über kleinräumliche Milieus hinausreichen<strong>de</strong>, milieuübergreifen<strong>de</strong><br />
Gemeinschaft mün<strong>de</strong>n könne. (Joas 2001: 21) Hier stimmt er mit Offe<br />
überein, <strong>de</strong>r betont, dass es auf die Generalisierungsfähigkeit von Engagement<br />
ankomme, wenn sich soziales Kapital entfalten soll.<br />
Brömme und Strasser (2001: 12 ff) weisen vor <strong>de</strong>m Hintergrund sich verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r<br />
Mitgliedschaftszahlen in traditionalen Organisationen auf eine „zunehmen<strong>de</strong><br />
Ungleichverteilung von sozialem Kapital zwischen verschie<strong>de</strong>nen sozialen<br />
Gruppen“hin. Der Verlust von sozialem Kapital, das über Mitgliedschaften in traditionellen<br />
Assoziationen zugänglich war, sei weitestgehend irreversibel, und<br />
neue, assoziative Formen – z.B. Selbsthilfegruppen, Initiativen – erwiesen sich als<br />
exklusiv. In ähnlicher Weise führt JungbauerGanz (2002: 201 ff) an, dass die<br />
schwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mitgliedschaftszahlen in <strong>de</strong>n Gewerkschaften auf die wirtschaftliche<br />
Situation zurückzuführen seien und nicht als Ablehnung <strong>de</strong>r Organisation als<br />
solcher zu interpretieren sei. Dagegen spräche auch <strong>de</strong>r Befund, dass das Vertrauen<br />
in die Gewerkschaften generell zugenommen habe, während es bei an<strong>de</strong>ren<br />
Institutionen gesunken sei. Auch sie kommt zu <strong>de</strong>m Schluss, dass es wichtiger<br />
sei, nach <strong>de</strong>r Verteilung von sozialem Kapital zu fragen als nach <strong>de</strong>ssen Umfang.<br />
Damit stellt sich die Frage nach Inklusion und Exklusion. 11 Wird <strong>de</strong>n „verän<strong>de</strong>rten<br />
Produktionsbedingungen von sozialem Kapital“aber zu wenig Aufmerksamkeit<br />
geschenkt, kommt das „<strong>de</strong>r Schließung eines Beteiligungspfa<strong>de</strong>s gleich“,<br />
von <strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>rs Niedrigqualifizierte betroffen sind. (Brömme/ Strasser 2001:<br />
14) Hier kommt <strong>de</strong>n Gewerkschaften eine wichtige Rolle zu, um einer sich so anbahnen<strong>de</strong>n<br />
„gespaltenen Bürgerschaft“entgegenzuwirken<br />
1.3.6 Folgerungen für das ehrenamtliche Engagement<br />
Nimmt man die Folgerungen von Brömme/Strasser, die sie anhand <strong>de</strong>s<br />
Zusammenhangs von Bildungsabschlüssen und Mitgliedschaften (in Organisationen,<br />
Verbän<strong>de</strong>n, Parteien) machen, ernst, dann leitet sich daraus die Frage ab,<br />
ob die These vom „Strukturwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Ehrenamtes“so haltbar ist. Denn dann ist<br />
die Verlagerung von Engagement aufgrund <strong>de</strong>s Motivationswan<strong>de</strong>ls beim Engagement<br />
weg von Organisationen, Verbän<strong>de</strong>n, Parteien hin zu selbstorganisierten,<br />
kleinräumlichen situativen Organisationsformen (Selbsthilfegruppen, Initiativen)<br />
11 Zu diesen negativen Folgen Sozialen Kapitals siehe auch Bourdieus Ausführungen (1983) zu<br />
seinem gleichnamigen Begriff, <strong>de</strong>n er in Zusammenhang mit ökonomischen und kulturellen Kapital<br />
diskutiert. Er beschreibt mit dieser Begrifflichkeit die (subtilen) Mechanismen <strong>de</strong>r Produktion und<br />
Reproduktion sozialer Ungleichheit. Bourdieu hatte Soziales Kapital als Ressource begriffen. Die<br />
Kompetenzen, die aus dieser Ressource resultieren, wer<strong>de</strong>n eingesetzt, um ökonomisches Kapital<br />
und schließlich kulturelles Kapitals zu erlangen. Diese Kapitalien steigern sich gegenseitig und<br />
dienen letztlich <strong>de</strong>r Befähigung zur Durchsetzung <strong>de</strong>r eigenen sozialen, ökonomischen und politischen<br />
Interessen, was nicht zuletzt über die Dominierung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Diskurses hergestellt<br />
wird.
24 <br />
nur statistisch plausibel. An<strong>de</strong>rs gesagt, hinter <strong>de</strong>r gleichbleiben<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r noch<br />
zunehmen<strong>de</strong>n Engagementquote verbergen sich nicht gewan<strong>de</strong>lte Interessen von<br />
Individuen, die diese nun in an<strong>de</strong>ren Organisationsformen befriedigen, son<strong>de</strong>rn<br />
an<strong>de</strong>re Individuen. Erkennbar ist, dass sich Personen mit höheren Bildungsabschlüssen<br />
verstärkt engagieren, während Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen<br />
sich zunehmend weniger engagieren. Damit wird aber für letztere <strong>de</strong>r<br />
Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe und zum Engagement zusätzlich verengt<br />
bzw. abgebaut. Soziales Kapital kann dann nicht wachsen, son<strong>de</strong>rn geht verloren.<br />
Es droht die Gefahr <strong>de</strong>r „gespaltenen Bürgerschaft“.<br />
Der Strukturwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Ehrenamtes beruht <strong>de</strong>mnach nicht (nur) auf einer<br />
gewan<strong>de</strong>lten Motivationslage <strong>de</strong>r Individuen – die individualisierungstheoretisch<br />
begrün<strong>de</strong>t wird – son<strong>de</strong>rn vor allem in einer an<strong>de</strong>ren Bezugsgruppe von Engagierten.<br />
Das heißt, dass <strong>de</strong>r konstatierte Motivationswan<strong>de</strong>l lediglich auf die Motive<br />
einer bestimmten Bezugsgruppe zutrifft. Er unterbelichtet <strong>de</strong>n gruppenspezifischen<br />
(bzw. milieuspezifischen) Motivationswan<strong>de</strong>l, so dass <strong>de</strong>r Abgang bzw.<br />
Zugang beim Engagement nicht auf die gewan<strong>de</strong>lten Motive ein und <strong>de</strong>rselben<br />
Gruppe zurückgeführt wer<strong>de</strong>n können, son<strong>de</strong>rn auf eine gruppenspezifische Erklärung<br />
hinauslaufen muss. Das wür<strong>de</strong> dann auch das Verhältnis <strong>de</strong>s Rückgangs<br />
in <strong>de</strong>n klassischen Organisationen bei gleichzeitiger Zunahme in Initiativen und<br />
Projekten erklären bzw. an<strong>de</strong>rs erklären. So haben sich zwar die klassischen Milieus<br />
aufgelöst und daran gebun<strong>de</strong>ne Motive und Werte haben ihre Verpflichtungskraft<br />
und Selbstverständnis verloren, aber die Motive haben sich eben nur<br />
bedingt gewan<strong>de</strong>lt: im Sinne einer Bin<strong>de</strong>wirkung und Verpflichtung. So gesehen<br />
ist <strong>de</strong>r Motivationswan<strong>de</strong>l nur eine Teilerklärung für die Abnahme von Engagement<br />
in klassischen Organisationen wie <strong>de</strong>n Gewerkschaften. Der Befund, dass<br />
sich die klassischen Milieus auflösen besagt ja nicht, dass sich keine neuen Milieus<br />
gebil<strong>de</strong>t hätten. Dabei müssen neue Milieus auch nicht die gleichen Strukturmerkmale<br />
wie die alten Milieus aufweisen. So wird konstatiert, dass die neuartigen<br />
Strömungen <strong>de</strong>s Individualismus – wie <strong>de</strong>r „expressive“Individualismus –<br />
milieubil<strong>de</strong>nd gewirkt haben. Dieser „selbstverwirklichungsorientierte“Individualismus,<br />
<strong>de</strong>r sich am ehesten in <strong>de</strong>r Klientel <strong>de</strong>r Grünen und ökologischalternativen<br />
Szene fin<strong>de</strong>t, hat wertebil<strong>de</strong>nd gewirkt. Eine eigene organisatorische<br />
und kommunikative Infrastruktur, eine beson<strong>de</strong>re Symbolik, ein spezifischer Mythos<br />
und eine alternative gesellschaftliche Elite“ist entstan<strong>de</strong>n. (Walter 1999)<br />
Freiwillige aus diesem Milieu, so die Annahme, engagieren sich vornehmlich in<br />
<strong>de</strong>n neuen Organisationsformen aus diesem Umfeld.<br />
Daraus lässt sich vereinfachend schlussfolgern, dass die Verän<strong>de</strong>rungen<br />
im organisatorischen Rahmen von Engagement nicht primär im Motivationswan<strong>de</strong>l<br />
<strong>de</strong>r Engagierten begrün<strong>de</strong>t sind, son<strong>de</strong>rn in einer Werteverschiebung, die an<br />
Milieus gebun<strong>de</strong>n ist und die die Motivation an diese Werte bin<strong>de</strong>t.<br />
Brömme und Strasser argumentieren in dieser Hinsicht auf <strong>de</strong>r Folie abund<br />
zunehmen<strong>de</strong>r Mitgliedschaften in Vereinen und Verbän<strong>de</strong>n und fragen nach<br />
<strong>de</strong>n Konsequenzen für das soziale Kapital. Mitgliedschaften in <strong>de</strong>r Bezugsgruppe<br />
„Arbeiter/innen“o<strong>de</strong>r „Mitglie<strong>de</strong>r mit niedrigen Bildungsabschlüssen“sind stark<br />
abnehmend, während Mitglie<strong>de</strong>r mit höheren Bildungsabschlüssen o<strong>de</strong>r aus an<strong>de</strong>ren<br />
Berufsgruppen nur marginale Einbußen zu verzeichnen haben. Das heißt
25 <br />
aber nicht, dass z.B. die Mitgliedschaft in <strong>de</strong>n Gewerkschaften einfach eine Verschiebung<br />
hin zu höheren Bildungsabschlüssen verzeichnet. „Wer<strong>de</strong>n Mitgliedschaften<br />
im DGB, in kirchlichen Vereinen und in Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>n ... unterschie<strong>de</strong>n,<br />
kehrt sich die Zusammensetzung <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Bildungsgrad<br />
teilweise um: Personen mit Fachhochschul o<strong>de</strong>r Hochschulreife sind als Mitglie<strong>de</strong>r<br />
in <strong>de</strong>n Gewerkschaften stark unterrepräsentiert.“(Brömme/ Strasser 2001: 10)<br />
Es geht aber <strong>hier</strong> nicht um die Argumentationslinie, nach <strong>de</strong>r sich anhand von<br />
Mitgliedschaften <strong>de</strong>r Schwund von sozialem Kapital bei bestimmten Bildungs und<br />
Berufsgruppen als Partizipationsvermögen abzeichnet. Bemerkenswert ist, dass<br />
<strong>de</strong>r Formenwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Engagements, <strong>de</strong>r angeblich aus einem Motivationswan<strong>de</strong>l<br />
zum Engagement resultiert, auf wertetragen<strong>de</strong> (neue) Milieus zurückzuführen<br />
ist. Die Motive, die zum Engagement animieren, resultieren aus diesen Werten.<br />
Und, das Engagement sucht sich neue Formen im Sinne eines angepassten Organisationsrahmens.<br />
Insofern ist die Frage von Joas von zentraler Be<strong>de</strong>utung:<br />
wie entstehen Werte und wie wer<strong>de</strong>n sie weitergegeben? Wichtig ist, nach <strong>de</strong>n<br />
Bedingungen für die Möglichkeit einer Verbreitung bürgerschaftlichen Engagements<br />
zu fragen. (Joas 2001: 22)<br />
Milieuauflösung be<strong>de</strong>utet nicht zwangsläufig Desintegration und führt we<strong>de</strong>r<br />
zu dramatischen Verlusten <strong>de</strong>s Gemeinsinns noch zur Abnahme <strong>de</strong>s Engagements.<br />
Wenn <strong>de</strong>m so ist, dann muss es „an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>r Entstehung und<br />
<strong>de</strong>r Reproduktion <strong>de</strong>s Gemeinsinns und überhaupt <strong>de</strong>r Werte geben, als es die<br />
Milieukonzeption unterstellt“. (Joas 2001: 21).Die Frage sollte nicht sein, wie Milieus<br />
stabilisiert o<strong>de</strong>r gerettet wer<strong>de</strong>n könnten, son<strong>de</strong>rn wie Werte entstehen und<br />
weitergegeben wer<strong>de</strong>n können – und zwar nicht durch Indoktrination und Abwehr<br />
konkurrieren<strong>de</strong>r Einflüsse, son<strong>de</strong>rn durch Beteiligungsmöglichkeiten, Vorbil<strong>de</strong>r<br />
und Erfahrungskonstellationen. (<strong>de</strong>rs.: 22) 12<br />
Was heißt das für die Gewerkschaften und welche Aufgaben können daraus<br />
folgen? Gewerkschaften sollten:<br />
• Bedürfnisse und Interessen <strong>de</strong>r Individuen im Be<strong>de</strong>utungskontext <strong>de</strong>r jeweiligen<br />
Milieuzugehörigkeit konkret herausfin<strong>de</strong>n und stärken<br />
• Angebote machen, die sich auf diese Bedürfnisse und Interessen beziehen<br />
statt auf die allgemeine Aussage <strong>de</strong>s Strukturwan<strong>de</strong>ls, <strong>de</strong>r die gewan<strong>de</strong>lten<br />
Motiven in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund stellt<br />
• Anschlussoptionen bieten, die <strong>de</strong>n einzelnen nicht auf eine „Klassensolidarität“<br />
verweisen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>ssen eigene situative Lage berücksichtigen<br />
12 Es gibt drei Dilemmata, die sich aus <strong>de</strong>m Spannungsverhältnis <strong>de</strong>s Gemeinsinns zu drei Formen<br />
<strong>de</strong>r Ungleichheit ergeben (sozialer, kultureller, politsicher): Spannung zwischen Gemeinsinn<br />
und sozialer Gerechtigkeit, Verhältnis zwischen Gemeinsinn und kultureller Ungleichheit und<br />
Spannung zwischen Gemeinsinn und Demokratie. Gemeinsinn sei nur dann etwas Gutes wenn<br />
seien Ausdrucksformen sich in <strong>de</strong>r Prüfung durch die drei Dilemmata <strong>de</strong>r sozialen, kulturellen und<br />
politischen Ungleichheit bewähren. (Joas 2001: 23) Stichworte zu <strong>de</strong>n Dilemmata und <strong>de</strong>ren Lösung:<br />
sozial –Zugangschancen, kulturell – Werte (Transport), politisch – politische Handlungsfähigkeit<br />
(Verknüpfung von bürgerschaftliches Engagement mit <strong>de</strong>n politischen Strukturen <strong>de</strong>r Willensbildung).
26 <br />
• „Heimat“für Individuen mit unterschiedlichen Wertekanon bieten; also Öffnung<br />
für Werte, die die klassischen Muster sozial<strong>de</strong>mokratischer und gewerkschaftlicher<br />
I<strong>de</strong>ologie verlassen<br />
• Betätigungsmöglichkeiten, die von einer Zentrierung auf Erwerbsarbeit absehen<br />
• Durchsetzungsmöglichkeiten – als Sprachrohr und Exekutive – bereitstellen,<br />
die an <strong>de</strong>n gewan<strong>de</strong>lten Interessen und Werten orientiert sind<br />
• Raum für soziale und politische Integration bieten (Heimat)<br />
1.4 Engagementformen – Eine Systematisierung mit Blick auf die Gewerkschaftspolitik<br />
Jürgen Wolf<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r letzten zehn Jahre hat sich für das ehrenamtliche Engagement<br />
eine Vielfalt von Begriffen herausgebil<strong>de</strong>t: neben das „Ehrenamt“sind vor<br />
allem die Begriffe <strong>de</strong>s „freiwilligen“und <strong>de</strong>s „bürgerschaftlichen“Engagements<br />
getreten, mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Entwicklung zur „neuen Ehrenamtlichkeit“Rechnung getragen<br />
wer<strong>de</strong>n soll. Diese Begriffe wer<strong>de</strong>n zum Teil als gleichrangig behan<strong>de</strong>lt<br />
und wechselseitig füreinan<strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>t. Bei einer genaueren Betrachtung zeigt<br />
sich aber, dass dahinter jeweils unterschiedliche Vorstellungen über die Voraussetzungen,<br />
Motive und Ziele <strong>de</strong>s Engagements und unterschiedliche Leitbil<strong>de</strong>r<br />
über <strong>de</strong>n Zusammenhang von Bürger und Gesellschaft stecken. Darüber hinaus<br />
referieren sie auf unterschiedliche gesellschaftstheoretische und –politische Konzepte<br />
– <strong>de</strong>r liberalindividualistischen Tradition <strong>de</strong>s angloamerikanischen „volunteering“<br />
einerseits, <strong>de</strong>r „linken“ Fassung <strong>de</strong>s kommunitaristischen Programms<br />
(z.B. Barber 1994) an<strong>de</strong>rerseits. Für die Frage nach <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements in Mitglie<strong>de</strong>rverbän<strong>de</strong>n ist es wichtig, diese unterschiedlichen<br />
Bezüge zu ver<strong>de</strong>utlichen und gegebenenfalls in differenzierte Angebote umzusetzen<br />
(vgl. <strong>hier</strong>zu Evers 1998; Heinze/Strünck 1999, Wolf 1999).<br />
Dies hat auch Auswirkungen auf das gewerkschaftliche Engagement, und<br />
es ist sinnvoll, die unterschiedlichen Konzepte auf ihre Auswirkungen auf die Gewerkschaften<br />
hin zu befragen und gegeneinan<strong>de</strong>r abzugrenzen, wenn neue Wege<br />
<strong>de</strong>r Engagementför<strong>de</strong>rung gesucht wer<strong>de</strong>n sollen (Abb. 1; vgl. zum folgen<strong>de</strong>n<br />
auch Evers 1998).<br />
Wenn vom „freiwilligen Engagement“gere<strong>de</strong>t wird, stehen selbstbezogene<br />
Motive <strong>de</strong>s Engagements im Vor<strong>de</strong>rgrund, die dadurch verwirklicht wer<strong>de</strong>n können,<br />
dass man sich für sich selbst (im Bereich <strong>de</strong>r Selbsthilfe) o<strong>de</strong>r für an<strong>de</strong>re<br />
engagiert. Das Konzept setzt an individualisierten Motiven an – das Engagement<br />
vermittelt mir Sinn und Spaß, und ich kann mit ihm immaterielle o<strong>de</strong>r materielle<br />
Vorteile erzielen, die ich bei an<strong>de</strong>ren Aktivitäten nicht erreichen könnte. Das Engagement<br />
wird als ein Bereich <strong>de</strong>r Freizeitaktivitäten unter mehreren gesehen, die<br />
gleichrangig existieren und zwischen <strong>de</strong>nen ich eine Wahl treffe. Es kann für mich<br />
z.B. befriedigen<strong>de</strong>r sein, in <strong>de</strong>r Jugend o<strong>de</strong>r Seniorenbetreuung <strong>de</strong>s Sportvereins<br />
tätig zu wer<strong>de</strong>n, als ins FitnessStudio zu gehen. Das Leitbild dieser Form <strong>de</strong>s<br />
Engagements ist <strong>de</strong>r Kun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m „Markt“<strong>de</strong>r Möglichkeiten <strong>de</strong>s Engage
27 <br />
ments das Angebot wählt, das <strong>de</strong>n größten individuellen Nutzen in bezug auf die<br />
eigenen Motive verspricht. Dieser Nutzen kann durchaus auch darin bestehen,<br />
dass man Anerkennung und Unterstützung in <strong>de</strong>r Gruppe erfährt o<strong>de</strong>r das Gefühl<br />
hat, etwas zu tun, das an<strong>de</strong>ren hilft. Bezogen auf die Gewerkschaft hieße die<br />
För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s freiwilligen Engagements, solche individualisierten Motivlagen in<br />
<strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund zu stellen und Möglichkeiten für ihre Verwirklichung zu bieten.<br />
Die Gewerkschaft erhält in diesem Konzept <strong>de</strong>n Charakter eines Dienstleisters,<br />
<strong>de</strong>r kun<strong>de</strong>norientiert Leistungen anbietet und Anreiz und Belohnungsstrukturen<br />
für das <strong>hier</strong>auf bezogene Engagement entwickelt. Engagementför<strong>de</strong>rung be<strong>de</strong>utet<br />
<strong>hier</strong>bei vor allem Marketing: Die Organisation muss ihr „Markenimage“verbessern<br />
und pflegen, um sich auf <strong>de</strong>m Markt <strong>de</strong>r Möglichkeiten gut „verkaufen“, und ehrenamtliche<br />
Mitarbeiter gewinnen zu können (z.B. Deckstein 2003).<br />
Das bürgerschaftliche Engagement setzt dagegen an gemeinschaftsorientierten<br />
Motiven an, die Ausdruck <strong>de</strong>r Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen<br />
Gruppe sind. Im Vor<strong>de</strong>rgrund steht also die Mitgliedschaft – allerdings nicht unbedingt<br />
in einer Organisation, son<strong>de</strong>rn in einem Gemeinwesen, für <strong>de</strong>ssen Funktionieren<br />
man sich mit verantwortlich fühlt. So können sich Eltern für die Verbesserung<br />
<strong>de</strong>r Bedingungen an <strong>de</strong>r Schule ihrer Kin<strong>de</strong>r engagieren, Nachbarn für die<br />
Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r gegenseitigen Unterstützung, Anwohner für die Gestaltung<br />
<strong>de</strong>r Verkehrs und Wohnbedingungen. Das Engagement in diesem Sinne stellt für<br />
die Beteiligten eine höher bewertete Form <strong>de</strong>r Tätigkeit als an<strong>de</strong>re Freizeitaktivitäten<br />
dar und geht mit einem gewissen Maß an Verpflichtung (commitment) einher.<br />
Es setzt voraus, dass Möglichkeiten zur Mitwirkung im Prozess <strong>de</strong>r politischen<br />
Willensbildung bereit gestellt wer<strong>de</strong>n, die sich nicht nur als Durchsetzung individueller<br />
Interessen verstehen, son<strong>de</strong>rn ihre Funktion „als öffentliche Verständigung<br />
über gemeinsame Aufgaben und Prioritäten“(Evers 1998, S. 198) erfahrbar machen.<br />
Das Leitbild dieser Form <strong>de</strong>s Engagements ist <strong>de</strong>r aktive (Mit) Bürger, <strong>de</strong>r<br />
an <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Lebensverhältnisse interessiert ist. Die<br />
Gewerkschaft wird <strong>hier</strong>bei in einem politischen Sinn angesprochen, entsprechend<br />
ihrer Tradition einer sozialen Bewegung, <strong>de</strong>r es um die Mitgestaltung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Zusammenlebens geht. Engagementför<strong>de</strong>rung heißt <strong>hier</strong>, offene Foren<br />
und wirksame Mitwirkungsangebote bereitzustellen, über welche die Interessen<br />
zur Gestaltung <strong>de</strong>r gemeinsamen Lebensbedingungen artikuliert, ausgehan<strong>de</strong>lt<br />
und gestaltet wer<strong>de</strong>n können.<br />
Diese Typisierung ist nicht als Gegenüberstellung sich ausschließen<strong>de</strong>r Alternativen<br />
zu verstehen. Engagementför<strong>de</strong>rung kann und muss bei<strong>de</strong> Elemente<br />
aufgreifen, um die unterschiedlichen Mitglie<strong>de</strong>rgruppen ansprechen und <strong>de</strong>m eigentümlichen<br />
Charakter <strong>de</strong>r Gewerkschaftsorganisationen gerecht wer<strong>de</strong>n zu<br />
können. Wür<strong>de</strong> versucht wer<strong>de</strong>n, nur eine Strategie konsequent umzusetzen –<br />
Professionalität o<strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rbeteiligung –, ginge das mit Verlusten auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Ebene einher. Die Übersicht dient dazu, die zentralen Elemente <strong>de</strong>r bereichsspezifischen<br />
Engagementför<strong>de</strong>rung aufzuzeigen. Es han<strong>de</strong>lt sich dabei um<br />
die Frage <strong>de</strong>r Gewichtung und Akzentuierung. So muss etwa Beratung – auch<br />
wenn sie ehrenamtlich durchgeführt wird – professionellen Charakter haben und<br />
gegenüber an<strong>de</strong>ren Anbietern konkurrenzfähig sein. Die fachliche Qualifizierung<br />
und professionelle Betreuung <strong>de</strong>r Ehrenamtler steht <strong>hier</strong>bei im Vor<strong>de</strong>rgrund. Die
28 <br />
soziale Integration von Jugendlichen o<strong>de</strong>r Erwerbslosen im Wohngebiet erfor<strong>de</strong>rt<br />
dagegen soziale Kompetenzen seitens <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen, und eine Vernetzung<br />
<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Projekte, durch welche eine offene Artikulation von Interessen<br />
und Bedürfnissen und die Verständigung über sie möglich wird. Für die Engagementför<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaften wird es <strong>de</strong>shalb darauf ankommen, eine Balance<br />
zwischen diesen Konzepten zu fin<strong>de</strong>n und Lösungen zu entwickeln, die mit<br />
<strong>de</strong>n „traditionellen“Aufgaben <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Arbeit – etwa die Tätigkeit in<br />
Vertrauens und Betriebsräten – vereinbar sind.<br />
Abbildung 1: Unterschie<strong>de</strong> <strong>de</strong>s freiwilligen und <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements<br />
„freiwilliges Engagement“<br />
„bürgerschaftliches Engagement“<br />
Individualisierte Motive<br />
Verfolgung von Eigeninteressen (z.B. „ich<br />
helfe, damit auch mir geholfen wird“;<br />
„Vermittlung von Sinn, Befriedigung und<br />
Spaß<br />
Gemeinschaftsorientierte Motive<br />
Ausdruck von Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen<br />
Gruppe bzw. Gemeinschaft<br />
Verpflichtung und Mitverantwortung gegenüber<br />
<strong>de</strong>m Gemeinwesen<br />
Engagement ist ein Bereich <strong>de</strong>r Freizeitaktivitäten<br />
unter an<strong>de</strong>ren, die gleichrangig existieren<br />
Engagement ist eine höherwertige Form <strong>de</strong>r<br />
Aktivität, die beson<strong>de</strong>rs anerkannt wird<br />
Leitbild: Kun<strong>de</strong><br />
Individualisierte, „rationale“ Mitgliedschaftsmotive<br />
Gewerkschaft als Dienstleister<br />
Leitbild: (Mit) Bürger<br />
Gesellschaftsbezogene, politische Mitgliedschaftsmotive<br />
Gewerkschaft als soziale Bewegung und Gegenmacht<br />
1.5 Die Anlage und methodische Umsetzung <strong>de</strong>r Untersuchung<br />
Der Umfang <strong>de</strong>r Untersuchung umfasst folgen<strong>de</strong> Erhebungsschritte:<br />
• Eine schriftliche Befragung <strong>de</strong>r Verwaltungsstellen bzw. Bezirksverwaltungen<br />
<strong>de</strong>r IG Metall, IG BCE, ver.di und IG BAU.<br />
• 45 Experteninterviews<br />
• 40 sonstige Einzelinterviews<br />
• 16 Gruppendiskussionen (davon eine ExpertenGruppendiskussion)
29 <br />
1.5.1 Formen <strong>de</strong>s Zugangs und die Auswahl <strong>de</strong>r Untersuchungsfälle<br />
Frank Ernst<br />
Das Ausmaß <strong>de</strong>s Engagements nimmt offenbar mit steigen<strong>de</strong>m Formalisierungsgrad<br />
und zunehmen<strong>de</strong>r <strong>hier</strong>archischer Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Organisationen ab. In<br />
kleinen Vereinigungen und Initiativen, welche die Chance zur sozialen Selbstorganisation<br />
bieten, ist dieses Ausmaß dagegen groß. Für die Auswahl <strong>de</strong>s Untersuchungsfel<strong>de</strong>s<br />
hat es sich <strong>de</strong>mnach angeboten, Fälle mit diesen bei<strong>de</strong>n Charakteristika<br />
zu kontrastieren.<br />
Welche Möglichkeiten sich innerhalb von großen Mitglie<strong>de</strong>rorganisationen<br />
bieten, die Merkmale <strong>de</strong>r „neuen Ehrenamtlichkeit“zu integrieren, wur<strong>de</strong> am Beispiel<br />
von DGBGewerkschaften nachgegangen, weil sie Kernorganisationen <strong>de</strong>r<br />
korporatistischen Arrangements darstellen und sich als erwerbsbezogene Interessenorganisationen<br />
verstehen, die sich mit gesellschaftspolitischem Anspruch auf<br />
die Vermittlung von Erwerbs und Lebensbedingungen richten. Exemplarisch<br />
wur<strong>de</strong>n die Organisationsbereiche <strong>de</strong>r IG Metall, <strong>de</strong>r IG Bergbau, Chemie, Energie<br />
und <strong>de</strong>r Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) einbezogen, ergänzt<br />
durch die IG BAU und die DGBLan<strong>de</strong>sbezirke.<br />
Die Grundgesamtheit für diesen Untersuchungsteil besteht aus gewerkschaftlichen<br />
Projekten <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements, die im Sinne <strong>de</strong>s Konzepts<br />
<strong>de</strong>r „neuen Ehrenamtlichkeit“ als innovativ angesehen wer<strong>de</strong>n können.<br />
Merkmale für <strong>de</strong>n neuartigen Charakter beziehen sich<br />
• auf die Struktur <strong>de</strong>s Angebots (projektbezogen, zeitlich befristet, Ausrichtung<br />
an Orientierungen <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r, Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>m Engagement<br />
und einer entsprechen<strong>de</strong>n Belohnung, kooperatives Zusammenwirken mit an<strong>de</strong>ren<br />
Gruppierungen, ggf. eigenständige Organisationsform)<br />
• auf <strong>de</strong>n Adressatenkreis (Jugendliche im Übergang ins Erwerbsleben, Ältere<br />
im Übergang in <strong>de</strong>n Ruhestand, Arbeitslose, aber auch Merkmale wie<br />
Stadt/Land, Beschäftigungssituation, Organisationsgrad).<br />
Als Vergleichsgruppe wur<strong>de</strong>n lokale Initiativen <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements<br />
herangezogen. Sie richten sich auf unmittelbare Belange <strong>de</strong>r Bürger,<br />
ermöglichen in hohem Ausmaß eine direkte Partizipation, tragen zur Integration<br />
<strong>de</strong>s Gemeinwesens bei und sind weniger interessen als gemeinsinnorientiert.<br />
In einem ersten Schritt wur<strong>de</strong>n Projekte mit innovativem Charakter i<strong>de</strong>ntifiziert,<br />
im zweiten Schritt dann diejenigen bestimmt, die in die weitere Untersuchung<br />
einbezogen wur<strong>de</strong>n. Diese Schritte erfolgten auf <strong>de</strong>r Grundlage einer<br />
schriftlichen Befragung und von Experteninterviews. Die Auswahlkriterien sind im<br />
Laufe <strong>de</strong>r Untersuchung aufgrund <strong>de</strong>r empirischen Beobachtungen präzisiert und<br />
modifiziert wor<strong>de</strong>n.<br />
Als empirische Voraussetzung für die Auswahl <strong>de</strong>r in die Untersuchung<br />
einzubeziehen<strong>de</strong>n Fälle wur<strong>de</strong> eine postalische Befragung unter <strong>de</strong>n Bezirksverwaltungen<br />
<strong>de</strong>r IG Metall, <strong>de</strong>r IG BCE und ver.di sowie <strong>de</strong>r IG BAU und <strong>de</strong>s DGB<br />
mittels eines Fragebogens durchgeführt, ergänzt durch Experteninterviews. Erkenntnisziel<br />
war eine möglichst <strong>de</strong>taillierte Übersicht über die ehrenamtlichen Aktivitäten,<br />
ihre Zielsetzung und zeitliche Dauer, die Adressaten, ihre Organisations
30 <br />
formen, Finanzierung, die Art <strong>de</strong>r Einbindung in Gewerkschafts und (beispielsweise<br />
kommunale) Netzwerkstrukturen.<br />
Im ersten Teil <strong>de</strong>r Projektphase wur<strong>de</strong>n – während die Fragebogenaktion<br />
lief – einige Überlegungen in bezug auf die Auswahl und <strong>de</strong>n Zugang von potentiellen<br />
Projekten getroffen. Ausgehend von <strong>de</strong>r These, dass sich ein „Formwan<strong>de</strong>l“<strong>de</strong>s<br />
ehrenamtlichen Engagements vollzogen habe, lag die Vermutung nahe,<br />
dass sich neue Engagementformen innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaften am ehesten im<br />
Bereich <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit fin<strong>de</strong>n lassen. So beziehen<br />
sich beispielsweise Projekte im Wohnbereich auf die eigene Lebensumfeldgestaltung<br />
von Engagierten. Der Umstand, dass das Engagement in lokalen Initiativen<br />
zunimmt, während die Verbän<strong>de</strong> über einen Rückgang <strong>de</strong>s Engagements klagen,<br />
schien dies zu belegen. Weiterhin lag die Annahme nah, dass ehrenamtliches<br />
Engagement häufig im Bereich <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit in<br />
Form von Projektarbeit stattfin<strong>de</strong>t. Damit fällt möglicherweise auch <strong>de</strong>r Formalisierungsgrad<br />
von Engagement geringer aus. Außer<strong>de</strong>m erwächst aus <strong>de</strong>n (in <strong>de</strong>n<br />
oberen Kapiteln diskutierten) Folgen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Wan<strong>de</strong>ls ein immer<br />
größeres Potential an Engagierten für die Gewerkschaften im außerbetrieblichen<br />
Bereich. So sind mittlerweile nicht mehr nur Ruheständler und Vorruheständler<br />
nicht betrieblich gebun<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn auch Erwerbslose. Das stellt die Gewerkschaften<br />
beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn vor bisher nicht gekannte Probleme.<br />
Nicht zuletzt die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rstruktur – Zuwachs an Ruheständlern,<br />
Vorruheständlern und Erwerbslosen – legte also nahe, dass sich gera<strong>de</strong><br />
im außerbetrieblichen Bereich <strong>de</strong>r Gewerkschaftsarbeit am ehesten neue<br />
Formen ehrenamtlichen Engagements fin<strong>de</strong>n lassen. Aufgrund dieser Überlegungen<br />
und Ergebnisse wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Fokus <strong>de</strong>r Untersuchung auf <strong>de</strong>n außerbetrieblichen<br />
Bereich <strong>de</strong>r Gewerkschaftsarbeit gelegt.<br />
Dies korrespondierte mit <strong>de</strong>n Ergebnissen <strong>de</strong>r vorgeschalteten schriftlichen<br />
Befragung und <strong>de</strong>n Informationen aus <strong>de</strong>n ersten Experteninterviews. So hatten<br />
die befragten Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftsstellenleiter 86% <strong>de</strong>r von<br />
ihnen aufgeführten Arbeitskreise und/o<strong>de</strong>r Projekte im Bereich <strong>de</strong>r außerbetrieblichen<br />
Gewerkschaftsarbeit verortet. (vgl. Kap. 2)<br />
Zu <strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Erwerbsleben Ausgetretenen (Ruheständler und Erwerbslose)<br />
kommt ein weiterer Personenkreis: die Gruppe <strong>de</strong>r Jugendlichen, die noch<br />
nicht o<strong>de</strong>r erst jüngst o<strong>de</strong>r ins Erwerbsleben eingetreten sind. Beson<strong>de</strong>rs Jugendliche<br />
sind häufig diesen „alten“Engagementformen und legitimationen gegenüber<br />
abstinent und sie weisen die höchsten Selbstentfaltungsmotive auf.<br />
Aufgrund dieser Resultate legten wir <strong>de</strong>n gruppenbezogenen Fokus auf die<br />
folgen<strong>de</strong>n Untersuchungsgruppen:<br />
• Senioren<br />
• Erwerbslose<br />
• Jugendliche<br />
Die Auswahl von geeigneten Arbeitskreisen bzw. Projekten in <strong>de</strong>n vier beteiligten<br />
Gewerkschaften – IGBau, IGBCE, IGMetall und ver.di – sollte mittels<br />
<strong>de</strong>s Fragebogens und <strong>de</strong>r Experteninterviews getroffen wer<strong>de</strong>n. Das Ziel, Zugänge<br />
zu Arbeitskreisen bzw. Projekten „neuen ehrenamtlichen Engagements“zu<br />
schaffen, konnte <strong>de</strong>r Fragebogen jedoch nur eingeschränkt erfüllen. So war nicht
31 <br />
nur <strong>de</strong>r Rücklauf unerwartet zögerlich und niedrig ausgefallen. Es traten auch<br />
Schwierigkeiten angesichts <strong>de</strong>r Ortung von Projekten „neuen ehrenamtlichen Engagements“auf.<br />
Um eine adäquate Auswahl treffen zu können, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb<br />
verstärkt auf Experteninterviews zurückgegriffen.<br />
Die Projektgruppe einigte sich darauf, dass die Intensivfallstudien verschie<strong>de</strong>ne<br />
Projekte in einem <strong>de</strong>finierten Feld einschließen sollten. Es ging also<br />
nicht darum, einzelne Projekte in nicht aufeinan<strong>de</strong>rbezogenen Fel<strong>de</strong>rn zu fin<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn um ein Feld, das <strong>de</strong>n Rahmen für die einzelnen Projekte für die jeweilige<br />
Fallstudie abgab.<br />
Zweitens wur<strong>de</strong> gewerkschaftlichen Projekten bei <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>r Vorrang<br />
gegeben. Diese ausgewählten gewerkschaftlichen Projekte bestimmten anschließend<br />
<strong>de</strong>n zentralen Standort <strong>de</strong>s Fel<strong>de</strong>s. Das heißt, an<strong>de</strong>re relevante Projekte<br />
innerhalb dieser Fallstudie wur<strong>de</strong>n um dieses ausgewählte Projekt herum ausfindig<br />
gemacht.<br />
Das Feld <strong>de</strong>finiert sich dabei einerseits über die netzwerklichen Verbindungen<br />
und über die Reichweite <strong>de</strong>s ersten Projektes sowie an<strong>de</strong>rerseits nach seiner<br />
geographischen Verortung – z.B. MecklenburgVorpommern versus Ba<strong>de</strong>n<br />
Württemberg.<br />
Übersicht <strong>de</strong>r einzelnen Zugangsformen<br />
• Theoretischer Zugang:<br />
a) Fokus auf die außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />
b) nichtgewerkschaftliche Vergleichsgruppe im gleichen Untersuchungsfeld<br />
c) Unterscheidung ehrenamtlich engagierter Gruppen:<br />
1) Senioren<br />
2) Erwerbslose<br />
3) Jugendliche<br />
• Zugang über <strong>de</strong>n Fragebogen:<br />
Auswahl von Projekten, die eine nichtklassische Form ehrenamtlicher Tätigkeit<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft aufweisen. Projekte, die sich vor allem<br />
durch einen Projektbezug, eine zeitliche Begrenzung und ihrer Ausrichtung<br />
an <strong>de</strong>n Orientierungen <strong>de</strong>r einzelnen Mitglie<strong>de</strong>r auszeichnen.<br />
• „Insi<strong>de</strong>rZugang“:<br />
a) Expert/inn/en innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft:<br />
Zuständige für die einzelnen Bereiche<br />
Verwaltungsstellenleiter/Bezirksgeschäftstellenleiter/innen<br />
Referent/innen<br />
Projektleiter/Geschäftsführer/innen<br />
Vereinsvorsitzen<strong>de</strong><br />
b) Expert/inn/en außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft:<br />
Vereinvorsitzen<strong>de</strong><br />
Projektleiter/Geschäftsführer/innen<br />
Zuständige staatliche Stellen<br />
Angestellte in Verbän<strong>de</strong>n und Verwaltungen<br />
Insgesamt kann das empirische Material auf drei Vergleichsebenen kontrastiert<br />
wer<strong>de</strong>n. Einmal lassen sich die strukturellen Gruppen (Jugendliche, Erwerbslose,<br />
Senioren) miteinan<strong>de</strong>r vergleichen. Des weiteren sind Vergleiche zwi
32 <br />
schen gewerkschaftlichen und nichtgewerkschaftlichen Projekten möglich. Und<br />
schließlich lassen sich Projekte in <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn Projekten in <strong>de</strong>n neuen<br />
Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn gegenüberstellen.<br />
Übersicht: Die Vergleichsebenen<br />
1. Vergleichsebene<br />
Engagement innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
Engagement außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
2. Vergleichsebene<br />
Engagement <strong>de</strong>r einzelnen Gruppen: Senioren, Erwerbslose, Jugendliche<br />
3. Vergleichsebene<br />
Engagement in <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
Engagement in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
Zur Auswahl <strong>de</strong>r Fallstudien<br />
Generell ist zwischen Kurzfallstudien und Intensivfallstudien zu unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Die Kurzfallstudien dienten vor allem <strong>de</strong>r Fel<strong>de</strong>rschließung und/o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ergänzung<br />
<strong>de</strong>r Intensivfallstudien.<br />
Folgen<strong>de</strong> Kurzfallstudien wur<strong>de</strong>n erstellt:<br />
• Freiwilligenagentur Halle<br />
• SeniorenKreativVerein Halle<br />
• Bürgerstiftung SachsenAnhalt<br />
• Staatskanzlei MecklenburgVorpommern<br />
• AWO – Hannover<br />
• Erwerbslosenausschuss ver.di Essen<br />
Anmerkung zu <strong>de</strong>n Freiwilligenagenturen<br />
Freiwilligenagenturen o<strong>de</strong>r Ehrenamtsbörsen verstehen sich als Brücke<br />
zwischen engagementbereiten Bürgern und engagementinteressierten gemeinnützigen<br />
Organisationen. Sie reagieren damit auf die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Engagements.<br />
Zugänge zum Engagement ergeben sich zunehmend nicht mehr selbstläufig,<br />
son<strong>de</strong>rn bedürfen <strong>de</strong>r Vermittlung. Der Fokus liegt dabei auf <strong>de</strong>n individualisierten<br />
und pluralisierten Bereitschaften zum Engagement und auf <strong>de</strong>n motivationalen,<br />
inhaltlichen und zeitlichen Präferenzen <strong>de</strong>r Interessierten. Die Agenturen<br />
wollen also beson<strong>de</strong>rs jene Gruppe ansprechen, die selbständig nach freiwilligen<br />
Tätigkeiten suchen, welche nicht über die klassischen Zugangswege wie z.B. in<br />
Organisationen laufen. Die Interessierten stellen oft jene Erwartungen an ein Engagement,<br />
die in <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s „neuen Ehrenamtes“zusammengefasst sind.
33 <br />
Freiwilligenagenturen beziehen sich auf alle Altersgruppen, Engagementfel<strong>de</strong>r<br />
und Bevölkerungsgruppen. Sie versuchen passgenaue Vermittlungen durch genaue<br />
Recherche entsprechend <strong>de</strong>r Erwartungen und Anfor<strong>de</strong>rungen seitens <strong>de</strong>r<br />
Organisationen und durch eine professionelle Beratung bei <strong>de</strong>n Interessierten<br />
herzustellen. Bun<strong>de</strong>sweit existieren (laut EnqueteKommission) ca. 180 Freiwilligenagenturen<br />
und ähnliche Einrichtungen. (vgl. Beher et al. 2001; Ebert/ Hesse<br />
2003; Jakob/ Janning 2001; EnqueteKommission 2002) In <strong>de</strong>n Intensivfallstudien<br />
wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb darauf geachtet, dass Freiwilligenagenturen bzw. Ehrenamtsbörsen<br />
ein Untersuchungsbestandteil <strong>de</strong>r Fallstudie waren.<br />
1.5.2 Forschungsmetho<strong>de</strong>n<br />
1.5.2.1 Gruppendiskussion<br />
Für die Erhebung <strong>de</strong>s Datenmaterials wur<strong>de</strong>n mehrere Metho<strong>de</strong>n verwen<strong>de</strong>t.<br />
Methodisch stehen Gruppendiskussionen und Experteninterviews im Zentrum<br />
<strong>de</strong>r Erhebung. Daneben wur<strong>de</strong>n aber auch ein schriftlicher, quantifizieren<strong>de</strong>r Fragebogen<br />
sowie die Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Dokumentenanalyse und <strong>de</strong>r teilnehmen<strong>de</strong>n<br />
Beobachtung eingesetzt.<br />
Mit <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gruppendiskussion wer<strong>de</strong>n kollektive Deutungsmuster<br />
erhoben. Ziel ist es also nicht, individuelle Interpretationen biographischer Erfahrungen<br />
bzw. individuelle Selbstrechtfertigungen <strong>de</strong>s jeweiligen eigenen Status zu<br />
untersuchen, son<strong>de</strong>rn die Deutungs und Legitimitätsmuster sozialer Gruppen zu<br />
rekonstruieren. Durch die sich im Diskussionsprozess artikulieren<strong>de</strong> „informelle<br />
Gruppenmeinung“(Mangold 1973) ist es möglich, einen empirischen „Zugriff auf<br />
das Kollektive“zu erhalten (Bohnsack 1999). In <strong>de</strong>r Diskussion wer<strong>de</strong>n „gemeinsame<br />
Zentren <strong>de</strong>r Erfahrung“(Loos/Schäffer 2000) artikuliert und aktualisiert, die<br />
sich bei <strong>de</strong>n Gruppenmitglie<strong>de</strong>rn bereits herausgebil<strong>de</strong>t haben.<br />
Gruppendiskussionen lassen sich aber nicht nur auf ‚natürliche Gruppen’<br />
anwen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn verstehen das Kollektive aus <strong>de</strong>m Zusammenhang einer gemeinsamen<br />
Kommunikationsgeschichte. Die ähnlichen Sozialerfahrungen <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Diskussionsteilnehmer in bezug auf das zu untersuchen<strong>de</strong> Thema sind<br />
von Be<strong>de</strong>utung. Ihr Bezug auf gemeinsame „konjunktive Erfahrungsräume“<br />
(Mannheim 1980) soll in <strong>de</strong>r Diskussion zum Tragen kommen. Die Gruppendiskussionen<br />
thematisieren die Perspektive <strong>de</strong>r Engagierten.<br />
Die Experteninterviews erfüllen zwei Funktionen. Sie wer<strong>de</strong>n einerseits<br />
explorativ verwen<strong>de</strong>t, um <strong>de</strong>n Feldzugang zu gewährleisten (Abstellen auf das<br />
„Kontextwissen“). An<strong>de</strong>rerseits thematisieren sie die Perspektive <strong>de</strong>r Organisation<br />
(Abstellen auf das „Betriebswissen“).<br />
Die Auswahlstrategien <strong>de</strong>r Untersuchungsfälle orientierten sich in einem<br />
ersten Abschnitt an Expertenaussagen und <strong>de</strong>n Fragebogenergebnissen. Die<br />
ausgewählten Intensivfallstudien wur<strong>de</strong>n im Forschungsprozess laufend mit weiteren<br />
Daten angereichert. Anhand erster Ergebnisse aus <strong>de</strong>n Fallstudien wur<strong>de</strong>n<br />
weitere Fallstudien ausgewählt.
34 <br />
1.5.2.2 Experteninterview<br />
Kirstin Bromberg<br />
Im Forschungsprozess waren insbeson<strong>de</strong>re die von <strong>de</strong>n Experten und <strong>de</strong>n<br />
ehrenamtlich Engagierten gesammelten Erfahrungen mit <strong>de</strong>m Engagement von<br />
Interesse, weshalb die Form offener Interviews mit erzählgenerieren<strong>de</strong>m Stimulus<br />
gewählt wur<strong>de</strong>. Im Rahmen <strong>de</strong>r <strong>hier</strong> eingesetzten Untersuchungsverfahren wird<br />
grob zwischen zwei Formen <strong>de</strong>r explorativen Befragung unterschie<strong>de</strong>n, welche<br />
sich je nach Erkenntnisinteresse entwe<strong>de</strong>r auf Prinzipien <strong>de</strong>s Experteninterviews<br />
o<strong>de</strong>r auf die Prinzipien <strong>de</strong>s biographischen Interviews bzw. auf bei<strong>de</strong> beziehen<br />
(Honer 1994: 631). In <strong>de</strong>r Untersuchung wur<strong>de</strong> eine Kombination dieser bei<strong>de</strong>n<br />
Interviewtechniken eingesetzt. Diese Kombination zielt sowohl auf die Hervorlockung<br />
biographischer Erzählungen als auch auf die Rekonstruktion sachlichen<br />
Expertenwissens (Honer 1994 634). Insofern sind manche Experteninterviews<br />
durch biographische Erzählpassagen ergänzt und unterschei<strong>de</strong>n sich insofern von<br />
<strong>de</strong>r Konzeption zum Experteninterview von Meuser und Nagel (1991: 441).<br />
Vor allem am Beginn <strong>de</strong>s Erhebungsprozesses stan<strong>de</strong>n explorativ angelegte<br />
Experteninterviews. Die Interviews stützten sich auf einen InterviewLeitfa<strong>de</strong>n<br />
(vgl. Anhang), welcher situativ, <strong>de</strong>m Gesprächsfluss <strong>de</strong>s Interviews folgend, flexibel<br />
eingesetzt wur<strong>de</strong>. Entsprechend enthielt <strong>de</strong>r Leitfa<strong>de</strong>n grobe inhaltlichrelevante<br />
Themenkomplexe sowie gezielte (Nach)Fragen zu <strong>de</strong>n gemachten<br />
Ausführungen, um <strong>de</strong>taillierte Beschreibungen zu <strong>de</strong>n interessieren<strong>de</strong>n Sachverhalten<br />
zu erhalten und darüber hinaus aus <strong>de</strong>m bis dahin analysierten Datenmaterial<br />
generierte Kategorien zu prüfen.<br />
Hauptamtliche Vertreter von Gewerkschaften und an<strong>de</strong>ren Organisationen<br />
wur<strong>de</strong>n als Experten im Sinne von Funktionsträgern o<strong>de</strong>r Repräsentanten im institutionellen<br />
Kontext befragt, wobei die Frage, wer als Experte gilt hat, durch die<br />
Forschungsfrage <strong>de</strong>s Forschungsteams beantwortet wird. Die durchgeführten Interviews<br />
zielten inhaltlich vorwiegend auf die Rekonstruktion <strong>de</strong>r Wissensbestän<strong>de</strong><br />
über das ehrenamtliche Engagement im Zuständigkeitsbereich <strong>de</strong>s / <strong>de</strong>r Interviewten.<br />
Sie erheben also in erster Linie eine subjektive, aus <strong>de</strong>r Einbindung in<br />
die Organisationsstrukturen resultieren<strong>de</strong> Sichtweise von hauptamtlichen Akteuren<br />
für <strong>de</strong>n gewählten Untersuchungsgegenstand. Neben diesem exklusiven und<br />
<strong>de</strong>taillierten Wissen <strong>de</strong>r GesprächspartnerInnen in ihrer Rolle als RepräsentantInnen<br />
einer Organisation o<strong>de</strong>r Institution erhielten auch subjektive Relevanzen <strong>de</strong>r<br />
InterviewpartnerInnen Raum. 13 Diese methodische Offenheit ergibt sich aus <strong>de</strong>m<br />
inhaltlichen Interesse an <strong>de</strong>r biographischen Einbettung ehrenamtlicher Arbeit<br />
sowohl <strong>de</strong>r hauptamtlichen als auch <strong>de</strong>r ehrenamtlichen Akteure.<br />
13 Meuser und Nagel geben ausschließlich <strong>de</strong>m ExpertInnenWissen als Erfahrungs und damit<br />
Betriebswissen bzw. <strong>de</strong>m Kontextwissen Be<strong>de</strong>utung und Raum. An<strong>de</strong>re als diese Daten wer<strong>de</strong>n<br />
nicht nur nicht in die Auswertung einbezogen, son<strong>de</strong>rn als misslungene Variante <strong>de</strong>s Experteninterviews<br />
behan<strong>de</strong>lt. Da eben dieses Wissen aber nicht von <strong>de</strong>n subjektiven Orientierungen und<br />
Erfahrungen <strong>de</strong>r Interviewten zu trennen ist, bezog sich unsere Untersuchung auf bei<strong>de</strong>s, wobei in<br />
<strong>de</strong>r Auswertung auf eine Trennung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utungsebenen geachtet wur<strong>de</strong>.
35 <br />
Demgegenüber sind die biographischen Einzelinterviews in ihrer Konzeption<br />
schwerpunktmäßig auf die Hervorlockung von biographischen Erzählungen <strong>de</strong>r<br />
ehrenamtlich Tätigen und <strong>de</strong>m Zustan<strong>de</strong>kommen von Ehrenamtlichkeit in ihren<br />
jeweiligen biographischen Bezügen gerichtet, <strong>de</strong>n <strong>hier</strong>bei gesammelten Erfahrungen<br />
und subjektiven Sichtweisen. Hieraus wird <strong>de</strong>utlich, dass es sich im vorliegen<strong>de</strong>n<br />
Forschungskontext um die Kombination unterschiedlicher konzeptioneller<br />
Perspektiven han<strong>de</strong>lt – <strong>de</strong>r Sinnperspektive und die <strong>de</strong>r Strukturperspektive (vgl.<br />
FischerRosenthal, 1991, 254f). Je<strong>de</strong> dieser Perspektiven lässt <strong>de</strong>n Forschungsgegenstand<br />
in einem an<strong>de</strong>ren Licht erscheinen und erschließt damit spezifische<br />
Ergebnisse. Eine solche Kombination von Forschungsperspektiven wird auch als<br />
PerspektivenTriangulation bezeichnet (vgl. Flick et al. 1991: 153). 14<br />
Ebenso wie das Erhebungsverfahren orientierte sich die Auswertungsstrategie<br />
für die Einzelinterviews an <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>r groun<strong>de</strong>d theory – <strong>de</strong>m Kodierverfahren<br />
nach Strauss und Corbin (1996). Hierbei wur<strong>de</strong>n Kategorien induktiv<br />
aus <strong>de</strong>m Datenmaterial gewonnen, auf <strong>de</strong>ren Grundlage verallgemeinerungsfähige<br />
Ergebnisse zum ehrenamtlichen gewerkschaftlichen und bürgerschaftlichen<br />
Engagement präsentiert wer<strong>de</strong>n können.<br />
Der Prozess <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>ll o<strong>de</strong>r Typenbildung erfolgte über vier eng miteinan<strong>de</strong>r<br />
verbun<strong>de</strong>ne Auswertungsschritte, die logisch aufeinan<strong>de</strong>r aufbauen, jedoch<br />
nicht linear und starr, son<strong>de</strong>rn vielmehr mehrfach reflexiv durchlaufen wer<strong>de</strong>n.<br />
(vgl. Kelle / Kluge 1999: 82). Die empirisch begrün<strong>de</strong>te Kategorien und Typenbildung<br />
verläuft von <strong>de</strong>r Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, <strong>de</strong>r Gruppierung<br />
<strong>de</strong>r Fälle sowie <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r empirischen Regelmäßigkeiten über die A<br />
nalyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge zur Charakterisierung <strong>de</strong>r gebil<strong>de</strong>ten<br />
Typen (vgl. Kelle / Kluge 1999: 83ff).<br />
Für je<strong>de</strong>s einzelne Interview wur<strong>de</strong> anhand eines umfangreichen thematischen<br />
Verlaufs 15 ein KategorienSchema erarbeitet. Auf dieser Grundlage wur<strong>de</strong>n<br />
Passagen für eine intensive Interpretation ausgewählt, die entwe<strong>de</strong>r im Hinblick<br />
auf die forschungsleiten<strong>de</strong>n Fragen sowie sich sukzessiv herausschälen<strong>de</strong>r Vergleichsdimensionen<br />
relevant waren, o<strong>de</strong>r die sich wegen ihrer beson<strong>de</strong>ren interaktiven<br />
und metaphorischen Dichte auszeichneten. Diese ausgewählten Passagen<br />
wur<strong>de</strong>n vollständig transkribiert und in Interpretationsgruppen hermeneutisch<br />
analysiert und kategorisiert.<br />
Bei <strong>de</strong>r in diesem Teilbereich <strong>de</strong>s Forschungsprozesses verwandten Form<br />
<strong>de</strong>r Kodierung wur<strong>de</strong>n neue Kategorien aus <strong>de</strong>m Datenmaterial exploriert. Um<br />
einen hinreichen<strong>de</strong>n Abstraktionsgrad zu erreichen, wur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>r Grundlage<br />
dieser Kategorien fallübergreifen<strong>de</strong> Vergleiche durchgeführt. Hierfür wur<strong>de</strong> ein<br />
softwaregestütztes Auswertungsverfahren angewandt, in <strong>de</strong>m das Analyseprogramm<br />
für qualitative Daten MaxQda eingesetzt wur<strong>de</strong> (Co<strong>de</strong>system siehe Anhang).<br />
Diese fallvergleichen<strong>de</strong>n Kontrastierungen dienten <strong>de</strong>r Ermittlung von<br />
14 Triangulation wird in diesem Kontext also nicht als Möglichkeit verstan<strong>de</strong>n, eine Metho<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren zu validieren verstan<strong>de</strong>n (Flick et al, 1991, 427).<br />
15 Das Datenmaterial wird <strong>hier</strong>bei in Ober und Unterthemen geglie<strong>de</strong>rt und durch eine Inhaltsangabe<br />
<strong>de</strong>r thematischen Passage ergänzt. Darüber hinaus wer<strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs auffällige Aussagen<br />
und Bemerkungen, die im Hinblick auf unsere Fragestellungen relevant waren teilweise o<strong>de</strong>r ganz<br />
transkribiert in die thematische Verlaufsübersicht aufgenommen (vgl. Bohnsack, 1999,150).
36 <br />
„Achsen“, also von Vergleichsdimensionen für die Verallgemeinerungsfähigkeit<br />
<strong>de</strong>r Fallbeson<strong>de</strong>rheiten (vgl. Kelle / Kluge: 1999: 83f). In Anlehnung an Kelle und<br />
Kluge wur<strong>de</strong> schließlich auf die Entwicklung von 4Fel<strong>de</strong>rSchemata als Typisierungsgrundlage<br />
zurückgegriffen. Über die ermittelten Ähnlichkeiten und Unterschie<strong>de</strong><br />
konnten die untersuchten Fälle unterschiedlichen Gruppen zugeordnet<br />
wer<strong>de</strong>n, welche in Kapitel 5.6.3 im Mo<strong>de</strong>ll zu Bindungspotentialen ehrenamtlichen<br />
Engagements abgebil<strong>de</strong>t sind.
37 <br />
2. „Neue Ehrenamtlichkeit“in <strong>de</strong>n Gewerkschaften – Ergebnisse<br />
<strong>de</strong>r schriftlichen Befragung<br />
Frank Ernst und Marcel Kabel<br />
Die Fragebogenkonstruktion und Organisation <strong>de</strong>r Befragung<br />
Der empirische Zugang zu <strong>de</strong>n Formen „neuer Ehrenamtlichkeit“innerhalb <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaften sollte mit Hilfe einer Fragebogenerhebung durch eine postalische<br />
Befragung gewährleistet wer<strong>de</strong>n. Dieses Erhebungsverfahren sollte sowohl vorbereitend<br />
als auch ergänzend genutzt wer<strong>de</strong>n. Die standardisierte quantitative<br />
Erhebung hatte zum Ziel, Auswahlkriterien für die anschließen<strong>de</strong>n Fallstudien<br />
empirisch zu gewinnen. Anhand <strong>de</strong>r Daten sollte darüber hinaus eine „Landkarte<br />
neuen ehrenamtlichen Engagements“erstellt wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>r quantitative Aussagen<br />
über das Ausmaß, die inhaltliche Ausrichtung und die regionale Verteilung<br />
innovativer Ehrenamtsprojekte <strong>de</strong>r beteiligten Gewerkschaften – IGMetall, ver.di,<br />
IG BAU und IGBCE – möglich wären. Dieses Vorhaben ließ sich jedoch nicht<br />
verwirklichen, da <strong>de</strong>r Rücklauf <strong>de</strong>r Fragebögen keine hinreichen<strong>de</strong> Datenbasis<br />
verfügbar machte (siehe unten).<br />
Der Fragebogen wur<strong>de</strong> so konzipiert, dass er einerseits die Perspektive <strong>de</strong>r<br />
Organisation (über die hauptamtlichen Funktionäre) und an<strong>de</strong>rerseits die Perspektive<br />
<strong>de</strong>r Beteiligten (über die ehrenamtlich Engagierten) erfassen sollte. Dazu<br />
wur<strong>de</strong>n zwei Teilfragebögen erstellt. 16 Der erste Teil <strong>de</strong>s Fragebogens war auf die<br />
Verwaltungsstellenleiter bzw. auf die Bezirksgeschäftsstellenleiter abgestimmt<br />
und sollte von diesen ausgefüllt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r zweite Teil <strong>de</strong>s Fragebogens von<br />
<strong>de</strong>n jeweiligen Projekt o<strong>de</strong>r Arbeitskreisleitern.<br />
Der Schwerpunkt <strong>de</strong>s Fragebogens Teil 1 war die Gewinnung von Informationen<br />
über vorhan<strong>de</strong>ne Projekte. Darüber hinaus wur<strong>de</strong>n die Hauptamtlichen<br />
nach ihren Erfahrungen mit und Einstellungen zu <strong>de</strong>n Möglichkeiten gefragt, Personen<br />
für ein ehrenamtliches Engagement zu interessieren, nach Hin<strong>de</strong>rnissen,<br />
die einem solchen Engagement im Wege stehen, auftreten<strong>de</strong>n Konflikten zwischen<br />
Haupt und Ehrenamtlichen, nach <strong>de</strong>m Informationsaustausch zwischen<br />
<strong>de</strong>n einzelnen Arbeitskreisen/Projekten, <strong>de</strong>r Motivation von Ehrenamtlichen, <strong>de</strong>m<br />
Sinn und Nutzen ehrenamtlicher Tätigkeit für die Gewerkschaften und nach Zielgruppen,<br />
die für eine Ausweitung <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements in Frage<br />
kommen.<br />
Schwerpunkte <strong>de</strong>s Fragebogens Teil 2 waren u.a. nähere Angaben zum<br />
jeweiligen Projekt/Arbeitskreis, die Art <strong>de</strong>r Unterstützung <strong>de</strong>s Arbeitskreises/Projektes<br />
durch die Gewerkschaft, Aussagen zur Alters und Geschlechterstruktur<br />
<strong>de</strong>r Engagierten sowie zur Motivation <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen. Analog zu Teil<br />
1 wur<strong>de</strong> auch <strong>hier</strong> nach Erfahrungen und Einstellungen hinsichtlich <strong>de</strong>r Hin<strong>de</strong>rnisse,<br />
die einem ehrenamtlichen Engagement im Wege stehen, <strong>de</strong>s Informationsaustauschs<br />
zwischen Arbeitskreisen/Projekten und Konflikten zwischen Hauptund<br />
Ehrenamtlichen.<br />
Schwierigkeiten bei <strong>de</strong>r Suche nach neuen Formen ehrenamtlichen Engagements<br />
ergaben sich bereits bei <strong>de</strong>r Definition <strong>de</strong>r Begrifflichkeit. Die „Neue Eh<br />
16 Die Fragebögen sind im Anhang dokumentiert.
38 <br />
renamtlichkeit“, die es ja noch zu fin<strong>de</strong>n galt, wur<strong>de</strong> aus diesem Grun<strong>de</strong> vorläufig<br />
negativ <strong>de</strong>finiert: „Neue Ehrenamtlichkeit“wur<strong>de</strong> in Abgrenzung zum klassischen<br />
Ehrenamt innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaften beschrieben. Es wur<strong>de</strong> also nach ehrenamtlichen<br />
Tätigkeiten gefragt, die sich von <strong>de</strong>r traditionellen ehrenamtlichen gewerkschaftlichen<br />
Tätigkeit (Betriebs/Personalräte, Vertrauensleute) unterschie<strong>de</strong>n.<br />
Nach <strong>de</strong>r Erstellung <strong>de</strong>s Fragebogenentwurfs fand am 29.08. 2001 ein<br />
Workshop statt, an <strong>de</strong>m das Projektteam sowie Vertreter (Kontaktpersonen aus<br />
<strong>de</strong>n Vorstän<strong>de</strong>n) aller teilnehmen<strong>de</strong>n Gewerkschaften im Falle <strong>de</strong>r IGBCE ein<br />
lokaler Gewerkschaftsvertreter – und lokale Vertreterinnen <strong>de</strong>s DGB teilnahmen.<br />
Der Workshop diente u.a. dazu, <strong>de</strong>n Fragebogen mit Hilfe <strong>de</strong>r Gewerkschaftsvertreter/innen<br />
zu testen 17 , <strong>de</strong>n zeitlichen Rahmen und organisatorischen Ablauf <strong>de</strong>r<br />
Befragung festzulegen.<br />
Die Verteilung <strong>de</strong>r Fragebögen wur<strong>de</strong> folgen<strong>de</strong>rmaßen gehandhabt: Die<br />
Fragebögen, bestehend aus Teil 1 und Teil 2 sowie einer Projektskizze, wur<strong>de</strong>n<br />
zusammen mit einem Anschreiben <strong>de</strong>r Projektgruppe am 14.09.2001 an die Kontaktpartner<br />
in <strong>de</strong>n jeweiligen Gewerkschaften (IG Metall, ver.di, IG BAU, IGBCE)<br />
versandt. Diese leiteten die Fragebögen dann zusammen mit einem Anschreiben<br />
<strong>de</strong>s jeweiligen Gewerkschaftsvorstands an die Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftsstellenleiter<br />
weiter. Die Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftsstellenleiter<br />
wur<strong>de</strong>n gebeten, <strong>de</strong>n Fragebogen 2 an die Leiter je<strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Projekts bzw. Arbeitskreises weiterzuleiten.<br />
Der Rücklauf <strong>de</strong>r Fragebögen<br />
In die Auswertung wur<strong>de</strong>n alle auswertbaren Fragebögen einbezogen, die bis<br />
zum 31.01.2002 vorlagen. Der Rücklauf <strong>de</strong>r Fragebögen (vgl. Abb. 1), blieb allerdings<br />
hinter <strong>de</strong>n Erwartungen zurück. Im Nachhinein erscheint <strong>de</strong>r Weg, die Fragebögen<br />
über die Gewerkschaftsvorstän<strong>de</strong> zu versen<strong>de</strong>n, keine günstige Voraussetzung<br />
für einen entsprechen<strong>de</strong>n Rücklauf gewesen zu sein. Die Projektgruppe<br />
hat damit die Kontrolle über <strong>de</strong>n Ablauf <strong>de</strong>r Befragung aus <strong>de</strong>r Hand gegeben.<br />
Hierfür gab es zunächst gute Grün<strong>de</strong>. Auf <strong>de</strong>m vorbereiten<strong>de</strong>n Workshop versicherten<br />
die Gewerkschaftsvertreter, dass sie die Verbindlichkeit <strong>de</strong>r Befragung<br />
absichern und die Bereitschaft zur Mitwirkung erhöhen könnten. Doch es stellte<br />
sich heraus, dass <strong>de</strong>r Einfluss <strong>de</strong>r Vorstandsverwaltungen auf die regionalen Unterglie<strong>de</strong>rungen<br />
in dieser Hinsicht geringer ist als vermutet. Weiterhin traten unvorhergesehene<br />
Hin<strong>de</strong>rnisse auf. Die IGBCE konnte – aufgrund von Krankheitsund<br />
Urlaubszeiten – erst Mitte Dezember mit <strong>de</strong>m Versand <strong>de</strong>r Fragebögen beginnen,<br />
so dass <strong>hier</strong> die Zeit davonlief. Die Gewerkschaft ver.di befand sich gera<strong>de</strong><br />
in einem Umstrukturierungsprozess, so dass <strong>de</strong>r Fragebogen schlicht „unterging“.<br />
Die notwendigen Mahn und NachfassAktionen bei einer schriftlichen Befragung<br />
konnten aufgrund <strong>de</strong>s gewählten Vorgehens nicht von <strong>de</strong>r Forschungsgruppe<br />
durchgeführt wer<strong>de</strong>n. Von Seiten <strong>de</strong>r Vorstandsverwaltungen wur<strong>de</strong> in<br />
dieser Hinsicht jedoch offensichtlich nicht in ausreichen<strong>de</strong>r Systematik gehan<strong>de</strong>lt.<br />
Dies lässt sich anhand <strong>de</strong>r Erfahrungen in <strong>de</strong>r IG BAU ver<strong>de</strong>utlichen. Die <strong>hier</strong> zuständige<br />
Kontaktperson hat sämtliche Bezirksgeschäftstellen mehrfach an das<br />
17 Die Teilnehmer wur<strong>de</strong>n gebeten, <strong>de</strong>n Fragebogen selbst auszufüllen, bevor eine ausführliche<br />
ItemDiskussion durchgeführt wur<strong>de</strong>.
39 <br />
Ausfüllen <strong>de</strong>r Fragebögen erinnert und auch verloren gegangene Fragebögen<br />
nachgereicht. Prozentual ist <strong>de</strong>shalb bei <strong>de</strong>r IG BAU <strong>de</strong>r größte Rücklauf zu verzeichnen,<br />
aber er bleibt trotz<strong>de</strong>m noch unter 50%.<br />
Aus diesem Sachverhalt ergibt sich die Problematik, dass Vergleiche zwischen<br />
allen teilnehmen<strong>de</strong>n Gewerkschaften aufgrund <strong>de</strong>r Datenlage lei<strong>de</strong>r nicht<br />
möglich sind. Lediglich ein Vergleich zwischen IG BAU und IG Metall ist möglich<br />
und wird in diesem Kapitel im Anschluss an die Gesamtdarstellung auch durchgeführt.<br />
Abbildung 1: Rücklauf <strong>de</strong>r Fragebögen<br />
Gewerkschaft<br />
Bezirksgeschäftsstellen/<br />
Verwaltungsstellen<br />
auswertbare Fragebögen<br />
Teil 1<br />
Rücklauf in Prozent<br />
(Teil1)<br />
auswertbare<br />
Fragebögen Teil 2<br />
IG Metall 170 42 24,7% 61<br />
ver.di 120 5 6% 4<br />
IG BAU 60 28 46,7% 42<br />
IG BCE 55 9 16,4% 6<br />
405 84 20,8% 113<br />
Bei <strong>de</strong>r Interpretation <strong>de</strong>s Rücklaufs ist auch nicht zu unterschätzen, dass die Befragten<br />
mit <strong>de</strong>n Begrifflichkeiten <strong>de</strong>s Fragebogens Schwierigkeiten gehabt haben<br />
könnten. Während <strong>de</strong>s vorbereiten<strong>de</strong>n Workshops wur<strong>de</strong>n die Begriffe und Item<br />
Formulierungen zwar ausführlich mit <strong>de</strong>n Gewerkschaftsvertretern erörtert, doch<br />
scheint es bei <strong>de</strong>n Adressaten auf lokaler Ebene teilweise Verständnisschwierigkeiten<br />
gegeben zu haben. Ein Indiz <strong>hier</strong>für kann man in <strong>de</strong>r Tatsache sehen, dass<br />
durch die Befragten insbeson<strong>de</strong>re die „klassischen“Formen <strong>de</strong>s betrieblichen ehrenamtlichen<br />
Engagements aufgeführt wur<strong>de</strong>n. Die Begrifflichkeit scheint <strong>hier</strong><br />
nicht ausreichend <strong>de</strong>finiert bzw. abgegrenzt o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Befragten nicht hinreichend<br />
geläufig gewesen zu sein.<br />
Trotz nicht vorhan<strong>de</strong>ner Repräsentativität für die Gewerkschaften und <strong>de</strong>r<br />
nur bedingten Möglichkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, lassen sich jedoch<br />
Ten<strong>de</strong>nzen aufzeigen, auf welche im Folgen<strong>de</strong>n näher eingegangen wird. 18<br />
Gesamtauswertung über alle beteiligten Gewerkschaften<br />
2.1.1 Die Befragung <strong>de</strong>r Hauptamtlichen (Fragebogen Teil 1)<br />
Insgesamt lagen 84 auswertbare Fragebogen Teil 1 vor. Die Angaben erfolgten<br />
i.d.R. durch <strong>de</strong>n jeweiligen Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftsstellenleiter.<br />
18<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich um eine <strong>de</strong>skriptivstatistische Auswertung. Auf weiterreichen<strong>de</strong> statistische<br />
Verfahren wur<strong>de</strong> verzichtet, weil von vorne herein lediglich eine beschreiben<strong>de</strong> Darstellung<br />
angestrebt wur<strong>de</strong>. Die Auswertung erfolgt <strong>de</strong>shalb vorwiegend unter Zuhilfenahme absoluter Häufigkeiten,<br />
relativer Häufigkeiten und Maßzahlen <strong>de</strong>r zentralen Ten<strong>de</strong>nz (Modus, Median, arithmetisches<br />
Mittel). Unter Modus (o<strong>de</strong>r auch Modalwert) ist <strong>de</strong>r am häufigsten vorkommen<strong>de</strong> Wert einer<br />
Verteilung zu verstehen. Der Median, vorwiegend im Falle ordinal skalierter Daten angewandt<br />
(z.B. Antwortskala: „trifft voll und ganz zu“bis „trifft überhaupt nicht zu“), gibt jenen Punkt auf <strong>de</strong>r<br />
Messskala an, an <strong>de</strong>m sich eine Häufigkeitsverteilung in zwei gleich große Hälften teilt.
40 <br />
Bereiche „neuen“ehrenamtlichen Engagements<br />
Die häufigsten Nennungen von Arbeitskreisen/Projekten „neuen ehrenamtlichen<br />
Engagements“fin<strong>de</strong>n sich im Bereich <strong>de</strong>r Seniorenarbeit. So geben mehr als vier<br />
Fünftel <strong>de</strong>r Befragten an, diese seien im Bereich ihrer Bezirksgeschäftsstelle/Verwaltungsstelle<br />
vorhan<strong>de</strong>n. Als weitere wichtige Bereiche „neuen ehrenamtlichen<br />
Engagements“wer<strong>de</strong>n „Jugend und Frauenarbeit“genannt. „Wohngebietsarbeit“und<br />
„Arbeit mit Erwerbslosen“vereinen die geringsten Nennungen auf<br />
sich, sind aber mit 22,2% und 21% <strong>de</strong>nnoch recht stark vertreten (vgl. Abb. 2).<br />
Die hohe Besetzung <strong>de</strong>r Kategorie „Sonstige Formen“lässt sich dadurch erklären,<br />
dass die traditionellen, betriebsbezogenen ehrenamtlichen Tätigkeiten, die von<br />
<strong>de</strong>n Befragten angegeben wur<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>r Forschungsgruppe unter diese Kategorie<br />
subsumiert wur<strong>de</strong>. Nur vereinzelt wer<strong>de</strong>n <strong>hier</strong> Engagementbereiche genannt,<br />
die Charakteristika <strong>de</strong>s „neuen Ehrenamtes“aufweisen (z. B. „Redaktionsteam<br />
Homepage“in Braunschweig).<br />
Abb. 2: Tätigkeitsbereiche „neuen“ehrenamtlichen Engagements in Verwaltungsstellen<br />
(Mehrfachnennungen waren möglich)<br />
Tätigkeitsbereiche in Verwaltungsstellen<br />
Verwaltungsstellen in<br />
Prozent<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
84<br />
50,6 49,3<br />
Senioren Sonstiges Jugend Frauen Arbeit mit<br />
Erwerbslosen<br />
Bereich<br />
37<br />
22,2 21<br />
Wohngebietsarbeit<br />
Je<strong>de</strong> Verwaltungsstelle/Bezirksgeschäftsstelle führt zwischen null und fünf Arbeitskreise<br />
/ Projekte „neuen ehrenamtlichen Engagements“auf. 29,5% <strong>de</strong>r Verwaltungsstellen/Bezirksgeschäftsstellen<br />
benennen drei Arbeitskreise / Projekte,<br />
9,6% können gar kein Arbeitskreis/Projekt nennen und 8% geben fünf Arbeitskreise<br />
/ Projekte an(vgl. Abb. 3). 86% dieser Arbeitskreise / Projekte wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r<br />
außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit verortet, und <strong>hier</strong> vor allem in <strong>de</strong>r Seniorenarbeit.<br />
Seniorenarbeit fin<strong>de</strong>t häufig im Wohngebiet statt. An<strong>de</strong>rs gesagt, die<br />
gewerkschaftliche „Wohngebietsarbeit“wird hauptsächlich von Senioren getragen.<br />
Die hohe Nennung <strong>de</strong>r Seniorenarbeit bei <strong>de</strong>n Tätigkeitsbereichen korreliert<br />
mit <strong>de</strong>r hohen Zuordnung <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte zur außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit.
41 <br />
Abb. 3: Anzahl <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte neuen ehrenamtlichen Engagements<br />
je Verwaltungsstelle<br />
Anzahl aufgeführter Projekte je Verwaltungsstelle<br />
Häufigkeit in Prozent<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
9,8<br />
17,1<br />
24,4<br />
29,3<br />
11<br />
8,5<br />
0<br />
Anzahl Projekte<br />
Gefragt wur<strong>de</strong> auch nach zukünftig geplanten Arbeitskreisen/Projekten.<br />
Fast ein Drittel <strong>de</strong>r Verwaltungsstellen/Bezirksgeschäftsstellen plant ein neues<br />
Projekt. Zwei o<strong>de</strong>r mehr neue Arbeitskreise / Projekte wer<strong>de</strong>n von 16% <strong>de</strong>r Verwaltungsstellen/Bezirksgeschäftsstellen<br />
geplant. Je<strong>de</strong> zweite Verwaltungsstelle/Bezirksgeschäftsstelle<br />
machte keine Angaben zu zukünftig geplanten Arbeitskreisen/Projekten.<br />
Einbringen von Projekten<br />
Die Frage nach <strong>de</strong>m Einbringen neuer Arbeitskreise / Projekte sollte zeigen,<br />
wie weit ehrenamtlich Engagierte <strong>de</strong>n institutionellen Rahmen <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
nutzen, um eigene Arbeitskreise / Projekte zu initiieren. Eingebracht wer<strong>de</strong>n<br />
Arbeitskreise / Projekte nahezu ausschließlich von Hauptamtlichen (48%)<br />
bzw. von Haupt und Ehrenamtlichen gemeinsam (45%). Projekte, die auf die Initiative<br />
von Ehrenamtlichen zurückgehen, spielen <strong>hier</strong> eine eher unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />
Rolle (6%). Kooperationspartner erreichen gera<strong>de</strong> mal 1%. Dies muss nicht nur<br />
an <strong>de</strong>r Einfallslosigkeit <strong>de</strong>r ehrenamtlich Engagierten liegen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>utet eher<br />
auf die strukturellen Bedingungen <strong>de</strong>r Gewerkschaften hin. Wenn man be<strong>de</strong>nkt,<br />
dass viele <strong>de</strong>r ehrenamtlichen Senioren oft auch hauptamtlich in <strong>de</strong>n Gewerkschaften<br />
tätig waren, so relativieren sich die 6% <strong>de</strong>r eingebrachten Projekte durch<br />
Ehrenamtliche. Man kann also davon ausgehen, dass die eingebrachten Arbeitskreise<br />
/ Projekte nicht nahezu, son<strong>de</strong>rn ausschließlich von Hauptamtlichen bzw.<br />
ehemaligen Hauptamtlichen eingebracht wer<strong>de</strong>n. Die Unterscheidung zwischen<br />
Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen bekommt unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt <strong>de</strong>s Ruhestan<strong>de</strong>s<br />
eine an<strong>de</strong>re Gewichtung.<br />
Konflikte beim Aufbau von Arbeitskreisen/ Projekten<br />
Konflikte zwischen haupt und ehrenamtlichen Kollegen treten beim Aufbau neuer<br />
Arbeitskreise / Projekte nur selten o<strong>de</strong>r gar nicht auf. Lediglich gut ein Zehntel <strong>de</strong>r
42 <br />
Befragten gibt an, dass es „häufig“o<strong>de</strong>r „sehr häufig“zu Konflikten kommt (vgl.<br />
Abb. 4).<br />
Abb. 4: Konflikthäufigkeit zwischen Haupt und Ehrenamtlichkeit beim Aufbau von<br />
Arbeitskreisen / Projekten<br />
Die Befragten wur<strong>de</strong>n weiterhin gebeten, die Art <strong>de</strong>r Konflikte – wenn diese<br />
auftreten – kurz zu beschreiben. Das Spektrum dieser Angaben ist breit gefächert,<br />
kann jedoch in einige Kernpunkte gruppiert wer<strong>de</strong>n: Am häufigsten wur<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Umstand erwähnt, dass es bei <strong>de</strong>n Ehrenamtlichen eine zu große Erwartungshaltung<br />
in bezug auf die <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte gebe. Außer<strong>de</strong>m seien<br />
unterschiedliche Auffassungen über Kompetenzen, Verantwortlichkeiten und generelle<br />
Verständigungsprobleme zwischen Haupt und Ehrenamtlichen als häufige<br />
Konfliktursache zu sehen. Auch wur<strong>de</strong> mehrfach angemerkt, dass zwar ein großes<br />
Engagement von Ehrenamtlichen bei <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>enfindung für neue Arbeitskreise<br />
/ Projekte existiert, dieses bei <strong>de</strong>r Umsetzung aber nicht mehr in gleichem Maße<br />
vorhan<strong>de</strong>n sei. Diese Beobachtungen führten dann bei <strong>de</strong>n Hauptamtlichen oft<br />
zur Reserviertheit gegenüber <strong>de</strong>n Projektvorschlägen und Wünschen seitens <strong>de</strong>r<br />
Ehrenamtlichen, weil letzten En<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Hauptteil <strong>de</strong>r Arbeit auf ihnen laste. Als<br />
weitere Probleme wer<strong>de</strong>n die Absprache von Terminen, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Wahrnehmung<br />
dieser Termine verbun<strong>de</strong>ne Zeitaufwand und generell die Verbindlichkeit<br />
von Terminabsprachen genannt. Angegeben wird auch, dass <strong>de</strong>r investierte Zeitaufwand<br />
zum gegenseitigen Vorwurf wer<strong>de</strong>. Das <strong>de</strong>utet darauf hin, dass sich die<br />
Hauptamtlichen überlastet fühlen bei gleichzeitiger unsteter Zeiteinteilung durch<br />
die Ehrenamtlichen. Umgekehrt ist <strong>hier</strong> ein Gefühl <strong>de</strong>r Nichtanerkennung <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen<br />
durch die Hauptamtlichen zu vermuten. Dass <strong>hier</strong>durch vielleicht<br />
auch ein Druck auf die Ehrenamtlichen entsteht, ist <strong>de</strong>r Anmerkung auf einem<br />
Fragebogen zu entnehmen, dass sich viele Ehrenamtliche „genötigt sähen“, sich<br />
entsprechend zu engagieren. Konflikte entstehen laut <strong>de</strong>n Befragten aber auch<br />
durch die Sicht auf die Arbeitsmöglichkeiten von ehrenamtlich Engagierten sowie<br />
durch Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten über die Anbindung von Projekten. Schließlich<br />
wird auch erwähnt, dass die Befürchtung von hauptamtlichen Mitarbeitern, ihre
43 <br />
Rolle o<strong>de</strong>r ihren Job zu verlieren, Konfliktpotential berge. Auch dies dürfte zu Reserviertheiten<br />
gegenüber <strong>de</strong>n ehrenamtlich Engagierten führen.<br />
Scheitern von Arbeitskreisen / Projekten<br />
Das Scheitern von Arbeitskreisen / Projekten ist laut <strong>de</strong>r Mehrheit <strong>de</strong>r Befragten<br />
„selten“<strong>de</strong>r Fall. Es geschieht vorwiegend aus personellen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Grün<strong>de</strong>n,<br />
nicht jedoch aus finanziellen Grün<strong>de</strong>n. Als Zeitpunkt <strong>de</strong>s Scheiterns wer<strong>de</strong>n<br />
in ähnlichem Maße sowohl die Planungs als auch die Projektphase angegeben.<br />
Die angegebene Anzahl von Projekten ohne Erfolg je Verwaltungsstelle ist Abbildung<br />
5 zu entnehmen.<br />
Abb. 5: Anzahl von Arbeitskreisen/Projekten ohne Erfolg je Verwaltungsstelle<br />
Informationsaustausch<br />
Abb.6: Informationsaustausch zwischen Arbeitskreisen/Projekten<br />
Das Vorhan<strong>de</strong>nsein eines Informationsaustausches zwischen neuen ehrenamtlichen<br />
Arbeitskreisen/Projekten hängt vor allem von <strong>de</strong>r organisatorischen<br />
Nähe zwischen diesen ab. So geben beinahe vier Fünftel <strong>de</strong>r Befragten an, dass<br />
es einen Informationsaustausch zwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Arbeitskreisen /<br />
Projekten <strong>de</strong>r jeweiligen Verwaltungsstelle gebe. Für <strong>de</strong>n Austausch mit Arbeitskreisen<br />
/ Projekten an<strong>de</strong>rer Verwaltungsstellen beträgt das Ausmaß nur noch ein
44 <br />
Fünftel, für <strong>de</strong>n Austausch mit nicht gewerkschaftlichen Projekten gar nur ein<br />
Zehntel (vgl. Abb. 6).<br />
Zwei Drittel <strong>de</strong>r Befragten sind <strong>de</strong>r Meinung, dass <strong>de</strong>r Informationsaustausch<br />
durch die Gewerkschaft geför<strong>de</strong>rt wird, während nur je<strong>de</strong>r Zehnte <strong>de</strong>r Meinung<br />
ist, dies sei „eher nicht“o<strong>de</strong>r „überhaupt nicht“<strong>de</strong>r Fall.<br />
Formen „neuer Ehrenamtlichkeit“<br />
Die Befragten sehen auf Seiten <strong>de</strong>r Gewerkschaften noch große Potentiale<br />
für eine stärkere Unterstützung von ehrenamtlichen Arbeitskreisen/ Projekten. Nur<br />
ein Fünftel meint, dies treffe „eher nicht“o<strong>de</strong>r „überhaupt nicht“zu. Hieraus lässt<br />
sich schlussfolgern, dass <strong>de</strong>r Grossteil <strong>de</strong>r Befragten Ressourcen und Reserven<br />
sieht, die für eine Unterstützung ehrenamtlicher Tätigkeit herangezogen wer<strong>de</strong>n<br />
könnten. Das ehrenamtliche Engagement in <strong>de</strong>n Gewerkschaften wird dabei generell<br />
als sinnvoll betrachtet, und ihrer För<strong>de</strong>rung und Ausweitung wer<strong>de</strong>n günstige<br />
Effekte zugeschrieben. So ist gut ein Drittel <strong>de</strong>r Befragten <strong>de</strong>r Ansicht, dass<br />
mit „neuen ehrenamtlichen Tätigkeiten“auch neue Mitglie<strong>de</strong>r für die Gewerkschaft<br />
gewonnen wer<strong>de</strong>n können. Weiterhin ist immerhin beinahe je<strong>de</strong>r zweite Befragte<br />
<strong>de</strong>r Meinung, dass mit „neuen ehrenamtlichen Tätigkeiten“Austritte aus <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Auch eine Stärkung <strong>de</strong>s politischen Einflusses <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaften wird durch „neue ehrenamtliche Tätigkeiten“erwartet. Insbeson<strong>de</strong>re<br />
wer<strong>de</strong>n „neuen ehrenamtlichen Tätigkeiten“positive Auswirkungen auf das<br />
Image <strong>de</strong>r Gewerkschaft zugeschrieben. Nur 5% sind <strong>de</strong>r Meinung, dass GewerkschaftsImage<br />
wer<strong>de</strong> <strong>hier</strong>durch nicht verbessert (vgl. Abb. 7).<br />
Bei je<strong>de</strong>m dritten Befragten herrscht dagegen die Meinung vor („es trifft<br />
eher/voll und ganz zu“), man sollte die Aufmerksamkeit lieber auf die betriebliche<br />
Gewerkschaftsarbeit konzentrieren, anstatt „neuen ehrenamtlichen Tätigkeiten“<br />
zuviel Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Abb. 8)<br />
Abb. 8: Schwerpunktsetzung auf betriebli<br />
Gewerkschaftsarbeit<br />
Abb. 7: Verbesserung <strong>de</strong>s GewerkschaftsImages<br />
che durch Ehrenamtsför<strong>de</strong>rung<br />
Insgesamt lässt sich daran ablesen, dass die Mehrheit <strong>de</strong>r Befragten ehrenamtlicher<br />
Tätigkeit als auch „neuer ehrenamtlicher Tätigkeit“positiv gegenüberstehen<br />
und sich daraus auf verschie<strong>de</strong>nen Ebenen <strong>de</strong>r Gewerkschaftsarbeit<br />
einen Nutzen versprechen (vgl. Abb. 9).
45 <br />
Abb.9: Auswirkungen Neuer ehrenamtlicher Tätigkeiten<br />
Gewinnung von Ehrenamtlichen<br />
Von <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Möglichkeiten, Personen für eine ehrenamtliche<br />
Tätigkeit in <strong>de</strong>r Gewerkschaft zu interessieren, sollten die Befragten die – aus ihrer<br />
Sicht – drei wichtigsten nennen, die erfolgreich in ihrer Arbeit genutzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Lei<strong>de</strong>r hat sich nur eine Min<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Befragten daran gehalten, lediglich die drei<br />
wichtigsten Möglichkeiten zu nennen, so dass die Auswertung sich <strong>hier</strong> problematisch<br />
gestaltet, aber <strong>de</strong>nnoch Ten<strong>de</strong>nzen abzulesen sind.<br />
Abb.10: Möglichkeiten <strong>de</strong>r Gewinnung Ehrenamtlicher<br />
(Mehrfachnennungen waren möglich)<br />
Als wichtigste Mittel zur Gewinnung neuer Ehrenamtlicher sind die klassischen<br />
Formen „persönliche Ansprache“, gefolgt von „Betriebsräten/Vertrauensleuten“<br />
und „Seminare/Schulungen“zu nennen. Die geringste Rolle bei <strong>de</strong>r Werbung<br />
neuer Ehrenamtlicher spielen „Wohngebietsarbeit“und das „Internet“(vgl. Abb.<br />
10). Lediglich ein Befragter gibt an, es wer<strong>de</strong> nicht explizit versucht, Ehrenamtli
46 <br />
che zu gewinnen. Im Vor<strong>de</strong>rgrund steht also <strong>de</strong>r persönliche Kontakt, wobei es<br />
<strong>hier</strong>bei Überschneidungen gibt – persönliche Ansprache kann im Rahmen von<br />
Seminaren o<strong>de</strong>r durch Betriebsräte und Vertrauensleute erfolgen. Das Ausmaß<br />
<strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit muss in diesem Zusammenhang höher gewichtet wer<strong>de</strong>n,<br />
weil bislang nur die IG Metall mit dieser Bezeichnung operiert. Auch das Ausmaß<br />
<strong>de</strong>r Rekrutierung durch das Internet wird durch das Angebot bestimmt. Während<br />
die Befragten <strong>de</strong>r IG BAU <strong>hier</strong>zu keine Angaben machen, beläuft sich <strong>de</strong>r Wert<br />
bei <strong>de</strong>r IG Metall auf 22,5%.<br />
Für die Gewinnung von Ehrenamtlichen sind jedoch nicht nur die Form <strong>de</strong>r<br />
Ansprache und <strong>de</strong>r Erstkontakt von Be<strong>de</strong>utung, son<strong>de</strong>rn auch die Möglichkeiten,<br />
die potentiellen Engagierten geboten wer<strong>de</strong>n, wenn sie sich für ein ehrenamtliches<br />
Engagement interessieren. Das Interesse gilt <strong>hier</strong> insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Offenheit<br />
und Flexibilität <strong>de</strong>r Gewerkschaften hinsichtlich ehrenamtlicher Arbeit in Arbeitskreisen<br />
/ Projekten. Laut Angaben <strong>de</strong>r Befragten wird Interessierten in sehr<br />
großem Maße ermöglicht, sich in bereits bestehen<strong>de</strong>n Projektgruppen zu engagieren,<br />
neue Projektvorschläge einzubringen, eigene I<strong>de</strong>en umzusetzen o<strong>de</strong>r ein<br />
befristetes Engagement aufzunehmen.<br />
Gruppen für die Ausweitung ehrenamtlichen Engagements<br />
Abb.11: Geeignete Gruppen für eine Ausweitung ehrenamtlichen Engagements<br />
Für eine Ausweitung ehrenamtlichen Engagements in <strong>de</strong>n Gewerkschaften erscheinen<br />
<strong>de</strong>n Befragten die Gruppe <strong>de</strong>r Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>r Senioren<br />
am geeignetsten. Bei dieser Aussage ist zu be<strong>de</strong>nken, dass die meisten genannten<br />
Arbeitskreise / Projekte im Seniorenarbeitsbereich zu verzeichnen sind.<br />
Bemerkenswert ist, dass „Schüler/Stu<strong>de</strong>nten“ und „Nicht<br />
Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r“als am wenigsten geeignet eingeschätzt wer<strong>de</strong>n. Bei<strong>de</strong>n<br />
Gruppen wird ten<strong>de</strong>nziell zugeschrieben, für ein ehrenamtliches Engagement<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaften eher nicht geeignet zu sein. So befin<strong>de</strong>t beispielsweise<br />
beinahe je<strong>de</strong>r zweite Befragte NichtGewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r als „weniger“
47 <br />
o<strong>de</strong>r “gar nicht“geeignet. Bei <strong>de</strong>r Kategorie „Schüler/Stu<strong>de</strong>nten“ist in Betracht zu<br />
ziehen, dass die herangezognen Daten fast ausschließlich auf die IGMetall und<br />
die IG BAU rekurrieren (vgl. Abb. 11).<br />
Was hin<strong>de</strong>rt an <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit?<br />
Einen zentralen Aspekt im Rahmen <strong>de</strong>r Befragung stellt die Frage nach<br />
<strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n dar, die <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Rahmen<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaft hin<strong>de</strong>rlich sind. Die Auswahl <strong>de</strong>r Items orientierte sich <strong>hier</strong>bei<br />
an <strong>de</strong>n wesentlichen Studien zur Thematik und wür<strong>de</strong> eine vergleichen<strong>de</strong> Sicht<br />
zulassen.<br />
Als größte Hür<strong>de</strong> wird <strong>de</strong>r Zeitaspekt („erhalten keine Freistellungsmöglichkeit“und<br />
„sind nicht bereit, Zeit dafür aufzuwen<strong>de</strong>n“) gesehen. Doch auch die fehlen<strong>de</strong><br />
Beschäftigung mit <strong>de</strong>r Thematik ehrenamtlicher Tätigkeit („haben noch nicht<br />
darüber nachgedacht“) und die fehlen<strong>de</strong> aktive Ansprache potentieller Ehrenamtlicher<br />
(„sie wer<strong>de</strong>n nicht angesprochen“) wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Befragten als wichtige<br />
Grün<strong>de</strong> angesehen, die die Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit behin<strong>de</strong>rn.<br />
Abb.12: Hin<strong>de</strong>rnisse bezüglich <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Rahmen <strong>de</strong>r Gewerkschaft
48 <br />
Die angesprochenen Grün<strong>de</strong> weisen auf eine Kritik <strong>de</strong>r Befragten an <strong>de</strong>n<br />
vorhan<strong>de</strong>nen Rahmenbedingungen und auf Schwierigkeiten bei <strong>de</strong>r Motivation<br />
von Ehrenamtlichen hin. Keine Rolle scheinen hingegen finanzielle, i<strong>de</strong>ologische<br />
und politische Aspekte zu spielen. Auch bisherige schlechte Erfahrungen auf <strong>de</strong>m<br />
Feld ehrenamtlichen Engagements wer<strong>de</strong>n nicht als gewichtiger Grund i<strong>de</strong>ntifiziert.<br />
Ein fehlen<strong>de</strong>r Versicherungsschutz wird ebenfalls nicht als Hin<strong>de</strong>rnis angesehen<br />
(vgl. Abb. 12).<br />
2.3.2 Die Befragung <strong>de</strong>r Projektleiter (Fragebogen Teil 2)<br />
Wie bereits angesprochen, wur<strong>de</strong>n die Fragebogen Teil 2 durch <strong>de</strong>n jeweiligen<br />
Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftstellenleiter an die entsprechen<strong>de</strong>n Arbeitskreise<br />
/ Projekte „neuen ehrenamtlichen Engagements“in seinem Verwaltungsbereich<br />
weitergeleitet. Insgesamt wur<strong>de</strong>n 113 auswertbare Fragebögen Teil<br />
2 zurück gesen<strong>de</strong>t.<br />
Bis auf einen Befragten sind alle an<strong>de</strong>ren Arbeitskreis/ Projektleiter Mitglied<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaft und mit überwiegen<strong>de</strong>r Mehrheit selbst ehrenamtlich tätig.<br />
Weniger als ein Drittel von ihnen ist hauptamtlich im Projekt/Arbeitskreis beschäftigt.<br />
Vier Fünftel <strong>de</strong>r Befragten sind Männer, 60% <strong>de</strong>r Befragten sind erwerbstätig.<br />
Tätigkeitsbereiche <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte<br />
Die Arbeitskreise / Projekte sind überwiegend unter <strong>de</strong>r Verantwortung eines<br />
hauptamtlichen gewerkschaftlichen Mitarbeiters organisiert. Sie sind mehrheitlich<br />
im Bereich „Senioren“tätig (vgl. Abb. 13). Wie<strong>de</strong>rum ist <strong>de</strong>r hohe Anteil <strong>de</strong>r Kategorie<br />
„Sonstiges“mit <strong>de</strong>n klassischen Formen ehrenamtlicher Tätigkeiten zu erklären,<br />
die nicht Gegenstand <strong>de</strong>r Untersuchung waren.<br />
Abb.13: Tätigkeitsbereiche <strong>de</strong>r Arbeitskreise/Projekte<br />
Die Verortung <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte spiegelt eine ähnliche Verteilung wi<strong>de</strong>r<br />
wie in Teil 1 <strong>de</strong>s Fragebogens. Der hohe Anteil <strong>de</strong>s Seniorenbereiches ist möglicherweise<br />
<strong>de</strong>m Unstand geschul<strong>de</strong>t, dass die Weiterleitung <strong>de</strong>s Fragebogens Teil<br />
2 in stärkerem Maße an SeniorenArbeitskreise / Projekte erfolgte, weil die zentra
49 <br />
le Verschickung <strong>de</strong>n jeweiligen Seniorenbeauftragten <strong>de</strong>r einzelnen Gewerkschaften<br />
oblag.<br />
Sozio<strong>de</strong>mographische Merkmale <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen<br />
Die in <strong>de</strong>n Arbeitskreisen / Projekten ehrenamtlich Engagierten sind überwiegend<br />
männlich (82%) und nicht erwerbstätig (69%, vgl.. Abb.14 und 15). Bis<br />
auf vier Ehrenamtliche sind die in <strong>de</strong>n Arbeitskreisen / Projekten Tätigen auch<br />
Mitglied <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Diesen Angaben liegt <strong>hier</strong> nicht die Anzahl <strong>de</strong>r Befragten,<br />
son<strong>de</strong>rn die Anzahl <strong>de</strong>r durch die Befragten aufgeführten ehrenamtlichen<br />
Mitarbeiter <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte zugrun<strong>de</strong>.<br />
Abbildung 14: Ehrenamtliche nach Geschlecht<br />
Abb. 15: Ehrenamtliche nach Erwerbsstatus<br />
Die Altersstruktur <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen zeigt ein klares Übergewicht <strong>de</strong>r Alterskohorte<br />
„60 und älter“. Hierin – wie auch beim Erwerbsstatus – spiegelt sich<br />
die Tatsache wi<strong>de</strong>r, dass <strong>de</strong>r überwiegen<strong>de</strong> Teil <strong>de</strong>r erfassten Arbeitskreise / Projekte<br />
im Bereich <strong>de</strong>r Seniorenarbeit angesie<strong>de</strong>lt ist (vgl. Abb. 16).
50 <br />
Abb.16: Altersstruktur <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen<br />
Ziele und Zielgruppen<br />
Die Befragten wur<strong>de</strong>n neben <strong>de</strong>r Zuordnung <strong>de</strong>s eigenen Arbeitskreises/Projektes<br />
gebeten, Zielgruppen zu benennen, die mit ihrer Arbeit erreicht<br />
wer<strong>de</strong>n sollen und/o<strong>de</strong>r die eventuell als potentiell ehrenamtlich Engagierte in<br />
Frage kommen.<br />
Da diese Abfrage mittels „offener“Fragen erfolgte, ist die Streuung <strong>de</strong>r jeweiligen<br />
Zuordnungen auch recht breit. Die Fragen wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Mehrheit <strong>de</strong>r Befragten<br />
beantwortet, lediglich zehn Arbeitskreise / Projekte antworteten nicht (8,8%.). Als<br />
häufigste Zielgruppen wer<strong>de</strong>n Senioren, Jugendliche, Erwerbslose und Frauen<br />
genannt (in dieser Reihenfolge). Am ein<strong>de</strong>utigsten dominieren <strong>hier</strong> die Senioren,<br />
gefolgt von <strong>de</strong>n Jugendlichen. Das überrascht nicht, wenn man beachtet, dass<br />
86% <strong>de</strong>r angegebenen Arbeitskreise / Projekte in <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit<br />
tätig sind. Allerdings ist wie<strong>de</strong>r die Dominanz <strong>de</strong>r Senioren zu berücksichtigen,<br />
die in <strong>de</strong>n <strong>hier</strong> angegebenen Arbeitskreisen / Projekten überwiegen<br />
wie auch in <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Wohngebietsarbeit.<br />
Auch <strong>de</strong>r dominieren<strong>de</strong> Anteil <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte, die darauf zielen,<br />
Mitglie<strong>de</strong>r zu gewinnen, zu halten und zu betreuen, erscheint <strong>hier</strong> folgerichtig.<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich also um die klassischen Personengruppen, die über die betriebliche<br />
Gewerkschaftsarbeit noch nicht o<strong>de</strong>r nicht mehr erreichbar sind (Jugendliche<br />
und Senioren). Auch Frauen und Erwerbslose stellen einen relativ hohen Anteil<br />
als Zielgruppe dar. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r<br />
erwerbslosen Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn stark angestiegen<br />
ist. So liegt <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r erwerbslosen Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r im IG<br />
Metall Bezirk Küste bei 15%, nur 3% weniger als <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Senioren. In Bran<strong>de</strong>nburgSachsen<br />
liegt <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r erwerbslosen Mitglie<strong>de</strong>r gar bei 28%. Dagegen<br />
machen im Bezirk Ba<strong>de</strong>nWürttemberg die erwerbslosen Mitglie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r IG
51 <br />
Metall nur 6% aus. 19 Da Erwerbslose nicht mehr in einem betrieblichen Zusammenhang<br />
eingebun<strong>de</strong>n sind, können diese auch nur über die außerbetriebliche<br />
Gewerkschaftsarbeit erreicht wer<strong>de</strong>n. Außer<strong>de</strong>m bedarf es <strong>hier</strong> spezieller Beratungs<br />
und Informationsangebote, um diese zu „halten“o<strong>de</strong>r zu gewinnen. Als<br />
weitere Zielgruppen wer<strong>de</strong>n Beschäftigte kleiner und mittlerer Handwerksbetriebe<br />
genannt, sowie Mitglie<strong>de</strong>r (ganz allgemein), die nicht über Betriebsräte zu erreichen<br />
sind und Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>. Zuletzt beziehen sich die Bemühungen <strong>de</strong>r Arbeitskreise<br />
/ Projekte auf Funktionäre, Nichtorganisierte und aktive Vertrauensleute.<br />
In diesem Zusammenhang wur<strong>de</strong> mit einer weiteren Frage nach <strong>de</strong>n Zielen<br />
<strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte gefragt. Diese Frage wur<strong>de</strong> von lediglich vier Arbeitskreisen<br />
/ Projekten (3,5%) nicht ausgefüllt. An erster Stelle dominierte <strong>hier</strong> das<br />
Ziel, Mitglie<strong>de</strong>r zu werben, zu rekrutieren und zu „halten“. Häufig wird auch die<br />
Intention erwähnt, Mitglie<strong>de</strong>r zu informieren. Vor allem zu gewerkschafts und tarifpolitischen,<br />
aber auch zu allgemeinpolitischen Themen. Ebenfalls häufig wird<br />
Mitglie<strong>de</strong>rbetreuung und Bildungsarbeit bzw. Fortbildung genannt. Diese Beschreibungen<br />
sind allgemein gehalten und können <strong>de</strong>mzufolge auch Themen <strong>de</strong>r<br />
folgen<strong>de</strong>n Zielbeschreibungen implizieren.<br />
Mehrere Arbeitkreise/Projekte geben ihre Ziele in <strong>de</strong>r Beratung von Mitglie<strong>de</strong>rn,<br />
<strong>de</strong>r Mobilisierung von Mitglie<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>r Unterstützung von sozialen und politischen<br />
Aktivitäten, <strong>de</strong>r Organisation von Freizeitgestaltung, <strong>de</strong>m Vermitteln von Veranstaltungsbesuchen<br />
und von Computerwissen an. Diese Ziele liegen sowohl im<br />
Bereich politischer Aktivitäten als auch <strong>de</strong>r beruflichen Weiterqualifizierung und<br />
sind verbun<strong>de</strong>n mit Freizeitangeboten. Einige <strong>de</strong>r Befragten geben an, dass es<br />
ihnen um die Schaffung von Ausbildungsplätzen, um Informationen über verschie<strong>de</strong>ne<br />
Arbeitszeitformen und um die Verbesserung <strong>de</strong>r kulturellen und sozialen<br />
Lage von Mitglie<strong>de</strong>rn gehe. Betrachtet man die von <strong>de</strong>n Befragten am häufigsten<br />
erwähnten Ziele ihrer Arbeitskreise / Projekte, so lässt sich unschwer ein Zusammenhang<br />
zu <strong>de</strong>n meisten erwähnten Zielgruppen herstellen.<br />
Frequenz und Orte von Arbeitstreffen<br />
Abb.17: Ort <strong>de</strong>r Arbeitstreffen<br />
19 Quelle: IGMetall, Vorstandsbereich 09, Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit, Stand Juli 2001
52 <br />
Regelmäßige Arbeitstreffen fin<strong>de</strong>n in mehr als 90 Prozent aller Arbeitskreise /<br />
Projekte statt. Ort dieser Treffen sind hauptsächlich Gewerkschaftsräume, teilweise<br />
auch angemietete Räume o<strong>de</strong>r Räume öffentlicher Einrichtungen (vgl.<br />
Abb.:17).<br />
Unterstützung<br />
Bis auf wenige Ausnahmen können alle Arbeitskreise / Projekte – von <strong>de</strong>nen<br />
übrigens mehr als je<strong>de</strong>s zweite voll finanziert wird (vgl. Abb. 18) – auf Dienstleistungen<br />
durch die Gewerkschaft (Postversand, Kopierarbeiten etc.) und Sachleistungen<br />
(Computer, Telefon, Bürobedarf etc.) zurückgreifen. Aufwandsentschädigungen<br />
für die ehrenamtlichen Tätigkeiten wer<strong>de</strong>n laut 40% <strong>de</strong>r Befragten<br />
gewährt.<br />
Insgesamt gesehen wird die Unterstützung <strong>de</strong>r Gewerkschaft überwiegend<br />
als „gut“ eingeschätzt. Lediglich vier Prozent bezeichnen diese als „unzureichend“.<br />
Abb.18: Finanzierung <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte<br />
Arten <strong>de</strong>r Anerkennung<br />
Etwa je<strong>de</strong>r zweite Befragte gibt an, dass es Anerkennungen für die geleistete<br />
ehrenamtliche Arbeit gebe. Am häufigsten wird die i<strong>de</strong>elle Würdigung ehrenamtlichen<br />
Engagements benannt. Darunter sind zu verstehen: Auszeichnungen,<br />
Gratulationen, Belobigungen und öffentliche Anerkennung. Recht oft wer<strong>de</strong>n auch<br />
Essen und Geschenke als Form <strong>de</strong>r Anerkennung erwähnt. Ein kleinerer Teil gibt<br />
Feste, Fahrten, Gruppenreisen und Prämien an. Am geringsten wer<strong>de</strong>n Qualifikationen,<br />
Seminare sowie Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Arbeit und gegenseitige Anerkennung erwähnt.<br />
Die Frage nach <strong>de</strong>r Anerkennung ehrenamtlichen Engagements zielte auf<br />
<strong>de</strong>n IstZustand, nicht auf die Wünsche o<strong>de</strong>r Präferenzen <strong>de</strong>r ehrenamtlich Engagierten.<br />
Diese Benennungen heben also auf Arten <strong>de</strong>r Anerkennung ab, die die<br />
Gewerkschaften gegenwärtig für geeignet halten, weniger auf die Bedürfnisse <strong>de</strong>r<br />
Engagierten selbst.
53 <br />
Konflikte beim Aufbau von Arbeitskreisen / Projekten<br />
Wie bereits bei <strong>de</strong>n Hauptamtlichen gibt auch <strong>hier</strong> gibt die Mehrzahl <strong>de</strong>r Befragten<br />
an, Konflikte seien „selten“. Gegenüber <strong>de</strong>n hauptamtlichen Befragten aus <strong>de</strong>m<br />
Fragebogen 1 geben <strong>hier</strong> sogar mehr als doppelt so viele <strong>de</strong>r Befragten an, dass<br />
Konflikte „nie“auftreten. Dagegen bescheinigen 11,4% <strong>de</strong>r Verwaltungsstellenbzw.<br />
Bezirksgeschäftstellenleiter ein „häufiges“bzw. „sehr häufiges“Auftreten von<br />
Konflikten. Diese bei<strong>de</strong>n letztgenannten Kategorien wer<strong>de</strong>n hingegen nur von<br />
4,5% <strong>de</strong>r Arbeitskreis/Projektleiter angegeben. Ein größeres Konfliktpotential bei<br />
<strong>de</strong>r Zusammenarbeit wird also von <strong>de</strong>n Hauptamtlichen (Verwaltungsstellen bzw.<br />
Bezirksgeschäftstellenleiter) gesehen als von jenen, die in Ehrenamtsprojekten<br />
engagiert sind (vgl. Abb. 19).<br />
Abb.19: Konflikte zwischen Haupt und Ehrenamtlichen beim Aufbau von Arbeitskreisen / Projekten.<br />
(Vergleich zwischen Teil 1 und Teil 2)<br />
Engagement <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen<br />
Den ehrenamtlich Engagierten wird überwiegend bescheinigt, sich mit hohem<br />
Einsatz zu engagieren. Auch die Bereitschaft, sich noch stärker zu engagieren, ist<br />
laut <strong>de</strong>n Befragten vorhan<strong>de</strong>n, wobei die Ten<strong>de</strong>nz <strong>hier</strong> etwas zurückhalten<strong>de</strong>r ist.<br />
Es wird häufig kommentiert, dass ein noch höherer Einsatz nicht möglich sei. Der<br />
Meinung, dass die strukturellen Voraussetzungen <strong>de</strong>r Gewerkschaft für ein stärkeres<br />
Engagement ungeeignet seien, wi<strong>de</strong>rsprechen mehr als zwei Drittel <strong>de</strong>r<br />
Befragten.<br />
Motivation <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen<br />
Um zu ergrün<strong>de</strong>n, welche Ambitionen hinter einem ehrenamtlichen Engagement<br />
stehen, wur<strong>de</strong> nach Motiven hinsichtlich <strong>de</strong>r Aufnahme eines Engagements<br />
gefragt. Zu beachten ist, dass es sich <strong>hier</strong> um Angaben <strong>de</strong>r Befragten –<br />
i.d.R. also <strong>de</strong>n Projektleitern – über die Motivation <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen ihres Arbeitskreises/Projektes<br />
han<strong>de</strong>lt und somit eine Fremdauskunft vorliegt.
54 <br />
Abb.20: Motive ehrenamtlich Engagierter<br />
So steht hinter <strong>de</strong>m ehrenamtlichen Engagement vorrangig <strong>de</strong>r Wunsch, „sich<br />
nützlich zu machen“, „etwas zu leisten“, „sich sozial zu engagieren“, aber auch<br />
„eine Tätigkeit auszuüben, an <strong>de</strong>r man Spaß hat“. Diese Hierarchie <strong>de</strong>r Motivation<br />
für ehrenamtliches Engagement korrespondiert mit <strong>de</strong>n Messungen über alle Bereiche<br />
freiwillig Engagierter im „Freiwilligensurvey“(vgl. von Rosenbladt 2001:<br />
112ff.). Die am häufigsten angegebenen Grün<strong>de</strong> sind dort: „Dass die Tätigkeit<br />
Spaß macht“, „Mit sympathischen Menschen zusammenkommen“, „Etwas für das<br />
Gemeinwohl tun“, „An<strong>de</strong>ren Menschen helfen“. Man sieht <strong>hier</strong>, dass die Ambitionen<br />
<strong>de</strong>r Engagierten innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft, sich nicht wirklich von <strong>de</strong>n allgemeinen<br />
Trendaussagen unterschei<strong>de</strong>n – obwohl die Items nicht genau das<br />
Gleiche abfragen. Auffällig ist die Stellung <strong>de</strong>s Items „die Tätigkeit soll Spaß machen“.<br />
So kommt sie im „Freiwilligensurvey“an erster Stelle, in unserer Befragung<br />
an dritter Stelle. Diese geringe Abweichung hat möglicherweise eine Ursache in<br />
<strong>de</strong>r hohen Beteiligung von Senioren an <strong>de</strong>r Befragung.
55 <br />
Abb. 21: Vergleich <strong>de</strong>r Motive zu ehrenamtlicher Tätigkeit zwischen Seniorenprojekten und an<strong>de</strong>ren<br />
Projekten<br />
Auch <strong>de</strong>r Wunsch, die eigene „Lebenserfahrung zu erweitern“sowie die<br />
Suche nach „Kontakten“wur<strong>de</strong>n häufig angegeben. Der Wunsch, Kontakte über<br />
eine ehrenamtliche Tätigkeit aufzunehmen, rangiert im „Freiwilligensurvey“an 2.<br />
Stelle, in unserer Untersuchung an 5. Stelle. Hier kann die Mitgliedschaft in <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft seitens <strong>de</strong>r Befragten zur Erklärung herangezogen wer<strong>de</strong>n, da eine<br />
Integration <strong>hier</strong>über schon besteht.<br />
Weniger motivierend ist die Absicht, „neue Fertigkeiten und Qualifikationen zu<br />
erlangen“o<strong>de</strong>r „<strong>de</strong>n Alltag besser zu strukturieren“. Auch das ist auf die hohe Beteiligung<br />
von Senioren zurückzuführen. So kann man gut sehen, dass die Aussage<br />
„die Lebenserfahrung zu erweitern“einiges vor <strong>de</strong>r Aussage „neue Fertigkeiten<br />
zu erlangen“rangiert. Senioren haben natürlich nur in geringem Maße die Absicht,<br />
neue (berufliche) Fertigkeiten bzw. Qualifikationen zu erlangen. Zu erwähnen<br />
ist <strong>hier</strong>, dass fast keine <strong>de</strong>r Vorgaben ten<strong>de</strong>nziell als „eher nicht“/„überhaupt<br />
nicht“zutreffend bewertet wur<strong>de</strong>. Die Motivationen sind also als sehr vielschichtig<br />
zu betrachten (vgl. Abb. 20).<br />
Zusätzlich wur<strong>de</strong>n die Motive <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen aus vergleichen<strong>de</strong>r Perspektive<br />
zwischen Seniorenprojekten und allen übrigen Arbeitskreisen / Projekten betrachtet.<br />
Unterschie<strong>de</strong> treten insbeson<strong>de</strong>re bei <strong>de</strong>n Items „wollen ihren Alltag besser
56 <br />
strukturieren“, „wollen ihre Freizeit gestalten“und „suchen Kontakt“auf. Diese<br />
wer<strong>de</strong>n in Arbeitskreisen / Projekten aus <strong>de</strong>m Seniorenbereich <strong>de</strong>utlich zutreffen<strong>de</strong>r<br />
eingeschätzt als in Arbeitskreisen / Projekten aus an<strong>de</strong>ren Bereichen (vgl.<br />
Abb. 21). Diese Differenz zwischen Arbeitskreisen / Projekten im Seniorenbereich<br />
und <strong>de</strong>n übrigen Bereichen ist aber nicht als spektakulär zu bezeichnen. Die Differenz<br />
weist eher auf typische Alltagsunterscheidungen und probleme hin, die ein<br />
Ausschei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Erwerbstätigkeit mit sich bringen. Auffälliger ist da schon die<br />
Differenz – wenn auch nicht sehr groß – beim Item „Spaß“. Das lässt sich dahingehend<br />
interpretieren, dass <strong>hier</strong> eine Steigerung <strong>de</strong>s Anspruchs auf Lebensqualität<br />
zu vermuten ist.<br />
Austausch mit an<strong>de</strong>ren Arbeitskreisen / Projekten<br />
Mehr als ein Viertel aller Arbeitskreise / Projekte steht in mehr o<strong>de</strong>r weniger intensivem<br />
Kontakt – <strong>de</strong>r übrigens zu gleichen Teilen auf formeller bzw. informeller<br />
Ebene stattfin<strong>de</strong>t – mit an<strong>de</strong>ren Arbeitskreisen / Projekten. Nur bei je<strong>de</strong>m zehnten<br />
Projekt / Arbeitskreis ist dies nicht <strong>de</strong>r Fall und auch nicht für die Zukunft geplant.<br />
Was hin<strong>de</strong>rt an <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit?<br />
Analog zu Teil 1 wur<strong>de</strong> auch <strong>hier</strong> nach <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n gefragt, die <strong>de</strong>r Aufnahme<br />
eines ehrenamtlichen Engagements im Wege stehen. Wie die Verwaltungsstellen<br />
und Bezirksgeschäftstellenleiter machen auch die Projekt<br />
/Arbeitskreisleiter die vorhan<strong>de</strong>nen Rahmenbedingungen („erhalten oft keine Freistellungsmöglichkeit“,<br />
„wer<strong>de</strong>n nicht angesprochen“) und die Schwierigkeiten bei<br />
<strong>de</strong>r Motivation („sind nicht bereit, Zeit dafür aufzuwen<strong>de</strong>n“, „haben nicht darüber<br />
nachgedacht“) hauptsächlich für die Verhin<strong>de</strong>rung einer Aufnahme ehrenamtlichen<br />
Engagements verantwortlich. Sowohl in Teil 1 als auch in Teil 2 <strong>de</strong>s Fragebogens<br />
fällt auf, dass die Befragten <strong>hier</strong> <strong>de</strong>ckungsgleich und auch relativ häufig<br />
angeben, dass potentiell Engagierte einem ehrenamtlichen Engagement „keinen<br />
Nutzen für sich selbst“abgewinnen können.<br />
In <strong>de</strong>m sich im allgemeinen sehr ähneln<strong>de</strong>n Antwortmuster <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Befragtengruppen<br />
zeigen sich aber auch einige Differenzen: Die Projekt/ Arbeitskreisleiter<br />
(Teil 2) schätzen „fehlen<strong>de</strong> Freistellungsmöglichkeiten“und „Überfor<strong>de</strong>rung“als<br />
geringeres Hin<strong>de</strong>rnis ein als die Verwaltungsstellen und Bezirksgeschäftstellenleiter<br />
(Teil 1). Dass „Jugendliche sich nicht ernst genommen fühlen“,<br />
sehen dagegen die Projekt/ Arbeitskreisleiter als größeres Hin<strong>de</strong>rnis als die<br />
Hauptamtlichen an (vgl. Abb. 22).
57 <br />
Abb.22: : Hin<strong>de</strong>rungsgrün<strong>de</strong> für die Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Rahmen <strong>de</strong>r Gewerkschaft.<br />
Vergleich zwischen Fragebogen Teil 1 und Teil 2.<br />
Ergänzen<strong>de</strong> Anmerkungen <strong>de</strong>r Befragten in <strong>de</strong>n Fragebögen (Teil 1 und Teil 2)<br />
Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Fragebogens hatten die Befragten jeweils die Gelegenheit,<br />
Anmerkungen zu ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen zu machen, o<strong>de</strong>r Kritik zu<br />
äußern. 8% (Teil 1) bzw. 14% (Teil 2) <strong>de</strong>r Befragten machen von dieser Möglichkeit<br />
Gebrauch.<br />
Überwiegend han<strong>de</strong>lt es sich bei diesen Anmerkungen um weitergehen<strong>de</strong> Beschreibungen<br />
<strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte, auf die <strong>hier</strong> nicht näher eingegangen<br />
wer<strong>de</strong>n soll. Auf die Gewerkschaft ver.di bezogen wird geäußert, dass <strong>de</strong>r Fragebogen<br />
aufgrund <strong>de</strong>r <strong>de</strong>rzeitigen Situation durch <strong>de</strong>n Zusammenschluss zu früh<br />
komme.<br />
Mehrmals wird angeregt, das „bezahlte Ehrenamt“einzuführen bzw. die<br />
Aufwandsentschädigungen zu erhöhen. Desweiteren sollte die Außendarstellung<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaft (u.a. durch Werbekampagnen) verbessert wer<strong>de</strong>n. Sie sollte<br />
insgesamt attraktiver wer<strong>de</strong>n und es müsste zu einer Erhöhung <strong>de</strong>s Spaßfaktors<br />
kommen. Bezahltes Ehrenamt, Freizeitcharakter und Spaßfaktor sind als Indizien<br />
für Formen <strong>de</strong>s „Neuen Ehrenamts“zu sehen. Insbeson<strong>de</strong>re Projekte mit Freizeitaktivitäten<br />
bin<strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>r und weisen eine gute Resonanz bei <strong>de</strong>ren Angehörigen<br />
auf.
58 <br />
2.4 Vergleich zwischen <strong>de</strong>n Gewerkschaften IGMetall und IG BAU<br />
Aufgrund <strong>de</strong>s geringen Rücklaufs <strong>de</strong>r Fragebögen lassen sich Vergleiche<br />
zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Gewerkschaften nur für die IG Metall und die IG BAU<br />
anstellen. Im folgen<strong>de</strong>n sollen <strong>hier</strong>zu einzelne Aspekte aus vergleichen<strong>de</strong>r Perspektive<br />
betrachtet wer<strong>de</strong>n. Analog zu <strong>de</strong>n vorangegangenen Auswertungen wird<br />
zunächst auf <strong>de</strong>n ersten Teil <strong>de</strong>s Fragebogens Bezug genommen. Zu beachten<br />
ist, dass die Aussagen nicht repräsentativ für die Gewerkschaften sind und <strong>de</strong>shalb<br />
nicht ohne weiteres generalisiert wer<strong>de</strong>n können.<br />
Da die Ergebnisse aufgrund <strong>de</strong>r vergleichsweise hohen Anteile <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Organisationen im <strong>gesamten</strong> Sample nur vereinzelt von <strong>de</strong>n vorangegangenen<br />
Aussagen abweichen, wird nicht auf alle Aspekte näher eingegangen und verstärkt<br />
eine graphische Darstellungsform gewählt.<br />
Abb.23: Rücklaufquoten IG BAU und IG Metall<br />
Gewerkschaft<br />
Bezirksgeschäftsstellen/<br />
Verwaltungsstellen<br />
Erhaltene auswertbare<br />
Fragebögen Teil 1<br />
Rücklauf in<br />
Prozent<br />
(Teil 1)<br />
Erhaltene auswertbare<br />
Fragebögen Teil 2<br />
IG Metall 170 42 24,7% 61<br />
IG BAU 60 28 46,7% 42<br />
230 70 30,4% 103<br />
2.4.1 Die Befragung <strong>de</strong>r Hauptamtlichen (Fragebogen Teil 1)<br />
Bereiche „Neuen ehrenamtlichen Engagements“<br />
„Neue“ehrenamtliche Tätigkeiten fin<strong>de</strong>n sich unter Vernachlässigung <strong>de</strong>r Kategorie<br />
„Sonstiges“in bei<strong>de</strong>n Gewerkschaften insbeson<strong>de</strong>re im Bereich „Senioren“. In<br />
<strong>de</strong>r IG BAU sind weiterhin die Bereiche „Jugend“und „Frauen“als wichtige Größe<br />
zu nennen. Sind im Falle <strong>de</strong>r IGMetall in <strong>de</strong>n übrigen Bereichen auf etwa gleich<br />
hohem Niveau Arbeitskreise / Projekte zu fin<strong>de</strong>n, fällt auf, dass die Bereiche „Erwerbslose“und<br />
„Wohngebietsarbeit“in <strong>de</strong>r IG BAU nur sehr gering durch ein Vorhan<strong>de</strong>nsein<br />
neuer ehrenamtlicher Tätigkeiten gekennzeichnet sind (vgl. Abb. 24).<br />
Es ist festzustellen, dass in <strong>de</strong>r IGMetall die Bereiche „Jugend“, „Frauen“, „Erwerbslose“und<br />
„Wohngebietsarbeit“ungefähr gleich stark vertreten sind. Dass<br />
<strong>de</strong>r Bereich „Jugend“bei <strong>de</strong>r IGMetall schwächer ausgeprägt ist als bei <strong>de</strong>r IG<br />
BAU, lässt sich dadurch erklären, dass es bei <strong>de</strong>r IGMetall eine gleichmäßigere<br />
Verteilung über alle Bereiche gibt als bei <strong>de</strong>r IG BAU.<br />
Bei <strong>de</strong>r IG BAU zeigt sich, dass ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten vorrangig in <strong>de</strong>n<br />
konventionellen Bereichen stattfin<strong>de</strong>n. Der Bereich „Erwerbslose“und „Wohngebietsarbeit“ist<br />
nur sehr gering vertreten. Das lässt darauf schließen, dass die IG<br />
Metall weitaus intensiver als die IG BAU auf <strong>de</strong>n Umstand zunehmen<strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit<br />
reagiert. Das ist nicht nur an <strong>de</strong>r Menge <strong>de</strong>r Erwerbslosenprojekte erkennbar,<br />
son<strong>de</strong>rn auch an <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit zugeschrieben<br />
wird. Diese soll gera<strong>de</strong> jene erreichen, die nicht mehr in einem betrieblichen<br />
Zusammenhang zur Gewerkschaft stehen, sprich: diejenigen, die aus <strong>de</strong>m Er
59 <br />
werbsleben ausgeschie<strong>de</strong>n sind. Das sind aber bei steigen<strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit<br />
nicht nur die Senioren. Da Mehrfachnennungen möglich waren, wur<strong>de</strong> auch geprüft,<br />
ob sich die bei<strong>de</strong>n Gewerkschaften hinsichtlich <strong>de</strong>r Häufigkeit <strong>de</strong>r Arbeitskreise<br />
/ Projekte unterschei<strong>de</strong>n, die in mehreren Bereichen tätig sind. Dass ihr<br />
Projekt/Arbeitskreis mehrere <strong>de</strong>r genannten Bereiche ab<strong>de</strong>ckt, geben 34 Prozent<br />
<strong>de</strong>r IGMetallBefragten und 21 Prozent <strong>de</strong>r IG BAU Befragten an.<br />
Abb.24: Tätigkeitsbereiche „Neuen ehrenamtlichen Engagements“. Vergleich IG BAU und IGM<br />
Konflikte beim Aufbau von Arbeitskreisen / Projekten<br />
Abb.25: Häufigkeit von Konflikten zwischen Haupt und Ehrenamtlichen beim Aufbau von Arbeitskreisen/Projekten.<br />
Vergleich zwischen IG BAU und IGM<br />
Beim Aufbau von Arbeitskreisen / Projekten kommt es laut <strong>de</strong>r überwiegen<strong>de</strong>n<br />
Mehrheit <strong>de</strong>r Befragten (Verwaltungsstellen und Bezirksgeschäftstellen
60 <br />
leiter) „selten“zu Konflikten zwischen Haupt und Ehrenamtlichen. Die Konflikthäufigkeit<br />
ist auf Seiten <strong>de</strong>r IGMetall allgemein geringer, so geben <strong>hier</strong> fast ein<br />
Fünftel an, es komme nie zu Konflikten o<strong>de</strong>r aber „selten“(75%). 7,5% bescheinigen<br />
ein „häufiges“Auftreten von Konflikten. Bei <strong>de</strong>r IG BAU geben immerhin<br />
14,8% ein „häufiges“bzw. ein „sehr häufiges“Auftreten von Konflikten an (vgl.<br />
Abb. 25). Es lassen sich aus <strong>de</strong>n Daten jedoch keine Schlüsse ziehen, welche<br />
Grün<strong>de</strong> für die unterschiedlichen Konflikthäufigkeiten verantwortlich sind.<br />
Neue ehrenamtliche Tätigkeiten<br />
Die Auswirkungen neuer ehrenamtlicher Tätigkeiten auf die Gewerkschaft<br />
wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Befragten bei<strong>de</strong>r Gewerkschaften sehr ähnlich beurteilt. Uneinigkeit<br />
herrscht jedoch hinsichtlich <strong>de</strong>r Möglichkeiten, durch diese Tätigkeiten neue<br />
Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r zu gewinnen. Die Befragten <strong>de</strong>r IG BAU sehen <strong>hier</strong> größere<br />
Chancen, als die Befragten <strong>de</strong>r IGMetall (vgl. Abb. 26).<br />
Abb.26: Auswirkungen Neuer ehrenamtlicher Tätigkeiten. Vergleich IG BAU und IGM<br />
Gewinnung von Ehrenamtlichen<br />
Die Gewinnung neuer Ehrenamtlicher erfolgt in bei<strong>de</strong>n Gewerkschaften<br />
vorrangig über „persönliche Ansprache“und über „Betriebsräte/Vertrauensleute“.<br />
Unterschie<strong>de</strong> gibt es bei „Seminaren/Schulungen“und bei „Mitglie<strong>de</strong>rversammlungen“.<br />
Die ersteren nutzt die IGMetall stärker zur Gewinnung von Ehrenamtlichen<br />
als die IG BAU. Dagegen nutzt die IG BAU stärker die Mitglie<strong>de</strong>rversammlungen<br />
als die IGMetall. Auffallen<strong>de</strong> Differenzen sind in <strong>de</strong>n Kategorien „Wohngebietsarbeit“und<br />
„Internet“zu beobachten. Diese wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r IG BAU fast gar<br />
nicht für die Gewinnung von Ehrenamtlichen genutzt. In <strong>de</strong>r IGMetall haben sie<br />
dagegen fast eine ebensolche Be<strong>de</strong>utung wie „Mitglie<strong>de</strong>rversammlungen“, „Informationsmaterial“und<br />
„Mitglie<strong>de</strong>rzeitschriften/Presse“für die Gewinnung von ehrenamtlich<br />
Engagierten.<br />
Insgesamt lässt sich sagen, dass die IG BAU <strong>hier</strong> eher die klassischen<br />
Wege zur Gewinnung von Ehrenamtlichen geht, während die IGMetall nicht nur<br />
<strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit verstärkt nutzt, son<strong>de</strong>rn
61 <br />
auch auf mo<strong>de</strong>rne Informationssysteme wie das Internet zurückgreift, um potentielle<br />
Engagierte zu erreichen (vgl. Abb. 27).<br />
Abb.27: Die Gewinnung Ehrenamtlicher. Vergleich IG BAU und IG Metall.<br />
(Mehrfachnennungen waren möglich)<br />
Gruppen für die Ausweitung ehrenamtlichen Engagements<br />
Neben <strong>de</strong>m Zugang zu potentiellen Ehrenamtlichen wur<strong>de</strong> nach Gruppen gefragt,<br />
die für eine Ausweitung <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements in Frage kommen. Für<br />
solch eine Ausweitung wer<strong>de</strong>n von bei<strong>de</strong>n Gewerkschaften vor allem „Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r“und<br />
„Senioren“als geeignet eingeschätzt. „Schüler/Stu<strong>de</strong>nten“<br />
und „NichtGewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r“wer<strong>de</strong>n als am wenigsten geeignet eingestuft.<br />
Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Einschätzung zeichnen sich in <strong>de</strong>n Items „Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r“und<br />
„Erwerbstätige“, welche die IG BAU geeigneter als die IG<br />
Metall einschätzt und „Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>“, die die IGMetall geeigneter als die IG<br />
BAU einschätzt, ab (vgl. Abb. 28).
62 <br />
Abb.28: Geeignete Gruppen für eine Ausweitung ehrenamtlichen Engagements. Vergleich IG BAU<br />
und IGM<br />
Was hin<strong>de</strong>rt an <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit?<br />
Hin<strong>de</strong>rnisse für ein ehrenamtliches Engagement sehen die Befragten vor<br />
allem in „fehlen<strong>de</strong>n Freistellungsmöglichkeiten“und <strong>de</strong>r „fehlen<strong>de</strong>n Bereitschaft,<br />
Zeit für ein Engagement aufzuwen<strong>de</strong>n“. Dass die potentiellen Ehrenamtlichen<br />
„nicht angesprochen“wer<strong>de</strong>n, sehen die Befragten <strong>de</strong>r IGMetall als weitaus größeres<br />
Hin<strong>de</strong>rnis an, als die Befragten auf Seiten <strong>de</strong>r IG BAU. Da aber bei<strong>de</strong> Gewerkschaften<br />
die „persönliche Ansprache“zur Gewinnung von Ehrenamtlichen an<br />
erster Stelle nannten, lässt sich <strong>hier</strong> vermuten, dass die Befragten <strong>de</strong>r IGMetall<br />
diese Art <strong>de</strong>r Gewinnung von Ehrenamtlichen trotz<strong>de</strong>m noch für zu gering halten<br />
o<strong>de</strong>r aber das Erreichen <strong>de</strong>r potentiellen Ehrenamtlichen über Internet und<br />
Wohngebietsarbeit für ungeeignet erachten.<br />
Das „schlechte Image <strong>de</strong>r Gewerkschaft“sehen dagegen eher die Befragten<br />
<strong>de</strong>r IG BAU als Grund, keine ehrenamtliche Tätigkeit aufzunehmen. „Politischen<br />
und i<strong>de</strong>ologischen Grün<strong>de</strong>n“, einem „fehlen<strong>de</strong>n Versicherungsschutz“und<br />
<strong>de</strong>m Gefühl „finanzieller Ausnutzung“wird jeweils die geringste Be<strong>de</strong>utung als<br />
Hin<strong>de</strong>rnis beigemessen (vgl. Abb. 29).
63 <br />
Abb.29: : Hin<strong>de</strong>rnisse bezüglich <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft. Vergleich zwischen IG BAU und IGM<br />
2.4.2 Die Befragung <strong>de</strong>r Projektleiter (Fragebogen Teil 2)<br />
Bereiche „Neuen ehrenamtlichen Engagements“<br />
Die Arbeitskreise / Projekte <strong>de</strong>r Gewerkschaften IGMetall und IG BAU sind<br />
vorwiegend im Bereich „Senioren“tätig. Die Ergebnisse aus Fragebogen Teil 1<br />
spiegeln sich <strong>hier</strong> wi<strong>de</strong>r. Die Angaben <strong>de</strong>r hauptamtlichen Geschäftsstellenleiter<br />
und <strong>de</strong>r Projektleiter unterschei<strong>de</strong>n sich jedoch in <strong>de</strong>r Rangfolge <strong>de</strong>r Bereiche<br />
„Jugend“und „Sonstiges“. Die absolute Dominanz, welche die Seniorenarbeit aus<br />
<strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r hauptamtlichen Geschäftsstellenleiter aufweist, spiegelt sich in <strong>de</strong>n<br />
Angaben <strong>de</strong>r Projektleiter nicht wi<strong>de</strong>r. Erstere geben bei <strong>de</strong>r IG BAU einen Anteil<br />
<strong>de</strong>r Seniorenarbeit von knapp über 90%, bei <strong>de</strong>r IG Metall von rund 50% an. Die
64 <br />
Projektleiter beziffern diesen Anteil bei <strong>de</strong>r IG BAU aber auf lediglich 50%, bei <strong>de</strong>r<br />
IG Metall auf 57%.<br />
Auch die „Arbeit mit Erwerbslosen“und „Wohngebietsarbeit“weist Differenzen<br />
auf, wenn auch in geringerem Ausmaß. In <strong>de</strong>r IG BAU wer<strong>de</strong>n diese bei<strong>de</strong>n<br />
Bereiche von <strong>de</strong>n Geschäftsstellenleitern bei 5% angesie<strong>de</strong>lt, die Projektleiter<br />
beziffern ihren Anteil jedoch auf 10%. Das legt nahe, dass diese Bereiche <strong>de</strong>n<br />
Bezirksgeschäftsstellenleitern weniger präsent sind als sie tatsächlich in <strong>de</strong>r Arbeit<br />
<strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte vorkommen. Insgesamt lässt sich bei <strong>de</strong>r IG BAU<br />
eine ausgewogenere Verteilung <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte im Fragebogen Teil 2<br />
(Unterschie<strong>de</strong> zwischen 9,5% und 50%) gegenüber <strong>de</strong>m Fragebogen Teil 1 (Unterschie<strong>de</strong><br />
zwischen 3,5% und 92%) ausmachen.<br />
So auffällig wie bei <strong>de</strong>r IG BAU sind die Differenzen zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />
Fragebogenteilen bei <strong>de</strong>r IGMetall nicht. Bemerkenswert ist <strong>hier</strong>, dass die „Arbeit<br />
mit Erwerbslosen“, „Wohngebietsarbeit“und „Jugendarbeit“im Fragebogen Teil 1<br />
ähnlich hoch ist. Im Fragebogen Teil 2 liegt die „Wohngebietsarbeit“und die „Arbeit<br />
mit Erwerbslosen“um min<strong>de</strong>stens 6 Prozentpunkte höher als die <strong>de</strong>r „Jugendarbeit“.<br />
Das könnte darauf zurück zu führen sein, dass <strong>de</strong>r Fragebogen Teil 2<br />
seltener Projekte im „Jugendbereich“erreicht hat o<strong>de</strong>r von diesen ausgefüllt wur<strong>de</strong>.<br />
Insgesamt ist die Verteilung <strong>de</strong>r einzelnen Bereiche zwischen <strong>de</strong>r IGMetall und<br />
<strong>de</strong>r IG BAU strukturell gesehen – mit Ausnahme <strong>de</strong>s Seniorenbereichs – gleich<br />
<strong>de</strong>r im Fragebogen Teil 1. Die Differenzen zwischen <strong>de</strong>r „Arbeit mit Erwerbslosen“,<br />
„Wohngebietsarbeit“und „Jugendarbeit“sind am <strong>de</strong>utlichsten ausgeprägt.<br />
So weist die IG BAU mehr Arbeitskreise / Projekte im Jugendbereich aus, die IG<br />
Metall dagegen mehr in <strong>de</strong>r „Wohngebietsarbeit“und in <strong>de</strong>r „Arbeit mit Erwerbslosen“.<br />
Allerdings sind die Differenzen <strong>hier</strong> nicht so groß wie im Fragebogen Teil 1.<br />
Die Ab<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r einzelnen Bereiche ist somit aus Sicht <strong>de</strong>r Arbeitskreise / Projekte<br />
eher gegeben als aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftsstellenleiter<br />
(vgl. Abb. 30 und Abb. 24).<br />
Abb.30: Tätigkeitsbereiche „Neuen ehrenamtlichen Engagements“. Vergleich IG BAU und IGM
65 <br />
Unterstützungen<br />
Bis auf wenige Ausnahmen können alle Arbeitskreise/ Projekte auf Dienstleistungen<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft, wie z.B. Kopierarbeiten und Postversand, zurückgreifen<br />
und wer<strong>de</strong>n mit Sachleistungen (Bürobedarf, Computer, Telefon etc.)<br />
unterstützt.<br />
Der Anteil <strong>de</strong>r durch die Gewerkschaft voll finanzierten Arbeitskreise/ Projekte<br />
ist auf Seiten <strong>de</strong>r IGMetall etwas höher (58%) als in <strong>de</strong>r IG BAU (49%).<br />
Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten wer<strong>de</strong>n nach Angaben<br />
<strong>de</strong>r Befragten in <strong>de</strong>r IG BAU häufiger praktiziert (56,1%) als in <strong>de</strong>r IG Metall<br />
(32,8%) (vgl. Abb. 31).<br />
Abb.31: Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten. Vergleich IG BAU und IGM<br />
Die Unterstützung <strong>de</strong>s jeweiligen Arbeitskreises/Projektes durch die<br />
Gewerkschaft beurteilen jeweils mehr als drei Viertel <strong>de</strong>r Befragten als<br />
„hervorragend“o<strong>de</strong>r „gut“, wobei die Unterstützung durch die IGMetall im<br />
Vergleich zur IG BAU als noch etwas besser eingeschätzt wird. (vgl. Abb.<br />
32)
66 <br />
Abb.32: Unterstützung <strong>de</strong>s Arbeitskreises/Projektes durch die Gewerkschaft. Vergleich IG BAU<br />
und IGM<br />
Konflikte beim Aufbau von Arbeitskreisen / Projekten<br />
Im Gegensatz zu Fragebogen Teil 1 wird in bezug auf <strong>de</strong>n Aufbau von Arbeitskreisen<br />
/ Projekten eine geringere Konflikthäufigkeit zwischen Haupt und<br />
Ehrenamtlichen attestiert. Weiterhin kommt es auf diesem niedrigen Niveau häufiger<br />
innerhalb <strong>de</strong>r IGMetall zu Konflikten. Im Teil 1 <strong>de</strong>s Fragebogens galt dies für<br />
die IG BAU.<br />
Generell kann man sagen, dass die Arbeitskreis/Projektleiter ein geringeres<br />
Konfliktpotential bescheinigen als die Verwaltungsstellen und Bezirksgeschäftsstellenleiter.<br />
In <strong>de</strong>r IGMetall differieren die Einschätzungen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Befragtengruppen nicht<br />
so weit wie in <strong>de</strong>r IG BAU. Dort geben 52,4% <strong>de</strong>r befragten Arbeitskreis<br />
/Projektleiter die Kategorie „selten“an und 47,6% die Kategorie „nie“. Von <strong>de</strong>n<br />
befragten Bezirksgeschäftsstellenleitern geben sogar 81,5% die Kategorie „selten“an,<br />
aber es geben immerhin auch 11% die Kategorie „häufig“und 3,7% sogar<br />
die Kategorie „sehr häufig“an. Die Kategorie „nie“wird dagegen ebenfalls nur von<br />
3,7% angegeben. (vgl. Abb. 33 und Abb. 25)
67 <br />
Abb.33: Häufigkeit von Konflikten zwischen Haupt und Ehrenamtlichen beim Aufbau von Arbeitskreisen/Projekten.<br />
Vergleich zwischen IG BAU und IGM<br />
Was hin<strong>de</strong>rt an <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit?<br />
Wie in <strong>de</strong>n vorangegangenen Abschnitten gilt es abschließend, Hin<strong>de</strong>rnisse<br />
bezüglich <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit zu i<strong>de</strong>ntifizieren. Die<br />
<strong>hier</strong> befragten Arbeitskreis/Projektleiter <strong>de</strong>r IGMetall sehen das größte Hin<strong>de</strong>rnis<br />
darin, dass die Engagierten durch eine ehrenamtliche Tätigkeit „keinen Nutzen für<br />
sich selbst sehen“, o<strong>de</strong>r einfach „noch nicht über ein ehrenamtliches Engagement<br />
nachgedacht haben“. Die „fehlen<strong>de</strong> Bereitschaft Zeit aufzuwen<strong>de</strong>n“wird durch die<br />
Arbeitskreis/Projektleiter <strong>de</strong>r IG BAU als primäres Hin<strong>de</strong>rnis empfun<strong>de</strong>n.<br />
Zu geringen Differenzen in <strong>de</strong>r Einschätzung kommt es bei <strong>de</strong>n Items „sie<br />
sehen keinen Nutzen für sich selbst“(als zutreffen<strong>de</strong>r durch IGMetall eingeschätzt)<br />
und „sie fühlen sich überfor<strong>de</strong>rt“(als zutreffen<strong>de</strong>r durch IG BAU eingeschätzt).<br />
Auch <strong>hier</strong> zeigt sich insgesamt eine ähnliche Gewichtung wie im Fragebogen<br />
Teil 1. So sind die am häufigsten genannten Ursachen im Fragebogen Teil<br />
1: Freistellungsmöglichkeit, Zeit, darüber nach<strong>de</strong>nken, Ansprechen (das betrifft<br />
nur die IGMetall), Überfor<strong>de</strong>rung und keinen Nutzen für sie selbst. Die geringste<br />
Rolle spielen: politisch/i<strong>de</strong>ologische Grün<strong>de</strong>, Versicherungsschutz und finanzielle<br />
Ausnutzung. Die von <strong>de</strong>n Projektleitern (Fragebogen Teil 2) am häufigsten genannten<br />
Ursachen sind weisen mit lediglich geringen Abweichungen die gleiche<br />
Reihenfolge auf. (vgl. Abb. 34, 12, 22, 29)<br />
Allerdings lässt die geringe Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>m Item „finanzielle Ausnutzung“beigemessen<br />
wird, einige Zweifel aufkommen. So wird erstens die Aussage<br />
„sie sehen darin keinen Nutzen für sich selbst“von <strong>de</strong>n Befragten allgemein als<br />
wichtiger Hin<strong>de</strong>rungsgrund eingeschätzt. Es ist wenig plausibel, in <strong>de</strong>r Orientierung<br />
auf <strong>de</strong>n eigenen Nutzen die finanzielle Gratifikation auszublen<strong>de</strong>n. Außer<strong>de</strong>m<br />
ist von mehreren Befragten in <strong>de</strong>n zusätzlichen Anmerkungen gera<strong>de</strong> betont
68 <br />
wor<strong>de</strong>n, dass Egoismus ein Hin<strong>de</strong>rungsgrund für die Aufnahme eines ehrenamtlichen<br />
Engagements sei. Es gab auch Anmerkungen, dass das „bezahlte Ehrenamt“gestärkt<br />
wer<strong>de</strong>n müsse o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st eine Erhöhung <strong>de</strong>r Aufwandsentschädigung<br />
notwendig wäre. Hieraus lässt sich vermuten, dass die Befragten es<br />
als anstößig empfin<strong>de</strong>n, ehrenamtliches Engagement und finanzielle Entschädigung<br />
zusammen zu bringen. Diese Problematik führt somit in die Diskussion um<br />
die Grenzen von bezahlter Arbeit.<br />
Abb.34: : Hin<strong>de</strong>rnisse bezüglich <strong>de</strong>r Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft. Vergleich zwischen IG BAU und IGM<br />
2.5 Fazit<br />
Die Mehrheit <strong>de</strong>r Befragten steht neuen Formen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements<br />
positiv gegenüber. Sie wer<strong>de</strong>n aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n als sinnvoll<br />
für die gewerkschaftliche Arbeit angesehen. Das <strong>hier</strong> abgefragte „neue Ehrenamt“<br />
wird zu 86% von <strong>de</strong>n Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftsstellenleitern <strong>de</strong>m<br />
Bereich <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit zugeordnet. Mit an<strong>de</strong>ren<br />
Worten fin<strong>de</strong>n sich die innovativen Ansätze aus ihrer Sicht am ehesten in <strong>de</strong>r außerbetrieblichen<br />
Gewerkschaftsarbeit.
69 <br />
Zwei Fragen stellen sich sofort: Könnte es sein, dass die Verteilungsprozedur<br />
<strong>hier</strong> Verzerrungen bewirkt hat? Und was impliziert das Wort „neu“in Bezug<br />
auf das ehrenamtliche Engagement? Die erste Frage verweist auf Schwierigkeiten<br />
bei <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>r Befragung. Im Laufe <strong>de</strong>r Erhebung und <strong>de</strong>r Auswertung<br />
wur<strong>de</strong> klar, dass gewerkschaftliche Organisationsabläufe trotz <strong>de</strong>s durchgeführten<br />
Workshops und eines Pretests nicht hinreichend realistisch eingeschätzt<br />
wur<strong>de</strong>n – und zwar von <strong>de</strong>n Projektmitarbeit/inn/en wie auch <strong>de</strong>n Beteiligten Vorstandsvertretern<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaften.<br />
Die zweite Frage muss in Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes<br />
„neu“gesehen wer<strong>de</strong>n. Meint „neu“<strong>hier</strong> eine qualitative Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Formen<br />
ehrenamtlichen Engagements o<strong>de</strong>r eher neue Formen für „alte“Ziele? Ein Teil<br />
<strong>de</strong>r Befragten betont in <strong>de</strong>n Anmerkungen <strong>de</strong>n Freizeitcharakter und <strong>de</strong>n „Spaßfaktor“sowie<br />
die finanzielle Entschädigung in bezug auf ehrenamtliches Engagement.<br />
Das sind Themen, die sich generell in <strong>de</strong>n Beschreibungen zu Verän<strong>de</strong>rungen<br />
ehrenamtlicher Tätigkeiten fin<strong>de</strong>n. Sie wer<strong>de</strong>n häufig als Indizien für <strong>de</strong>n<br />
„Strukturwan<strong>de</strong>l“<strong>de</strong>s Ehrenamtes herangezogen. Die Mehrheit <strong>de</strong>r Befragten gibt<br />
aber an, dass es in <strong>de</strong>n Arbeitskreisen / Projekten vorrangig um Mitglie<strong>de</strong>rgewinnung,<br />
werbung, haltung, information und betreuung sowie um Bildungsarbeit<br />
geht. Das sind eher klassische Themen <strong>de</strong>r Gewerkschaftsarbeit. Insofern ist anzunehmen,<br />
dass es hauptsächlich um neue Formen für „alte“Ziele geht. Neu (o<strong>de</strong>r<br />
wie<strong>de</strong>r aktiviert) ist dabei die „Wohngebietsarbeit“, aber auch die sogenannten<br />
mobilen „BTeams“. Neu sind auch die Betreuungs und Beratungsformen für Erwerbslose<br />
in eigens dafür geschaffenen Projekten o<strong>de</strong>r ihre in <strong>de</strong>n Gewerkschaften<br />
steigen<strong>de</strong> Mitsprachemöglichkeit (z.B. Erwerbslosenausschüsse bei ver.di).<br />
Dieser Umstand liefert eine weitere Erklärung dafür, dass die Mehrzahl <strong>de</strong>r<br />
Befragten, Arbeitskreise / Projekte im Bereich <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit<br />
benannten. Aber dies erklärt nicht das Problem <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
Wortes „neu“. Denn zum einen geht es um gewerkschaftliche Ziele und zum an<strong>de</strong>ren<br />
geht es um persönliche Motive. Die gewerkschaftlichen Ziele betreffen die<br />
Absichten <strong>de</strong>r Organisation Gewerkschaft. Dabei wird versucht, neue Formen für<br />
die Mitglie<strong>de</strong>rgewinnung und betreuung zu fin<strong>de</strong>n, um entsprechend auf gesellschaftliche<br />
Verän<strong>de</strong>rungen reagieren zu können. Steigen<strong>de</strong> und anhalten<strong>de</strong> Arbeitslosigkeit<br />
und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mographische Wan<strong>de</strong>l sind solche Verän<strong>de</strong>rungen. Das<br />
heißt aber nicht, dass sich die persönlichen Motive <strong>de</strong>r ehrenamtlich Engagierten<br />
nicht verän<strong>de</strong>rt hätten. So wird zum Beispiel die Orientierung am „Spaß“in bezug<br />
auf die ausgeübte ehrenamtliche Tätigkeit von <strong>de</strong>n Befragten mit an erster Stelle<br />
genannt – bei <strong>de</strong>n Senioren sogar noch etwas ausgeprägter als bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
Gruppen. Ein an<strong>de</strong>res Indiz ist die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Zeitaufwands. So wird beklagt,<br />
dass viele potentiell Engagierte keine Zeit aufwen<strong>de</strong>n mögen. Engagierte klagen<br />
dagegen, dass Zeit ein Problem sei. Das korrespondiert mit <strong>de</strong>n Ergebnissen <strong>de</strong>s<br />
Freiwilligensurvey (1999). Dort gab die Mehrheit (37%) <strong>de</strong>r Proban<strong>de</strong>n auf die<br />
Frage nach <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n für eine Beendigung freiwilligen Engagements <strong>de</strong>n zeitlichen<br />
Aufwand an. (vgl. v. Rosenbladt: 2001: 123) Zum Spaßfaktor lässt sich<br />
Ähnliches sagen. Auch dieser steht im Freiwilligensurvey (1999) an erster Stelle,<br />
wenn es um die Erwartungen in bezug auf freiwilliges Engagement geht. (ebd.,<br />
113). Zeitlicher Aufwand kann aber nicht nur als Überlastung interpretiert wer<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn auch als ein Detail verän<strong>de</strong>rter individueller Intentionen. An<strong>de</strong>rs gesagt,
70 <br />
mit Zeitaufwand wird unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt einer Verpflichtung an<strong>de</strong>rs ungegangen.<br />
Das zeigt, dass sich auch bei <strong>de</strong>n Engagierten in <strong>de</strong>n Gewerkschaften die<br />
Motive verän<strong>de</strong>rt haben. Zu fragen ist also nicht einfach nach neuen Formen gewerkschaftlicher<br />
Arbeit, son<strong>de</strong>rn wie und ob diese Arbeitsformen außer auf neue<br />
Bedingungen verän<strong>de</strong>rter Verhältnisse einzugehen, auch auf verän<strong>de</strong>rte Bedürfnisse<br />
<strong>de</strong>r potentiell Engagierten einzugehen in <strong>de</strong>r Lage sind. Diese verän<strong>de</strong>rten<br />
Bedürfnisse und daraus resultieren<strong>de</strong>n Motive können natürlich mit <strong>de</strong>n Fragebogenergebnissen<br />
nur angerissen und gewichtet wer<strong>de</strong>n.<br />
Eine weitere Vermutung aus <strong>de</strong>r Befragung ist, dass <strong>de</strong>r organisatorische<br />
Rahmen <strong>de</strong>r Gewerkschaften von Engagierten „neuen“Stils kaum genutzt wird<br />
(o<strong>de</strong>r genutzt wer<strong>de</strong>n kann). Zwar sehen die befragten Verwaltungsstellen bzw.<br />
Bezirksgeschäftstelleleiter noch große Ressourcen und Reserven für die ehrenamtliche<br />
Tätigkeit, bescheinigen <strong>de</strong>n potentiellen Engagierten aber oft ein Desinteresse.<br />
Um eigene Projekte zu kreieren, bleibt <strong>de</strong>r institutionellen Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft von <strong>de</strong>n ehrenamtlich Engagierten fast ungenutzt. Die Initiierung<br />
von Arbeitskreisen / Projekten erfolgt nahezu ausschließlich von Hauptamtlichen<br />
bzw. von Hauptamtlichen gemeinsam mit Ehrenamtlichen. Auch die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Sichtweisen zwischen Haupt und Ehrenamtlichen tragen <strong>hier</strong>zu offensichtlich<br />
bei. Den Ehrenamtlichen wird von Seiten <strong>de</strong>r Hauptamtlichen eine zu hohe Erwartungshaltung<br />
attestiert, worauf diese mit Reserviertheit reagieren. Das Eingehen<br />
auf die Projektvorschläge und Wünsche <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen be<strong>de</strong>ute am En<strong>de</strong> für<br />
die hauptamtlichen Mitarbeiter <strong>de</strong>n (zusätzlichen) Hauptteil <strong>de</strong>r Arbeit zu tragen.<br />
Vergleicht man die IGMetall und die IG BAU, so sind innovative Projekte<br />
eher bei <strong>de</strong>r IGMetall zu fin<strong>de</strong>n. So dominieren zwar bei <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rgewinnung<br />
die klassischen Rekrutierungsformen wie „persönliche Ansprache“, „Betriebsräte/Vertrauensleute“,<br />
„Versammlungen“und „Schulungen“, aber die Werbung von<br />
Mitglie<strong>de</strong>rn und Ehrenamtlichen erfolgt bei <strong>de</strong>r IGMetall auch über das Internet<br />
und die Wohngebietsarbeit. Die Wohngebietsarbeit ist neben <strong>de</strong>r Arbeit mit Erwerbslosen<br />
ein neues Feld, in das die IGMetall investiert. Allerdings gibt es <strong>hier</strong><br />
Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Einschätzungen <strong>de</strong>r befragten Geschäftsstellenleiter und <strong>de</strong>r<br />
Projektleiter. So fällt die Anzahl <strong>de</strong>r erwähnten Arbeitskreise / Projekte in <strong>de</strong>r<br />
„Wohngebietsarbeit“und <strong>de</strong>r „Arbeit mit Erwerbslosen“bei <strong>de</strong>n Arbeitskreis/ Projektleitern<br />
höher aus als bei <strong>de</strong>n Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftstellenleitern.<br />
Diese Ten<strong>de</strong>nz ist auch bei <strong>de</strong>r IG BAU zu sehen, auch wenn <strong>hier</strong> diese<br />
Bereiche insgesamt weitaus geringer als bei <strong>de</strong>r IGMetall ausfallen. Eine ähnliche<br />
Unterscheidung ist auch bei <strong>de</strong>r Frage nach Konflikten zu sehen. Hier bescheinigen<br />
die Verwaltungsstellen bzw. Bezirksgeschäftstellenleiter häufigere<br />
Konflikte als die Arbeitskreis/ Projektleiter. Dabei ist die Differenz innerhalb <strong>de</strong>r<br />
IG BAU größer als in <strong>de</strong>r IGMetall. Die Mehrheit konstatiert aber, dass Konflikte<br />
selten auftreten.<br />
Wie zu erwarten, ist <strong>de</strong>r größere Teil <strong>de</strong>r ehrenamtlich Engagierten in <strong>de</strong>n<br />
Arbeitskreisen / Projekten männlich (82%). 69% sind erwerbstätig und bis auf vier<br />
Ausnahmen sind alle Mitglied in <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Die Mehrzahl <strong>de</strong>r ehrenamtlich<br />
Engagierten ist 60 Jahre und älter (63%), was mit <strong>de</strong>m hohen Anteil <strong>de</strong>r Seniorenarbeitskreise<br />
zusammenhängt.
71 <br />
3. Erwerbslose und ehrenamtliches Engagement<br />
Frank Ernst<br />
3.1 Situation und Möglichkeiten<br />
Wür<strong>de</strong> man entlang <strong>de</strong>r Zeitachse die Frage stellen, wer sich am häufigsten<br />
engagiert, dann könnte man vermuten, dass es jene sind, die keiner Erwerbsarbeit<br />
nachgehen. Das sind neben Senioren und Vorruheständlern, Hausfrauen,<br />
Kranken, Behin<strong>de</strong>rten, Erwerbsunfähigen auch Erwerbslose. Letztere sind aber<br />
im Bereich Engagement unterrepräsentiert. Laut Freiwilligensurvey 1999 sind<br />
22% <strong>de</strong>r Erwerbslosen freiwillig engagiert. Der Anteil <strong>de</strong>r Vergleichgruppe <strong>de</strong>r 25<br />
59 Jährigen liegt dabei bei 37%. Mehrfach engagiert sind 40% <strong>de</strong>r Teilgruppe <strong>de</strong>r<br />
Erwerbslosen, nahezu genauso viele wie in <strong>de</strong>r Gesamtgruppe (39%). Bei <strong>de</strong>r<br />
Frage nach potentiellem Mehrengagement dreht sich das Verhältnis um. Hier geben<br />
56% <strong>de</strong>r Teilgruppe <strong>de</strong>r Erwerbslosen an, ihr Engagement noch auszuweiten<br />
und weitere Aufgaben zu übernehmen, wenn sich etwas Interessantes böte. Bei<br />
<strong>de</strong>r Gesamtgruppe sind dies nur 31%.<br />
Erwerbslose sind laut dieser Studie in allen Engagementfel<strong>de</strong>rn unterrepräsentiert<br />
und insgesamt dort weniger beteiligt „wo es um das aktive Mitmachen<br />
... geht“. (v. Rosenbladt 2001: 69) Da es aber nicht an <strong>de</strong>r Engagementbereitschaft<br />
<strong>de</strong>r Erwerbslosen liege, „müssten Überlegungen zur stärkeren Einbeziehung<br />
von Arbeitslosen“auf dieser Ebene ansetzen. (ebd.) Eine zentrale Schwierigkeit<br />
besteht <strong>hier</strong>für jedoch in <strong>de</strong>m Merkmal <strong>de</strong>r biographischen Kontinuität <strong>de</strong>s<br />
Engagements. Die Mehrheit <strong>de</strong>r erwerbslosen Engagierten war schon vor <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit<br />
ehrenamtlich engagiert. Nur je<strong>de</strong>r Vierte hat sein Engagement erst<br />
in <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit aufgenommen. Von <strong>de</strong>nen, die schon vorher engagiert<br />
waren, hat je<strong>de</strong>r Vierte sein Engagement mit Beginn <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit ausgeweitet.<br />
Betrachtet man das Engagement von Erwerbslosen nach <strong>de</strong>r Verteilung in<br />
verschie<strong>de</strong>nen Bereichen, so sind im Bereich „berufliche Interessenvertretung“<br />
nur 4% <strong>de</strong>r Erwerbslosen aktiv. (<strong>de</strong>rs.: 68) 10% <strong>de</strong>r erwerbslosen Engagierten<br />
sind nach eigenen Angaben 20 mehr als 15 Stun<strong>de</strong>n pro Woche tätig. (<strong>de</strong>rs.: 66 ff.)<br />
Die Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Engagementquote zwischen <strong>de</strong>n alten und neuen<br />
Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn sind in <strong>de</strong>r Gruppe <strong>de</strong>r Erwerbslosen marginal. In <strong>de</strong>n neuen<br />
Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn engagieren sich 22% <strong>de</strong>r Erwerbslosen, in <strong>de</strong>n alten Län<strong>de</strong>rn<br />
24%. Interessant ist auch, die Gewichtung <strong>de</strong>r Lebensbereiche zu betrachten. So<br />
wird laut Wohlfahrtssurvey 1998 <strong>de</strong>r Lebensbereich „Arbeit“in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
von 70% als „sehr wichtig“angesehen, in <strong>de</strong>n alten Län<strong>de</strong>rn dagegen<br />
nur von 50% <strong>de</strong>r Engagierten. 69% in <strong>de</strong>n neuen Län<strong>de</strong>rn schätzen „Einkommen“<br />
als „sehr wichtig“gegenüber 47% in <strong>de</strong>n alten Län<strong>de</strong>rn. „Erfolg im Beruf“beurteilen<br />
43% <strong>de</strong>r neuen Bun<strong>de</strong>sbürger als „sehr wichtig“, aber nur 30% in <strong>de</strong>n alten<br />
Län<strong>de</strong>rn. (Gensicke 2001a: 44 f.)<br />
In <strong>de</strong>n neuen Län<strong>de</strong>rn hat durch die Transformation die Infrastruktur <strong>de</strong>r<br />
aktiven Beteiligung ihre Grundlage verloren, „weil sie in erhöhtem Maße betriebs<br />
20 „Nach eigenen Angaben“ist <strong>hier</strong> ein zu be<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>r Hinweis. Denn möglicherweise hat ein<br />
beträchtlicher Anteil <strong>de</strong>r Befragten die 15 Stun<strong>de</strong>nGrenze beim Beantworten nicht überschritten,<br />
da diese ja bei Nichteinhalten die Leistungsansprüche <strong>de</strong>r Erwerbslosen gefähr<strong>de</strong>t.
72 <br />
und institutionengebun<strong>de</strong>n war“. (Ders.: 106) Eine Organisations und Vereinsstruktur,<br />
die an die Stelle <strong>de</strong>r „in starkem Maße an Großbetriebe und staatlichen<br />
Institutionen gebun<strong>de</strong>nen Infrastruktur <strong>de</strong>r aktiven Beteiligung und <strong>de</strong>s Engagements“(ebd.)<br />
getreten ist, hat sich „auch längere Zeit nach <strong>de</strong>r staatlichen Vereinigung<br />
nicht entsprechend entwickelt“. (Ders. 2001b: 25)<br />
Tabelle 1 Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten lt. Freiwilligensurvey und Sozioökonomischem<br />
Panel 1999 in alten (einschl. Westberlin) und neuen (einschl. Ostberlin) Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
(in % <strong>de</strong>r Wohnbevölkerung ab 16 Jahren)<br />
Freiwilligensurvey<br />
SOEP<br />
West Ost West Ost<br />
insgesamt 35,5 28,4 30,8 24,0<br />
Erwerbsstatus<br />
erwerbstätig 38,5 33,0 34,9 29,3<br />
nicht erwerbstätig 31,9 23,2 25,7 18,3<br />
davon: arbeitslos 24,6 22,2 21,8 18,5<br />
Datenbasis: Dathe/Kistler 2002; Berechnungen nach Freiwilligensurvey (Personen<br />
Gewichtungsfaktor) und SOEP (querschnittsgewichtet)<br />
Quelle: EnqueteKommission 2002: 202<br />
Aus <strong>de</strong>m Befund, dass Arbeitslose unter <strong>de</strong>n Engagierten unterrepräsentiert<br />
sind, wird ein Zusammenhang zwischen sozialer Einbindung und Engagement<br />
abgeleitet. (vgl. EnqueteKommission 2002: 27) Die Bereitschaft zum Engagement<br />
ist also ganz offensichtlich von <strong>de</strong>r sozialen Integration abhängig. Das<br />
wird umso plausibler, wenn man davon ausgeht, dass Erwerbslose von <strong>de</strong>r Ressource<br />
„Zeit“relativ viel zur Verfügung haben.<br />
Auch bei lokalen Projekten nach <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r „Bürgerarbeit“lassen sich<br />
Schwierigkeiten bei <strong>de</strong>r Gewinnung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern<br />
feststellen. (vgl. Jakob 2003: 67) Das wur<strong>de</strong> auch innerhalb <strong>de</strong>r „Fallstudie Küste“<br />
unserer eigenen Untersuchung bestätigt. So gab es nicht nur Schwierigkeiten (z.<br />
B. beim „Dau wat“e.V. Rostock) Erwerbslose für ehrenamtliche Tätigkeiten zu<br />
gewinnen, son<strong>de</strong>rn schon bei <strong>de</strong>n Versuchen, sie zu Informationsveranstaltungen<br />
einzula<strong>de</strong>n. Diese Veranstaltungen hatten nichts mit ehrenamtlichem Engagement<br />
zu tun. „Das Anliegen von „Dau wat“wäre ja auch, die Erwerbslosen vor<br />
allen Dingen zu erreichen. Aber die erreicht man eigentlich nicht.“(Zitat Experteninterview<br />
K, Rostock, 21.5.02) 21<br />
Ein Zusammenhang zwischen Engagement und Erwerbslosigkeit zeigt sich<br />
nicht zuletzt in <strong>de</strong>r Feststellung, dass sich Erwerbslose vorwiegend nur dann engagieren,<br />
wenn sie sich bereits während ihrer Erwerbstätigkeit engagiert haben.<br />
Ein Zugang zu bürgerschaftlichem Engagement ist aus <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit<br />
scheinbar schwieriger, wenn man in keine Engagementstrukturen eingebun<strong>de</strong>n<br />
ist. Dazu kommt, dass Erwerbslose, die vor ihrer Erwerbslosigkeit engagiert waren,<br />
ihr Engagement in <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit überdurchschnittlich häufig aufgeben.<br />
Die EnqueteKommission hat keine Antworten auf dieses Phänomen: Erwerbslose<br />
hätten eine Reihe von Grün<strong>de</strong>n, sich zunächst weiter zu engagieren, dann a<br />
ber das Engagement einzustellen. (EnqueteKommission 2002: 205)<br />
Es ist aber nicht nur sinnvoll über För<strong>de</strong>r und Aktivierungsmöglichkeiten<br />
nachzu<strong>de</strong>nken, die dazu beitragen einen Abbruch <strong>de</strong>s Engagements zu verhin<br />
21 Siehe dazu die Ausführungen im Kapitel 3.5, Fallstudie Küste.
73 <br />
<strong>de</strong>rn. Überlegungen zur Erleichterung und Motivierung für eine Wie<strong>de</strong>raufnahme<br />
o<strong>de</strong>r Aufnahme von Engagement sind ebenso unabdingbar. Zumal „etwa 50% <strong>de</strong>r<br />
west<strong>de</strong>utschen und 46% <strong>de</strong>r ost<strong>de</strong>utschen Arbeitslosen (angeben), dass sie – ‚ja<br />
bzw. vielleicht’– zu <strong>de</strong>r Aufnahme eines Ehrenamtes bereit wären“. (dies.: 208)<br />
Tabelle 2 Ehrenamtliche Tätigkeiten insgesamt in <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn 1985, 1992,<br />
1999<br />
(in % <strong>de</strong>r Wohnbevölkerung ab 16 Jahre)<br />
1985 1992 1999<br />
insgesamt 22,7 25,5 30,8<br />
Erwerbsstatus<br />
erwerbstätig 27,6 28,0 334,9<br />
voll erwerbstätig 28,8 29,1 32,9<br />
teilzeitbeschäftigt 1 22,3 27,5 40,3<br />
geringfügig/unregelmäßig erwerbstätig 27,6 39,6 43,1<br />
nicht erwerbstätig 16,7 20,9 25,7<br />
arbeitslos gemel<strong>de</strong>t 13,6 13,4 21,8<br />
1 1985–92: Regelmäßig teilzeitbeschäftigt.<br />
Datenbasis: Dathe/Kistler 2002; Berechnungen nach SOEP (querschnittsgewichtet).<br />
Quelle: EnqueteKommission 2002: 202<br />
Tabelle 3 Ehrenamtliche Tätigkeiten in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn 1992 und 1999<br />
(in % <strong>de</strong>r Wohnbevölkerung ab 16 Jahren)<br />
1992 1999<br />
insgesamt 17,5 24,0<br />
Erwerbsstatus<br />
erwerbstätig 21,7 29,3<br />
voll erwerbstätig 22,6 29,6<br />
teilzeitbeschäftigt 1 22,3 29,3<br />
geringfügig/unregelmäßig erwerbstätig (24,8)*<br />
nicht erwerbstätig 12,1 18,3<br />
arbeitslos gemel<strong>de</strong>t 12,0 18,5<br />
1 1985–92: Regelmäßig teilzeitbeschäftigt; * Fallzahl unter 30; Fallzahl unter 10.<br />
Datenbasis: SOEP (querschnittsgewichtet).<br />
Quelle: EnqueteKommission 2002: 202<br />
Bei ehrenamtlichen Tätigkeiten ist im Zeitraum von 1985 bis 1999 generell<br />
eine Zunahme <strong>de</strong>s Engagements zu beobachten (vgl. Tabelle 2 u. 3). Diese Zunahme<br />
wird mancherorts jedoch auch kritisch hinterfragt und auf methodische<br />
Grün<strong>de</strong> zurückgeführt. So äußert sich zum Beispiel Braun (2001: 98) kritisch zu<br />
<strong>de</strong>n Ergebnissen steigen<strong>de</strong>r Engagementquoten und bezweifelt <strong>de</strong>ren Aussagekraft:<br />
„Neue Untersuchungs<strong>de</strong>signs, Definitionen und Erhebungskategorien (also<br />
Frageformulierungen und Bewertungen, was als ‚Engagement’gilt) führten dazu,<br />
dass Deutschland in die ChampionsLeague aufstieg“. Weiterhin ist zu beachten,<br />
dass Arbeitslosigkeit sich nicht mehr vorrangig auf bestimmte Berufsgruppen bezieht,<br />
son<strong>de</strong>rn dass sie alle Berufsgruppen erfasst. Engagement und Engagementbereitschaft<br />
ist aber stärker in <strong>de</strong>n Berufsgruppen mit höheren Bildungsabschlüssen<br />
zu verzeichnen. Diese Berufsgruppen sind heute aber ebenfalls von<br />
hoher Arbeitslosigkeit betroffen, so dass sich ein Anstieg <strong>de</strong>s Engagements bei<br />
Erwerbslosen auch aus diesem Engagementpotential erklären lässt.
74 <br />
Gera<strong>de</strong> in Zeiten verstärkter Arbeitslosigkeit rückt bürgerschaftliches Engagement<br />
als eine sinnhafte Betätigung außerhalb von Erwerbsarbeit in <strong>de</strong>n<br />
Blickpunkt. Es ist aber problematisch, bürgerschaftliches Engagement als Ersatz<br />
für fehlen<strong>de</strong> Erwerbsarbeit anzusehen. Denn dadurch wird die Spezifik bürgerschaftliches<br />
Engagement unterlaufen und sein Charakter aufgehoben. (vgl. Jakob<br />
2001) Hier entsteht eine beson<strong>de</strong>re Problematik: was kann bürgerschaftliches<br />
Engagement in <strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit überhaupt leisten? Einig ist<br />
man sich, dass Arbeitslose, und <strong>hier</strong> beson<strong>de</strong>rs Langzeitarbeitslose, von gesellschaftlicher<br />
Desintegration bedroht sind. Dies wirkt sich auch auf ihr Engagement<br />
aus. Prozesse <strong>de</strong>r Desintegration animieren nicht zu einem Engagement, son<strong>de</strong>rn<br />
beför<strong>de</strong>rn einen Abbau o<strong>de</strong>r hemmen eine Aufnahme engagementorientierter Aktivitäten.<br />
Eine Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand sowie an gesellschaftlicher<br />
Partizipation wird vorrangig über die Integration in Erwerbsarbeit geleistet.<br />
Über zeitliche Ressourcen zu verfügen, um sich bürgerschaftlich engagieren zu<br />
können, reiche nach Jakob noch nicht aus. „Auch wenn sich die Erwerbsarbeit<br />
stark verän<strong>de</strong>rt hat (Zunahme flexibler und prekärer Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit<br />
etc.) ist sie nach wie vor von zentraler Be<strong>de</strong>utung sowohl für die persönliche<br />
I<strong>de</strong>ntität und <strong>de</strong>n sozialen Status <strong>de</strong>r einzelnen als auch für ihre Partizipation<br />
an gesellschaftlichen Prozessen. Der Verlust von Erwerbsarbeit kann nicht einfach<br />
durch bürgerschaftliches Engagement kompensiert wer<strong>de</strong>n.“Dieser erfor<strong>de</strong>re<br />
eine innovative Arbeitsmarktpolitik. (Jakob 2003: 68 f.)<br />
Erwerbslosigkeit führt nicht nur zur Ausgrenzung am Arbeitsmarkt, sie kann<br />
auch zu sozialer Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit führen. (vgl. Kronauer/ Vogel<br />
1998) Bürgerschaftliches Engagement kann <strong>hier</strong> „die Integration in eine soziale<br />
Gemeinschaft (sichern helfen) und ... Gelegenheiten für sinnhaftes Han<strong>de</strong>ln außerhalb<br />
<strong>de</strong>r Erwerbsarbeit“bereitstellen. (Jakob 2003: 73) Die Autoren <strong>de</strong>s Endberichtes<br />
<strong>de</strong>r EnqueteKommission argumentieren vor diesem Hintergrund und<br />
<strong>de</strong>r Erkenntnis, dass soziales Kapital – also die Einbindung in soziale Netz und<br />
Kommunikationsstrukturen – bürgerschaftliches Engagement positiv beeinflusst,<br />
mit einer quasi ‚doppelten’Integrationsvoraussetzung. Diese müsste bei <strong>de</strong>r Engagementför<strong>de</strong>rung<br />
berücksichtigt wer<strong>de</strong>n. Denn nicht nur die Integration in Erwerbsarbeit<br />
sei von Be<strong>de</strong>utung, son<strong>de</strong>rn auch die „allgemeine soziale Integration“.<br />
„Es muss bei<strong>de</strong>s gegeben sein und bei<strong>de</strong>s geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n: Die Integration<br />
über Erwerbsarbeit und die allgemeine soziale Einbindung außerhalb <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit“.<br />
(EnqueteKommission 2002c: 208) Auch wenn „eine stabile Erwerbstätigkeit<br />
... <strong>de</strong>r beste Garant für ein lang andauern<strong>de</strong>s Engagement zu sein<br />
scheint“(ebd.), so ist es doch nicht so, dass eine För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Engagements<br />
bei Erwerbslosen vernachlässigt wer<strong>de</strong>n darf, weil sie keine hohe ‚Engagementrendite’verspricht.<br />
Politik steht <strong>hier</strong> vor <strong>de</strong>r Aufgabe, soziale Integration zu sichern<br />
und zu ermöglichen. Den Engagierten dabei nur als freiwilligen Helfer zu<br />
sehen, wäre fatal. Denn gera<strong>de</strong> die hohe Arbeitslosigkeit schafft Kontingenzen<br />
gesellschaftlicher Desintegration und gefähr<strong>de</strong>t damit auch die Grundlagen <strong>de</strong>r<br />
Bürgergesellschaft, in<strong>de</strong>m sie Gefahr läuft, eine „gespaltene Bürgergesellschaft“<br />
zu produzieren. Dieses Problem besteht um so mehr, als sich bei <strong>de</strong>nen, die dauerhaft<br />
aus <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind, „Ten<strong>de</strong>nzen zur ‚Verfestigung<br />
von Arbeitslosigkeit zu einer mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r dauerhaften Soziallage’abzeichnen“.<br />
(Jakob 2003: 71) Diese Ten<strong>de</strong>nz ist in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn stärker<br />
ausgeprägt als in <strong>de</strong>n alten.
75 <br />
Die Spezifik Ost<strong>de</strong>utschlands<br />
Die massiven Deindustrialisierungsprozesse im in Ost<strong>de</strong>utschland haben<br />
die Arbeitslosenquote in manchen Regionen bis zu 30% steigen lassen. In Orten<br />
mit einer solch hohen Arbeitslosigkeit gewinnt <strong>de</strong>r Zweite Arbeitsmarkt für die Arbeitssuchen<strong>de</strong>n<br />
eine zentrale Be<strong>de</strong>utung. Die Aussichtslosigkeit, in <strong>de</strong>n Ersten<br />
Arbeitsmarkt integriert zu wer<strong>de</strong>n, begünstigt ein ‚Pen<strong>de</strong>ln’zwischen Beschäftigungsmaßnahme<br />
und freiwilligem Engagement, führt aber auch dazu, dass die<br />
Grenzen zwischen bei<strong>de</strong>n unscharf wer<strong>de</strong>n.<br />
In <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rnisierung <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements gehen Gemeinwohlorientierung<br />
und Selbstbezug eine neue Verbindung ein. Dieser Prozess<br />
wird aber gefähr<strong>de</strong>t, „wenn das Engagement in erster Linie als ‚Übergang’zur<br />
Erwerbsarbeit o<strong>de</strong>r gar als <strong>de</strong>ren ‚Ersatz’konstruiert wird. Dann geht dabei sein<br />
Eigensinn als bürgerschaftliche Aktivität, die auf biographischen Erfahrungen basiert<br />
und auf das Gemeinwesen bezogen ist, verloren.“(Jakob 2003: 79) Die<br />
Wahrscheinlichkeit, „dass sich gesellschaftliche Strukturen sozialer Beteiligung<br />
und sozialer Ausgrenzung auch im bürgerschaftlichen Engagement reproduzieren“nimmt<br />
dadurch zu. (dies.: 68)<br />
In <strong>de</strong>r Verbindung von bürgerschaftlichem Engagement und Arbeitslosigkeit<br />
zeichnen sich zwei Entwicklungen ab. Zum einen erweist sich die „’Nutzung’<br />
<strong>de</strong>s Engagements für die Bewältigung <strong>de</strong>r Auswirkungen einer hohen und dauerhaften<br />
Arbeitslosigkeit als funktional sowohl für die betroffenen Individuen als<br />
auch für das Gemeinwesen“. Zum an<strong>de</strong>rn „zeichnen sich aber auch Prozesse einer<br />
Instrumentalisierung und Zweckentfremdung <strong>de</strong>s Engagements ab“. (dies.:<br />
79) Somit ließen sich auch zwei Szenarien imaginieren. Ein „eigener ost<strong>de</strong>utscher<br />
Entwicklungspfad <strong>de</strong>r Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen“ aus <strong>de</strong>r<br />
Verbindung von Engagement und Arbeitslosigkeit. O<strong>de</strong>r das Fortschreiben einer<br />
‚Partizipationslücke’, in<strong>de</strong>m bürgerschaftliches Engagement „für die Bewältigung<br />
<strong>de</strong>r Folgen <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit“zweckentfrem<strong>de</strong>t wird. (dies.: 80) Eine ermöglichen<strong>de</strong><br />
Politik müsse Rahmenbedingungen und Gelegenheitsstrukturen für ein<br />
Engagement schaffen. Stärker als bisher müssen die Engagierten „Möglichkeiten<br />
zur Mitsprache und Partizipation an politischen und verwaltungstechnischen Entscheidungsprozessen<br />
erhalten, die ihre Situation betreffen“. Das setze auch „eine<br />
stärkere Öffnung von Organisationen wie <strong>de</strong>n Gewerkschaften für die Belange <strong>de</strong>r<br />
Arbeitslosen voraus“. (dies.: 83)<br />
Kritisch ist m. E. die Problematik zu beurteilen, dass gera<strong>de</strong> in Ost<strong>de</strong>utschland<br />
Engagement als Strategie zur Bewältigung von Arbeitsmarktproblemen gedacht<br />
und genutzt wird, bei einer gleichzeitigen stärkeren Arbeitsmarktorientierung<br />
<strong>de</strong>r Betroffenen nicht nur weil es eine höhere Arbeitslosenquote gibt, son<strong>de</strong>rn<br />
weil die Erwerbsorientierung ausgeprägter ist. (vgl. Jakob 2003, Mutz 2003)<br />
Wird das Engagement aber als Ersatzbeschäftigung gesehen, läuft es Gefahr,<br />
unbezahlte Erwerbsarbeit zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Wenn es als Ergänzung betrachtet wer<strong>de</strong>n soll, stellt sich die Frage, was<br />
es bei Erwerbslosen ergänzen kann? Wenn es als ergänzen<strong>de</strong>s Zeitsegment gedacht<br />
wird, dann muss es die Perspektive auf Erwerbsarbeit geben. Folglich sind<br />
auch die Orientierungen beim Engagement gera<strong>de</strong> bei Erwerbslosen auf Erwerbsarbeit<br />
gerichtet (als Qualifikation, als Ersatz, als Zugangsmöglichkeit). Immerhin<br />
wür<strong>de</strong>n sich 48% <strong>de</strong>jenigen, die in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn an einem
76 <br />
Engagement interessiert sind, engagieren, wenn ihnen dieses beruflich nützt.<br />
(Gensicke 2001: 112) Das wirft die Frage auf, ob überhaupt in bezug auf die neuen<br />
Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r davon gesprochen wer<strong>de</strong>n kann, dass laut individualisierungstheoretischer<br />
Lesart die Erwerbszentriertheit nachlässt.<br />
Betrachtet man aber die weitgehen<strong>de</strong> Praxis <strong>de</strong>s Engagements bei Arbeitslosen<br />
– Qualifizierung, Wartezeitüberbrückung, Anschlüsse für <strong>de</strong>n Ersten und<br />
Zweiten Arbeitsmarkt herstellen –, dann scheint es, dass die Erwerbszentrierung<br />
nicht durch bürgerschaftliches Engagement aufgeweicht wird, son<strong>de</strong>rn umgekehrt,<br />
dass die Erwerbsorientierung sich das bürgerschaftliche Engagement einverleibt,<br />
weil es Partizipationsmöglichkeiten am Arbeitsmarkt offen hält, in <strong>de</strong>r Regel<br />
aber wie<strong>de</strong>r in die Spirale von Zweitem Arbeitsmarkt und freiwilliger Arbeit<br />
führt. Angestrebt wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Regel allerdings „Normalarbeitsverhältnisse“. Und<br />
wie schon im Begriff enthalten, sind es ‚normale’Arbeitsverhältnisse, welche als<br />
Regel begriffen wer<strong>de</strong>n und dies, obwohl ‚normale’Arbeitsverhältnisse für immer<br />
mehr Menschen schon lange nicht mehr die Regel sind.<br />
Zugespitzt lässt sich sagen, dass die Zentrierung auf Erwerbsarbeit nur da<br />
ab nimmt, wo die soziale Integration gesichert ist). Dies ist sie normalerweise<br />
durch Normalarbeitsverhältnisse, die ökonomische und soziale Sicherheit gewähren<br />
und damit auch I<strong>de</strong>ntität und Anerkennung. Und das bleibt sie dort, wo <strong>de</strong>r<br />
einzelne Rollenverständnisse, Anerkennungsformen und Status, die zentriert um<br />
Erwerbsarbeit sind, soweit in Frage stellen kann, ohne dadurch <strong>de</strong>r sozialen Integration<br />
verlustig zu gehen o<strong>de</strong>r sie zu gefähr<strong>de</strong>n. Dies ist zum Beispiel beim<br />
normierten und regelhaften Übergang vom Erwerbsleben in <strong>de</strong>n Ruhestand <strong>de</strong>r<br />
Fall (vgl. Wolf 1994). Wo solche Sicherheiten und institutionellen Entlastungen<br />
nicht vorhan<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r erreichbar sind, wird die Erwerbslosigkeit nicht nur zum ö<br />
konomischen Problem, son<strong>de</strong>rn stellt die soziale Integration in Frage, gefähr<strong>de</strong>t<br />
und zerstört sie. Hier wird die Zentrierung auf Erwerbsarbeit kontrafaktisch bestehen<br />
bleiben und sich eher noch festigen.<br />
Bürgerschaftliches Engagement wird an Erwerbsarbeit gemessen, weil ü<br />
ber diese Anerkennung und Status zugewiesen wer<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>r Aufwertung und<br />
Anerkennung von freiwilligem Engagement ist es <strong>de</strong>shalb nicht getan. Es besteht<br />
die Gefahr, dass bürgerschaftliches Engagement als Äquivalent zur Erwerbsarbeit<br />
gesehen wird. Voraussetzung für bürgerschaftliches Engagement ist zuallererst<br />
eine ökonomische Grundsicherheit, die es <strong>de</strong>n einzelnen ermöglicht, sich frei für<br />
ein Engagement zu entschei<strong>de</strong>n. Solange die ökonomische Sicherheit <strong>de</strong>r einzelnen<br />
unklar ist, wer<strong>de</strong>n sie doch im besten Fall bürgerschaftliches Engagement<br />
instrumentalisieren, um <strong>hier</strong>über mögliche Anschlüsse vor allem an <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt<br />
herzustellen und finanzielle Quellen zu fin<strong>de</strong>n. Um so höher die finanziellen<br />
Konsequenzen für die einzelnen, um so höher die eigene Instrumentalisierung<br />
ihres Engagements in bezug auf Erwerbsarbeit. Voraussetzung für eine wirklich<br />
freie Entscheidung ist aber die soziale Integration. Sinn und I<strong>de</strong>ntität im bürgerschaftlichen<br />
Engagement zu fin<strong>de</strong>n, bleibt fragil, weil diese (immer noch) fast ausschließlich<br />
über Erwerbarbeit hergestellt wer<strong>de</strong>n. Eine Erwerbszentrierung hebt<br />
sich nur dort auf, wo zwischen Tätigkeiten (Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, bürgerschaftlichem<br />
Engagement) gewechselt wer<strong>de</strong>n kann, ohne die soziale Integration<br />
ernsthaft zu gefähr<strong>de</strong>n.<br />
Um einen Wechsel zwischen <strong>de</strong>n Tätigkeitsformen zu erleichtern, darf es<br />
nicht dabei bleiben, zu solchen Wechseln zu ermuntern und darauf zu vertrauen,
77 <br />
dass es sich in bestimmten Gruppen – die es sich leisten können – durchsetzt,<br />
son<strong>de</strong>rn es bedarf <strong>hier</strong> gezielter För<strong>de</strong>rung und Ermöglichung. Diese sollte sich<br />
aber nicht in einer rechtlichen „Begleitung“eines solchen Prozesses erschöpfen,<br />
son<strong>de</strong>rn muss auch versuchen, die finanziellen Voraussetzungen dafür sicherzustellen.<br />
Es ist eine Politik gefor<strong>de</strong>rt, die dafür Sorge trägt, dass Erwerbsarbeit<br />
entwe<strong>de</strong>r so verteilt wird, dass nahezu alle darüber integriert wer<strong>de</strong>n können<br />
und/o<strong>de</strong>r die eine (gleichwertige) Aufwertung von bürgerschaftlichem Engagement<br />
betreibt.Solange aber Erwerbsarbeit diese uneingeschränkte Be<strong>de</strong>utung<br />
behält, wer<strong>de</strong>n sich eben vor allem Erwerbslose auch im bürgerschaftlichen Engagement<br />
in ihren Orientierungen auf Erwerbsarbeit orientieren. 22<br />
Eine Rhetorik, die ein ‚Recht auf Faulheit’abspricht, bedient die klassischen<br />
Stereotype. Sie bleibt allerdings auch in ihrem Han<strong>de</strong>ln konsequent, wenn<br />
sie <strong>de</strong>n ausgemachten „Hort <strong>de</strong>r Faulheit austrocknet“, in<strong>de</strong>m sie bei <strong>de</strong>n Arbeitslosen<br />
kürzt. Solch eine Politik verharrt in ihrem Denken in einer Erwerbszentrierung<br />
und kann sich <strong>de</strong>s Verdachts nicht entledigen, dass sie bürgerschaftliches<br />
Engagement instrumentalisiert, um finanzielle Engpässe und arbeitsmarktpolitische<br />
Probleme lösen zu wollen bei gleichzeitiger Aushöhlung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s „aktiven<br />
Bürgers“.<br />
3.2 Gewerkschaftliches Engagement im Zusammenhang mit Erwerbslosen<br />
3.2.1 Gewerkschaften und ehrenamtliches Engagement<br />
Gewerkschaften sind primär Organisationen <strong>de</strong>r Erwerbssphäre. Für die<br />
Gewerkschaften ergibt sich aus <strong>de</strong>m Zusammenhang von bürgerschaftlichem Engagement<br />
und Erwerbsarbeit die Frage, wie sie sich als Akteure <strong>de</strong>r Bürgergesellschaft<br />
betätigen können. Betrachtet man freiwilliges Engagement in bezug auf<br />
die Organisationsform, in <strong>de</strong>r es stattfin<strong>de</strong>t, so entfallen auf die Gewerkschaft lediglich<br />
2% <strong>de</strong>s Gesamtanteils. Das ist <strong>de</strong>r geringste Anteil unter <strong>de</strong>n Organisationen,<br />
welche ehrenamtliches Engagement ermöglichen. An erster Stelle steht <strong>hier</strong><br />
<strong>de</strong>r „Verein“mit 43%. Glie<strong>de</strong>rt man das Engagement innerhalb <strong>de</strong>r Organisationsform<br />
nach einzelnen Bereichen, so sind die Gewerkschaften in <strong>de</strong>m Bereich „berufliche<br />
Interessenvertretung“mit 38% vertreten. Das ist mehr als bei <strong>de</strong>r Organisationsform<br />
‚Verbän<strong>de</strong>’, die nur 27% in diesem Bereich aufweisen, bei einem Gesamtanteil<br />
<strong>de</strong>s Engagements von 7%. Sieht man sich zum Vergleich die Zahl <strong>de</strong>r<br />
aktiv Beteiligten geordnet nach verschie<strong>de</strong>nen gesellschaftlichen Bereichen an,<br />
so sind es <strong>hier</strong> 9%, die im Bereich berufliche Interessenvertretung außerhalb <strong>de</strong>s<br />
Betriebes tätig sind. (Zahlen nach v. Rosenbladt 2001: 41 u. 72)<br />
Das Selbstverständnis <strong>de</strong>r Gewerkschaften speist sich aus ihrer Funktion<br />
als Interessenvertretung von Arbeitnehmer/innen. Insofern gehören die Bereiche,<br />
in <strong>de</strong>nen bürgerschaftliches Engagement aktiv wird, nicht zu ihren klassischen<br />
Fel<strong>de</strong>rn. Gewerkschaftliche Aktivitäten konzentrieren sich auf Erwerbsarbeit. Eh<br />
22 Im übrigen dient nicht je<strong>de</strong> Alimentierung wirklich <strong>de</strong>m Zweck <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements,<br />
so z. B. die Möglichkeit Jugendlicher, Anerkennungsnachweise für freiwilliges Engagement<br />
für Lehrstellen und Studienplätze im Sinne von selbstgewählten Praktika zu nutzen. Auch <strong>hier</strong><br />
besteht eine Instrumentalisierung im Sinne einer Erwerbszentrierung, die durch <strong>de</strong>n Ausbildungsplatzmangel<br />
verstärkt wer<strong>de</strong>n dürfte.
78 <br />
renamtliches Engagement ist innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaften ein wichtiges und<br />
integriertes Moment. Es dient in erster Linie <strong>de</strong>n klassischen Funktionen gewerkschaftlicher<br />
Arbeit.<br />
Bürgerschaftliches Engagement meint jedoch mehr als eine Begriffserneuerung,<br />
die vor allem auf einen geän<strong>de</strong>rten Motivationswan<strong>de</strong>l eingeht. Es meint<br />
auch, dass neue Formen von Engagement, die spezifischen Lebenslagen und<br />
<strong>de</strong>n daraus entstehen<strong>de</strong>n Bedürfnissen und Interessen gerecht wer<strong>de</strong>n, im Rahmen<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaften ermöglicht wer<strong>de</strong>n müssen.<br />
3.2.2 Wan<strong>de</strong>l und Bedingungen <strong>de</strong>s Engagements<br />
Wür<strong>de</strong> sich die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Gewerkschaften auf <strong>de</strong>n konstatierten<br />
Motivationswan<strong>de</strong>l bei <strong>de</strong>n ehrenamtlich Engagierten beschränken, so bliebe sie<br />
<strong>hier</strong> in <strong>de</strong>r Polarität von Angebot und Nachfrage befangen. Was muss geboten<br />
wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n nutzenorientierten und selbstentfaltungsbezogenen Mitglie<strong>de</strong>rn –<br />
die Mitgliedschaft nur noch als eine „partielle Inklusion“(Wiesenthal 1987) verstehen<br />
– eine ehrenamtliche Tätigkeit attraktiv zu machen? Diese und ähnliche Fragen<br />
gehen auf <strong>de</strong>n Umstand ein, dass Mitgliedschaft weniger traditionellen, gemeinschaftsbezogenen<br />
als immer mehr individualisierten Maßstäben folgt. Aus<br />
dieser Sichtweise heraus wird auch die Ten<strong>de</strong>nz plausibel, dass die Gewerkschaften<br />
zunehmend zum „Dienstleister“und die Mitglie<strong>de</strong>r zu „Kun<strong>de</strong>n“wer<strong>de</strong>n.<br />
Die (mögliche) Verengung dieser Sichtweise liegt darin, dass <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l individueller<br />
Motivationen im Brennpunkt <strong>de</strong>r Beobachtung liegt, während die gesellschaftlichen<br />
Gegebenheiten dabei als unverän<strong>de</strong>rt betrachtet bleiben. Diese individualisierungstheoretische<br />
Sichtweise setzt aber die unverän<strong>de</strong>rt vorhan<strong>de</strong>ne<br />
Integrationsoption über Erwerbsarbeit voraus. Dies zeigt sich z. B. beson<strong>de</strong>rs in<br />
<strong>de</strong>r Wertewan<strong>de</strong>lforschung. So seien beispielsweise nicht nur die Ansprüche an<br />
Arbeit gestiegen, son<strong>de</strong>rn auch die Zentrierung auf Erwerbsarbeit habe sich verän<strong>de</strong>rt.<br />
Statt von einer Arbeitsgesellschaft, könne man nun von einer „Freizeitbzw.<br />
Erlebnisgesellschaft“sprechen. Es geht <strong>hier</strong> nicht darum, diese These zu<br />
diskutieren. Sie soll nur ver<strong>de</strong>utlichen, dass ihre Annahmen auf <strong>de</strong>r Voraussetzung<br />
aufbauen, dass die Organisation von erwerblicher Arbeit unverän<strong>de</strong>rt besteht.<br />
Gera<strong>de</strong> diese Voraussetzung wird aber im arbeitsgesellschaftlichen Diskurs<br />
in Frage gestellt. Die Beobachtung, dass mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaften die Erwerbsarbeit<br />
ausgeht, stellt diese vor ganz vielschichtige Probleme. Zentral ist dabei<br />
die Frage nach <strong>de</strong>r sozialen Integration, die vorrangig über Erwerbsarbeit geleistet<br />
wird. Die Abnahme o<strong>de</strong>r die Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Erwerbszentrierung<br />
steht in einem engen Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r sozialen Integration.<br />
Wie kann soziale Integration bei zunehmen<strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit gewährleistet<br />
wer<strong>de</strong>n? Ist bürgerschaftliches Engagement ein Element welches <strong>hier</strong> einen<br />
Beitrag leisten kann? Dies interessiert beson<strong>de</strong>rs, da im vorliegen<strong>de</strong>n Kapitel unserer<br />
Untersuchung <strong>de</strong>r Zusammenhang von Erwerbslosigkeit und bürgerschaftlichem<br />
Engagement im Vor<strong>de</strong>rgrund steht.<br />
In an<strong>de</strong>rer Weise befasst sich Mutz (2003: 314ff.) mit diesen Fragen und<br />
i<strong>de</strong>ntifiziert beim Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements drei globale<br />
Trends. Als ersten Trend konstatiert er einen „Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s institutionellen Rahmens“.<br />
„In ähnlicher Weise wie sich die Organisation gesellschaftlicher Arbeit<br />
wan<strong>de</strong>lt, verän<strong>de</strong>rt sich auch die Organisation gesellschaftlichen Engagements“.
79 <br />
(316) So sind neben die klassische Form <strong>de</strong>r verbandlichen Organisation bürgerschaftlichen<br />
Engagements neue Formen selbstorganisierter Zusammenschlüsse<br />
getreten. Das be<strong>de</strong>ute jedoch keineswegs, dass das „alte“Ehrenamt abgelöst<br />
wor<strong>de</strong>n sei. Statt <strong>de</strong>ssen seien neue Fel<strong>de</strong>r bürgerschaftlichen Engagements hinzugekommen.<br />
Ein zweiter Trend betrifft eine verän<strong>de</strong>rte Zusammensetzung <strong>de</strong>s Personenkreises,<br />
<strong>de</strong>r sich engagiert. Dies sei insbeson<strong>de</strong>re in selbstorganisierten Engagementfel<strong>de</strong>rn<br />
zu beobachten. Gut ausgebil<strong>de</strong>te Personen mit hoher Gestaltungskompetenz<br />
fühlen sich von diesen Bereichen eher angesprochen. Eine wichtige<br />
Rolle für die Aufnahme eines Engagements spiele <strong>de</strong>r Lebensabschnitt, die<br />
konkrete Lebenslage und die biografische Ausgangssituation.<br />
Der dritte Trend bezeichnet <strong>de</strong>n Motivationswan<strong>de</strong>l. Diesen leitet Mutz theoretisch<br />
her, da die empirischen Untersuchungen unzureichend seien. Hier bleibt<br />
vor allem festzustellen, dass Engagierte Verantwortung tragen, mitgestalten und<br />
entschei<strong>de</strong>n wollen. Dies tun sie lieber in selbstorganisierten Bereichen o<strong>de</strong>r sie<br />
versuchen, die charakteristischen Formen <strong>de</strong>r selbstbestimmten Aktivitäten in traditionelle<br />
Organisationen hineinzutragen.<br />
Nimmt man diese drei Trends als Folie, so lässt sich daran gut sehen, dass<br />
Überlegungen zum bürgerschaftlichen Engagement, die <strong>de</strong>n Fokus ausschließlich<br />
auf einen Motivationswan<strong>de</strong>l legen, zu kurz greifen. Das ist insbeson<strong>de</strong>re für Ost<strong>de</strong>utschland<br />
wichtig, da wir <strong>hier</strong> einerseits eine an<strong>de</strong>re Engagementtradition als in<br />
West<strong>de</strong>utschland und an<strong>de</strong>rerseits eine viel höhere Arbeitslosigkeit mit zum Teil<br />
weitgehen<strong>de</strong>ren Folgen beobachten können.<br />
Der von Jakob eingeführte Begriff <strong>de</strong>r „biografischen Passung“ist bei Überlegungen<br />
zum bürgerschaftlichem Engagement von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung. Jakob<br />
weist nach, dass „ein verbindliches, sinnhaftes Engagement nur dann zustan<strong>de</strong><br />
kommt, wenn direkte Bezüge zwischen <strong>de</strong>n biographischen Erfahrungen<br />
<strong>de</strong>r Engagierten und <strong>de</strong>n Engagementanfor<strong>de</strong>rungen hergestellt wer<strong>de</strong>n können“.<br />
(2001: 182) Gera<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r immer größer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gruppe <strong>de</strong>r Erwerbslosen,<br />
die als Engagementpotential bei gleichzeitiger Unterrepräsentierung immer stärker<br />
in Betracht gezogen wird, ist die „biografische Passung“genau zu betrachten:„...<br />
die biografischen Erfahrungen <strong>de</strong>r Engagierten und eine ausgeprägte<br />
Aufmerksamkeit für die Belange in ihrem jeweiligen Umfeld“können dabei als Anknüpfungspunkte<br />
dienen. (Jakob 2003: 77)<br />
Für die Gewerkschaften als Akteure in <strong>de</strong>r Bürgergesellschaft erfor<strong>de</strong>rt dies<br />
eine Öffnung <strong>de</strong>r Organisation zur Bürgergesellschaft hin. Sie müssen stärker<br />
über die Arbeitswelt hinausgehen und sich mehr für die Belange von Arbeitslosen<br />
öffnen. Der Fokus meiner Betrachtung liegt auf bürgerschaftlichem Engagement<br />
von Erwerbslosen. Dabei wer<strong>de</strong>n, wie weiter oben schon erwähnt, Projekte innerhalb<br />
und außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft in die Betrachtung einbezogen. Das Feld,<br />
in <strong>de</strong>m sich gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit fin<strong>de</strong>t, wird als außerbetriebliche<br />
Gewerkschaftsarbeit (AGA) bezeichnet.<br />
3.2.3 Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit (AGA)<br />
Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit meint in erster Linie jenen Bereich,<br />
in <strong>de</strong>m Mitglie<strong>de</strong>r nicht mehr o<strong>de</strong>r erschwert über die betriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />
erreichbar sind. Das betrifft vor allem die Mitglie<strong>de</strong>rgruppen <strong>de</strong>r Senioren<br />
und Vorruheständler, <strong>de</strong>r Jugendlichen, <strong>de</strong>r Erwerbslosen sowie <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r in
80 <br />
kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />
dient aber nicht nur <strong>de</strong>r Beratung und Betreuung von Mitglie<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn soll<br />
auch Erwerbstätige – vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen – sowie<br />
Handwerksbetrieben erreichen. Hierbei sind drei Stichworte zentral: Mitglie<strong>de</strong>rbetreuung<br />
und beratung, Mitglie<strong>de</strong>rrückgewinnung und Mitglie<strong>de</strong>rgewinnung.<br />
Durch <strong>de</strong>n Anstieg <strong>de</strong>s Anteils von Mitglie<strong>de</strong>rn, die ohne betriebliche Anbindung<br />
sind, wird die Frage nach <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Organisation immer<br />
mehr zum Thema. 23 So hat beispielsweise die IG Metall auf diese Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />
mit <strong>de</strong>r Einrichtung einer eigenen Vorstandsabteilung im <strong>de</strong>r Bezeichnung<br />
„Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit (AGA)“reagiert.<br />
Die Zielsetzungen, die in <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit formuliert<br />
sind, wur<strong>de</strong>n auch von <strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n einzelnen Projekten/Arbeitskreisen,<br />
die an unserer schriftlichen Befragung teilnahmen, wi<strong>de</strong>rgespiegelt. So gaben die<br />
meisten Projekte/Arbeitskreise als Ziel ihrer Arbeit an: „Mitglie<strong>de</strong>rgewinnung“,<br />
„Mitglie<strong>de</strong>rbetreuung“und „Halten von Mitglie<strong>de</strong>rn“. Zielgruppen sind diejenigen,<br />
die entwe<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m betrieblichen Erwerbsleben ausgeschie<strong>de</strong>n sind (Senioren,<br />
Erwerbslose) bzw. noch nicht eingestiegen sind (Jugendliche) sowie diejenigen,<br />
die für die Gewerkschaft schwer erreichbar sind (Erwerbstätige in kleinen und<br />
mittleren Unternehmen).<br />
Um eine mitglie<strong>de</strong>rnahe Infrastruktur gewährleisten zu können, wur<strong>de</strong> innerhalb<br />
<strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit die ‚Wohngebietsarbeit’eingeführt.<br />
24 Über diese sollen Mitglie<strong>de</strong>r und potentielle Mitglie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n oben<br />
benannten Gruppen in ihrem unmittelbarem Wohnumfeld erreicht wer<strong>de</strong>n. Durch<br />
diese Öffnung <strong>de</strong>r Praxis gewerkschaftlicher Arbeit für lebensweltliche Themen<br />
wird erwartet, dass die Gewerkschaft bei <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn besser verankert wird.<br />
Das scheint um so drängen<strong>de</strong>r, als nicht nur die Mitglie<strong>de</strong>rzahlen sinken, son<strong>de</strong>rn<br />
sich auch die Zusammensetzung <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rt hat. So ist die Zahl <strong>de</strong>r<br />
nichterwerbstätigen Mitglie<strong>de</strong>r (Senioren, Vorruheständler, Erwerbslose) beträchtlich<br />
angestiegen. Durch einen Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r ökonomischen Strukturen sind zu<strong>de</strong>m<br />
Arbeitsverhältnisse hinzugekommen, die neben <strong>de</strong>r klassischen Form <strong>de</strong>s sogenannten<br />
Normalarbeitsverhältnisses bestehen. Selbständig abhängige, befristete,<br />
geringfügige Arbeitsverhältnisse etc. haben ebenfalls keinen unbeträchtlichen Einfluss<br />
auf die Mitgliedschaften.<br />
Hielscher sieht die Debatte um die Wohngebietsarbeit als Reflexion auf<br />
neue Herausfor<strong>de</strong>rungen für die Gewerkschaften. Nach ihm verfolgt <strong>de</strong>r Ansatz<br />
<strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Wohngebietsarbeit eine „organisationspolitische Perspektive,<br />
<strong>de</strong>ren Zielorientierung auf <strong>de</strong>r Ausweitung von Partizipation liegt und die die<br />
Stärkung o<strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rherstellung bzw. die Neubegründung <strong>de</strong>r Bindung zwischen<br />
Organisation und Mitglied in <strong>de</strong>n Mittelpunkt stellt.“(Hielscher 1999: 24) Die Debatte<br />
um die außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit und „die Praxisversuche zur<br />
gewerkschaftlichen Wohngebietsarbeit verweisen also auf einen Mo<strong>de</strong>rnisierungsansatz,<br />
mit <strong>de</strong>m die Begrenzungen sowohl <strong>de</strong>s betrieblichen Handlungsbe<br />
23 So liegt <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r erwerbslosen Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r im IGMetall Bezirk Küste bei<br />
15%. Das sind nur 3% weniger im Vergleich zu <strong>de</strong>n Senioren. Im Bran<strong>de</strong>nburgSachsen liegt <strong>de</strong>r<br />
Anteil <strong>de</strong>r erwerbslosen Mitglie<strong>de</strong>r gar bei 28%. Dagegen machen im Bezirk Ba<strong>de</strong>nWürttemberg<br />
die erwerbslosen Mitglie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r IGMetall nur 6% aus. (Quelle: IGMetall, Vorstandsbereich 09,<br />
Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit, Stand Juli 2001)<br />
24 Zur Geschichte <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit vgl. das entsprechen<strong>de</strong> Kapitel in Richter et al. 1996.
81 <br />
zuges als auch <strong>de</strong>s engen tarif und betriebspolitischen Themenbezuges überschritten<br />
wer<strong>de</strong>n sollen“. (<strong>de</strong>rs.: 16) Für die Fallstudien war die Wohngebietsarbeit<br />
unter <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit interessant. In <strong>de</strong>r<br />
Fallstudie Küste wur<strong>de</strong> daher ein Projekt ausgewählt, in <strong>de</strong>m die gewerkschaftliche<br />
Erwerbslosenarbeit in die Wohngebietsarbeit integriert ist.<br />
3.3 Die Fallstudien<br />
3.3.1 Einführung und Übersicht<br />
Im Zentrum <strong>de</strong>r Untersuchung zu ehrenamtlichen Engagement stehen die Intensivfallstudien<br />
„Küste“und „Stuttgart“. Diese wur<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>r Fokussierung auf<br />
erwerbslose und jugendliche Engagierte durchgeführt. Ausschlaggebend waren<br />
<strong>hier</strong> folgen<strong>de</strong> Bedingungen:<br />
• die Vergleichsebene zwischen alten und neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
• die unterschiedliche Engagementquote. In Ba<strong>de</strong>nWürttemberg wird die Engagementquote<br />
mit 40% angegeben und ist damit die höchste in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik.<br />
In MecklenburgVorpommern liegt die Engagementquote bei 29%. 25<br />
Insgesamt sind die Quoten in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r geringer als in <strong>de</strong>n alten<br />
Län<strong>de</strong>rn. MecklenburgVorpommern liegt insgesamt auf Platz 11 und innerhalb<br />
<strong>de</strong>r neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r an 3. Stelle. Die Engagementquoten sind<br />
nicht zuletzt auf eine unterschiedliche ehrenamtliche Tradition zurückzuführen.<br />
• die mehr o<strong>de</strong>r weniger erfolgreiche Etablierung bürgerschaftlichen Engagements,<br />
die sich im Verständnis <strong>de</strong>r engagierten Bürger sowie <strong>de</strong>r zuständigen<br />
Verwaltungsstellen (Experten/innen) spiegelt<br />
• Interviews und Gespräche, die außerhalb dieser Fallstudien durchgeführt wur<strong>de</strong>n,<br />
dienten zum einen <strong>de</strong>r Exploration und zum an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>m Vergleich sowie<br />
<strong>de</strong>r Ergänzung <strong>de</strong>r Ergebnisse <strong>de</strong>r Intensivfallstudien. Ergebnisse aus diesen<br />
Erhebungen wer<strong>de</strong>n <strong>hier</strong> nicht geson<strong>de</strong>rt dargestellt, son<strong>de</strong>rn in die Darstellung<br />
<strong>de</strong>r Erhebungen aus <strong>de</strong>n Intensivfallstudien mit einbezogen.<br />
Folgen<strong>de</strong> Interviews, Gespräche und Beobachtungen wur<strong>de</strong>n durchgeführt: 26<br />
Übersicht 3: Die Erhebungen<br />
Nr. Ort Wer/Was Erhebung<br />
1 Halle Freiwilligenagentur EI<br />
2 Halle SeniorenKreativVerein EI<br />
3 Mag<strong>de</strong>burg Bürgerstiftung SachsenAnhalt EI (BI)<br />
4 Mag<strong>de</strong>burg Lan<strong>de</strong>skoordinierungsstelle Agenda 21 G<br />
5 Frankfurt/M IGMetall, AbGA EI<br />
6 Hannover Arbeiterwohlfahrt (AWO) EI<br />
7 Düsseldorf Arbeit u. Leben e.V. ExGD<br />
Fallstudie Küste<br />
8 Schwerin Staatskanzlei MecklenburgVorpommern EI<br />
25 Die Engagementquoten insgesamt liegen zwischen 24% (Berlin) und 40% (Ba<strong>de</strong>n<br />
Württemberg), vgl. v. Rosenbladt 2001: 64.<br />
26 Insgesamt wur<strong>de</strong>n 8 Gruppendiskussionen und 27 Experten/inneninterviews durchgeführt und<br />
dokumentiert.
82 <br />
9 Schwerin DGBJugend EI<br />
10 Schwerin „Dau wat“e.V./DGB EI<br />
11 Schwerin „Dau wat“e.V. GD<br />
12 Wismar Jugendberatungscafé „Come In“ EI, GD<br />
13 Stralsund „Dau wat“e.V. EI<br />
14 Rostock „Dau wat“e.V. 2 EI, GD,<br />
3 Beob, 3 G<br />
15 Rostock Verwaltungstelle IGM EI<br />
16 Rostock Ehrenamtsbörse „Marientreff“ GD, 2 G<br />
17 Rostock Jugendberatungscafé „Lunte“ EI<br />
18 Rostock Begegnungsstätte EI, Beob<br />
19 Rostock Soziales Fürsorgezentrum TI<br />
20 Rostock Arbeit u. Leben EI<br />
21 Greifswald Nachbarschaftsagentur TI<br />
22 Greifswald Verein für Nachbarschaftshilfe TI<br />
Feldstudie zum Arbeitstreffen gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen in Bad Orb<br />
23 Hannover Lan<strong>de</strong>sarbeitsgemeinschaft <strong>de</strong>r Arbeitslosenprojekte<br />
G<br />
in Nie<strong>de</strong>rsachsen (ZEPRA)<br />
24 Essen Erwerbslosenausschuss/ver.di EI<br />
25 Augsburg Arbeitsloseninitiative G<br />
26 Erfurt ArbeitslosenBeratungIGM G<br />
27 Chemnitz „Neue Arbeit“/Bürgerbüro G<br />
28 Eisenhüttenstadt „Haltestelle“/Arbeitslosenberatung<br />
G<br />
Serviceeinrichtung<br />
29 Bielefeld Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosenprojekte<br />
EI<br />
(KOS)<br />
Fallstudie Stuttgart<br />
30 Stuttgart Verwaltungsstelle DGB EI<br />
31 Stuttgart DGBJugend EI, GD<br />
32 Stuttgart Ver.diJugend EI<br />
33 Stuttgart Interessenbörse TI<br />
34 Stuttgart Treffpunkt Senior TI<br />
35 Stuttgart MehrwertAgentur TI<br />
36 Stuttgart FrEEAka<strong>de</strong>mie TI<br />
37 Stuttgart Initiative Bürgerengagement in Stuttgart (IBIS; EI, Beob<br />
Freiwilligenvermittlung)<br />
38 Stuttgart Kontakt und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen<br />
EI, Beob<br />
(KISS)<br />
39 Stuttgart Stuttgarter Arbeitslosenzentrum SALZ e.V. EI, GD<br />
40 Stuttgart Lan<strong>de</strong>sbüro Ehrenamt (Kultusministerium) EI<br />
41 Stuttgart Geschäftsstelle bürgerschaftliches Engagement EI<br />
(Sozialministerium)<br />
42 Stuttgart Paritätisches Bildungswerk EI<br />
43 Esslingen Koordinierungsstelle bürgerschaftliches Engagement<br />
EI<br />
/Sozialamt<br />
44 Esslingen Forum Im Heppäcker GD, Beob<br />
Legen<strong>de</strong>:<br />
EI = Expert/inneninterview; GD = Gruppendiskussion; G = Gespräch; TI = Telefoninterview; Beob<br />
= Beobachtung; ExGD = Expert/innenGruppendiskussion<br />
Desweiteren wur<strong>de</strong>n diverse Telefonate mit gewerkschaftlichen Stellen geführt sowie teilnehmen<strong>de</strong><br />
Beobachtungen in <strong>de</strong>n einzelnen Arbeitsgruppen beim 16. Treffen gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen<br />
durchgeführt.
83 <br />
3.3.2 Die Auswahl <strong>de</strong>r Fallstudien<br />
Im Mittelpunkt <strong>de</strong>r Auswahl sollten gewerkschaftliche Erwerbslosenprojekte<br />
stehen. Anhand dieser Auswahl wur<strong>de</strong> dann das Feld für die Intensivfallstudie<br />
bestimmt. Mit <strong>de</strong>r Intensivfallstudie I / Fallstudie Küste wur<strong>de</strong> anhand <strong>de</strong>r Expert/inn/enInterviews<br />
(aus <strong>de</strong>r Gewerkschaft und <strong>de</strong>r Staatskanzlei Mecklenburg<br />
Vorpommern) das Erwerbslosenprojekt <strong>de</strong>r „Dau wat“Vereine ausgewählt. Alle<br />
an<strong>de</strong>ren Einrichtungen bzw. Institutionen wur<strong>de</strong>n dann in diesem Feld eruiert<br />
Weitere Fallstudien sollten Vergleichsebenen und Kontrastierungsmöglichkeiten<br />
zur Intensivfallstudie I bieten. Hierzu wur<strong>de</strong> mit allen Erwerbslosenbeauftragten<br />
<strong>de</strong>r einzelnen beteiligten Gewerkschaften Kontakt aufgenommen. Weiterführen<strong>de</strong><br />
Hinweise erbrachten nur die Kontakte mit <strong>de</strong>r IGMetall. Hierüber wur<strong>de</strong><br />
ein Kontakt zur Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Erwerbslosenprojekte in<br />
Bielefeld und ein Feldaufenthalt zur „16. Arbeitstagung gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen“in<br />
Bad Orb organisiert. So war es möglich, mit Erwerbslosenprojekten<br />
in einem Feldaufenthalt direkt Kontakt aufzunehmen und entsprechen<strong>de</strong><br />
Daten zu erheben. Es gelang auch, über Experten/inneninterviews geeignete Erwerbslosenprojekte<br />
auszuwählen, die für die Intensivfallstudie II in Frage kommen<br />
konnten. Von <strong>de</strong>n insgesamt sieben näher in Betracht kommen<strong>de</strong>n Projekten<br />
wur<strong>de</strong> das Stuttgarter Arbeitslosenzentrum SALZ e.V. ausgewählt.<br />
Übersicht 2: Die nähere Auswahl gewerkschaftlicher Erwerbslosenprojekte<br />
Ort Name Org.Form Angebot gegrün<strong>de</strong>t<br />
Essen Erwerbslosenausschuss<br />
Arbeitskreis/<br />
– Gruppe/<br />
1999<br />
ver.di<br />
Initiative<br />
Hannover Arbeitskreis Arbeitslose<br />
HannoverLin<strong>de</strong>n<br />
Köln Kölner Arbeitslosenzentrum<br />
KALZ e.V.<br />
Moers<br />
Moerser Arbeitslosenzentrum<br />
MALZ e.V.<br />
Stuttgart<br />
Stuttgarter Arbeitslosenzentrum<br />
SALZ e.V.<br />
Wetzlar Wetzlarer Arbeitsloseninitiative<br />
e.V.<br />
Arbeitslosenzentrum/ <br />
treff, Arbeitskreis, Gruppe,<br />
Initiative<br />
Beratungsstelle, Arbeitslosenzentrum/<br />
<br />
treff, Beschäftigungs<br />
/Qualifizierungsprojekt,<br />
e.V.<br />
Arbeitslosenzentrum/ <br />
treff<br />
Ol<strong>de</strong>nburg ALSO Arbeitslosenselbsthilfe<br />
Ol<strong>de</strong>nburg e.V.<br />
Beratungsstelle, Arbeitslosenzentrum/<br />
<br />
treff, e.V.<br />
Beratungsstelle, Arbeitslosenzentrum/<br />
<br />
treff, e.V.<br />
Beratungsstelle, Arbeitslosenzentrum/<br />
<br />
treff, Arbeitskreis,<br />
Gruppe, Initiative<br />
Beratung auch für ausländische<br />
Ratsuchen<strong>de</strong>, Bildungs<br />
und Freizeitangebote,<br />
LobbyRestaurant<br />
Sozialabbau, Zweiter Arbeitsmarkt,<br />
Langzeitarbeitslose,<br />
Netzwerk Nie<strong>de</strong>rrhein:<br />
„Arbeit für alle“<br />
Zeitung, RockTheater, Kurse<br />
zum AFG u. BSHG,<br />
Stadtteilberatung<br />
Psychologische Beratung<br />
und Coaching nach Vereinbarung<br />
Gartenprojekt, Kultur u. Soziales<br />
gemeinsam präsentieren,<br />
Bewerbungsbüro, Arbeitslosencafé,<br />
aktuelle<br />
Projekte<br />
1998<br />
1983<br />
1986<br />
1982<br />
1985<br />
1989<br />
Das Stuttgarter Arbeitslosenzentrum SALZ e.V. ist nicht nur Arbeitslosentreff<br />
und zentrum, son<strong>de</strong>rn auch Beratungsstelle wie die „Dau wat“Vereine. Es
84 <br />
ist schon seit Mitte <strong>de</strong>r 80er Jahre tätig und kann also auf eine langjährige Erfahrung<br />
zurückblicken. Und schließlich liegt es in <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn, eine für<br />
die Auswahl notwendige Tatsache, um die Vergleichsebene neue versus alte<br />
Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r zu gewährleisten.<br />
Wichtig für die Vergleichsebene war auch, dass SALZ ein Projekt in Ba<strong>de</strong>n<br />
Württemberg ist. Dieses Bun<strong>de</strong>sland spielt in bezug auf bürgerschaftliches Engagement<br />
in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik eine Vorreiterrolle. Traditionell gibt es <strong>hier</strong> ein größeres<br />
Potential und eine größere Bereitschaft zu freiwilligem Engagement. Im<br />
Selbstverständnis <strong>de</strong>r Bürger haben sich im Sinne von bürgerschaftlichen Engagement<br />
in <strong>de</strong>n letzten Jahren, vor allem durch die Intervention <strong>de</strong>s dortigen Sozialministeriums,<br />
beobachtbare Verän<strong>de</strong>rungen ergeben. Parallel dazu haben sich<br />
auch För<strong>de</strong>rstrukturen und Netzwerkstrukturen entwickelt. (vgl. Sozialministerium<br />
Ba<strong>de</strong>nWürttemberg 2001)<br />
Die drastischen Unterschie<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Erwerbslosenquoten <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r<br />
und die damit bedingten Schwerpunkte für gewerkschaftliche Arbeit sowie<br />
die Statusunterschie<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>ten eine weitere Kontrastierung.<br />
Diese vier zentralen Überlegungen veranlassten die Projektgruppe,<br />
<strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>s Arbeitslosenzentrums SALZ e.V. zuzustimmen. 27<br />
3.4 Intensivfallstudie I: „Fallstudie Küste“<br />
3.4.1 Auswahl <strong>de</strong>r Erhebungen<br />
Zu dieser Fallstudie gibt es verschie<strong>de</strong>ne Zugänge. Einen Anknüpfungspunkt<br />
bil<strong>de</strong>te die Staatskanzlei von MecklenburgVorpommern in Schwerin mit<br />
<strong>de</strong>m Bürgerreferat. Von <strong>hier</strong> gab es verschie<strong>de</strong>ne Anknüpfungspunkte an weitere<br />
Projekte. Der an<strong>de</strong>re Zugang und zentrale Ausgangspunkt <strong>de</strong>r „Fallstudie Küste“<br />
liegt bei <strong>de</strong>n „Dau wat“Vereinen. Diese sind auf Anregung und mit Unterstützung<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaft an mehreren Orten im Bereich Küste gegrün<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n.28 Im<br />
Mittelpunkt <strong>de</strong>r „Fallstudie Küste“steht <strong>de</strong>r „Dau wat“e.V. Rostock. Der „Dau wat“<br />
e.V. Schwerin wird als Vergleichsebene herangezogen.<br />
Insgesamt gab es neun Tage Feldaufenthalt, davon waren fünf Tage in einem<br />
Feldaufenthalt konzentriert.<br />
Übersicht 4: Die einzelnen Institutionen in bezug zur Gewerkschaft<br />
Ort „Dau wat“ Bezug Gewerkschaftsbezug außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
Schwerin<br />
Staatskanzlei, Bürgerreferat<br />
Schwerin „Aktion Strandgut“,<br />
DGBJugendNord<br />
Schwerin<br />
„Dau wat“e.V. Schwerin;<br />
Vereinsvorsitzen<strong>de</strong>r<br />
– DGBKreis Schwerin<br />
Schwerin<br />
„Viva Lüd“ Beratungsstelle<br />
und Begegnungs<br />
27 Ausgewählte ÜbersichtsSkizzen zu <strong>de</strong>n Fallstudien befin<strong>de</strong>n sich im Anhang.<br />
28 Insgesamt gibt es neun „Dau wat“Vereine: Boizenburg, Greifswald, Güstrow (geschlossen),<br />
Neubran<strong>de</strong>nburg, Rostock, Schwerin, Stralsund, Wismar und Wolgast.
85 <br />
stätte von „Dau wat“<br />
Rostock<br />
„Haltepunkt“Beratungsstelle<br />
und Begegnungsstätte<br />
von „Dau wat“<br />
Rostock IGMetall, Vereinsvorsitz<br />
von „Dau wat“<br />
Rostock<br />
Rostock<br />
Rostock<br />
Rostock<br />
Wismar<br />
Stralsund<br />
Greifswald<br />
Jugendberatungscafé<br />
„Come In“<br />
„Dau wat“e.V.<br />
Soziales Fürsorgezentrum<br />
Begegnungsstätte<br />
Ehrenamtsbörse<br />
Jugendberatungscafé<br />
„Lunte“<br />
Nachbarschaftsagentur<br />
Im Mittelpunkt <strong>de</strong>r „Fallstudie Küste“stehen die Gruppendiskussionen im<br />
„Dau wat“e.V. Rostock und Schwerin sowie die Gruppendiskussion <strong>de</strong>r Rostocker<br />
Ehrenamtsbörse „Marientreff“. Außer<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong>n Experten/inneninterviews,<br />
Gespräche und teilnehmen<strong>de</strong> Beobachtungen in diesen Einrichtungen durchgeführt.<br />
Darüber hinaus wur<strong>de</strong>n Experten/inneninterviews in an<strong>de</strong>ren Einrichtungen<br />
innerhalb <strong>de</strong>r „Fallstudie Küste“erhoben.29 In <strong>de</strong>r „Fallstudie Küste“wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Schwerpunkt <strong>de</strong>r Untersuchung auf die Gruppen <strong>de</strong>r Erwerbslosen und auf Jugendliche<br />
gelegt. Zu <strong>de</strong>n Ergebnissen, in <strong>de</strong>nen Jugendliche im Mittelpunkt stehen<br />
vgl. Kapitel 5.<br />
3.4.2 Die „Dau wat“Vereine als Teil <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit<br />
3.4.2.1 "Dau wat" e.V. Rostock und Wohngebietsarbeit<br />
„Dau wat“ist Platt<strong>de</strong>utsch und be<strong>de</strong>utet: tu was. In <strong>de</strong>n 90er Jahren sind<br />
insgesamt neun „Dau wat" Vereine im Bereich Küste (MecklenburgVorpommern)<br />
von <strong>de</strong>n Gewerkschaften IGMetall und ver.di initiiert wor<strong>de</strong>n. Ab 1996 hat sich<br />
das Land mit eigenen finanziellen Mitteln aus <strong>de</strong>m AQMVProgramm (Arbeit und<br />
Qualifizierung für MecklenburgVorpommern)30 beteiligt. Die Absicht war dabei,<br />
Ausgründungen aus <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n „Dau wat" Vereinen entwickelten Projekten zu<br />
för<strong>de</strong>rn. Der Lan<strong>de</strong>sverband wur<strong>de</strong> gegrün<strong>de</strong>t, um die ersten vier „Dau wat“Vereine<br />
zu koordinieren. Über diesen wur<strong>de</strong>n zwei Koordinierungsstellen und vier<br />
Regionalleiter finanziert. Das Mo<strong>de</strong>llProjekt Rostock wur<strong>de</strong> vom Land finanziert.<br />
Die Finanzierung <strong>de</strong>r einzelnen Mitarbeiter/innen vor Ort wur<strong>de</strong> über das Arbeitsamt<br />
bzw. Versorgungsamt bewerkstelligt (öffentliche För<strong>de</strong>rung). Kontakte<br />
29 Insgesamt wur<strong>de</strong>n 15 Diskussionen und Gespräche durchgeführt: drei Gruppendiskussionen<br />
und sieben Expert/innenintervies im Erwerbslosenbereich, zwei Gruppendiskussionen und drei<br />
Expert/inneninterviews im Jugendbereich.<br />
30 In diesem arbeitspolitischen Lan<strong>de</strong>sprogramm wur<strong>de</strong>n sechs „Stammstellen“(vollfinanzierte<br />
Stellen) geför<strong>de</strong>rt. Ab 40 ABMBeschäftigte gibt es eine „Stammstelle“. Diese Lan<strong>de</strong>sfinanzierung<br />
ist nach Expertenauskunft zusammengebrochen, so dass die festen Stellen mittlerweile weggefallen<br />
sind. Das neue Finanzierungsprogramm <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s ist das ASP (Arbeitsmarkt und Strukturentwicklungsprogramm).
86 <br />
gab es zu „Dau wat" e.V. Rostock, Schwerin und Stralsund. Im Zentrum <strong>de</strong>r Betrachtung<br />
steht <strong>de</strong>r „Dau wat" e.V. Rostock31, <strong>de</strong>r 1991gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>.<br />
Der Verein wird als „gewerkschaftliche Arbeitslosenbetreuung“ausgewiesen. So<br />
ist es auf <strong>de</strong>n Flyern und Broschüren von „Dau wat" zu lesen. Das Aufgabenfeld<br />
ist aber viel weiter gesteckt. Im Internet und auf Faltblättern wirbt „Dau wat" mit:<br />
• Informationen über Arbeitsför<strong>de</strong>rungsrecht, ABM, Arbeitslosengeld, Arbeitslosen<br />
und Sozialhilfe<br />
• Hilfe beim Erstellen von Bewerbungsunterlagen, Schreiben von Wi<strong>de</strong>rsprüchen,<br />
Ausfüllen von Anträgen, Umgang mit Behör<strong>de</strong>n<br />
• Durchführung von Informationsveranstaltungen, Seminaren, Klönsnack, Projektarbeit,<br />
Sportveranstaltungen, Kin<strong>de</strong>rferienlagern, Wohnbereichsarbeit<br />
• Mitarbeit und Beteiligung in Interessen und Selbsthilfegruppen<br />
Im Rostocker „Dau wat" sind zur Zeit acht Mitarbeiter/innen tätig: drei GAP<br />
(gemeinwohlorientierte Arbeitsför<strong>de</strong>rprojekte) (3 Jahre), drei SAM (3 Jahre) und<br />
zwei ABMBeschäftigte (1Jahr).<br />
Die Mitarbeiter/innen benennen folgen<strong>de</strong> Projektarbeit, die im „Dau wat"<br />
stattfin<strong>de</strong>t:<br />
• Beratung und Betreuung von Erwerbslosen<br />
o Informationsveranstaltungen für Bildungsträger (Erwerbslosenklassen)<br />
o Interessengruppen (Wan<strong>de</strong>rn, Kegeln, Bowling, kreatives Gestalten<br />
Töpfern, Weben, Sei<strong>de</strong>nmalerei)<br />
• Klönsnack<br />
• Schmarler Gespräche (Stadtteilgespräche mit an<strong>de</strong>ren Vereinen)<br />
• Selbsthilfewerkstätten (gemeinwohlorientierte Hilfe zur Selbsthilfe)<br />
• Computerunterweisungen<br />
• Computerkurs/Internet für Jugendliche<br />
• Kin<strong>de</strong>rferienlager (zusammen mit allen „Dau wat“Vereinen)<br />
• Erwerbslosenfrühstück (monatlich)<br />
Die Mitarbeiter/innen von „Dau wat" wer<strong>de</strong>n über <strong>de</strong>n Zweiten Arbeitsmarkt<br />
finanziert. Fast alle waren vorher in <strong>de</strong>r Fischerei und Werftindustrie beschäftigt.<br />
Die meisten von ihnen haben Hochschulabschlüsse im technischen bzw. ökonomischen<br />
o<strong>de</strong>r im pädagogischen Bereich (wie z. B. Maschinenbauingenieur/in auf<br />
<strong>de</strong>r NeptunWerft, Ingenieurökonom/in im Fischkombinat o<strong>de</strong>r Lehrer/in). Ein<br />
Hochschulabschluss ist Voraussetzung, um als Sozialberater/in tätig zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Mitarbeiter/innen sind von <strong>de</strong>n Massenentlassungen nach <strong>de</strong>r Schließung<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m dramatischen Abbau von Arbeitsplätzen in <strong>de</strong>n Großbetrieben vor Ort<br />
ebenfalls betroffen und kennen Passagen <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit, was sie als Vorteil<br />
für ihre jetzige Tätigkeit ansehen.<br />
Diese Erfahrung [<strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit, Anm. F.Ernst] ist ganz wichtig, um<br />
diese Arbeit <strong>hier</strong> machen zu können, um sich in die Menschen hineinversetzen zu<br />
können.(Expertinneninterview „Dau wat“) 32<br />
31 Im folgen<strong>de</strong>n Text steht die Bezeichnung „Dau wat“ohne weiteren Angaben allein für <strong>de</strong>n „Dau<br />
wat" e.V. Rostock.<br />
32 Alle Zitate aus <strong>de</strong>n Interviews und Gruppendiskussionen sind im Folgen<strong>de</strong>n kursiv gekennzeichnet.
87 <br />
Um die Beratungs und Betreuungstätigkeit im „Dau wat" professionell<br />
ausüben zu können, haben die Mitarbeiter/innen Umschulungen im Sozialbereich<br />
und/o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Rechtsberatung absolviert. So sei es mittlerweile nicht selten,<br />
dass das Arbeitsamt bei ihnen anrufe, um sich über bestimmte Probleme Antworten<br />
einzuholen.<br />
Die Leute sind qualifizierter als mancher Rechtsschutzsekretär, gera<strong>de</strong> was<br />
solche Instrumente wie Sozialgesetzgebung anbetrifft.(Experteninterview IGM<br />
Rostock)<br />
Die hohe Professionalität <strong>de</strong>s Personals allein reichte aber zu Beginn <strong>de</strong>s<br />
„Dau wat" Projektes nicht aus, <strong>de</strong>nn die Angebote wur<strong>de</strong>n kaum wahrgenommen.<br />
Das lag nach Meinung <strong>de</strong>r IGMetall Rostock an <strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>n Erfahrung und an<br />
<strong>de</strong>r Konzeptionslosigkeit <strong>de</strong>r außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit, in die das<br />
„Dau wat" Projekt eingebettet ist. Diese Konzeptionslosigkeit lässt sich vor Ort auf<br />
folgen<strong>de</strong>n Sachverhalt zurückführen. Die außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />
war unterentwickelt, weil <strong>de</strong>ren Notwendigkeit nicht gesehen wur<strong>de</strong>. Sie habe e<br />
her die Funktion einer „Feigenblattrolle“gehabt. Man setzte auf an<strong>de</strong>re Konzepte.<br />
Wir haben dann diese Auffanggesellschaften gebil<strong>de</strong>t, quasi mit <strong>de</strong>r Verbindung<br />
<strong>de</strong>s Instrumentariums <strong>de</strong>s AFG, Qualifizieren statt Entlassen, teilweise<br />
auch mit einer naiven Vorstellung. Wir schulen die alle um und hinterher fin<strong>de</strong>n<br />
die in an<strong>de</strong>ren Branchen Arbeit, die es überhaupt nicht gibt <strong>hier</strong>. Und die Kerne,<br />
die erhalten bleiben, wer<strong>de</strong>n dann möglicherweise so viel an Synergieeffekten<br />
auslösen, dass sich rundherum eine neue Beschäftigungsperspektive entwickelt.<br />
(...) Aber das <strong>bitte</strong>re Erwachen kam dann, nach<strong>de</strong>m eben halt das, was man sich<br />
so gerne gewünscht hat, eben halt nicht passiert ist. Es hat keine maßgeblichen<br />
Beschäftigungsalternativen gegeben und soweit trat massenhaft Arbeitslosigkeit<br />
ein. (Ders.)<br />
Daraus resultierte für die Gewerkschaft noch ein an<strong>de</strong>res Folgeproblem.<br />
Da sie in <strong>de</strong>n Umbau <strong>de</strong>s regionalen Arbeitsmarktes eingebun<strong>de</strong>n war, wur<strong>de</strong> sie<br />
für <strong>de</strong>n Exodus mit verantwortlich gemacht. Mit zunehmen<strong>de</strong>r Perspektivlosigkeit<br />
<strong>de</strong>r Betroffenen wuchs <strong>de</strong>ren Misstrauen gegenüber <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Das hatte<br />
massenhafte Mitglie<strong>de</strong>rverluste zur Folge.<br />
In <strong>de</strong>r Folgekette: Arbeitsplatzverlust, Glaubwürdigkeitsverlust, Hoffnungsverlust,<br />
Mitgliedschaftsverlust. (...)<br />
Wir haben dann sehr früh darüber nachgedacht, was bieten wir <strong>de</strong>n Menschen<br />
an, an sozialem Zusammenhalt, an Bün<strong>de</strong>lung, an Kampagnefähigkeit, an Politikfähigkeit.(Ders.)<br />
Diese Situation war ausschlaggebend für eine Gewerkschaftspolitik, die<br />
sich einer völlig verän<strong>de</strong>rten Arbeitsmarktsituation gegenüber sah und die hohe<br />
Mitglie<strong>de</strong>rverluste nach sich zog. Es ging dabei nicht nur um die Angebote, die<br />
<strong>de</strong>n Menschen gemacht wer<strong>de</strong>n sollten, son<strong>de</strong>rn auch darum, wie diese außerhalb<br />
<strong>de</strong>r betrieblichen Strukturen zu erreichen sind. Dazu war es auch innerhalb<br />
<strong>de</strong>r IGMetall notwendig, „klar zu machen, das auch die an<strong>de</strong>re Hälfte <strong>de</strong>r Mitgliedschaft<br />
einen Anspruch auf Beteiligung, auch auf politische Beteiligung und<br />
natürlich auch auf Integration hat.“(Experteninterview IGM Rostock). Die Rostocker<br />
Verwaltungsstelle versteht ihre außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit als<br />
„integrierte Gewerkschaftsarbeit“und meint damit die Verbindung von betrieblicher<br />
und außerbetrieblicher Gewerkschaftsarbeit. Um dieses Anliegen umsetzen<br />
zu können, sei es wichtig gewesen Strukturen aufzubauen, die wohnbereichsbe
88 <br />
zogen sind. „Dau wat" wird in diesem Zusammenhang als Teil <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit<br />
verstan<strong>de</strong>n.<br />
1999 zog „Dau wat" in ein mit ehrenamtlicher Hilfe als „Kommunikationsund<br />
Beteiligungszentrum“hergerichtetes ehemaliges Bahnhofshäuschen. Dieses<br />
liegt mitten in einem Wohngebiet <strong>de</strong>s Rostocker Nordwestens (Plattenbausiedlung)<br />
und firmiert nun unter <strong>de</strong>m Namen „Haltepunkt“. Die Bezeichnung „Kommunikations<br />
und Beteiligungszentrum“ist Programm. Sie verweist auf die Offenheit<br />
<strong>de</strong>s Zentrums, das nicht nur Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Gewerkschaften offen stehen soll und<br />
verfolgt die I<strong>de</strong>e, dass die Menschen „wie<strong>de</strong>r anfangen miteinan<strong>de</strong>r zu re<strong>de</strong>n und<br />
die Sprachlosigkeit untereinan<strong>de</strong>r zu verlieren“. (Experteninterview IGM Rostock)<br />
Im „Haltepunkt“wer<strong>de</strong>n nicht nur Beratungsgespräche33 durchgeführt. Hier<br />
fin<strong>de</strong>n auch Vortragsreihen, Informationsveranstaltungen, Versammlungen und<br />
die stadtteilbezogenen „Schmarler Gespräche“mit an<strong>de</strong>ren Vereinen und Einrichtungen<br />
statt. Die Interessengruppen treffen sich <strong>hier</strong>, das Beratungsteam (B<br />
Team) hat <strong>hier</strong> einen Raum und die IGMetall Jugend trifft sich im eigens eingerichteten<br />
Keller <strong>de</strong>s Hauses. Im Hof befin<strong>de</strong>n sich die Selbsthilfewerkstätten. Darüber<br />
hinaus ist <strong>de</strong>r Hof so hergerichtet, dass Veranstaltungen und Feste ausgerichtet<br />
wer<strong>de</strong>n können.34<br />
Mittlerweile hat sich „Dau wat" als feste Einrichtung etabliert. Das beruht<br />
auf <strong>de</strong>r Verbindung verschie<strong>de</strong>ner Voraussetzungen und Bedingungen:<br />
• Die Arbeit von „Dau wat" ist wohnbereichsbezogen und an <strong>de</strong>n Bedürfnissen<br />
<strong>de</strong>r einzelnen orientiert.<br />
• „Dat wat“ist auch für NichtMitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gewerkschaften offen<br />
• Mit <strong>de</strong>m dafür geschaffenen „Beteiligungs und Kommunikationszentrum“wird<br />
dieser Arbeit auch Symbolkraft verliehen.<br />
• Die Mitarbeiter/innen von „Dau wat“kennzeichnet hohe Professionalität<br />
und großes Engagement<br />
• „Dau wat“erhält Unterstützung durch die IGMetall und ver.di, die <strong>de</strong>m<br />
Aufbau außerbetrieblicher Strukturen großes Gewicht beimessen.<br />
• Die Unterstützung durch die IGMetall wird von <strong>de</strong>n Mitarbeiter/innen<br />
von „Dau wat" hervorgehoben. Ohne diese wäre eine Arbeit, wie sie sie<br />
<strong>hier</strong> ausführen gar nicht möglich. Damit ist nicht nur die technische und<br />
finanzielle Unterstützung gemeint, son<strong>de</strong>rn vor allem die strukturelle.<br />
Diese sei nach Auskunft <strong>de</strong>s Vorstan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r IGMetall aber sehr personenabhängig.<br />
Das lässt sich am Beispiel Rostock gut ver<strong>de</strong>utlichen. Außerbetriebliche<br />
Gewerkschaftsarbeit wird <strong>hier</strong> nicht nur als Beratungs und Betreuungsarbeit aufgefasst,<br />
son<strong>de</strong>rn als Beteiligungsmöglichkeit für „die an<strong>de</strong>re Hälfte“(die aus <strong>de</strong>r<br />
Erwerbsarbeit Ausgegrenzten). Dieser Unterschied ist nicht nur ein lapidar begrifflicher,<br />
son<strong>de</strong>rn er verweist auf unterschiedliche Auffassungen und Konzepte.<br />
Daraus leiten sich verschie<strong>de</strong>ne Verständnisse ab, welche sich in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung<br />
manifestieren, die man <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit zumisst. Geht<br />
man über die Auffassung einer Beratungs und Betreuungsarbeit nicht hinaus, so<br />
zieht das auch eine begrenzte Angebotsstruktur nach sich. Aus Sicht einer ge<br />
33 Einmal wöchentlich führt "Dau wat" zusätzlich im Gewerkschaftshaus im Stadtzentrum Beratungsgespräche<br />
durch.<br />
34 Die Stiftung für „Solidarität und Armut“hat 2000 <strong>de</strong>n Rostocker "Dau wat" e. V. von 74 Bewerbern<br />
ausgewählt und ausgezeichnet.
89 <br />
werkschaftlichen Beteiligungsperspektive müssen darüber hinaus Angebote offerieren<br />
wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n einzelnen die Chance von Teilhabe bietet. Dabei kommt<br />
sie letzten En<strong>de</strong>s nicht umhin, an <strong>de</strong>n konkreten alltäglichen Interessen und Bedürfnissen<br />
anzusetzen. Sie muss einer Öffnung für Belange, die außerhalb <strong>de</strong>r<br />
Erwerbsarbeit liegen, das Wort re<strong>de</strong>n.<br />
Der Unterschied bei<strong>de</strong>r Perspektiven besteht nicht in verschie<strong>de</strong>nen Auffassungen<br />
in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung von Mitgliedschaften. Es wäre eine verkürzte Sicht,<br />
anzunehmen, dass es sich dabei um moralisch divergieren<strong>de</strong> Einschätzungen<br />
han<strong>de</strong>lt. Denn aus Sicht <strong>de</strong>r Beteiligungsperspektive geht es nicht einfach darum,<br />
sozialmoralischen Ansprüchen in einer von Erwerbslosigkeit gekennzeichneten<br />
Zeit gerecht zu wer<strong>de</strong>n. Auch <strong>hier</strong> steht das Problem <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rverluste im<br />
Mittelpunkt. Das Ziel, Mitglie<strong>de</strong>r zu gewinnen und zu halten, steht einer Öffnung<br />
für außerbetriebliche Belange nicht entgegen. Nur können diese sich eben nicht in<br />
Beratung und Betreuung von aus <strong>de</strong>m Erwerbsleben ausgeschie<strong>de</strong>nen Mitglie<strong>de</strong>rn<br />
erschöpfen. Die einigen<strong>de</strong> Frage ist, wie können Mitglie<strong>de</strong>rverluste verhin<strong>de</strong>rt<br />
und neue Mitglie<strong>de</strong>r gewonnen wer<strong>de</strong>n? Die Beratungs und Beteiligungsperspektive<br />
bleibt <strong>hier</strong> in <strong>de</strong>n Denkmustern <strong>de</strong>r Erwerbsgesellschaft gefangen. D. h.<br />
nicht, dass perspektivisch an eine Vollbeschäftigung geglaubt wird. Sie hat die<br />
Situation einer hohen Dauerarbeitslosigkeit aber nicht als Status Quo in ihr<br />
Selbstverständnis integriert. Beratung und Betreuung reicht für Erwerbslose, die<br />
sich perspektivisch höchstens am Zweiten Arbeitsmarkt orientieren können, nicht<br />
aus, um an die Gewerkschaften gebun<strong>de</strong>n zu bleiben bzw. um für diese gewonnen<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Die Beteiligungsperspektive setzt dagegen am Status Quo <strong>de</strong>r<br />
Unterbeschäftigung an. Sie stellt von <strong>hier</strong> aus die Frage, wie können Mitglie<strong>de</strong>r<br />
und potentielle Mitglie<strong>de</strong>r, die dauerhaft aus <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit ausgegrenzt sind,<br />
in die Gewerkschaften integriert wer<strong>de</strong>n?<br />
Der Erwartung an die Gewerkschaften, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen,<br />
kann diese nicht gerecht wer<strong>de</strong>n. Sie kann auch nur sehr bedingt <strong>de</strong>n<br />
massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen verhin<strong>de</strong>rn. Das wirft – neben <strong>de</strong>m daraus<br />
resultieren<strong>de</strong>n Vertrauensverlust eine generelle Frage für die Gewerkschaften<br />
auf: Wie kann sie ihre gesellschaftspolitische Macht, die nicht zuletzt von ihren<br />
Mitglie<strong>de</strong>rzahlen abhängt, gewährleisten, wenn Erwerbsarbeit sukzessive abnimmt?<br />
Antworten liegen in <strong>de</strong>n Überlegungen, die eine Beteiligungsperspektive<br />
eröffnet.<br />
Diese unterschiedlichen Verständnisse spiegeln sich auch im Verständnis<br />
zu ehrenamtlicher Arbeit. Sollen ehrenamtliche Tätigkeiten mehr sein als<br />
Hilfs(dienst) leistungen, die die Arbeit <strong>de</strong>r Hauptamtlichen unterstützen? Diese<br />
Diskrepanz fin<strong>de</strong>t sich nicht nur zwischen „altem“und „neuem“Ehrenamt, son<strong>de</strong>rn<br />
auch innerhalb <strong>de</strong>s „neuen Ehrenamtes“selbst. Es wird zwar auf das Bedürfnis<br />
<strong>de</strong>r Engagierten auf mehr Eigenverantwortung und Eigengestaltung in <strong>de</strong>r<br />
ehrenamtlichen Arbeit eingegangen und <strong>de</strong>m Rechnung getragen, aber die Interessen<br />
am Engagement sind ausschließlich am Organisationsinteresse ausgerichtet.<br />
Die Engagierten leisten <strong>hier</strong> vor allem Arbeit im Bereich <strong>de</strong>r Betreuung.<br />
Das konnte in verschie<strong>de</strong>nen Gesprächen, Experten/inneninterviews und Gruppendiskussionen<br />
festgestellt wer<strong>de</strong>n (beispielsweise in Erfurt, Rostock und Düsseldorf).<br />
Diese Form <strong>de</strong>s Engagements setzt eine Bindung an die Gewerkschaften<br />
voraus. Die kann zum einen sozialisationsbedingt, zum an<strong>de</strong>ren arbeitstechnisch<br />
bedingt sein, und natürlich auch bei<strong>de</strong> Gegebenheiten beinhalten. Vorruhe
90 <br />
ständler und Senioren, die gewerkschaftlich sozialisiert sind, bil<strong>de</strong>n eine Gruppe,<br />
die für diese Form <strong>de</strong>s Engagements prä<strong>de</strong>stiniert ist. Die an<strong>de</strong>re Gruppe ist in<br />
<strong>de</strong>n Beratern und Betreuern auszumachen, die in Projekten, die über <strong>de</strong>n Zweiten<br />
Arbeitsmarkt finanziert wer<strong>de</strong>n, gewerkschaftliche Arbeit leisten. Erwerbslose waren<br />
in diesem Sinne nur dann ehrenamtlich tätig, wenn ihre über <strong>de</strong>n Zweiten Arbeitsmarkt<br />
finanzierte Stelle ausgelaufen war, sie also vorher quasi hauptamtlich<br />
beschäftigt waren. Oft ist das Engagement dann von <strong>de</strong>r Hoffnung getragen, über<br />
neue Maßnahmen wie<strong>de</strong>r in diese Form <strong>de</strong>s Beschäftigungsverhältnisses zu gelangen.<br />
Diese Erhebungsresultate korrespondieren auch mit <strong>de</strong>n Befun<strong>de</strong>n aus<br />
an<strong>de</strong>ren Studien, die ebenfalls zu <strong>de</strong>r Feststellung gelangen, dass viele Beschäftigte<br />
<strong>de</strong>s Zweiten Arbeitsmarktes nach Auslaufen <strong>de</strong>r befristeten Stellen weiterhin<br />
<strong>de</strong>n Kontakt auf ehrenamtlicher Basis halten.<br />
Generell bleibt festzustellen, dass Erwerbslose – wie allgemein bei freiwilligem<br />
Engagement – auch im „Dau wat" Projekt unterrepräsentiert sind. Sie sind<br />
über die Strukturen von „Dau wat" nur schwer zu erreichen. Die Tatsache, dass<br />
man mit <strong>de</strong>r Bezeichnung „Kommunikations und Beteiligungszentrum“ einer<br />
Stigmatisierung, die im Begriff Arbeitslosenzentrum liegt, entgegenzuwirken ge<strong>de</strong>nkt,<br />
än<strong>de</strong>rt daran wenig. Gera<strong>de</strong> in Ost<strong>de</strong>utschland ist die Gefahr <strong>de</strong>r Isolation<br />
bei anhalten<strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit groß. Die DDRBetriebe hatten sich <strong>de</strong>n betriebswirtschaftlich<br />
unrentablen „Luxus“einer betrieblichen Sozialpolitik erlaubt.<br />
Die Erwerbstätigen waren über ihre Arbeitskollektive in Zusammenhänge integriert,<br />
die über die Erwerbsarbeit hinausreichten. Mit <strong>de</strong>m Verlust <strong>de</strong>s Arbeitsplatzes<br />
sind die einzelnen damit auch von diesen Netzwerken – soweit sie heute<br />
noch bestehen – abgeschnitten. Die Annahme, die in Interviews in <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
geäußert wur<strong>de</strong>, dass Massenarbeitslosigkeit einen Solidarisierungseffekt<br />
zur Folge hätte, <strong>de</strong>r einer Isolation durch Stigmatisierung entgegenwirke,<br />
führt zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn ins Leere.<br />
Die Gewerkschaften wer<strong>de</strong>n als berufliche InteressenVertretungs<br />
Organisationen wahrgenommen, die das Interesse <strong>de</strong>r Erwerbslosen, in Erwerbsverhältnisse<br />
zu kommen, nicht erfüllen können. Der in Frage gestellte Nutzen einer<br />
Mitgliedschaft seitens <strong>de</strong>r Betroffenen ist daher nicht auf <strong>de</strong>n ihnen häufig von<br />
dritten unterstellten Egoismus, son<strong>de</strong>rn auf die Organisationen selbst zurückzuführen.<br />
Bei <strong>de</strong>r (Rück) Gewinnung und <strong>de</strong>m Halten von Mitglie<strong>de</strong>rn sowie bei <strong>de</strong>r<br />
Gewinnung von Ehrenamtlichen muss sich die Gewerkschaft in <strong>de</strong>r außerbetrieblichen<br />
Gewerkschaftsarbeit dieser Situation stellen. Ein Appellieren an Gemeinschaftsziele,<br />
von <strong>de</strong>nen die Erwerbslosen nicht mehr unmittelbar betroffen sind,<br />
dürfte keine geeignete Strategie sein.<br />
Die gewerkschaftliche Wohngebietsarbeit in Rostock läuft zum großen Teil<br />
über engagierte Senioren. Sie sind <strong>hier</strong> unter an<strong>de</strong>rem in <strong>de</strong>n sogenannten B<br />
Teams in <strong>de</strong>n Wohngebieten aktiv. Der Aufbau von gewerkschaftlichen Strukturen<br />
im Wohngebiet über die Senioren trägt laut einiger Mitarbeiter/innen von „Dau<br />
wat" allerdings auch zum Teil dazu bei, dass Erwerbslose nicht erreicht wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Wohngebietsarbeit ist eigentlich was, was uns noch nicht so befriedigt,<br />
weil bei <strong>de</strong>n Veranstaltungen in <strong>de</strong>n Wohnbereichen ja überwiegend Senioren<br />
sind. Wir ham‘s noch nicht geschafft, die Erwerbslosen zu diesen Veranstaltungen<br />
in Scharen hin zu kriegen. (...) Das sind eingelaufene Strukturen, die schon jahrelang<br />
praktisch über die Gewerkschaft selber auch gehen, und zu <strong>de</strong>nen, äh, fast<br />
ausschließlich Senioren kommen, die immer wie<strong>de</strong>r da sind, und das ist auch
91 <br />
schon von einigen Jüngeren dann gesagt wor<strong>de</strong>n, na ja also, da sind ja nur die<br />
Senioren, nee, da fühl ich mich nich wohl.<br />
Frage: Und was sind das für Veranstaltungen innerhalb <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit,<br />
die Sie da machen?<br />
Ja, das sind auch so themenbezogene Veranstaltungen. Und die wer<strong>de</strong>n<br />
aber auch schon jahrelang von <strong>de</strong>n Senioren praktisch organisiert. Den Gewerkschaftssenioren,<br />
ne. Und in diese Strukturen jetzt einzugreifen ist nich einfach.<br />
(Expertin "Dau wat")<br />
Aus Sicht von „Dau wat" haben die Senioren sozusagen eine doppelte<br />
Dominanz. Zum einen sind sie die dominieren<strong>de</strong> Gruppe bei <strong>de</strong>n Veranstaltungen,<br />
wodurch sich die NichtSenioren offensichtlich <strong>de</strong>plaziert fühlen. Zum an<strong>de</strong>ren<br />
dominieren sie die gewerkschaftliche Wohngebietsarbeit. Diese Arbeit ist für<br />
„Dau wat“quasi außenpolitische Arbeit, über die sie Menschen erreichen. Sie ist<br />
aus Sicht von „Dau wat“ein Teil ihres Arbeitsgebietes und nicht umgekehrt „Dau<br />
wat“Teil <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Wohngebietsarbeit.<br />
Da die Wohngebietsarbeit in erster Linie ehrenamtlich erfolgen soll, war<br />
und ist das Engagement <strong>de</strong>r Senioren für <strong>de</strong>n Aufbau entsprechen<strong>de</strong>r Strukturen<br />
in <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit unerlässlich. Auf sie konnte dabei am ehesten zurück<br />
gegriffen wer<strong>de</strong>n. Wie die Wohngebietsarbeit aus Sicht <strong>de</strong>r Senioren eingeschätzt<br />
wird, was ihre Motive für ein ehrenamtliches Engagement sind und in welchem<br />
Zusammenhang <strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>m Engagement <strong>de</strong>r Erwerbslosen steht, soll anhand<br />
<strong>de</strong>r Gruppendiskussion analysiert wer<strong>de</strong>n, die mit ehrenamtlich Engagierten im<br />
„Kommunikations und Beteiligungszentrum Haltepunkt“durchgeführt wur<strong>de</strong>. 35<br />
3.4.2.2 Die Be<strong>de</strong>utung ehrenamtlichen Engagements aus Sicht <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen<br />
Grundlegend für ein Engagementverständnis und <strong>de</strong>r daraus resultieren<strong>de</strong>n<br />
Motivation ist die biographische Situation <strong>de</strong>r Engagierten. Das Motiv zum<br />
Engagement und die Gelegenheit sich zu engagieren, müssen in <strong>de</strong>r jeweiligen<br />
Lebenssituation zusammentreffen. Dabei spielt <strong>de</strong>r Rahmen, in <strong>de</strong>m dieses Engagement<br />
stattfin<strong>de</strong>t bzw. stattfin<strong>de</strong>n soll, eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle. Dieser muss<br />
ein Engagement ermöglichen, <strong>de</strong>r es erlaubt, normative Werte zu integrieren. Für<br />
Erwerbslose ist es wichtig, perspektivische Integrationsoptionen in diesem Rahmen<br />
o<strong>de</strong>r über diesen Rahmen hinaus zu gewährleisten.<br />
Die ehrenamtlich Engagierten, die in bzw. über „Dau wat" engagiert sind,<br />
lassen sich zwei Gruppen zuordnen: <strong>de</strong>n Senioren und <strong>de</strong>n Erwerbslosen. 36 Erstere<br />
sind in <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Wohngebietsarbeit aktiv. Das ist nicht zuletzt<br />
<strong>de</strong>m Umstand geschul<strong>de</strong>t, dass beim Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen im<br />
Wohngebiet auf ein ehrenamtliches Potential mit Organisationserfahrung zurück<br />
gegriffen wer<strong>de</strong>n musste. Für die Senioren hat sich damit ein Feld eröffnet, in<strong>de</strong>m<br />
sie selbständig und eigenverantwortlich agieren. Mitte <strong>de</strong>r 90er Jahre schlossen<br />
sie sich in einem Seniorenarbeitskreis zusammen, <strong>de</strong>r sich die Aufgabe stellte,<br />
35 Die Gruppendiskussion wur<strong>de</strong> am 24. Mai 2002 durchgeführt. Insgesamt nahmen fünf Ehrenamtliche<br />
(eine Frau, vier Männer) und eine Mitarbeiterin teil. Die Diskussion wur<strong>de</strong> technisch aufgezeichnet<br />
und später zu Auswertungszwecken transkribiert.<br />
36 Alle Engagierten sind Mitglied <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Die Senioren waren während ihres Berufslebens<br />
ehrenamtlich o<strong>de</strong>r hauptamtlich in <strong>de</strong>r Gewerkschaft tätig.
92 <br />
Strukturen zu bil<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen die Mitglie<strong>de</strong>r im Wohngebiet erreicht wer<strong>de</strong>n<br />
können.<br />
Das führte dann dazu, dass 1995 sich ein Seniorenarbeitskreis bil<strong>de</strong>te mit<br />
<strong>de</strong>n Aktivsten <strong>de</strong>r Seminarteilnehmer. Und dieser Seniorenarbeitskreis beschäftigte<br />
sich dann damit und sagte, wir müssen die Wohnbereiche, in die Wohngebiete<br />
rein und haben dann angefangen eine Seniorenarbeit innerhalb <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Stadtteile zu organisieren, mit <strong>de</strong>n aktiven Mitglie<strong>de</strong>rn dieses Seniorenarbeitskreises.<br />
Wo dann immer mehr Senioren zusammengeführt wur<strong>de</strong>n und somit war<br />
dann schon eine aktive Ehrenamtlichkeit nicht nur die <strong>de</strong>s Teilnehmens an Seminaren<br />
und Versammlungen, son<strong>de</strong>rn es war etwas zu organisieren und dadurch<br />
entstand eben eine geordnete, organisierte ehrenamtliche Arbeit in <strong>de</strong>n Wohnbereichen.<br />
(Senior E)<br />
E ist ehrenamtlich tätig, um sich nach <strong>de</strong>m Ausschei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Berufsleben<br />
gesellschaftlich zu betätigen. Er wollte etwas im Bereich soziale Betreuung<br />
machen. Beruflich war er auf <strong>de</strong>r Werft für soziale Fragen zuständig. Ehrenamtlich<br />
tätig zu sein, be<strong>de</strong>utet für ihn auch, seine Lebenserfahrung, Kenntnisse und Fähigkeiten<br />
sowie Sachkenntnis einzubringen. Durch das Organisieren <strong>de</strong>r Seniorenarbeit<br />
in <strong>de</strong>n Wohngebieten entstand nach E eine „aktive Ehrenamtlichkeit“,<br />
die sich nicht nur durch die Teilnahme an Seminaren und Versammlungen auszeichnet,<br />
son<strong>de</strong>rn die im speziellen Bereich <strong>de</strong>s Wohngebietes gewerkschaftliche<br />
Arbeit organisierte. „Dadurch entstand eben eine geordnete, organisierte ehrenamtliche<br />
Arbeit in <strong>de</strong>n Wohnbereichen“(Senior E). Eine „aktive Ehrenamtlichkeit“<br />
im Sinne von E meint eine Ehrenamtlichkeit, die nicht nur partizipiert (Veranstaltungen),<br />
son<strong>de</strong>rn die selbst tätig wird (organisieren <strong>de</strong>r Senioren und Arbeitslosenarbeit).<br />
Ziel sei es dabei auch gewesen, die Arbeitslosen und die Kollegen aus<br />
<strong>de</strong>n Klein und Mittelbetrieben zu erreichen.<br />
E versteht <strong>de</strong>n Seniorenarbeitskreis als aktiven Teil <strong>de</strong>r Gewerkschaftsarbeit.<br />
Durch die Zielsetzung <strong>de</strong>s Seniorenarbeitskreises, Einfluss auf die Arbeit<br />
(und auf die Vertrauensleutekörperleitungen) in <strong>de</strong>n Wohnbereichen zu nehmen,<br />
bekommt das ehrenamtliche Engagement einen gewichtigeren Inhalt. Es zeigt<br />
sich, dass die Beteiligung an gewerkschaftlicher Arbeit motivierend wirkt und als<br />
eigentliche Aktivität verstan<strong>de</strong>n wird. Man bleibt nicht nur interessiert, son<strong>de</strong>rn<br />
man bleibt tätig.<br />
Ja, ich muss mal sagen, wir alle machen schon lange ehrenamtliche Arbeit.<br />
Wir haben das also zu DDRZeiten schon gemacht und es ist eigentlich immer<br />
noch für mich persönlich das gleiche, wie damals, dass ich gesagt habe, bestimmte<br />
Dinge, die müssten gemacht wer<strong>de</strong>n. Das ist, also, das ist erfor<strong>de</strong>rlich.<br />
Also die Einsicht in bestimmte Notwendigkeiten und es ist natürlich jetzt ein zusätzliches<br />
Element dazu gekommen, nach Ausschei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Arbeitsprozess,<br />
dass man sich natürlich dann auch ne Aufgabe suchen wollte, in <strong>de</strong>r man also<br />
sich selber da ein bisschen bestätigen kann, ohne das an<strong>de</strong>re aus <strong>de</strong>m Auge zu<br />
verlieren. Also für eine bestimmte Sache etwas zu leisten, für eine Sache, die<br />
man für notwendig erachtet. (Senior C)<br />
Deutlich wird an diesem Zitat, dass C an seine Tätigkeit in <strong>de</strong>r DDR anschließt.<br />
Er verweist darauf, dass „wir“(gemeint sind die an<strong>de</strong>ren Senioren) schon<br />
lange ehrenamtliche Arbeit machen wür<strong>de</strong>n. Sie waren schon zu DDRZeiten ehrenamtlich<br />
aktiv und es sei immer noch das Gleiche wie damals: „bestimmte Din
93 <br />
ge, die müssen gemacht wer<strong>de</strong>n. Das ist also, das ist erfor<strong>de</strong>rlich. Also Einsicht in<br />
bestimmte Notwendigkeiten.“<br />
Der Wechsel aus <strong>de</strong>m FDGB in die Gewerkschaften <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik<br />
hat das grundlegen<strong>de</strong> Moment gewerkschaftlicher Arbeit nicht verän<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r gar<br />
zerstört: Die Einsicht, dass „bestimmte Dinge getan wer<strong>de</strong>n müssen“, sowie „die<br />
Pflicht und die Aufgabe, einen Beitrag zu leisten“. Ehrenamtliches Engagement<br />
weist eine Kontinuität auf, die durch die Wen<strong>de</strong> nicht unterbrochen wur<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />
im Kern gleich blieb. Neben dieser „Notwendigkeit“ist es ein zusätzliches<br />
Moment, sich nach Ausschei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Arbeitsprozess eine Aufgabe zu suchen,<br />
„in <strong>de</strong>r man also sich selber da ein bisschen bestätigen kann, ohne das an<strong>de</strong>re<br />
aus <strong>de</strong>m Auge zu verlieren. Also für eine bestimmte Sache etwas zu leisten.“<br />
(Senior C)<br />
Erkennbar sind zwei Beweggrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Senioren, sich ehrenamtlich zu engagieren:<br />
1. die Einsicht in die Notwendigkeit, dass bestimmte Dinge getan wer<strong>de</strong>n<br />
müssen und 2. sich im Ruhestand eine Aufgabe zu suchen, die einen bestätigt.<br />
Das nachberufliche Engagement kommt zusätzlich hinzu und darf nicht dazu<br />
führen, das an<strong>de</strong>re aus <strong>de</strong>n Augen zu verlieren. Das an<strong>de</strong>re ist die gewerkschaftliche<br />
Arbeit o<strong>de</strong>r etwas allgemeiner, gesellschaftspolitisches Engagement. Nach<br />
wie vor hat dieses Priorität. Die Notwendigkeit gewerkschaftspolitischer Arbeit<br />
bleibt bestehen.<br />
Ich sehe in <strong>de</strong>r Ehrenamtlichkeit als Rentner noch folgen<strong>de</strong>n positiven Effekt,<br />
dass man viele Kollegen aus <strong>de</strong>m Arbeitsleben wie<strong>de</strong>r trifft. Wenn man sich<br />
zum Beispiel jetzt in <strong>de</strong>r Gewerkschaft engagiert, dann hat man hin und wie<strong>de</strong>r<br />
auch eine Zusammenkunft zu bestimmten Themen. (...) Und das möchte ich ganz<br />
dick unterstreichen, wie C das schon sagt, dass man das Gefühl hat, man wird<br />
noch gebraucht irgendwie.“(Vorruheständler D)<br />
Ehrenamtliche Tätigkeit verweist <strong>hier</strong> auf die Möglichkeit, Kontakte aus<br />
<strong>de</strong>m Berufsleben aufrechtzuerhalten und ein Zusammengehörigkeitsgefühl – besser<br />
vielleicht Zugehörigkeitsgefühl – zu reproduzieren. Wichtig ist aber vor allem<br />
das Gefühl, gebraucht zu wer<strong>de</strong>n: „das möchte ich ganz dick unterstreichen.“In<br />
<strong>de</strong>m man das Gefühl <strong>de</strong>s GebrauchtWer<strong>de</strong>ns vermittelt bekommt, kann Sinnhaftigkeit<br />
und I<strong>de</strong>ntität über die ehrenamtliche Tätigkeit garantiert und beför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />
Ehrenamtliche Tätigkeit, vor allem aber gewerkschaftliche Arbeit, war Teil<br />
<strong>de</strong>s Berufslebens. Sinn und I<strong>de</strong>ntität wer<strong>de</strong>n durch eine Fortführung ehrenamtlicher<br />
Tätigkeit aufrechterhalten. Die Kontinuität besteht letzten En<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung<br />
dieser Bestätigungen. Normative Orientierungen erfahren dadurch<br />
keinen Bruch, son<strong>de</strong>rn können immer wie<strong>de</strong>r bestärkt und reproduziert wer<strong>de</strong>n.<br />
Das ist über die Erfahrungen und beson<strong>de</strong>rs die konkreten Tätigkeiten innerhalb<br />
<strong>de</strong>r Ehrenamtlichkeit gegeben.<br />
Es geht <strong>hier</strong> um die Kontinuität <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung gewerkschaftlicher Arbeit.<br />
Dass ehrenamtliches Engagement darin eine beson<strong>de</strong>re Stellung erfährt, ist <strong>de</strong>m<br />
Umstand geschul<strong>de</strong>t, dass man aus <strong>de</strong>m Erwerbsleben ausgeschie<strong>de</strong>n ist. Über<br />
die ehrenamtliche Tätigkeit lassen sich Kontakte zu ehemaligen Arbeitskollegen<br />
aufrecht erhalten. Da man noch gebraucht wird fühlt man sich bestätigt. Aber vor<br />
allem verliert man darüber nicht die (sinnstiften<strong>de</strong>) Be<strong>de</strong>utung gewerkschaftlicher<br />
Arbeit aus <strong>de</strong>n Augen. Im Gegenteil, man hat weiterhin daran Teil, und ist somit<br />
weiter integrativer Bestandteil in <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Wen<strong>de</strong> und Ruhestand verlie
94 <br />
ren damit ihre Gefahren. Trotz dieser Brüche, o<strong>de</strong>r besser über diese Brüche hinaus<br />
wird die Kontinuität sinnstiften<strong>de</strong>r Tätigkeit aufrecht erhalten.<br />
Wir haben nun aber auch, als unsere Aufgabe sehen wir an, dass wir bestimmte,<br />
äh, Dinge entgegenwirken, die eigentlich nicht in die Landschaft passen.<br />
Es gibt einige Kollegen, aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer, die erklären dann <strong>de</strong>n<br />
Austritt. Wir nehmen uns dieser Kollegen an und sprechen mit ihnen, dass es<br />
doch darum geht, die Solidarität und bestimmte Dinge <strong>de</strong>r, äh, Zusammengehörigkeit<br />
weiterzuführen. Weil ja bestimmte Kreise, in Anführungsstriche Unternehmer<br />
und so, die halten schon zusammen, ne. Aber die Arbeiter o<strong>de</strong>r die Beschäftigten,<br />
ich will das nicht auf Arbeiter reduzieren, müssen in <strong>de</strong>r heutigen Zeit, das<br />
ist notwendiger <strong>de</strong>nn je, zusammenhalten, um bestimmte, äh, Interessen, die unbedingt<br />
richtig sind, durchsetzen zu können. (...) Also aus dieser Sicht heraus sehe<br />
ich meine ehrenamtliche Tätigkeit auch als Vertrauensmann im Wohngebiet<br />
und mit <strong>de</strong>n Senioren zusammenzuarbeiten und, äh, ich fin<strong>de</strong> das eine gute Sache<br />
und erfülle damit auch mein eigenes egoistisches Vorhaben. (...) Gewerkschaftsarbeit<br />
habe ich mal hauptamtlich gemacht. (...) Aber trotz<strong>de</strong>m ist die Gewerkschaftsarbeit<br />
das, was ich eigentlich, ich nenn es mal so, noch brauche.( Vorruheständler<br />
D)<br />
Über die konkrete Aufgabe, innerhalb <strong>de</strong>s BTeams Mitglie<strong>de</strong>r zu beraten<br />
und zu betreuen, wird <strong>de</strong>r allgemeineren Aufgabe „bestimmten Dingen entgegenzuwirken,<br />
die eigentlich nicht in die Landschaft passen“genüge getan. Ehrenamtliche<br />
Tätigkeit dient <strong>hier</strong> nicht nur dazu, die eigenen Erfahrungen und Kompetenzen<br />
zu Verfügung zu stellen, son<strong>de</strong>rn an politischer Gestaltung teilzuhaben. „Dinge<br />
die eigentlich nicht in die Landschaft passen“, sind z.B. die Austrittserklärungen<br />
einiger Mitglie<strong>de</strong>r. Diese wer<strong>de</strong>n vom BTeam angesprochen. Auf <strong>de</strong>r Argumentationsebene<br />
– dass es um „Solidarität“gehe, um „Zusammengehörigkeitsgefühl“,<br />
um die „Weiterführung bestimmter Dinge“in Abgrenzung zu „bestimmten<br />
Kreisen“, in „Anführungsstichen Unternehmer“, bei <strong>de</strong>nen ein Zusammengehörigkeitsgefühl<br />
vorhan<strong>de</strong>n sei – wird <strong>de</strong>n „Arbeitern o<strong>de</strong>r Beschäftigten“klargemacht,<br />
dass es „notwendiger <strong>de</strong>nn je ist, zusammenzuhalten, um bestimmte Interessen,<br />
die unbedingt richtig sind, durchsetzen zu können“. Dabei wird in <strong>de</strong>r alten, bekannten<br />
Klassendichotomie argumentiert, Arbeiter und Unternehmer (Ausgebeutete<br />
und Ausbeuter).<br />
Aus dieser Sicht seiner ehrenamtlichen Tätigkeit sieht D auch seine Tätigkeit<br />
als Vertrauensmann im Wohngebiet und mit <strong>de</strong>n Senioren. Er verfolge damit<br />
auch sein eigenes „egoistisches Vorhaben“. Dieses „egoistische Vorhaben“ist die<br />
wie auch schon bei C angelegte Aufrechterhaltung größtmöglicher Kontinuität<br />
beim Übergang in <strong>de</strong>n Ruhestand. Innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft und begünstigt<br />
durch die Tätigkeiten, die sie in <strong>de</strong>r Gewerkschaft während ihres Erwerbslebens<br />
inne hatten, ist ihnen das sehr weitreichend gelungen. Außer<strong>de</strong>m geht damit eine<br />
Kompensation <strong>de</strong>r Erfahrung <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>zeit einher. Während an<strong>de</strong>re die Arbeit<br />
verloren o<strong>de</strong>r ihre bisherige Arbeit unter <strong>de</strong>m SinnAspekt in Frage stellten o<strong>de</strong>r<br />
stellen lassen mussten, scheint es auch <strong>hier</strong>in eine Kontinuität zu geben. Die Gewerkschaft<br />
gibt es immer noch. Sie sind immer noch Mitglie<strong>de</strong>r. Sie sind immer<br />
noch in ihr tätig. Die Themen sind mehr o<strong>de</strong>r weniger die gleichen geblieben. Und<br />
<strong>de</strong>r gesellschaftspolitische Aspekt sozialer Ungerechtigkeit ist wichtiger <strong>de</strong>nn je.<br />
Wir sehen in unserer ehrenamtlichen Tätigkeit als Seniorenarbeitskreis und<br />
auch in <strong>de</strong>n Wohnbereichsversammlungen nicht als Organisator von Freizeitver
95 <br />
anstaltungen im großen Sinne. Da sagen wir, sind Vereine, die genügend sind.<br />
(...) Wir sehen unsere Aufgabe insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>r Zielstellung Gewerkschaftsund<br />
gesellschaftliche Arbeit. (Senior E)<br />
Hier wird noch einmal unterstrichen, dass es nicht um die Organisation von<br />
Geselligkeit geht, son<strong>de</strong>rn um gewerkschaftliche Arbeit. In diesem Sinne scheinen<br />
die Senioren für die außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit im Wohnbereich <strong>de</strong>shalb<br />
prä<strong>de</strong>stiniert, weil sie we<strong>de</strong>r auf eine bloße Beteiligung (gehen zu Veranstaltungen)<br />
noch auf „Freizeitgestaltung“(organisieren von Freizeitveranstaltungen)<br />
reduziert wer<strong>de</strong>n können. Über die „aktive Ehrenamtlichkeit“in <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit<br />
wer<strong>de</strong>n sie an <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Arbeit beteiligt. Im Bereich <strong>de</strong>r<br />
Wohngebietsarbeit sind sie die Garanten für <strong>de</strong>n Aufbau von Strukturen und das<br />
Gelingen <strong>de</strong>r Arbeit. Aus organisationsspezifischer Beteiligungsperspektive wird<br />
so eine Kontinuität gewerkschaftlicher relevanter Arbeit für sie aufrecht erhalten.<br />
Das bedient <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>s „NochGebrauchtWer<strong>de</strong>n“ bzw. <strong>de</strong>s „Nützlich<br />
Seins“und stellt einen Anschluss an ihr Selbstverständnis gesellschaftspolitischer<br />
Arbeit her. Dass sie diese Arbeit für wichtig halten, ja wichtiger <strong>de</strong>nn je, haben sie<br />
ja betont. Außer<strong>de</strong>m wird in <strong>de</strong>r Äußerung, dass es nicht um Freizeitgestaltung<br />
gehe, <strong>de</strong>utlich, dass eine klare Unterscheidung gemacht wird zwischen ehrenamtlicher<br />
Tätigkeit, die Freizeitaktivitäten organisiert und solcher Tätigkeit, die gesellschaftspolitische<br />
bzw. gewerkschaftliche Arbeit leistet. Gewerkschaftliche Arbeit<br />
ist solche, die <strong>de</strong>r Gewerkschaft nützt bzw. die als gesellschaftspolitisch relevante<br />
anerkannt ist. Insofern sind <strong>hier</strong> auch Anschlüsse an gewerkschafts und gesellschaftspolitische<br />
Verständnisse aus <strong>de</strong>r Zeit vor 1989 möglich. Es ist also nicht<br />
nur die Sinnhaftigkeit, die einer solchen Tätigkeit durch ihre Relevanz für die Gewerkschaft<br />
innewohnt, son<strong>de</strong>rn auch die Verbindungen zu gesellschaftspolitischen<br />
Verständnissen und Interpretationen aus <strong>de</strong>r Zeit vor <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>, die <strong>hier</strong><br />
integriert wer<strong>de</strong>n können und <strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung aufrecht erhalten wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Zusammengefasst heißt das:<br />
• Der Sinn dieser Tätigkeiten muss von <strong>de</strong>n Tätigen nicht erst erschlossen<br />
wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn es ist mehr o<strong>de</strong>r weniger ein Anknüpfen an Themen und Relevanzen,<br />
die auch im Berufsleben (Gewerkschaft) eine Rolle spielten;<br />
• Das Einbringen <strong>de</strong>r eigenen Erfahrungen und Kompetenzen wird in einem<br />
spezifischen Raum sichergestellt (Wohngebiet), in <strong>de</strong>m die gewerkschaftlich<br />
relevante Arbeit zu großen Teilen auf ihnen lastet. Das sichert einen<br />
sinnvollen Tätigkeitsbezug an das Erwerbsleben (Syndrom <strong>de</strong>r Nutzlosigkeit<br />
wird suspendiert);<br />
• Alte Glaubenssätze und Verständnisse, die nach <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong> in Zweifel gezogen<br />
wur<strong>de</strong>n, können <strong>hier</strong> ihren Wahrheits und Be<strong>de</strong>utungsgehalt aufrecht<br />
erhalten.<br />
Insofern ist die ehrenamtliche Tätigkeit für <strong>de</strong>n Seniorenarbeitskreis in <strong>de</strong>r<br />
Rostocker Wohngebietsarbeit ein Betätigungsrahmen, <strong>de</strong>r für die Aktiven größtmögliche<br />
Kontinuität einer sinnvollen Tätigkeit gewährleistet (Übergang von Erwerbsarbeit<br />
in <strong>de</strong>n Ruhestand) sowie diese Tätigkeit in <strong>de</strong>n unmittelbarsten Alltagsrahmen<br />
stellt – das Wohnumfeld. Damit beteiligt er die Senioren gleichzeitig<br />
bzw. verschafft ihnen Einflussmöglichkeiten eben in diesen unmittelbaren Lebenszusammenhang.<br />
Denn die Lebensqualität misst sich vorrangig im Wohnumfeld<br />
und nicht in einem Betrieb, <strong>de</strong>r durch die Pensionierung fiktiv gewor<strong>de</strong>n ist.<br />
Erfolge können so von <strong>de</strong>n Senioren nicht nur spezifisch in einem jeweiligen Betä
96 <br />
tigungsfeld wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld.<br />
Die Senioren dominieren damit aber nicht nur die Wohngebietsarbeit, sie<br />
greifen auch auf völlig an<strong>de</strong>re Voraussetzungen als die Erwerbslosen zurück. Die<br />
Herstellung von Kontinuität in bezug auf berufliche und gesellschaftspolitische<br />
Präferenzen ist für letztere nicht möglich.<br />
„Ich möchte zu ‚Dau wat‘sagen, Haltepunkt“. (Erwerbsloser A) In diesem<br />
ersten Satz von A konzentriert sich das, was „Dau wat“und sein dortiges Engagement<br />
für ihn be<strong>de</strong>utet. Von <strong>de</strong>r Politik fühlt sich A im Stich gelassen. Der Regierung<br />
wird eine Verantwortung für seine private Misere zugeschrieben, die sie aber<br />
nicht löst. Die Versprechen, die sie gibt, sind für seine Lebenssituation nichts<br />
wert:<br />
Das erst mal von unserer Regierung, die sabbern viel und halten nichts und<br />
<strong>hier</strong> ist es umgedreht, <strong>hier</strong> wird wenig gesprochen, aber viel gemacht. (Erwerbsloser<br />
A)<br />
Das genaue Gegenteil, fand er <strong>hier</strong> im „Haltepunkt“bei „Dau wat“. Hier<br />
wur<strong>de</strong> er aufgenommen, „als ob ich schon Jahre lang dazugehörte“.<br />
A war 23 Jahre auf <strong>de</strong>r WarnowWerft beschäftigt und ist gleich nach <strong>de</strong>r<br />
Wen<strong>de</strong> arbeitslos gewor<strong>de</strong>n. Dann war er zwei Jahre lang bei einer Zeitarbeitsfirma<br />
beschäftigt, wo er seiner Meinung nach nur ausgenutzt wur<strong>de</strong>. Danach stand<br />
er wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Straße. So wur<strong>de</strong> sein eigener Haltepunkt <strong>de</strong>r Imbiss an <strong>de</strong>r<br />
Ecke, bei <strong>de</strong>m er sich mit ehemaligen Arbeitskollegen traf. A beschreibt kurz und<br />
knapp seinen Abstieg nach <strong>de</strong>r Entlassung. Orte, wo soziale Kontakte gepflegt<br />
wer<strong>de</strong>n konnten, gab es außerhalb <strong>de</strong>s Arbeitslebens offensichtlich nicht. So blieb<br />
nur <strong>de</strong>r Imbiss.<br />
Weil er noch Mitglied <strong>de</strong>r IGMetall war, wur<strong>de</strong> er angesprochen, ob er<br />
nicht bei „Dau wat“mithelfen könne.<br />
Ich mich gefreut, ich dachte, wär eine feste Einstellung. (...) Bin da aufgenommen<br />
wor<strong>de</strong>n, als ob ich schon Jahre lang dazugehörte. Ich dachte, das ist ne<br />
Arbeit, ne feste Einstellung und so. (...) Und <strong>de</strong>nn, obwohl das nachher <strong>hier</strong> so<br />
ehrenamtlich war, ja und bin so aufgenommen wor<strong>de</strong>n im Kollektiv, als ob ich<br />
schon Jahre da auch zugehöre und das war, das war <strong>de</strong>r Grund ,Haltepunkt‘bei<br />
mir. (Erwerbsloser A)<br />
Durch seine Tätigkeit bei „Dau wat“(in <strong>de</strong>r SelbsthilfeWerkstatt) trifft er<br />
auch alte Kollegen wie<strong>de</strong>r, lernt Kollegen aus an<strong>de</strong>ren Berufen kennen, von <strong>de</strong>nen<br />
er neue Fertigkeiten lernen und diese für sich in seinem Umfeld nutzen kann.<br />
Durch die Arbeit bei „Dau wat" ist es möglich, Menschen über ein Engagement<br />
und die Aufnahme ins „Kollektiv“wie<strong>de</strong>r sozial zu integrieren.<br />
A lehnt ein ehrenamtliches Engagement nicht ab, bleibt aber in seiner Situation<br />
(Arbeitslosigkeit) auf Erwerbsarbeit orientiert: „Ich dachte, das ist ne Arbeit“.<br />
Eine Orientierung auf Erwerbsarbeit bei bestehen<strong>de</strong>r Ausgrenzung aus <strong>de</strong>m Erwerbsleben<br />
bleibt erhalten und verhin<strong>de</strong>rt die Aufnahme eines ehrenamtlichen<br />
Engagements in Erwägung zu ziehen. Somit bleibt auch <strong>de</strong>r Zugang zu ehrenamtlichem<br />
Engagement an die (netzwerkliche) Voraussetzung gebun<strong>de</strong>n, Mitglied <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft zu sein.<br />
Selbst in Freiwilligenagenturen, die die „Selbstermächtigung“(Hesse 2001:<br />
18f.) <strong>de</strong>s einzelnen für eine Engagementaufnahme i<strong>de</strong>ologisch voraussetzen, fin<strong>de</strong>t<br />
ein Großteil <strong>de</strong>r Vermittelten über die MundzuMundWerbung Zugang. In
97 <br />
einem Vergleich <strong>de</strong>r Freiwilligenagenturen Halle und Frankfurt/O<strong>de</strong>r liegt <strong>de</strong>r Anteil<br />
<strong>de</strong>r MundzuMundWerbung bei <strong>de</strong>r Gewinnung ehrenamtlich Engagierter um<br />
die 70%. (Ebert/ Strittmatter 2003: 118)<br />
Das ist auch bei B <strong>de</strong>r Fall: Also ich bin durch meine Arbeitslosigkeit eben<br />
zur ehrenamtlichen Tätigkeit gekommen, <strong>de</strong>nn zu Hause, das weiß ja je<strong>de</strong>r, da<br />
hört man nichts, man erfährt nichts und durch Kollegen habe ich eben erfahren,<br />
Mensch, komm doch mal mit zur IGMetall. (Erwerbslose B)<br />
B kommt ebenso wie A durch das (unfreiwillige) Ausschei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Arbeitsprozess<br />
und über das Ansprechen durch Kollegen zum ehrenamtlichen Engagement.<br />
Die Isolation durch die Arbeitslosigkeit wird dabei als Grund für die<br />
Aufnahme <strong>de</strong>s Engagements angeführt. Hierüber gelangt sie in das Projekt zur<br />
Mitglie<strong>de</strong>rrückgewinnung. Sie muss sich neu einarbeiten, da sie auf <strong>de</strong>r Warnow<br />
Werft als Industriekauffrau tätig war. Im Projekt ist es ihre Aufgabe, austrittsbereite<br />
Mitglie<strong>de</strong>r zurück zu gewinnen.<br />
Es war erst sehr schwer am Telefon mit <strong>de</strong>n Leuten zu sprechen. (...) Na ja<br />
dann habe ich auch <strong>de</strong>n richtigen Draht dazu gefun<strong>de</strong>n, hab auch einige zurückgewonnen.<br />
Das war für mich wie<strong>de</strong>r toll und für „Dau wat“.(Erwerbslose B)<br />
Über die für sie neue Tätigkeit gewinnt B wie<strong>de</strong>r Zuversicht und Bestätigung:<br />
„das war für mich wie<strong>de</strong>r toll“. Anschließend arbeitet sie für ein Jahr bei<br />
„Dau wat" in einer ABM. Das Engagement eröffnet ihr einen Zugang zu unentgeltlicher<br />
Beschäftigung und schließlich einen Zugang zum Zweiten Arbeitsmarkt.<br />
Ehrenamtliches Engagement dient <strong>hier</strong> als Ersatz für verlorengegangene Erwerbsarbeit.<br />
Durch die Möglichkeit, über ehrenamtliches Engagement auf <strong>de</strong>n<br />
Zweiten Arbeitsmarkt zu gelangen, bleibt B auch nach <strong>de</strong>m Auslaufen <strong>de</strong>r befristeten<br />
Stelle ehrenamtlich an das neue Tätigkeitsfeld gebun<strong>de</strong>n: Nun bin ich wie<strong>de</strong>r<br />
arbeitslos und bleib aber <strong>hier</strong> ehrenamtlich weiter tätig, ne.(Erwerblose B)<br />
In erster Linie ist ein Engagement für B eine Möglichkeit aus <strong>de</strong>r Isolation<br />
<strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit herauszukommen und in zweiter Linie, sich die Möglichkeit für<br />
einen Einstieg in <strong>de</strong>n (zumin<strong>de</strong>st Zweiten) Arbeitsmarkt offen zu halten. Obwohl<br />
neue Kompetenzen erworben wer<strong>de</strong>n, macht diese Aktivität <strong>de</strong>n einzelnen nicht<br />
für einen sich schnell wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Arbeitsmarkt mit seinen Anfor<strong>de</strong>rungen fit.<br />
Denn Qualifikation hat einen Einfluss auf einen Arbeitsmarktwan<strong>de</strong>l, nicht aber<br />
auf einen Arbeitsmarktabbau. Kompetenzaneignung wird notwendig, um überhaupt<br />
freiwillige unentgeltliche Tätigkeiten ausüben zu können. (Professionalisierung<br />
<strong>de</strong>s Ehrenamtes) Darin liegt aber die Gefahr, dass Engagement seinen Eigensinn<br />
verliert und sich leistungsbezogener Erwerbsarbeit angleicht.<br />
Ehrenamtliches Engagement hat <strong>hier</strong> we<strong>de</strong>r mit einer individuellen Verpflichtung<br />
gegenüber <strong>de</strong>r Gewerkschaft zu tun noch mit einem bürgerschaftlichen<br />
Engagement im Sinne von Teilhabe und Einflussnahme. Für A ist ehrenamtliches<br />
Engagement nicht die Sicherstellung größtmöglicher Kontinuität (wie bei C, D und<br />
F), son<strong>de</strong>rn es ist ein Neuanfang, nach<strong>de</strong>m er durch die Arbeitslosigkeit immer<br />
mehr sozial ausgrenzt wur<strong>de</strong>. Ehrenamtliches Engagement ist <strong>hier</strong> ein be<strong>de</strong>utungsvolles<br />
Mittel zur sozialen Integration. Dabei geht es A nicht (wie <strong>de</strong>n Senioren)<br />
darum, noch irgendwie gebraucht zu wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn überhaupt gebraucht<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Durch eine starke Zentrierung auf Erwerbsarbeit, fallen bei Verlust<br />
womöglich alle Bindungen weg, da sie über die Arbeit bestehen und dies um so<br />
mehr in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn. Hier ist eine stärkere Erwerbszentrierung als<br />
in <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn zu beobachten. Die Verbindung von Beruf (Erwerbs
98 <br />
arbeit) und Privatem (Familie etc.) entsteht über das Kollektiv. Arbeitsleben und<br />
Privatleben sind nicht so stark voneinan<strong>de</strong>r abgegrenzt. Das mag eine Folge <strong>de</strong>r<br />
in <strong>de</strong>r DDR praktizierten Einheit von Wirtschafts und Sozialpolitik sein. Bei Verlust<br />
<strong>de</strong>s Arbeitsplatzes gibt es dann seltener Netzwerke, die außerhalb und unabhängig<br />
vom ehemaligen Arbeitsleben bestehen und auf die zurückgegriffen wer<strong>de</strong>n<br />
könnte. Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s arbeitsweltlichen Begriffes (Arbeits)Kollektiv wird<br />
ja auch von A thematisiert. Für die Gewerkschaften liegt <strong>hier</strong> ein Potential, auf das<br />
in <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit angeknüpft wer<strong>de</strong>n kann.<br />
An <strong>de</strong>r unterschiedlichen Ausgangssituation von A und B zeigt sich <strong>de</strong>utlich,<br />
dass die Bedingungen für die Aufnahme eines Engagements von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
Senioren völlig verschie<strong>de</strong>n sind. Deshalb ist es auch fraglich, ob über die Information<br />
bzw. die Beratung und Betreuung von Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>rn (durch<br />
die Senioren) hinaus, Engagement von diesen motiviert wer<strong>de</strong>n kann. Zu<strong>de</strong>m trifft<br />
die Argumentation auf unterschiedliche Verständnisse.<br />
Ein wichtiges Thema ist dabei eigentlich noch mehr Kolleginnen und Kollegen<br />
für ehrenamtliche Tätigkeit auch in Wohnbereichen zu gewinnen, unabhängig<br />
vom Alter. Ne, um alle erfassen zu können, anzusprechen, dass sie nicht mehr<br />
sagen können, äh wir hören ja von <strong>de</strong>r Gewerkschaft nichts. Son<strong>de</strong>rn dass sie<br />
alle Quartale, zumin<strong>de</strong>st einen Quartalsplan reinbekommen, einige machen es<br />
halbjährlich, aber sie haben was in Kasten bekommen. Das Argument, was ist<br />
<strong>de</strong>nn Gewerkschaft, was tut die Gewerkschaft, das wur<strong>de</strong> ihnen genommen, son<strong>de</strong>rn<br />
jetzt können wir sagen, was tust du, warum nimmst du nicht teil an <strong>de</strong>n Angeboten,<br />
die da kommen? (Senior E)<br />
Ehrenamtlich Tätige sind nach E für die zunehmen<strong>de</strong>n Aufgaben in <strong>de</strong>r<br />
Wohngebietsarbeit wichtig. Die Argumentation folgt dabei einer spezifischen Logik.<br />
Sie geht von einem Pflichtgefühl gesellschaftspolitischer Tätigkeit aus, das an<br />
die Plausibilität aus DDRZeiten erinnert. Der Hinweis auf erfolgte Information und<br />
die dafür abverlangte Rechtfertigung <strong>de</strong>r Angesprochenen bei einem Nichtreagieren<br />
erfolgt auf einer moralischen Ebene, die Druck ausüben soll. Das dürfte an<br />
<strong>de</strong>n Befindlichkeiten <strong>de</strong>r Angesprochenen vorbeigehen.<br />
Auch C konstatiert bei <strong>de</strong>r Werbung von Mitglie<strong>de</strong>rn, vor allem aber bei <strong>de</strong>r<br />
Verhin<strong>de</strong>rung von Austritten, eine Abstinenz gegenüber <strong>de</strong>n Gewerkschaften.<br />
Wenn wir sagen, Mensch, wenn es die Gewerkschaft nicht mehr gibt, was<br />
ist <strong>de</strong>nn dann. Wir wissen alle, dass <strong>de</strong>r Druck <strong>de</strong>r Arbeitgeber also <strong>de</strong>rartig groß<br />
ist, dass letztendlich überhaupt nichts mehr hilft. Der Arbeitnehmer, <strong>de</strong>r muss sich<br />
<strong>de</strong>m Druck beugen und er muss also zu immer niedrigeren Löhnen arbeiten und<br />
wir versuchen auch immer wie<strong>de</strong>r in dieser Hinsicht die Gewerkschaft am Leben<br />
zu halten. Und das ist, das sehe ich eigentlich als meine Hauptaufgabe an, dass<br />
ich sage, um Gottes Willen, mit <strong>de</strong>n Leuten re<strong>de</strong>n, dass sie in <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
bleiben, erst mal, wenn wir <strong>hier</strong> diese Diskussionen führen, auf solche Austrittserklärungen<br />
hin. Du re<strong>de</strong>st ja natürlich wie mit einem kranken Gaul und es ist erstaunlich,<br />
also, wie wenig Erfolg man eigentlich hat in solchen Gesprächen, äh,<br />
die Leute, die sagen, das bringt für mich persönlich keine Nutzen ein, fürchterlicher<br />
Egoismus. Und dann kannst du ihnen sagen, mein Gott noch mal, wie soll<br />
<strong>de</strong>nn das wer<strong>de</strong>n, wenn in <strong>de</strong>r Gewerkschaft dann bloß noch die fünfzig Prozent<br />
von heute sind.“(Senior C)<br />
Ehrenamtliches Engagement erfüllt eine wichtige gesellschaftspolitische<br />
Aufgabe, in <strong>de</strong>ren Mittelpunkt <strong>de</strong>r Zusammenhalt <strong>de</strong>r Arbeitnehmer steht. Es gibt
99 <br />
keinen Bruch mit dieser Erklärung aus <strong>de</strong>r Vergangenheit, son<strong>de</strong>rn eine Bestätigung.<br />
Diese Bestätigung wirkt sinnstiftend, motiviert ihn mit <strong>de</strong>n Leuten zu re<strong>de</strong>n,<br />
um in <strong>de</strong>r Gewerkschaft zu bleiben. Allerdings fin<strong>de</strong>t C es „erstaunlich, wie wenig<br />
Erfolg man eigentlich in solchen Gesprächen (hat).“Die Frage nach <strong>de</strong>m Nutzen<br />
einer Mitgliedschaft wird als Egoismus ge<strong>de</strong>utet. Dabei bleibt aber unberücksichtigt,<br />
dass die Gewerkschaften eben das Interesse <strong>de</strong>r Erwerbslosen – Erwerbsarbeit<br />
zu schaffen – gera<strong>de</strong> nicht erfüllen können, wobei gleichzeitig im Zentrum <strong>de</strong>r<br />
Argumentation die Erwerbsarbeit steht, die es zu verteidigen gelte. Die Aussagen<br />
vom Zwang auf die Arbeitnehmer bleiben für <strong>de</strong>n einzelnen allgemein und berücksichtigen<br />
und treffen nicht seine Bedürfnisse. Zum an<strong>de</strong>ren wird das alte<br />
KlassenkampfArgument vom Zusammenhalt <strong>de</strong>r Arbeiter vorgebracht. Die Rhetorik<br />
vom Zusammenhalten dürfte gera<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>nen wenig bewirken, die sich von<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaftsarbeit ausgegrenzt fühlen.<br />
Nach <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong> waren die Gewerkschaften zwar nicht mit ihrem ost<strong>de</strong>utschen<br />
Pendant zu vergleichen, aber auch sie hielten nicht das was man von ihnen<br />
erwartete: die Verhin<strong>de</strong>rung eines massenhaften Arbeitsplatzabbaus, gera<strong>de</strong> in<br />
<strong>de</strong>r Werftindustrie und <strong>de</strong>n jeweiligen Zulieferbetrieben. Der Nutzen <strong>de</strong>r Gewerkschaften<br />
für sich selbst wird <strong>de</strong>mzufolge vom einzelnen in Frage gestellt. Erst<br />
recht, wenn er aus <strong>de</strong>m Erwerbsleben ausgegrenzt ist. Die Gewerkschaften müssen<br />
sich eine an<strong>de</strong>re Sicht auf sich selbst in bezug auf diese Zielgruppe erst erarbeiten.<br />
Gera<strong>de</strong> <strong>hier</strong> sind Überlegungen in <strong>de</strong>r außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />
aus Sicht <strong>de</strong>r Beteiligungsperspektive notwendig, will man Mitglie<strong>de</strong>r erreichen,<br />
halten und werben. Eine Argumentation, die auf einen klassenkampfbegrün<strong>de</strong>ten<br />
Zusammenhalt abstellt, erscheint abträglich.<br />
Verständnis und Funktion <strong>de</strong>s Ehrenamtes<br />
Bezogen auf <strong>de</strong>n Seniorenarbeitskreis dient ehrenamtliches Engagement<br />
in <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Wohngebietsarbeit zur Herstellung <strong>de</strong>r größtmöglichen<br />
Kontinuität in bezug auf Arbeit und Leben.<br />
a) Die Gewerkschaft ist weiterhin <strong>de</strong>r Rahmen innerhalb <strong>de</strong>ssen das ehrenamtliche<br />
Engagement stattfin<strong>de</strong>t.<br />
b) Die ehrenamtliche Tätigkeit unterschei<strong>de</strong>t sich thematisch nur geringfügig von<br />
<strong>de</strong>r ehemaligen beruflichen Arbeit.<br />
c) Die sozialen Kontakte, vor allem zum ehemaligen Kollegenkreis können weiter<br />
aufrecht erhalten wer<strong>de</strong>n.<br />
d) Bestehen<strong>de</strong> gesellschaftspolitische Überzeugungen können beibehalten wer<strong>de</strong>n<br />
und lassen sich über die Thematik <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements sogar<br />
bestätigen.<br />
e) Die einzelnen erfahren Sinnhaftigkeit und Bestätigung. (man wird auch als Senior<br />
noch gebraucht)<br />
Neu ist, dass diese Tätigkeiten aus <strong>de</strong>r Position <strong>de</strong>s Ruhestan<strong>de</strong>s gemacht wer<strong>de</strong>n.<br />
Das Engagement stellt über <strong>de</strong>n erfahrenen Sinn und die Bestätigung hinaus,<br />
durch das „aktive Ehrenamt“eine größtmögliche Beteiligung an gewerkschaftspolitischer<br />
Arbeit sicher. Das trägt in hohem Maße zu sozialer Integration<br />
bei.<br />
Für die Erwerbslosen im "Dau wat" Projekt stellt sich die Situation an<strong>de</strong>rs dar.<br />
Ehrenamtliches Engagement ist weitestgehend ein Beschäftigungsersatz für verlorene<br />
Erwerbsarbeit.
100 <br />
f) Ehrenamtliches Engagement verhin<strong>de</strong>rt soziale Ausgrenzung und Desintegration.<br />
g) Die einzelnen erfahren Sinn und Bestätigung durch das Einbringen von Kompetenzen,<br />
die sie besitzen o<strong>de</strong>r neu erlernen.<br />
h) Die neu erlernten o<strong>de</strong>r über einen Austausch mit an<strong>de</strong>ren Kollegen erfahrenen<br />
Kompetenzen, können auch im privaten Bereich genutzt wer<strong>de</strong>n.<br />
3.4.3 „Viva Lüd“im „Dau wat“e.V. Schwerin<br />
Der „Dau wat" e.V. Schwerin hat ähnlich wie in Rostock ein altes Gebäu<strong>de</strong><br />
(ein ehemaliges KFZInstandsetzungswerk) zu einem „Beratungs Betreuungsund<br />
Kommunikationszentrum ausgebaut. Die Ehrenamtlichen haben das Haus<br />
„Viva Lüd“getauft, was so viel be<strong>de</strong>utet wie „es leben die Leute“. Das Zentrum<br />
wur<strong>de</strong> zum Zeitpunkt <strong>de</strong>r Untersuchung 37 nur noch von ehrenamtlich Engagierten<br />
betrieben. Die letzte ABMStelle, die das Beratungsangebot abge<strong>de</strong>ckt hatte, war<br />
gera<strong>de</strong> ausgelaufen. Bei <strong>de</strong>n Engagierten han<strong>de</strong>lt es sich ausschließlich um<br />
Männer, die alle Gewerkschaftsmitglied sind und sich im Vorruhestand befin<strong>de</strong>n.<br />
Angeboten wer<strong>de</strong>n: ein Computerkurs (2x wöchentlich), zu <strong>de</strong>m fast ausschließlich<br />
Senioren kommen, ein Klönsnackfrühstück (monatlich) und die Selbsthilfewerkstatt<br />
(2x wöchentlich). Eine Wohngebietsarbeit wie in Rostock fin<strong>de</strong>t <strong>hier</strong><br />
nicht statt. Die Kapazität in bezug auf Information, Veranstaltungen, Kurse, Stadtteilarbeit<br />
(in Netzwerkstrukturen mit an<strong>de</strong>ren Vereinen) und Beratung ist weitaus<br />
geringer o<strong>de</strong>r gar nicht vorhan<strong>de</strong>n. „Viva Lüd“wird vor allem als Treff genutzt.<br />
Zum einen von <strong>de</strong>n Senioren, die zum „Klönsnack“aber auch zum Computerkurs<br />
kommen. Zum an<strong>de</strong>ren von <strong>de</strong>n ehrenamtlich Engagierten. Auch diese verstehen<br />
das Zentrum als Treff, in <strong>de</strong>n man die eigenen Erfahrungen und Kompetenzen<br />
einbringen kann.<br />
Die Engagierten in „Viva Lüd“thematisieren in <strong>de</strong>r Gruppendiskussion die<br />
Anschlussoption an eine sinnstiften<strong>de</strong> Tätigkeit nach <strong>de</strong>m vorzeitigen Ausschei<strong>de</strong>n<br />
aus <strong>de</strong>m Erwerbsleben. Mit ehrenamtlichem Engagement sind sie alle vertraut.<br />
Während ihres Berufslebens waren sie in unterschiedlichen Ehrenämtern<br />
aktiv.<br />
A: Also Ehrenamt haben wir alle gemacht.<br />
B: Ja also wir kenn uns damit eben aus und wissen was es be<strong>de</strong>utet und fühln<br />
uns ganz wohl dabei. Wir haben je<strong>de</strong>nfalls Aufgaben und Tätigkeiten, die<br />
sonst so schlummern wür<strong>de</strong>n und gar nicht mehr rauskommen wür<strong>de</strong>n.<br />
Das wollten wir immer noch so’n bisschen forcieren damit diese grauen<br />
Zellen <strong>hier</strong> oben gar normal, ja auf gar kein Fall ...<br />
C: Wir wolln eben nicht auf <strong>de</strong>r Parkbank sitzen mit <strong>de</strong>r Pulle in <strong>de</strong>r<br />
Hand.<br />
A: Ja das wollten wir natürlich nicht.<br />
B: Ja wir bewegen natürlich auch viele sich <strong>hier</strong> anzuschließen ne. Dass viele<br />
Leute auch herkommen.<br />
37 Die Gruppendiskussion fand am 13.12. 01 im Haus „Viva Lüd“statt, an <strong>de</strong>r fünf engagierte Vorruheständler<br />
teilnahmen.
101 <br />
Den Engagierten von „Viva Lüd“geht es vor allem darum, tätig sein zu<br />
können, in<strong>de</strong>m sie ihre Erfahrungen einbringen und über Aktivität rege zu bleiben.<br />
Dabei können sie auf ihre Erfahrungen mit ehrenamtlicher Arbeit zurückgreifen.<br />
Aber nicht die Erfahrung selbst ist zentral, son<strong>de</strong>rn die Möglichkeit, die eigenen<br />
Fähigkeiten und Kenntnisse einbringen zu können. Die Erfahrung ist insofern relevant,<br />
dass ihnen unentgeltliche Tätigkeiten außerhalb <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit nicht<br />
fremd sind. Welche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Möglichkeit beigemessen wird, eigene Fähigkeiten<br />
einzubringen, wird mit <strong>de</strong>m Beispiel extremen AusgegrenztSeins beschrieben:<br />
„auf <strong>de</strong>r Parkbank sitzen mit <strong>de</strong>r Pulle in <strong>de</strong>r Hand“. Ihr <strong>de</strong>rzeitiges Engagement<br />
grenzen sie aber von <strong>de</strong>m während <strong>de</strong>s Berufslebens ab. Ging es dort<br />
eher um eine Funktion (z.B. in <strong>de</strong>r Schiedskommission), sehen sie im jetzigen<br />
Engagement eine Freizeitbeschäftigung, <strong>de</strong>r sie zusammen mit an<strong>de</strong>ren nachgehen.<br />
Frage: Und wie wür<strong>de</strong>n sie die Tätigkeit, die sie <strong>hier</strong> ausüben bezeichnen?<br />
D: Hobby.<br />
E: Ich wür<strong>de</strong> sagen es iss `n Hobby. Ich mach das ja freiwillig in meine Freizeit.<br />
Meine Frau iss Gott sei dank noch ar, arbeitet noch und zu hause<br />
rumsitzen bringt ja nichts.<br />
A: Ja<br />
B: Das iss, das iss für alle <strong>hier</strong>.<br />
Mehrere: Ja<br />
Am:<br />
Einmal iss es so, dass wir selber daran interessiert sind, nicht nur mit unserm<br />
Wissen, unseren Fähigkeiten zu hause rumzusitzen, son<strong>de</strong>rn auch<br />
an<strong>de</strong>ren Leuten damit zu helfen Ja und unsere Fähigkeiten und unsre Möglichkeiten<br />
weiterzugeben<br />
D: Iss `n Hobby und ich kann mein Wissen praktisch an<strong>de</strong>rn vermitteln o<strong>de</strong>r<br />
helfen.<br />
C: Austauschen.<br />
D: Austauschen ne.<br />
C: Gedanken austauschen.<br />
(...)<br />
B: So ’ne Begegnungsstätte.<br />
D: Ja.<br />
B: Für viele Leute, die mit sich nichts anzufangen wissen. (lacht) Die Freizeit<br />
haben. Die auch arbeitslos sind. Hier zusammenzutreffen, um sich auszutauschen.<br />
(...)<br />
B: Na ja, so wir haben uns so zusammen gefun<strong>de</strong>n und wollen das auch so<br />
weiter führen. Solange bis <strong>de</strong>nn uns <strong>de</strong>r Tod schei<strong>de</strong>t <strong>hier</strong>.<br />
A: Solange das die IGMetall noch hält <strong>hier</strong>.<br />
B: O<strong>de</strong>r das Haus gehalten wird von <strong>de</strong>r IGMetall.<br />
(...)<br />
A: Auf je<strong>de</strong>n Fall haben wir festgestellt so was gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r heutigen Zeit<br />
sehr gebraucht wird so `ne Begegnungsstätte sozusagen. Es muss ja nicht<br />
unbedingt IGMetall o<strong>de</strong>r Gewerkschaft sein. Aber es müsste auch so in<br />
<strong>de</strong>n Wohnbezirken in <strong>de</strong>n Wohnabschnitten, so was müsste sein, wo die<br />
Leute die so zu hause im Prinzip mit sich nichts anzufangen wissen. Dass<br />
die nen Punkt haben, wo se hingehen können, wo zum Beispiel etwas organisiert<br />
wird. Denn die meisten warten doch nur darauf das jemand sagt,
102 <br />
kommt <strong>hier</strong> wir machen heute so was. Denn sind se hellauf begeistert. Und<br />
so was brauchen wir. Das iss ja gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r heutigen kalten Gesellschafts<br />
eh Zeit <strong>hier</strong>, das iss ja schlimm <strong>hier</strong>. Was diese zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen, dieses Kollegiale, was früher so war, das iss ja lei<strong>de</strong>r<br />
heute alles nich mehr vorhan<strong>de</strong>n.<br />
Und das versuchen wir <strong>hier</strong> so’n klein bisschen, aufrecht zu erhalten.<br />
Alle Engagierten stimmen <strong>de</strong>r von D eingebrachten Definition, dass es<br />
„Hobby“sei, zu. Sie unterschei<strong>de</strong>n die Tätigkeiten in „Viva Lüd“von ehrenamtlicher<br />
Arbeit. Dieses „Hobby“dient ihren eignen Interessen. Sie können sich mit<br />
an<strong>de</strong>ren austauschen, an<strong>de</strong>ren helfen, das eigene Wissen einbringen und diese<br />
Tätigkeiten selbst gestalten.<br />
Wichtig ist die Begegnungsstätte nicht nur für sie selbst, son<strong>de</strong>rn sie konstatieren<br />
ein großes Interesse auch bei an<strong>de</strong>ren, die „mit sich nichts anzufangen<br />
wissen“, die „Freizeit haben“o<strong>de</strong>r „arbeitslos sind“. Sie verstehen sich dabei nicht<br />
als Sozialstation, son<strong>de</strong>rn rekurrieren auch auf ihre eigenen Verhältnisse als Vorruheständler.<br />
Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r „heutigen Zeit“, in <strong>de</strong>r heutigen „kalten Gesellschaft<br />
bzw. Zeit“wür<strong>de</strong> eine Begegnungsstätte sehr gebraucht. Viele warteten darauf,<br />
dass etwas angeboten wer<strong>de</strong>. Dabei steht ihre eigene Tätigkeit in <strong>de</strong>r Selbsthilfewerkstatt,<br />
im Computerkurs und in organisierten (Freizeit)Veranstaltungen im<br />
Zentrum.<br />
Die Engagierten verbin<strong>de</strong>n in „Viva Lüd“ihre eigenen Interessen mit <strong>de</strong>r<br />
Möglichkeit an<strong>de</strong>ren zu helfen. Aus <strong>de</strong>r Hilfe für an<strong>de</strong>re ziehen sie auch Bestätigung<br />
und Befriedigung. „Du hast an<strong>de</strong>ren Leuten etwas gegeben, was beigebracht,<br />
und das ist für mich eine Befriedigung.“<br />
Diese Tätigkeiten grenzen sie von ehrenamtlicher Arbeit ab und fassen sie<br />
mit <strong>de</strong>m Begriff Hobby. Das heißt nicht, dass sie dabei keine organisatorischen<br />
Arbeiten übernehmen. Denn Veranstaltungen, Computerkurse, die Selbsthilfewerksatt<br />
und <strong>de</strong>n Klönsnack organisieren sie selbst. Ehrenamtliche Arbeit ist für<br />
sie aber eher Tätigkeit im Sinne <strong>de</strong>r Organisationsinteressen. Seniorenarbeit o<strong>de</strong>r<br />
Radtouren seien keine ehrenamtliche Tätigkeit. Ehrenamtlich sei man im Betrieb<br />
als Vertrauensmann o<strong>de</strong>r im Betriebsrat tätig. Eine Ausweitung <strong>de</strong>s Engagements<br />
lehnen sie aber nicht ab. Wenn sie <strong>hier</strong> im „Viva Lüd“gebraucht wür<strong>de</strong>n, wären<br />
sie da. Aber auch für ehrenamtliche Tätigkeiten – also klassische Gewerkschaftsarbeit<br />
– wären sie offen, wenn man sie fragen wür<strong>de</strong>.<br />
Das Gemeinsame zwischen ihnen und ihren Rostocker Kollegen <strong>de</strong>s Seniorenarbeitskreises<br />
ist, dass sie ihr Engagement selbstbestimmt gestalten können.<br />
Im Unterschied zu diesen verstehen sie ihr Engagement aber nicht als ehrenamtliche<br />
Tätigkeit, da sie nicht gewerkschaftspolitisch ist. Das liegt in erster Linie<br />
nicht an <strong>de</strong>n unterschiedlichen Interessen, son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>r Einbindung in die<br />
Strukturen gewerkschaftlicher Arbeit im außerbetrieblichen Bereich. Hier dürften,<br />
wie sich in <strong>de</strong>r Rostocker Wohngebietsarbeit gezeigt hat, noch Potentiale für die<br />
Gewerkschaften liegen.<br />
Es müssen Handlungsfel<strong>de</strong>r geschaffen wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen die Engagierten<br />
eigene Interessen und Bedürfnisse einbringen und in <strong>de</strong>nen sie weitestgehend<br />
selbstbestimmt und verantwortlich tätig sein können. Sie nur als einen verlängerten<br />
Arm hauptamtlicher Arbeit zu begreifen, ist ebenso falsch wie die Engagierten<br />
nur in einer organisatorischen Arbeit für Freizeitveranstaltungen zu unterstützen.<br />
Ersteres <strong>de</strong>gradiert sie zum Anhängsel, das an<strong>de</strong>re suspendiert sie von <strong>de</strong>n in
103 <br />
haltlichen Themen gewerkschaftlicher Arbeit. Ebenso ist Erwerbslosenarbeit, die<br />
sich in Beratung erschöpft, nur ein Moment zusätzlicher Sozialpolitik. Wie sich in<br />
Schwerin zeigen lässt, gibt es <strong>hier</strong> Potentiale für gewerkschaftspolitische Arbeit im<br />
Wohnbereich. Allerdings scheint es von Vorteil, wenn diese Tätigkeiten auch in<br />
die Strukturen einer sich entfalten<strong>de</strong>n außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit<br />
eingebettet sind. Die Anbindung <strong>de</strong>r Senioren in Rostock an die Arbeit <strong>de</strong>s "Dau<br />
wat" ist för<strong>de</strong>rlich und motivierend für ihre eigene Tätigkeit. Bei <strong>de</strong>n Schweriner<br />
Engagierten för<strong>de</strong>rt gera<strong>de</strong> die Möglichkeit, interessegeleitetes Engagement<br />
selbstbestimmt zu gestalten, die Bereitschaft darüber hinaus gewerkschaftspolitisch<br />
tätig zu sein. Nicht Desinteresse an gewerkschaftlicher Arbeit und Politik ist<br />
einem Ehrenamt abträglich, son<strong>de</strong>rn die fehlen<strong>de</strong>n Strukturen, dieses zur Verfügung<br />
zu stellen.<br />
Dies gilt mehr o<strong>de</strong>r weniger auch für die Gruppe <strong>de</strong>r Erwerbslosen. Auch<br />
wenn die Aktivierung dieser Gruppe schwieriger ist, so ist ein Engagement in diesem<br />
Sinne überhaupt nicht auszuschließen. Die Einbindung in Projekte, in <strong>de</strong>nen<br />
gera<strong>de</strong> über selbstbestimmte und selbstverantwortliche gemeinsame Tätigkeit<br />
soziale Integrationsoptionen ermöglicht wer<strong>de</strong>n, eröffnen auch Engagementpotentiale<br />
für klassische gewerkschaftspolitische Arbeit im außerbetrieblichen Bereich.<br />
Dafür sind Senioren, Vorruheständler und Erwerbslose insofern prä<strong>de</strong>stiniert, da<br />
sie eine zeitlich größer Präsenz in <strong>de</strong>n Wohnbereichen aufweisen. Zu beachten<br />
ist dabei allerdings, dass diese Tätigkeiten nicht von einzelnen Gruppen dominiert<br />
wer<strong>de</strong>n sollten, da die Lebenssituationen <strong>de</strong>r einzelnen verschie<strong>de</strong>n sind. „Kommunikations<br />
und Beteiligungszentren“wie sich das vor allem beim „Haltepunkt“in<br />
Rostock zeigt, sind gute Basen für gewerkschaftliche Tätigkeiten, die sozial,<br />
kommunal und gewerkschaftspolitische Anliegen verbin<strong>de</strong>n.<br />
3.4.4 Zusammenfassung<br />
Wie sich anhand von "Dau wat" Rostock und <strong>de</strong>m Schweriner „Viva Lüd“<br />
zeigt, gibt es unterschiedliche Engagementvoraussetzungen und Interessen, aber<br />
auch verschie<strong>de</strong>ne Bedingungen, um ein Engagement überhaupt aufzunehmen.<br />
Die Be<strong>de</strong>utung, die das Engagement für die einzelnen hat, ist sowohl ihrer biographischen<br />
Situation geschul<strong>de</strong>t als auch <strong>de</strong>r ehemaligen Einbindung in gewerkschaftliche<br />
Strukturen. Für die Bindung an die Gewerkschaften ist dies aber nicht<br />
<strong>de</strong>r ausschlaggeben<strong>de</strong> Punkt. Über die Ermöglichung sozial integrativer und<br />
selbstbestimmter Tätigkeit können <strong>hier</strong> dauerhafte Bindungspotentiale erreicht<br />
wer<strong>de</strong>n. Das zeigt sich beson<strong>de</strong>rs bei <strong>de</strong>n Schweriner Engagierten, die auch für<br />
eine gewerkschaftspolitische Tätigkeit offen sind. Voraussetzung dafür scheint<br />
aber, in einem ersten Schritt auf die <strong>de</strong>r sozialen Situation entspringen<strong>de</strong>n Bedürfnisse<br />
einzugehen und Engagementoptionen anzubieten. Die Engagierten in<br />
Schwerin und die erwerbslosen Engagierten in Rostock machen ihr Engagement<br />
nicht davon abhängig, dass es bei <strong>de</strong>r Gewerkschaft stattfin<strong>de</strong>t. Das hat mit <strong>de</strong>r<br />
speziellen Form ihres Engagements zu tun, das sie nicht als ein gesellschaftspolitisches<br />
verstehen. Ihnen geht es darum, ein Engagement grundsätzlich aufrechterhalten<br />
zu können. Dadurch, dass dies über die Gewerkschaften funktioniert,<br />
erwachsen Bindungspotentiale an die Gewerkschaften und eröffnen sich für diese<br />
Engagementpotentiale für gewerkschaftspolitische Arbeit im Wohngebiet. Darüber<br />
hinaus erlangen Gewerkschaften auch einen praxisbezogenen Einfluss auf kommunal<br />
und sozialpolitische Strukturen.
104 <br />
Zusammenfassend lassen sich vier Engagementverständnisse ausmachen:<br />
• gewerkschaftspolitisches Engagement (Seniorenarbeitkreis Rostock)<br />
• Hobby (Schweriner Engagierte)<br />
• soziales Engagement (Erwerbsloser A)<br />
• Engagement als Brücke und Ersatz für Erwerbsarbeit (Erwerbslose A u.<br />
B)<br />
Engagement wird beson<strong>de</strong>rs im Fall von A als ein soziales interpretiert.<br />
Das hängt mit <strong>de</strong>m von ihm ausgeübten Engagement zusammen, vor allem aber<br />
spiegelt sich darin eine Erwartung an Engagement: Ehrenamtlichkeit ist die Bereitschaft<br />
gegen an<strong>de</strong>re, die hilflos sind, die erst mal nicht wissen, was sie anfangen<br />
sollen mit sich selber. Ja und wenn man <strong>de</strong>n motiviert und das sie dann<br />
nachher mitziehen, das ist eine ehrenamtliche Arbeit. (Erwerbsloser A)<br />
Das Engagement, das ihm bei "Dau wat" einen Zugang zu einer sinnvollen<br />
Tätigkeit eröffnete, baute damit auch eine Brücke aus sozialer Ausgrenzung heraus.<br />
Aus <strong>de</strong>r eigenen Erfahrung wird die Be<strong>de</strong>utung eines sozialen Engagements<br />
dadurch zentral. Einige Kernaussagen <strong>de</strong>r Interviewinterpretationen wer<strong>de</strong>n folgend<br />
noch einmal in thesenförmig formulierten Folgerungen zusammengefasst.<br />
3.4.5 Folgerungen<br />
a) Die Effizienz von Wohngebietsarbeit beruht auf <strong>de</strong>r Integration von ehemaligen<br />
Gewerkschaftsfunktionären (Engagement und Professionalität)<br />
b) Die ehrenamtliche Tätigkeit ermöglicht bei ehemaligen Funktionären eine<br />
Kontinuität in <strong>de</strong>r Tätigkeit und im Sinn.<br />
c) Durch die stärkeren Desintegrationspotentiale eines schrumpfen<strong>de</strong>n Arbeitsmarktes<br />
und <strong>de</strong>n Nachwirkungen <strong>de</strong>r ost<strong>de</strong>utschen Einheit von Wirtschaftsund<br />
Sozialpolitik liegen in <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit beson<strong>de</strong>re Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
und Möglichkeiten an und bei <strong>de</strong>n Gewerkschaften: Arbeitslosigkeit und I<strong>de</strong>ntitätsbrachen.<br />
d) Die Argumentation <strong>de</strong>s Seniorenarbeitkreis bei <strong>de</strong>r Gewinnung von potentiellen<br />
Ehrenamtlichen greift auf eine klassenkämpferische I<strong>de</strong>ologie zurück und<br />
läuft dadurch Gefahr, auch abschrecken<strong>de</strong> Wirkung zu haben.<br />
e) Der Zugang zum ehrenamtlichen Engagement erfolgt über die bestehen<strong>de</strong><br />
Mitglie<strong>de</strong>rstruktur, <strong>de</strong>r die potentiell Engagierten als Mitglie<strong>de</strong>r angehören.<br />
f) Um ein Engagement ausüben zu können, müssen teilweise neue Kompetenzen<br />
erlernt wer<strong>de</strong>n. Hier gerät ehrenamtliches Engagement in die Gefahr <strong>de</strong>r<br />
Professionalisierung.<br />
g) Durch das Pen<strong>de</strong>ln Erwerbsloser zwischen zweitem Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit<br />
wird eine Kontinuität <strong>de</strong>s Engagements sichergestellt, die aber die<br />
Gefahr in sich birgt, dass sich das Engagement an leistungsbezogener Erwerbsarbeit<br />
orientiert.<br />
h) Eine Abstinenz ehrenamtlichen Engagements innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft ist<br />
nicht einem unterstellten Egoismus geschul<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n organisatorischen<br />
Strukturen, in die Engagement und Engagementverständnis eingebettet<br />
sind.
105 <br />
i) Über die außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit kann ein praxisbezogener<br />
Einfluss auf kommunal und sozialpolitische Themen gewonnen wer<strong>de</strong>n.<br />
j) Engagementoptionen im sozialpolitischen Bereich wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Bedürfnissen<br />
<strong>de</strong>r Engagierten gerecht, stärken die Bindungen an die Gewerkschaften und<br />
motivieren zu zusätzlichem gewerkschaftspolitischem Engagement.<br />
3.5 Intensivfallstudie II: Die „Fallstudie Suttgart“<br />
3.5.1 Auswahl <strong>de</strong>r Erhebungen<br />
In <strong>de</strong>r „Fallstudie Stuttgart“war das Arbeitslosenzentrum SALZ e.V. Ausgangspunkt<br />
und Mittelpunkt <strong>de</strong>r Untersuchung. Das SALZ war anhand von Expert/inn/enInterviews,<br />
die bei einem Feldaufenthalt <strong>de</strong>r „16. Arbeitstagung gewerkschaftlicher<br />
Arbeitslosengruppen“in Bad Orb geführt wur<strong>de</strong>n, ausgewählt<br />
wor<strong>de</strong>n. Daran anknüpfend wur<strong>de</strong> eine Gruppendiskussion und Expert/inn/en<br />
Interviews im SALZ sowie im DGB erhoben. Im außergewerkschaftlichen Bereich<br />
wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zugang vor allem über die Ehrenamtsbörse in Esslingen (EBBE) hergestellt.<br />
Anschließend daran wur<strong>de</strong> eine Gruppendiskussion im Forum „Häppeker“,<br />
das als Plattform für unterschiedliche bürgerschaftlich engagierte Projekte<br />
dient, geführt. Weiterhin wur<strong>de</strong>n Expert/inneninterviews in verschie<strong>de</strong>nen Vereinen<br />
und Projekten, Behör<strong>de</strong>n und Verbän<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Stadt Stuttgart und in Esslingen<br />
geführt. Eine weitere Gruppendiskussion wur<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r DGBJugend durchgeführt.<br />
38<br />
Übersicht 5: Die einzelnen Institutionen in bezug zur Gewerkschaft<br />
Ort in <strong>de</strong>r Gewerkschaft Gewerkschaftsbezug außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
Stuttgart Verwaltungsstelle DGB,<br />
Regionsvorsitz<br />
Stuttgart<br />
DGB, Jugendbildungsreferent,<br />
Stuttgart DGBJugend, Jugendprojekt<br />
“Arbeitsweltradio“<br />
Stuttgart ver.di, Jugendsekretärin<br />
Stuttgart<br />
Stuttgart<br />
Stuttgart<br />
Stuttgart<br />
Stuttgart<br />
Stuttgarter Arbeitslosenzentrum<br />
SALZ<br />
e.V.<br />
Initiative Bürgerengagement in<br />
Stuttgart (IBIS; Freiwilligenvermittlung)<br />
Kontakt und Informationsstelle<br />
für Selbsthilfegruppen (KISS)<br />
Lan<strong>de</strong>sbüro Ehrenamt (Kultusministerium)<br />
Geschäftsstelle bürgerschaftliches<br />
Engagement (Sozialministerium)<br />
Stuttgart<br />
Paritätisches Bildungswerk<br />
Esslingen Koordinierungsstelle bürgerschaftliches<br />
Engagement<br />
/Sozialamt<br />
Esslingen<br />
Forum Im Heppäcker*<br />
Stuttgart<br />
Interessenbörse<br />
38 Zur Übersicht <strong>de</strong>r Interviews, Gespräche und Beobachtungen siehe Übersicht 3.
106 <br />
Stuttgart<br />
Treffpunkt Senior<br />
Stuttgart<br />
MehrwertAgentur<br />
Stuttgart<br />
FrEEAka<strong>de</strong>mie<br />
* Im Forum Häppeker waren Engagierte aus folgen<strong>de</strong>n Projekten vertreten: Balance, Rat und Tat,<br />
Seniorenstadtrat, Postmichel, Mentoren, Esslinger Börse für Bürgerengagement EBBE, Wohnberatung<br />
3.5.2 Ehrenamtliches Engagement am Beispiel <strong>de</strong>s Stuttgarter Arbeitslosenzentrums<br />
SALZ e.V.<br />
3.5.2.1 Das SALZ als Beispiel gewerkschaftlicher Arbeitslosenbetreuung<br />
Das SALZ besteht seit 1985 und versteht sich als „Beratungsstelle, Arbeitslosenzentrum<br />
und treff“. Es kann auf eine länger Vergangenheit zurückblicken als<br />
<strong>de</strong>r "Dau wat" Verein in MecklenburgVorpommern. Wesentlicher ist aber die Unterscheidung,<br />
dass das Projekt SALZ nicht in eine gewerkschaftliche Wohngebietsarbeit<br />
integriert ist und sich auch selbst nicht als solche versteht. Das mag<br />
nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass die Arbeitslosenquote in <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />
Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn stark divergiert. Laut statistischem Lan<strong>de</strong>samt Ba<strong>de</strong>n<br />
Württemberg lag diese im Jahr 2001 bei 5,5% (damit liegt sie im Vergleich sogar<br />
niedriger als die bisher höchste <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>slan<strong>de</strong>s von 8,7% im Jahr 1997). In<br />
MecklenburgVorpommern lag die Arbeitslosenquote 2001 bei 19,6%. 39 Damit<br />
überstieg sie die von Ba<strong>de</strong>nWürttemberg um ein Vielfaches. Beson<strong>de</strong>rs die Region<br />
um Rostock, wo tausen<strong>de</strong> Arbeiter/innen aus <strong>de</strong>r Werftindustrie und ihren<br />
Zulieferbetrieben entlassen wur<strong>de</strong>n, ist davon stark betroffen. 40<br />
Das SALZ glie<strong>de</strong>rt seine Angebote nach vier Bereichen:<br />
• offener Bereich – <strong>hier</strong>unter fallen ein wöchentliches Frühstück und Mittagessen<br />
sowie Treffen im CaféBereich<br />
• Veranstaltungen und Informationsmaßnahmen<br />
• Beratung (von Erwerbslosen)<br />
• sonstige Angebote – wie die Arbeitsloseninitiative, PCNutzung und<br />
Frauentreff<br />
Die höchste Nutzung erfuhr das Beratungsangebot mit 30%, gefolgt vom<br />
offenen Bereich (25%) und <strong>de</strong>n Veranstaltungen/Kursen (23%).<br />
Im Unterschied zu Rostock fällt auf, dass <strong>hier</strong> eine Arbeitsloseninitiative<br />
besteht, die eigenständig arbeitet und dabei <strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>s SALZ nutzt. Getragen<br />
wird das SALZ gemeinsam vom DGB, <strong>de</strong>r Kirche und <strong>de</strong>r Stadt Stuttgart.41<br />
Drei Mitarbeiter/innen teilen sich die zwei unbefristeten Stellen. Das SALZ ist mittlerweile<br />
eine etablierte Institution in <strong>de</strong>r Stadt und weist für das Jahr 2001 einen<br />
Besucherkontakt von 2.930 aus. Die höchste Beratungsquote liegt mit 31% bei<br />
<strong>de</strong>r Altersgruppe <strong>de</strong>r 35 bis 45Jährigen.<br />
39 2000 lag die Arbeitslosenquote bei 19,0%. Damit ist wie<strong>de</strong>r ein Anstieg zu verzeichnen. In<br />
Mecklenburg Vorpommern liegt die Arbeitslosenquote zu<strong>de</strong>m höher als die <strong>de</strong>r neuen Län<strong>de</strong>r insgesamt<br />
(18,9%). Das Stellenangebot hat sich zum Jahr 2000 um 6,9% verringert (114 721 Stellenangebote<br />
2001). ABMStellen waren 2001 immer noch wesentlichstes Entlastungselement<br />
(25.300). Von Langzeitarbeitslosigkeit waren 2001 37,4% <strong>de</strong>r Frauen und 26,7% <strong>de</strong>r Männer betroffen.<br />
(Quelle: Statistisches Lan<strong>de</strong>samt MecklenburgVorpommern)<br />
40 Von <strong>de</strong>n ca. 55.000 aus dieser Branche verloren zwei Drittel ihre Arbeit. (Angabe: IGMRostock)<br />
41 Die Finanzierung erfolgt zu je einem Drittel vom DGB, <strong>de</strong>r Kirche und <strong>de</strong>r Stadt.
107 <br />
Ehrenamtliches Engagement fin<strong>de</strong>t im SALZ vor allem bei <strong>de</strong>r Mitorganisation<br />
von Veranstaltungen und bei <strong>de</strong>n wöchentlichen Frühstück und Mittagsessen<br />
statt. Die Arbeitsloseninitiative wird ausschließlich von Ehrenamtlichen bestritten.<br />
Diese wird vom DGB, <strong>de</strong>r auch <strong>de</strong>n 2. Vereinsvorsitzen<strong>de</strong>n stellt (im Wechsel mit<br />
<strong>de</strong>r Kirche), als politische Arbeit verstan<strong>de</strong>n:<br />
... dass die [die Arbeitsloseninitiative, Anm. F. Ernst] so eher <strong>de</strong>n politischen<br />
Part spielt. Ja, wir haben auch festgestellt, also die Arbeitslosen sind nicht<br />
ohne weiteres politisch mobilisierbar, in unserem Sinne. (Experteninterview DGB<br />
Stuttgart)<br />
Die an<strong>de</strong>ren Bereiche <strong>de</strong>s SALZ sind eher ein sozialpolitisches Engagement<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaft, das zusätzlich zu <strong>de</strong>n offiziellen Angeboten offeriert wird:<br />
Wir machen dort ne Beratungsarbeit, die eigentlich Aufgabe <strong>de</strong>s Sozialamtes,<br />
<strong>de</strong>s Arbeitsamtes wäre. (<strong>de</strong>rs.)<br />
Die Notwendigkeit einer Wohngebietsarbeit, wie sie in Rostock stattfin<strong>de</strong>t,<br />
wird <strong>hier</strong> nicht gesehen. Dazu trägt die relativ gute Situation auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt<br />
in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg bei:<br />
Da haben wir [im Gegensatz zu Ost<strong>de</strong>utschland, Anm. F. Ernst] paradiesische<br />
Zustän<strong>de</strong>. Also da müssten wir uns eigentlich schämen von Arbeitslosen<br />
und Erwerbslosigkeit zu re<strong>de</strong>n. (<strong>de</strong>rs.)<br />
Insgesamt sind im SALZ ca. 25 Erwerbslose ehrenamtliche engagiert. In<br />
<strong>de</strong>r Arbeitsloseninitiative arbeiten bis zu zehn Engagierte mit.<br />
Mit <strong>de</strong>m Begriff Ehrenamt haben die Engagierten nach Aussage eines Mitarbeiters<br />
<strong>de</strong>s SALZ ein Problem, weil ihre Tätigkeit für sie nichts mit Ehre zu tun<br />
habe. Der Begriff bürgerschaftliches Engagement spiele ebenfalls keine Rolle,<br />
son<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong> eher von Institutionen gebraucht. Auch <strong>de</strong>r Befragte <strong>de</strong>s DGB hat<br />
gegenüber <strong>de</strong>m Begriff bürgerschaftliches Engagement eher eine ablehnen<strong>de</strong><br />
Haltung, obwohl er das Engagement <strong>de</strong>s DGB im SALZ als „große Portion bürgerschaftlichen<br />
Engagements <strong>de</strong>r Gewerkschaften“bezeichnet.<br />
Ja, wir haben, wir haben ja <strong>hier</strong> in Stuttgart das Problem, dass <strong>de</strong>r Oberbürgermeister<br />
und auch die Stadtverwaltung <strong>de</strong>s Thema bürgerschaftliches Engagement<br />
sehr hoch hängt.<br />
Allerdings, wenn man jetzt mal, äh, so manche Papiere zu <strong>de</strong>m Thema<br />
liest, dann wird sehr schnell <strong>de</strong>utlich, dass die oftmals mit bürgerschaftlichem Engagement<br />
Privatisierung gleichsetzen. Also die Gleichsetzung von gesellschaftlichen<br />
o<strong>de</strong>r sozialen Aufgaben, die eben durch bürgerschaftliches Engagement<br />
preiswerter wer<strong>de</strong>n bzw. ganz ersetzt wer<strong>de</strong>n, zur Entlastung <strong>de</strong>r Stadtkasse. (...)<br />
Und die Lobbyarbeit ist <strong>hier</strong> an <strong>de</strong>r Stelle sehr groß. Und wir haben in Stuttgart da<br />
extra einen Beauftragten für bürgerschaftliches Engagement bei <strong>de</strong>r Stadt, <strong>de</strong>r da<br />
also die Vereine und so weiter berät. (...) Also wir nehmen <strong>de</strong>n auch net zur K,<br />
äh, wir benutzen <strong>de</strong>n auch net. (<strong>de</strong>rs.)<br />
Der DGBExperte sieht in <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung bürgerschaftlichen Engagements<br />
die Gefahr, öffentliche Aufgaben zugunsten <strong>de</strong>s kommunalen Haushaltes auf private<br />
Initiativen abzuwälzen. Ein an<strong>de</strong>res Problem sei die Lobbyarbeit <strong>de</strong>r Vereine<br />
in Zusammenhang mit bürgerschaftlichem Engagement. Diese undifferenzierte<br />
Einschätzung kann als Resultat <strong>de</strong>r Distanz <strong>de</strong>s DGB zu bürgerschaftlichem Engagement<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n.<br />
In Ba<strong>de</strong>nWürttemberg gibt es auf Verwaltungsebene zwei Stellen, die für<br />
freiwilliges Engagement zuständig sind. Das ist zum einen das „Lan<strong>de</strong>sbüro Eh
108 <br />
renamt“beim Ministerium für Kultus, Jugend und Sport. Dieses ist zuständig für<br />
ehrenamtliches Engagement in Vereinen in <strong>de</strong>n Bereichen Sport, Kultur und Jugend.<br />
Hier wird unter Engagement eher das klassische Ehrenamt verstan<strong>de</strong>n. Für<br />
bürgerschaftliches Engagement zeichnet die Abteilung 4 (Soziales) im Sozialministerium<br />
verantwortlich. Hier wird ein neues Verständnis von Engagement vertreten<br />
und geför<strong>de</strong>rt.<br />
Eine skeptische o<strong>de</strong>r kritische Haltung gegenüber <strong>de</strong>m Begriff bürgerschaftliches<br />
Engagement fand sich nicht nur beim DGB und im SALZ, son<strong>de</strong>rn<br />
auch in an<strong>de</strong>ren Einrichtungen <strong>de</strong>r Selbsthilfe und <strong>de</strong>r Vermittlung von freiwilligen<br />
Tätigkeiten. Das war nur dort an<strong>de</strong>rs, wo von Verwaltungsebene aus eine konsequente<br />
För<strong>de</strong>rung und Unterstützung erfolgte (z.B. in Esslingen). Das Verständnis<br />
ehrenamtlichen Engagements von Erwerbslosen wird anhand <strong>de</strong>r Gruppendiskussion,<br />
die im SALZ durchgeführt wur<strong>de</strong>, analysiert. 42<br />
3.5.2.2 Die Be<strong>de</strong>utung ehrenamtlichen Engagements aus Sicht <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen<br />
Gemeinsam ist <strong>de</strong>n ehrenamtlichen Engagierten, dass sie die Freiwilligkeit<br />
ihrer Tätigkeit im Arbeitslosenzentrum betonen. Unterschie<strong>de</strong> bestehen in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung,<br />
die sie <strong>de</strong>m SALZ für ihr Engagement zuweisen. So ist das SALZ für die<br />
Teilnehmer/innen <strong>de</strong>r Arbeitsloseninitiative <strong>de</strong>r Rahmen, innerhalb <strong>de</strong>ssen und<br />
von <strong>de</strong>m aus sie politisch aktiv sein können. Sie sehen es als Notwendigkeit bzw.<br />
als Verpflichtung an, auf die Probleme und die Situation von Arbeitslosen hinzuweisen.<br />
Mit diesen Problemen an die Öffentlichkeit zu gehen, ist ein vitales Interesse<br />
<strong>de</strong>r Arbeitsloseninitiative.<br />
C: Da wir ja arbeitslos sind und sonst nicht so viel zu tun haben, ist das halt a<br />
wenig a Abwechslung auch.<br />
E: Für dich.<br />
C: Ja, also für mich schon, ja.<br />
D: Ja, für mich ist, ich mache ehrenamtliche Sachen, freiwillig mach ich das.<br />
E: Ja.<br />
D: Ich engagier mich aus Zivilcourage auf freiwilliger Basis.<br />
C: Also ich koch, also wir machen fast, je nach <strong>de</strong>m was ... (Unterbrechung)<br />
E: was anfällt.<br />
C: Was anfällt. Ja.<br />
D: Ich habe was an<strong>de</strong>res gemacht. Flugblätter verteilt. (...) Also in die Öffentlichkeit<br />
zu gehen. Sich mal zu zeigen.<br />
Während C ihr Engagement als Abwechslung zu ihrem Alltag darstellt, welcher<br />
durch die Arbeitslosigkeit und die dadurch zur Verfügung stehen<strong>de</strong> Zeit stärkere<br />
Be<strong>de</strong>utung erlangt, insistiert D auf ein gesellschaftspolitisches Engagement,<br />
das er als Zivilcourage begreift. Diese wird als ein Anspruch verstan<strong>de</strong>n, sich<br />
selbst in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit zu zeigen und dadurch das Thema Arbeitslosigkeit ins<br />
allgemeine Bewusstsein zu heben. Dieses Anliegen, die eigenen Interessen in <strong>de</strong>r<br />
Öffentlichkeit zu artikulieren, wird von allen geteilt. Unterschie<strong>de</strong> sind aber in <strong>de</strong>r<br />
42 Bei <strong>de</strong>n Teilnehmer/innen han<strong>de</strong>lte es sich fast ausschließlich um Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeitsloseninitiative<br />
im SALZ. Insgesamt waren es sechs Teilnehmer/innen (vier Männer und zwei Frauen). Die<br />
Gruppendiskussion fand am 14.10.02 statt.
109 <br />
Gewichtung zu sehen. So wird C zurückgewiesen, als sie für alle („wir“) auf die<br />
Frage antwortet, warum sie ehrenamtlich engagiert seien. Schon am Anfang <strong>de</strong>r<br />
Gruppendiskussion zeigte sich – und dies wie<strong>de</strong>rholte sich in ihrem Fortgang –,<br />
dass es für die aktiv Engagierten zwei Tätigkeitsbereiche gibt: ein Engagement im<br />
Innenbereich <strong>de</strong>s SALZ und ein Engagement, das politisch in die Öffentlichkeit<br />
wirkt. Letzteres wird von allen als wichtig erachtet und von <strong>de</strong>n meisten als das<br />
zentrale Anliegen betont. Die einzelnen weisen diesem Engagement aber unterschiedliche<br />
Be<strong>de</strong>utungen zu. Diese Zuweisungen rekurrieren dabei auf die jeweilige<br />
Betroffenheit und <strong>de</strong>n Anspruch <strong>de</strong>r Engagierten.<br />
Ich bin in <strong>de</strong>n Treffpunkt SALZ mehr o<strong>de</strong>r weniger durch Zufall gekommen.<br />
Durch ein Plakat, es wur<strong>de</strong> FotoAG o<strong>de</strong>r so was angeboten. Und dann bin ich<br />
öfters daher und dann hab ich gemerkt, dass man sich auch politisch betätigen<br />
kann, insofern auf die Strasse zu gehen, um gegen das zu gehen, was uns betrifft.<br />
Damit das Thema Nummer eins nicht immer unter <strong>de</strong>n Tisch fällt, sah ich es<br />
als zwingen<strong>de</strong> Notwendigkeit, mitzumachen bei Demonstrationen. (...)<br />
Das hat mich ganz stark interessiert und weil ich fin<strong>de</strong>, dass wir einfach untergehen<br />
in <strong>de</strong>n Medienlandschaften. Die vielleicht <strong>de</strong>n Tag <strong>de</strong>r Milch o<strong>de</strong>r irgendwie<br />
was an<strong>de</strong>res o<strong>de</strong>r Aktionärskurse höher bewerten und öfters interpretieren,<br />
als wie die Arbeitslosigkeit, die Thema Nummer eins sein sollte. Aber die Arbeitslosen<br />
wer<strong>de</strong>n bekämpft und <strong>de</strong>s ist, was mir wi<strong>de</strong>rstrebt. Und wenn dann<br />
noch ein Kanzler uns als Faulpelze hinstellt, dann muss man um so mehr was<br />
tun. Weil das kann es nicht sein. Für die eigenen Unzulänglichkeiten, die die Regierungen<br />
verantworten müssen, die Leute dann zusätzlich noch bestrafen, wenn<br />
man ihnen <strong>de</strong>n Teppich unter <strong>de</strong>n Füßen wegzieht, sprich die Erwerbsarbeit. Ich<br />
spreche nicht von Beschäftigung. (...)<br />
Ich halte es einfach für wichtig, dieses Thema wach zu halten und einfach,<br />
äh, was zu tun, um doch nicht unterzugehen, um gehört zu wer<strong>de</strong>n und darum<br />
mach ich in <strong>de</strong>r Initiative mit. (Erwerbslose E)<br />
E kommt über ein Angebot zu SALZ und erkennt <strong>hier</strong> die Möglichkeit, sich<br />
politisch zu betätigen. Das „Thema Nummer Eins“brennt ihr auf <strong>de</strong>n Nägeln und<br />
sie sieht es als „zwingen<strong>de</strong> Notwendigkeit“sich dafür auch in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />
einzusetzen, damit es nicht „immer unter <strong>de</strong>n Tisch falle“. Das SALZ bietet <strong>de</strong>n<br />
Rahmen, um mit <strong>de</strong>m wichtigen Thema Arbeitslosigkeit in die Öffentlichkeit gehen<br />
zu können. Zumal „wir“(die Betroffenen) auch in <strong>de</strong>n Medien untergehen. Obwohl<br />
die Arbeitslosigkeit in <strong>de</strong>n Medien an erster Stelle stehen sollte, beschäftigen diese<br />
sich sowohl in Quantität als auch in Qualität entwe<strong>de</strong>r mit belanglosen Themen<br />
(Tag <strong>de</strong>r Milch) o<strong>de</strong>r mit Themen, die <strong>de</strong>r eigenen Lebensrealität entrückt sind<br />
(Aktionärskurse). Statt <strong>de</strong>ssen wer<strong>de</strong>n die Arbeitslosen sogar bekämpft. Diese<br />
macht sie am Beispiel <strong>de</strong>s Kanzlerzitats fest, in <strong>de</strong>m die Arbeitslosen als Faulpelze<br />
bezeichnet wer<strong>de</strong>n. E nimmt diese Kampfansage durch <strong>de</strong>n Kanzler an, und<br />
meint dass man <strong>de</strong>shalb um so mehr dagegen tun müsse.<br />
E betont, dass es ihr nicht um Beschäftigung gehe, son<strong>de</strong>rn um Erwerbsarbeit.<br />
Erwerbsarbeit bezieht sich <strong>hier</strong> auf <strong>de</strong>n „Teppich unter <strong>de</strong>n Füßen“, also<br />
auf die Grundlage <strong>de</strong>s einzelnen Individuums. Erwerbslosigkeit thematisiert <strong>hier</strong><br />
nicht das Problem <strong>de</strong>r Nichtbeschäftigung bzw. <strong>de</strong>s Nichttätigseins, son<strong>de</strong>rn die<br />
ökonomische Grundlage <strong>de</strong>s einzelnen. Dieser verliert diese Grundlage aber nach<br />
E nicht, son<strong>de</strong>rn sie wird ihm „unter <strong>de</strong>n Füßen weggezogen“. Statt Arbeit zu<br />
schaffen, was ihres Erachtens in <strong>de</strong>r Verantwortung <strong>de</strong>r Regierung liegt, lenke
110 <br />
diese von <strong>de</strong>n eigenen Unzulänglichkeiten ab, in<strong>de</strong>m sie jene beschuldigt, <strong>de</strong>nen<br />
<strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>n Füßen weggezogen wur<strong>de</strong>. Sie verhin<strong>de</strong>re nicht nur Arbeitsplatzverlust,<br />
son<strong>de</strong>rn schaffe auch keine neuen Arbeitsplätze. Um die Verantwortung<br />
für die eigenen Unzulänglichkeiten abzugeben, stigmatisiere sie die Arbeitslosen<br />
als Faulpelze. E fühlt sich nicht nur im Stich gelassen, son<strong>de</strong>rn angegriffen.<br />
Sie empfin<strong>de</strong>t das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Medien und <strong>de</strong>r Regierung nicht als nur ein Ignorantes,<br />
das sich um die Probleme <strong>de</strong>r Arbeitslosen nicht schert, son<strong>de</strong>rn als ein<br />
Aggressives, das die Arbeitslosen als Sün<strong>de</strong>nbock benutzt. Für E manifestiert<br />
sich darin ein Existenzkampf um die eigene I<strong>de</strong>ntität und Integrität. Diesen Kampf<br />
muss man in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit führen, dort, wo auch die Angriffe getätigt wer<strong>de</strong>n.<br />
Dass es ihr dabei nicht um einen ökonomischen Existenzkampf geht, unterstreicht<br />
sie, in<strong>de</strong>m sie ihre „nur“mittelbare Betroffenheit als Erwerbsunfähigkeitsrentnerin<br />
unterstreicht.<br />
Für E ist Engagement als Betroffene auch Artikulation ihrer eigenen Lebenserfahrung.<br />
Das SALZ sei dafür „ne ganz nette Plattform“, die ihr die Möglichkeit<br />
bietet, zusammen mit an<strong>de</strong>ren in die Öffentlichkeit zu wirken. Allerdings fin<strong>de</strong>t<br />
es E betrüblich, dass es trotz <strong>de</strong>r großen Anzahl von Arbeitslosen nicht gelingt,<br />
noch mehr Menschen für das Thema zu mobilisieren. Das liege nicht zuletzt daran,<br />
dass Arbeitslosigkeit durch ABM, kurzfristige Arbeitsverhältnisse o<strong>de</strong>r Praktika<br />
unterbrochen wer<strong>de</strong>. Und somit kein Grund bestün<strong>de</strong>, sich als Erwerbsloser im<br />
Sinne <strong>de</strong>r eigenen Interessen zu engagieren. Außer<strong>de</strong>m gebe es auch Angst und<br />
Scham. Angst, sich seine zukünftige Stelle zu verbauen. Scham, einzugestehen,<br />
dass man arbeitslos sei. Angst und Scham müssten erst überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
Und man hoffe auch noch, wie<strong>de</strong>r Arbeit zu fin<strong>de</strong>n, um aus dieser misslichen Lage<br />
herauszukommen und wie<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>nen zu gehören, die nicht ausgestoßen<br />
sind. Arbeitslosigkeit muss von <strong>de</strong>n Betroffenen erst realisiert wer<strong>de</strong>n und sie<br />
müssen Mut aufbringen, sich gegen die Stigmatisierung als Ausgegrenzte zu<br />
wehren.<br />
E: Ein Punkt ist, dass sie teilweise dann in Maßnahmen verschwin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r aber<br />
in kurzfristigen Arbeitsverhältnissen o<strong>de</strong>r im Praktikum. (...) Es ist auch ein<br />
Stück weit äh, man möchte sich ja seine künftige Stelle nicht verbauen. (...)<br />
Deshalb mach ich aber jetzt gera<strong>de</strong> mit Fleiß meinen Mund auf, weil jetzt kann<br />
ich es mir erlauben. (...) Und vorher hätte ich <strong>de</strong>s nicht getan. Am Anfang bin<br />
ich auch zu hause geblieben. Bin eigentlich nur aus <strong>de</strong>m Haus raus, so wie<br />
die An<strong>de</strong>ren, ne, die in Arbeit stehn, weil ich mich direkt geniert hab, weil ich<br />
auch noch gehofft hab, ich fin<strong>de</strong> Arbeit.<br />
B: Also ich <strong>de</strong>nk, dass das schon ein Teil ist, dass das ein Großteil zuerst mal<br />
diesen Schock verarbeiten muss und sich zu hause verkriecht. Und dann ist<br />
es so, dass es zwar massiv viele Arbeitslose gibt, das aber, wenn man sich<br />
das genauer anguckt, sehr viel Leut doch sehr schnell wie<strong>de</strong>r in eine Arbeit<br />
reinkommen, so dass die gar nicht erst auffällig wer<strong>de</strong>n nach außen hin. (...)<br />
Also so dass, es für die jetzt gar nicht als Notwendigkeit empfun<strong>de</strong>n wird, da<br />
irgendwas öffentlich zu tun, son<strong>de</strong>rn zuerst einmal wirst du auch noch mit <strong>de</strong>m<br />
Ding im Kopf, du kriegst wie<strong>de</strong>r Arbeit, umrennen. (...) Und dann bei <strong>de</strong>n<br />
Langzeitarbeitslosen, da ist es dann wirklich schon so, dass sie sich zu hause<br />
verkriechen.<br />
Das Eingeständnis <strong>de</strong>r eigenen Betroffenheit von Arbeitslosigkeit wird verlagert.<br />
Solange es Hoffnung gibt, wie<strong>de</strong>r erwerbstätig zu wer<strong>de</strong>n, gibt es keinen
111 <br />
Grund sich zu engagieren. Die Langzeitigkeit von Arbeitslosigkeit führe aber oft zu<br />
Handlungsunfähigkeit. Grund dafür sind Rückzug und Depressionen, mit <strong>de</strong>nen<br />
auf Betroffenheit und Stigmatisierung reagiert wird. Für die Diskussionsteilnehmer/innen<br />
setzt Engagement also erst ein, wenn man die Arbeitslosigkeit als eigenes<br />
Schicksal realisiert habe, dann sei es aber für viele schon nicht mehr möglich,<br />
aktiv zu agieren.<br />
Ein Engagement in einem Arbeitslosenzentrum wird aber ein Problem bleiben,<br />
solange Arbeitsloseninitiativen die Arbeitslosigkeit zum zentralen Thema haben.<br />
Wenn das Engagement <strong>hier</strong> als Selbsthilfe zur Wie<strong>de</strong>reinglie<strong>de</strong>rung verstan<strong>de</strong>n<br />
wird, die sich um das Thema Arbeit zentriert, dann wird ein breiteres Engagement<br />
ausbleiben. Arbeitslose wer<strong>de</strong>n Beratung suchen, aber ihre Arbeitslosigkeit<br />
nicht als Auslöser und Thema für ein Engagement einbringen wollen. Dafür<br />
spricht <strong>de</strong>r geringe Mobilisierungsgrad unter <strong>de</strong>n Erwerbslosen. Dafür spricht aber<br />
auch, dass es viele Arbeitslosenzentren gibt, in <strong>de</strong>nen Erwerbslose nicht ehrenamtlich<br />
engagiert sind.<br />
Innerhalb eines Engagements im SALZ ist es möglich, Beschäftigungen<br />
nachzugehen, die selber strukturiert wer<strong>de</strong>n können:<br />
Erstens ist es <strong>hier</strong> problemlos. Man kann <strong>hier</strong> viel machen. Man kann sich<br />
engagieren. Man, man muss es net, man kann es halt machen, je nach <strong>de</strong>m, wie<br />
je<strong>de</strong>r will. Man kann kochen, es gibt aber auch an<strong>de</strong>re Sachen. Wir haben ein<br />
paar Feiern im Jahr, die kann man mitmachen, mitgestalten. Es ist immer wie<strong>de</strong>r<br />
was Neues also es ist schon viel Abwechslung da. (Erwerbslose C)<br />
C hebt die Unkompliziertheit beim Engagement hervor und unterstreicht die<br />
Offenheit <strong>de</strong>r eigenen Engagementgestaltung. Damit wird auf die Abwesenheit<br />
von Zwang hingewiesen, die <strong>de</strong>m Engagement zugrun<strong>de</strong> liegt. Auch die mögliche<br />
Einteilung <strong>de</strong>r eigenen körperlichen Ressourcen wird dabei als wichtiges Moment<br />
geschätzt:<br />
Es ist ne gute Sache <strong>hier</strong> im SALZ, sich so zu engagieren, wie es <strong>de</strong>r eigene<br />
Energiehaushalt zulässt. (Erwerbslose E)<br />
Hier zeichnet sich ab, was ehrenamtliches Engagement ausmacht: die freie<br />
Entscheidung, sich zu engagieren, das Engagement selbstbestimmt gestalten zu<br />
können und das Engagement <strong>de</strong>n individuell körperlichen und seelischen Präferenzen<br />
anzupassen.<br />
Den Begriff „Ehrenamt“lehnen die Engagierten für ihre Tätigkeit rigoros ab.<br />
Er drückt nicht das aus, was sie unter ihrem Engagement verstehen:<br />
Ehrenamt hat eigentlich damit ganz wenig zu tun, weil ich’s gar nicht als<br />
Ehre betrachte. Es ist für mich eigentlich so ne gewisses Reich <strong>de</strong>r Freiheit. Man<br />
kann im Ehrenamt das machen, was man gern tut und ist nicht gebun<strong>de</strong>n an irgendwelche<br />
Vorstellungen, wie bringt mir das jetzt en Lohn o<strong>de</strong>r ist das jetzt nützlich.<br />
(...) Warum mach ich, in Anführungszeichen, ehrenamtliche Arbeit? Weil es<br />
Spaß macht, weil man es freiwillig macht und weil auch ne Notwendigkeit ist. (Erwerbsloser<br />
B)<br />
Im Engagement kann man <strong>de</strong>m nachgehen, was man gern tut und ist dabei<br />
o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb frei von Nutzenkalkülen. Die Rationalität erwerbsorientierter<br />
Arbeit ist <strong>hier</strong> nicht notwendig vorhan<strong>de</strong>n. B geht es damit eher um Selbstentfaltung<br />
als um Anerkennung und öffentliche Äußerung wie das von E beschrieben<br />
wur<strong>de</strong>.
112 <br />
F: Das [Wort Ehrenamt, Anm. F. Ernst] ist mir gar nicht eingefallen. Ich weiß net<br />
mal was <strong>de</strong>s alte und ob es das neue Ehrenamt ist.<br />
E: Ja.<br />
F: Ich kann es also nicht <strong>de</strong>finieren, weiß ich nicht. Ich hab <strong>de</strong>s aus so ner Notwendigkeit<br />
heraus gemacht. Erstens war ich selber Betroffener o<strong>de</strong>r bin ich<br />
noch Betroffener.<br />
(...) Ich hab mir da keine Gedanken drum gemacht, ob das Ehrenamt heißt o<strong>de</strong>r<br />
nicht.<br />
E: Mich stört <strong>de</strong>s.<br />
F: Mir ist es eigentlich scheißegal, wie es heißt.<br />
E: Ja.<br />
D: Mich stört <strong>de</strong>s Wort Ehrenamt auch.<br />
E: Ich find’s total unpassend.<br />
F: Ja.<br />
E: Ich seh’s für mich selber auch eine ...(Unterbrechung)<br />
F: Notwendigkeit.<br />
E: Ja, ne Notwendigkeit. Ich möchte <strong>de</strong>s gern tun, weil ich da auch einen Sinn<br />
drin sehe und weil ich <strong>de</strong>nke, wenn wir <strong>de</strong>s nicht machen o<strong>de</strong>r wenn wir <strong>de</strong>s<br />
jetzt nicht machen wür<strong>de</strong>n, wär es noch weniger.<br />
Ehrenamtliches Engagement wird aus einer Betroffenheit heraus aufgenommen,<br />
die sich in <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Ehrenamtes offenbar nicht integrieren lässt.<br />
Neben <strong>de</strong>r Freiwilligkeit <strong>de</strong>s Engagements und <strong>de</strong>r Abwesenheit von Zwang gibt<br />
es aber auch eine Notwendigkeit, diese Tätigkeiten auszuführen. Diese Notwendigkeit<br />
bezieht sich einerseits auf das Ziel, die eigenen Interessen zu artikulieren,<br />
an<strong>de</strong>rerseits auf bestimmte Aufgaben, die kontinuierlich auszuführen sind.<br />
Ich halt es für meine Verpflichtung. Nicht unbedingt Spaß machen. (Erwerbslose<br />
E)<br />
Verpflichtung wird <strong>hier</strong> im Sinne einer Moral verstan<strong>de</strong>n, sich für die Situation<br />
von Erwerbslosen zu engagieren. Dabei grenzt sich E von Spaß ab. Die erlebte<br />
und erfahrene Ungerechtigkeit, gegen die „die Politiker“nicht nur nichts tun,<br />
son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>r sie beteiligt sind, muss man jenen vor Augen führen. Das Gefühl,<br />
Arbeitslose seien Menschen zweiter Klasse, ist <strong>hier</strong> ein tragen<strong>de</strong>s Motiv. Notwendigkeit<br />
wird mit <strong>de</strong>r Verpflichtung verbun<strong>de</strong>n, etwas gegen die Ungerechtigkeit zu<br />
tun.<br />
Für B ist Notwendigkeit eine Voraussetzung, um Spaß zu empfin<strong>de</strong>n.<br />
Ich möchte <strong>de</strong>s gern tun, weil ich da auch einen Sinn drin sehe. (...) Es<br />
muss schon Spaß machen. (...) Wenn sich nicht ein Ehrenamtlicher fin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r<br />
sich da hinsteht und kocht, dann gibt’s eben kein Mittagessen. So schlicht und<br />
ergreifend ist das. (Erwerbsloser B)<br />
Damit wird auf die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Selbstorganisation hingewiesen. Ehrenamtliches<br />
Engagement besteht auch darin, es selbst zu organisieren und nicht nur<br />
auf Angebote zu reagieren. Das ist <strong>hier</strong> <strong>de</strong>shalb erwähnenswert, weil in an<strong>de</strong>ren<br />
Erwerbsloseneinrichtungen die Möglichkeit und die Notwendigkeit zur Selbstorganisation<br />
nur gering vorhan<strong>de</strong>n ist. Sie ist aber für die Entfaltung selbstbestimmten<br />
Engagements unerlässlich.<br />
3.5.2.3 Zusammenfassung
113 <br />
Im Engagement erfahren die Engagierten <strong>de</strong>s SALZ die Möglichkeit, sich<br />
politisch zu artikulieren. Hierüber wird auch fehlen<strong>de</strong> Anerkennung kompensiert.<br />
Es setzt voraus, dass die Situation <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit individuell anerkannt und<br />
eine Notwendigkeit für öffentliche Äußerung befun<strong>de</strong>n wird. In diesem Sinne ist<br />
das SALZ ein Rahmen für das politische Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Erwerbslosen.<br />
Ehrenamtliches Engagement wird auch <strong>hier</strong> als Selbstentfaltung verstan<strong>de</strong>n,<br />
mit <strong>de</strong>m die eigenen Interessen verfolgt wer<strong>de</strong>n können, ohne bestimmten<br />
Zwängen unterworfen zu sein. Hervorgehoben wird die selbstbestimmte Einteilung<br />
<strong>de</strong>r Tätigkeit, die es erlaubt, <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s „eigenen Energiehaushaltes“angepasst<br />
zu wer<strong>de</strong>n und außer<strong>de</strong>m als zusätzliches Element neben <strong>de</strong>n<br />
alltäglichen Aufgaben (Abwechslung) erlebt wird.<br />
Der Rahmen, <strong>de</strong>n das SALZ bietet, ist für die Entfaltung <strong>de</strong>s Engagements<br />
unerlässlich. Hier ist es innerhalb einer Gruppe möglich, das individuelle Engagement<br />
selbstbestimmt und an <strong>de</strong>n eigenen Interessen orientiert einzubringen,<br />
ohne die eigenen physischen Grenzen außer acht zu lassen. Das Zentrum wird<br />
einerseits als Treff, an<strong>de</strong>rerseits als Rahmen für die Organisation eigener politischer<br />
Ansprüche genutzt. Sinn und Kompetenzen wer<strong>de</strong>n vor allem auch entwickelt,<br />
in <strong>de</strong>m man zusammen mit an<strong>de</strong>ren gemeinsam tätig ist.<br />
Die starke Zentrierung auf das Thema Erwerbsarbeit legt allerdings die<br />
Richtung <strong>de</strong>s Engagements weitgehend fest, wie sich vor allem im nach außen<br />
gerichteten politischen Engagement zeigt. Außer<strong>de</strong>m dürfte die Bezeichnung Arbeitslosenzentrum<br />
auch in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg viele Erwerbslose abschrecken,<br />
selbst wenn sie die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit für sich realisiert haben, liegt<br />
doch in <strong>de</strong>m Begriff die Gefahr einer Stigmatisierung.<br />
3.5.3 Bürgerschaftliches Engagement. Das Beispiel Esslingen<br />
3.5.3.1 Bürgerschaftlich Engagierte im „Forum Häppeker“<br />
Ein Beispiel für die Be<strong>de</strong>utung, wie wichtig und för<strong>de</strong>rlich es ist, die eigenen<br />
Interessen einbringen zu können, zeigt sich am Beispiel <strong>de</strong>r Gruppendiskussion<br />
in Esslingen.43 Die Beteiligten sind in unterschiedlichen Initiativen und Vereinen<br />
aktiv und verstehen ihre Tätigkeit explizit als bürgerschaftliches Engagement<br />
und grenzten es klar vom Ehrenamt ab.<br />
Bürgerschaftliches Engagement ist wirklich, dass ich engagiere mich mit allem, ob<br />
<strong>de</strong>s jetzt Diskussionen, ob <strong>de</strong>s Schwierigkeiten, ob <strong>de</strong>s schöne Dinge sind. Während<br />
beim Ehrenamt, beim Ehrenamt hat so was, wenigstens früher bei uns, da<br />
übernimmt man <strong>de</strong>s Amt, da sagt man er macht <strong>de</strong>s ehrenamtlich. Er schenkt,<br />
sie, die Frauen schenken ehrenamtlich am Seniorennachmittag <strong>de</strong>n Kaffee aus,<br />
die dürfen ehrenamtlich <strong>de</strong>n Tisch <strong>de</strong>cken und abräumen, ja irgendwas machen.<br />
Des ist die Funktion, die einem von oben her aufgetragen wird. Ehrenamt. Während<br />
<strong>de</strong>s bürgerschaftliche Engagement, das ist, da bring ich mich selber ein und<br />
mein Wissen und mein Können. So seh ich praktisch auch <strong>de</strong>s was ich, ich bin<br />
43 An <strong>de</strong>r Gruppendiskussion am 17.10.02 nahmen sieben Teilnehmer/innen (drei Frauen, vier<br />
Männer) zwischen 43 und 79 Jahren teil.
114 <br />
<strong>hier</strong> nicht im Ehrenamt. (Engagierte B)<br />
Bürgerschaftliches Engagement ist <strong>hier</strong> auch ein Stück Emanzipation aus<br />
alten Strukturen. Die Engagierten stellen das Übernehmen von Aufgaben innerhalb<br />
eines fremdbestimmten Rahmens in Frage, in <strong>de</strong>n man durch Gruppen bzw.<br />
Milieuanbindung gestellt ist. Hier kommt auch eine geschlechtspezifische Thematisierung<br />
zum Tragen. Frauen übernehmen in Ehrenämtern in <strong>de</strong>n meisten Fällen<br />
an<strong>de</strong>re Funktionen als Männer, was sich nicht zuletzt darin spiegelt, dass Frauen<br />
insgesamt mehr im Bereich <strong>de</strong>s „sozialen Engagements“tätig sind, also im pflegen<strong>de</strong>n<br />
und sorgen<strong>de</strong>n Bereich.<br />
Für B ergibt sich über bürgerschaftliches Engagement die Möglichkeit, die<br />
eigenen Intentionen umzusetzen. Das heißt in ihrem Falle, nicht eine zugewiesene<br />
Funktion auszuüben, son<strong>de</strong>rn sich selbst mit ihrem Wissen und Können einzubringen.<br />
Über diese Form <strong>de</strong>s Engagements gelingt auch eine Emanzipation von<br />
zugewiesenen geschlechtsspezifischen Rollenverständnissen im Ehrenamt. Dazu<br />
bedarf es aber Gelegenheiten, die dies ermöglichen. Die starke Unterstützung<br />
bürgerschaftlichen Engagements von seiten <strong>de</strong>r kommunalen Verwaltung leitstet<br />
dabei einen nicht unbeträchtlichen Beitrag. In Esslingen wird dies nicht nur vom<br />
Bürgermeister getragen, es wur<strong>de</strong>n auch Stellen eingerichtet, die die bürgerschaftlichen<br />
Gruppen unterstützen. Hier existiert eine sehr enge Zusammenarbeit<br />
zwischen <strong>de</strong>n bürgerschaftlich engagierten Gruppen und <strong>de</strong>r Stadt.<br />
Eine Aushandlung gab es zwischen <strong>de</strong>n Teilnehmer/innen <strong>de</strong>r Gruppendiskussion<br />
in bezug auf <strong>de</strong>n Begriff „Altruismus“. Dieser wur<strong>de</strong> als die Bereitschaft<br />
verstan<strong>de</strong>n, freiwillig zu helfen. Es stellte sich aber im Laufe <strong>de</strong>r Diskussion heraus,<br />
dass ein Unterschied in <strong>de</strong>r begrifflichen Besetzung bestand, die ihm zugeschrieben<br />
wur<strong>de</strong>. Auf das eigene Verhalten hatte dies keinen Einfluss. Denn Engagement<br />
wur<strong>de</strong> von allen als die Bereitschaft interpretiert, sich freiwillig einzubringen.<br />
Das eigene Engagement wur<strong>de</strong> dabei nicht als Pflicht verstan<strong>de</strong>n, Aufgaben<br />
innerhalb einer Organisation zu übernehmen, son<strong>de</strong>rn als Möglichkeit, die<br />
eigenen Interessen und Bedürfnisse in <strong>de</strong>r jeweiligen Lebenssituation mit einem<br />
Engagement zu verbin<strong>de</strong>n.<br />
Und dann hab auf <strong>de</strong>m Level was gesucht, was ich studiert habe. Und da<br />
hab ich gedacht, ich bin ein Philologe und jetzt kommt meine pädagogische, äh,<br />
da vielleicht auch zum Tragen. (...) Vielleicht war auch im Hinterkopf etwas von<br />
Gestaltenwollen, also im Besten Sinne. (...) Und dieses Helfen, dass sich das<br />
nicht nur im geistigen Bereich abspielt, son<strong>de</strong>rn im Für und Miteinan<strong>de</strong>r. Das hat<br />
man auch mitgekriegt über ein Stück weit Familie. (...), Dann spielt noch ne große<br />
Rolle eben, das was man mitgekriegt hat von <strong>de</strong>r Uni, dieses Verständnis, meinetwegen,<br />
wenn Sie wollen, Martin Buber, <strong>de</strong>s dialogische Prinzip. (Engagierte D)<br />
D. formuliert in dieser Passage das Konzept <strong>de</strong>r „biographischen Passung“<br />
aus ihrer individuellen und alltagsweltlichen Sicht. Sie beginnt ihr Engagement mit<br />
<strong>de</strong>m Übertritt in <strong>de</strong>n Ruhestand. Hier wird versucht, an die eigene berufliche Ausbildung<br />
anzuknüpfen. Dabei spielt es auch eine Rolle, Verantwortung übernehmen<br />
zu können – „ein Stück mit Gestalten wollen“. Ihr Verständnis von sinnvollem<br />
Engagement, das mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s Helfens und <strong>de</strong>s Miteinan<strong>de</strong>rs beschrieben<br />
wird, speist sich aus <strong>de</strong>r Familienerfahrung, <strong>de</strong>n beruflichen Kenntnissen und aus<br />
einem humanistischen Weltbild. Ausgangspunkt ist eine Motivation zu Helfen, a<br />
ber mit Helfen innerhalb eines Ehrenamtes im klassischen Sinne hat das nichts zu
115 <br />
tun. D sucht Möglichkeiten, durch eigenes Engagement die mit und zwischenmenschlichen<br />
Verhältnisse mit zu gestalten und qualifiziert sich <strong>hier</strong>für sogar weiter.<br />
Sie hat an Kursen teilgenommen und leitet mittlerweile selbst Kurse. Ihr Engagement<br />
dient in erster Linie <strong>de</strong>m Bedürfnis, sich mit <strong>de</strong>n eigenen Fähigkeiten<br />
einbringen und selbstbestimmt han<strong>de</strong>ln zu können.<br />
Den Disput zwischen Altruismus und Egoismus, <strong>de</strong>r während <strong>de</strong>r Diskussion<br />
immer wie<strong>de</strong>r aufflackert, bringt A zu einem befriedigen<strong>de</strong>n Abschluss. Sie<br />
verweist darauf, dass zu altruistischen Motiven <strong>de</strong>r Anspruch hinzu gekommen<br />
sei, Spaß und Bestätigung zu erfahren. Außer<strong>de</strong>m habe man individuelle Zeitsouveränität<br />
gewonnen: man darf sich heute nach einer bestimmten Zeit wie<strong>de</strong>r etwas<br />
an<strong>de</strong>res suchen. Damit knüpfte sie an die Beobachtung an, dass bürgerschaftliches<br />
Engagement als neue Form <strong>de</strong>s Engagements zeitlich begrenzt ist<br />
und nicht mehr lebenslang an eine Institution gebun<strong>de</strong>n bleiben muss:<br />
Ja, aber zu <strong>de</strong>n altruistischen Motiven ist heute auch Spaß dazugekommen.<br />
Man fin<strong>de</strong>t ja auch Bestätigung für sich selbst. Das ist ein Stück weit ehrlicher<br />
auch. Und heute kann sich auch je<strong>de</strong>r erlauben, was an<strong>de</strong>res zu machen,<br />
nach `ner bestimmten Zeit, was an<strong>de</strong>res zu machen, und das ist im Grun<strong>de</strong> ehrlicher.<br />
(Engagierte A)<br />
Jetzt muss man sich wirklich überlegen, dies was wir <strong>hier</strong> auch sagen, dass<br />
wir einfach dies net so nehmen, wie wir das gemacht hatten, nämlich unser ganzes<br />
Leben, son<strong>de</strong>rn dies was jetzt auch das neue äh bürgerschaftliche Engagement<br />
ist, nämlich dieses Projektbezogene. Dass heißt, wenn das Projekt zu En<strong>de</strong><br />
ist, dann mache ich mal wie<strong>de</strong>r Pause mit <strong>de</strong>m bürgerschaftlichen Engagement<br />
und wenn mir dann wie<strong>de</strong>r was behagt, dann mache ich wie<strong>de</strong>r weiter. (Engagierte<br />
B)<br />
Bürgerschaftliches Engagement wird als ein projektbezogenes, befristetes<br />
und themenorientiertes Engagement interpretiert, <strong>de</strong>m jeweils eine freiwillige Entscheidung<br />
zugrun<strong>de</strong> liegt. Dadurch grenzt es sich auch von <strong>de</strong>n bisherigen Formen<br />
<strong>de</strong>s Engagements <strong>de</strong>r Teilnehmer/innen ab. Die Option, ein Engagement<br />
aufnehmen und unterbrechen zu können, wann es <strong>de</strong>m einzelnen „behagt“, gewährleistet<br />
eine eigene Gestaltung <strong>de</strong>s Engagements in <strong>de</strong>r Zeit und in <strong>de</strong>r Thematik.<br />
Dabei ist nicht die aufgebrachte Zeit gemeint, die an das alltägliche Zeitbudget<br />
angepasst wird, son<strong>de</strong>rn die zeitlichen Passagen, in <strong>de</strong>nen abhängig von<br />
<strong>de</strong>r Lebenssituation generell ein Engagement aufgenommen wird. Die Projektorientiertheit<br />
<strong>de</strong>s Engagements ermöglicht darüber hinaus, eine Orientierung und<br />
Beteiligung an und eine Initiierung von bestimmten Themen. Gera<strong>de</strong> dadurch ist<br />
es eher auf die eigenen Interessen und Bedürfnisse abgestellt, die sich aus einem<br />
unmittelbaren individuellen Kontext herleiten. So gesehen ist bürgerschaftliches<br />
Engagement auch eine Emanzipation von hergebrachten Formen <strong>de</strong>s Engagements,<br />
die auf die Zuweisung von Funktionen angewiesen sind, um die institutionelle<br />
Abläufe in Organisationen und Verbän<strong>de</strong>n gewährleisten zu können. Bürgerschaftliches<br />
Engagement trägt in diesem Zusammenhang auch zur Auflösung<br />
geschlechtsspezifischer Rollenverständnisse bei, die sich in <strong>de</strong>n klassischen<br />
Formen <strong>de</strong>s Engagements (wie <strong>de</strong>m Ehrenamt) fin<strong>de</strong>n.<br />
Die zeitliche Begrenzung <strong>de</strong>s projektbezogenen Engagements scheint aber<br />
nicht die Kontinuität von Engagement generell in Frage zu stellen. Diese bleibt bei<br />
unterschiedlichem Projektbezug erhalten. Allerdings verweist B <strong>hier</strong> auf einen Unterschied<br />
zwischen <strong>de</strong>n Generationen:
116 <br />
Die Kontinuität, die jetzt da ist, durch diese Generation [die eigene, Anm. F.<br />
Ernst], die eben immer noch da ist, die fällt weg. (...) Unsere Generation ist ne<br />
aussterben<strong>de</strong> Generation, dies sind die Frauen, die nach <strong>de</strong>r Familienphase sich<br />
engagiert hatten. Die heutigen jungen Frauen können dies schon aus finanziellen<br />
Dingen nicht mehr. (Engagierte B)<br />
Im bürgerschaftlichen Engagement sieht B in gewisser Weise ein generationenspezifisches<br />
Dilemma. Einerseits ermöglicht es Formen <strong>de</strong>r Ausübung eines<br />
Engagements, die <strong>de</strong>n eigenen Interessen und Selbstentfaltungsmotiven gerecht<br />
wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rerseits muss man es sich finanziell leisten können. Deshalb wer<strong>de</strong><br />
es für berufstätige junge Frauen, die berufstätig sind schwierig, sich zu engagieren.<br />
Sie sind zwar finanziell unabhängig, aber zeitlich gebun<strong>de</strong>n.<br />
Für B, die einen Großteil ihres Lebens Hausfrau war, ist bürgerschaftliches<br />
Engagement letztlich die Möglichkeit, sich in einem außerfamilialen Zusammenhang<br />
innerhalb eines eigenen Tätigkeitszusammenhangs zu entfalten. Das um so<br />
mehr, als die klassische Form <strong>de</strong>s Ehrenamtes ihr eine bestimmte Funktion und<br />
damit eine Rolle im Engagement zuwies. Die Selbstentfaltung setzt einen selbstbestimmten<br />
Tätigkeitsbereich voraus, <strong>de</strong>r sich im bürgerschaftlichen Engagement<br />
verwirklichen lässt. Das ist insoweit von Be<strong>de</strong>utung, da es <strong>hier</strong> um ein Engagement<br />
geht, das nicht zusätzlich zur Erwerbstätigkeit aufgeführt wird, son<strong>de</strong>rn anstatt<br />
<strong>de</strong>r Erwerbstätigkeit entbehrt. Allerdings sind dafür finanzielle Sicherungen<br />
notwendig.<br />
Die meisten <strong>de</strong>r Teilnehmer/innen verweisen aber auch (wie D) auf die<br />
Selbstverständlichkeit eines Engagements, die aus <strong>de</strong>r Erziehung erwachse. Eine<br />
Engagementbereitschaft müsse man von klein auf mitbekommen haben. Entwe<strong>de</strong>r<br />
wer<strong>de</strong> ein Engagementverständnis über Nachbarschaftshilfe o<strong>de</strong>r über das in<br />
bestimmten Milieus eingelagerte Verständnis <strong>de</strong>r Verpflichtung sozialisiert. Deshalb<br />
äußerten einige auch Zweifel daran, ob man bürgerschaftliches Engagement<br />
erlernen könne. Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n neu aufgelegten Mentorenprogrammen in Ba<strong>de</strong>n<br />
Württemberg sollen dafür qualifizierte Engagierte <strong>de</strong>n sich neu Engagieren<strong>de</strong>n mit<br />
Beratung und Unterstützung zur Seite stehen. Diese Mentoren/innen sollen die<br />
Heranführung an ein Engagement erleichtern und zu einer Aufnahme motivieren.<br />
B und C meinen dazu, dass ein Engagement von unten kommen müsse und nicht<br />
von oben (Verwaltung) her geschaffen wer<strong>de</strong>n könne. A begreift die kommunalen<br />
politischen Stellen dagegen als notwendige Bedingung für eine Engagementunterstützung,<br />
die Gelegenheiten schaffen müssen.<br />
Die <strong>hier</strong> befragten Engagierten haben in ihrem Selbstverständnis ein Engagement<br />
aus eigenem Antrieb aufgenommen. Dabei schließen sie die Be<strong>de</strong>utung<br />
<strong>de</strong>r Sozialisation nicht aus, legen aber <strong>de</strong>ren Verpflichtungsbindungen ab.<br />
Die jeweiligen Engagements, die die einzelnen ausüben, haben sie sich auf <strong>de</strong>r<br />
Grundlage gesucht, sich selbstbestimmt in bestimmten Bereichen einzubringen.<br />
Dabei spielte bei einigen das Ausschei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Erwerbsleben eine Rolle, bei<br />
an<strong>de</strong>ren die Entfaltung eigener Bedürfnisse. Niemand äußert sich dahingehend,<br />
dass er / sie sich vor allem aus <strong>de</strong>m Gefühl einer Verpflichtung heraus engagiere.<br />
Den einzelnen erwachsen aber aus einer Sozialisation, in <strong>de</strong>r Verantwortung und<br />
Engagement eingebettet ist, biographische Ressourcen, die sie für ein eigenes<br />
Engagement nutzen können. Dies könnte man als traditionelle Wertorientierung<br />
auffassen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass wir es tatsächlich mit<br />
einem neuen, mo<strong>de</strong>rnen Verständnis <strong>de</strong>s Engagements zu tun haben: die soziali
117 <br />
satorischen Voraussetzungen schaffen zwar die grundsätzliche Bereitschaft zum<br />
Engagement, das tatsächliche Han<strong>de</strong>ln wird aber von <strong>de</strong>n Aspekten <strong>de</strong>r Freiwilligkeit,<br />
Sinnhaftigkeit und <strong>de</strong>r individuellen Befriedigung geleitet.<br />
Dieser Akzentverschiebung versucht die lokale Politik im Untersuchungsfeld<br />
Rechnung zu tragen, in<strong>de</strong>m sie Mentorenprogramme auflegt, durch welche<br />
<strong>de</strong>n Bürgerinnen und Bürgern das Wissen um die Möglichkeiten eines Engagements<br />
zugänglich gemacht wird, und an<strong>de</strong>rerseits eine persönliche „Begleitung“<br />
bereitgestellt wird. Diese Programme wen<strong>de</strong>n sich vor allem an Jugendliche, um<br />
sie auf die Optionen <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements aufmerksam zu machen<br />
und sie zu motivieren und zu för<strong>de</strong>rn.<br />
Generelle Voraussetzung für ein Engagement ist allerdings eine finanzielle<br />
Absicherung. Alle Teilnehmer/innen sind nicht erwerbstätig, sie sind entwe<strong>de</strong>r im<br />
Ruhe bzw. Vorruhestand, erwerbsunfähig o<strong>de</strong>r Hausfrau.<br />
C: Für mich ist <strong>de</strong>s Freiwilligenarbeit, <strong>de</strong>s ist ne Sache, die muss mir Spaß machen.<br />
Wenn ich Geld dafür kriegen wür<strong>de</strong>, wär es noch schöner. Aber weil,<br />
<strong>de</strong>s ist was Interessantes, dann mach ich es halt auch ohne Geld, weil ich<br />
brauch keins. Aber wenn ich Geld bräuchte, ... (Unterbrechung)<br />
D: Muss man es an<strong>de</strong>rs machen.<br />
C: Dann müsst ich natürlich gucken.<br />
D: Ja.<br />
G: wir hatten auch die Diskussion <strong>hier</strong> schon mal im an<strong>de</strong>rn Kreis. Es lässt sich<br />
auch, auch viel, viel leichter grad <strong>hier</strong> in <strong>de</strong>m Rahmen arbeiten, wenn man<br />
von <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>n Rücken frei hat.<br />
G: Jemand, <strong>de</strong>r Geld braucht ... (Unterbrechung)<br />
E: Der kann <strong>de</strong>s nicht.<br />
G: ist <strong>hier</strong> nicht in <strong>de</strong>r richtigen Run<strong>de</strong>.<br />
F: Ja, ja.<br />
G: Ne. Der auf je<strong>de</strong>n Cent gucken muss.<br />
D: Der wird sich’s an<strong>de</strong>rs überlegen.<br />
Es besteht kein Zweifel darüber, dass Engagement einer Absicherung bedarf,<br />
die es erst erlaubt, sich freiwillig zu engagieren, wobei es sogar „noch schöner“wäre,<br />
wenn die freiwillige Arbeit auch finanzielle Anerkennung fän<strong>de</strong>. Ein Engagement,<br />
das als Beschäftigungsersatz zu fehlen<strong>de</strong>r Erwerbsarbeit aufgenommen<br />
wird, wird nicht thematisiert. Es bleibt bei <strong>de</strong>n Überlegungen zum Engagement<br />
ausgeschlossen. Das mag daran liegen, dass die Thematik <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit<br />
<strong>hier</strong> kaum eine Rolle spielt. Zusammenhänge von sozialer Ausgrenzung<br />
und Engagement wer<strong>de</strong>n nicht aufgegriffen.<br />
Und dann muss ich sagen, wenn ich gewusst hätte, wie sich die finanzielle<br />
Lage entwickelt, mit <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong> und mit allem, dann hätte ich mir schwer überlegt,<br />
ob ich nach <strong>de</strong>r Familienphase, da weiterhin mich bürgerschaftlich engagiert hätte<br />
o<strong>de</strong>r ob ich da net zurück wär in <strong>de</strong>n Beruf. (Engagierte B)<br />
Ein Engagement wird nicht zuungunsten <strong>de</strong>s eigenen Lebensstandards<br />
aufgenommen. Nur wenn dieser perspektivisch gesichert scheint, kommt ein Engagement<br />
zum Tragen. Bürgerschaftliches Engagement muss gewährleisten, die<br />
eigenen Kompetenzen in einer selbstbestimmten Tätigkeit einzubringen, die Entfaltungsperspektiven<br />
bietet, je<strong>de</strong>rzeit kündbar ist und keine langfristige Verpflichtung<br />
be<strong>de</strong>utet. Für die Ermöglichung von bürgerschaftlichem Engagement bedarf<br />
es För<strong>de</strong>rstrukturen, die diese Bedürfnisse berücksichtigen, gera<strong>de</strong> weil die En
118 <br />
gagierten in kleine Gruppen o<strong>de</strong>r Initiativen arbeiten, die über keine Lobbies durch<br />
Verbandsstrukturen verfügen. In Ba<strong>de</strong>nWürttemberg hat sich auf staatlicher E<br />
bene eine beachtliche Struktur zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Engagements entwickelt. Der<br />
Einsatz und die Überzeugung zur Bereitstellung von Gelegenheiten ist in einigen<br />
<strong>de</strong>r von uns befragten Einrichtungen stark ausgeprägt. Nur diese Strukturen ermöglichen<br />
aber überhaupt solche Formen <strong>de</strong>s Engagements. 44<br />
Dennoch muss kritisch betont wer<strong>de</strong>n, dass in diesem Zusammenhang die<br />
Gefahr besteht, dass bürgerschaftliches Engagement für die Zwecke <strong>de</strong>r Kommune<br />
instrumentalisiert wer<strong>de</strong>n kann. Einige Experten äußerten in unseren Interviews<br />
aber auch, dass mit <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung bürgerschaftlichen Engagements das<br />
Selbstbewusstsein <strong>de</strong>r Bürger wächst, Unterstützung für eigene Projekte einzufor<strong>de</strong>rn.<br />
Dabei bemerke man mittlerweile aber auch ein „Zurückdrehen“an einigen<br />
Stellen, da diese Entwicklung einigen politischen Stellen zu weit gehe:<br />
Einige verantwortliche politische Stellen <strong>hier</strong> in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg ru<strong>de</strong>rn<br />
da auch schon ein Stück zurück. Sie spüren, dass das, wenn sie das, was initiiert<br />
wur<strong>de</strong>, ernst nehmen, dann kommen sie in gewisse Erklärungsnöte. Sie wer<strong>de</strong>n<br />
ja von <strong>de</strong>n Bürgern ganz an<strong>de</strong>rs angegangen und angegriffen. Die for<strong>de</strong>rn das<br />
ein, die sind da auch ein Stück selbstbewusster gewor<strong>de</strong>n. (...) Das sind die<br />
Punkte wo es kritisch wird. Dann wird eben auch oft gestoppt, von <strong>de</strong>r Politik aus.<br />
(Experteninterview)<br />
Hieran zeigen sich auch die Grenzen in <strong>de</strong>r Schaffung von Gelegenheiten,<br />
an die politische För<strong>de</strong>rstrukturen stoßen. Der selbstbestimmte aktive Bürger ist<br />
eben nicht teilbar. Ein eigenverantwortliches Übernehmen kommunaler Aufgaben,<br />
die im Engagement liegen, kann mit <strong>de</strong>n situativen Interessen <strong>de</strong>r Politik kollidieren.<br />
Wenn Politik bürgerschaftliches Engagement in einem selbstbestimmten und<br />
selbstverantwortlichen Rahmen för<strong>de</strong>rn will, muss sie auch <strong>de</strong>n Gegebenheiten<br />
unterschiedlicher Interessen Rechnung tragen. Ansonsten setzt sie sich <strong>de</strong>m Verdacht<br />
aus, bürgerschaftliches Engagement für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.<br />
Damit wird bürgerschaftliches Engagement aber letztlich behin<strong>de</strong>rt und<br />
unter die Kuratel einer Politik gestellt, die öffentliche Aufgaben <strong>de</strong>legiert, aber die<br />
vollständige Kontrolle über die Formen und Inhalte <strong>de</strong>r Aktivitäten sicherstellen<br />
will. In dieser Weise wäre bürgerschaftliches Engagement die Indienstnahme <strong>de</strong>r<br />
Engagementbereitschaft <strong>de</strong>r Bürger, bei gleichzeitiger Beschneidung <strong>de</strong>r<br />
Selbstbestimmungs, Beteiligungs und Mitwirkungsmöglichkeiten.<br />
3.5.3.2 Zusammenfassung<br />
Engagementformen, die sich an einem themenorientierten, selbstbestimmten<br />
und zeitlich begrenzten Engagement orientieren, offerieren Selbstentfaltungspotentiale<br />
für die Engagierten. Für die <strong>hier</strong> Engagierten, die nicht erwerbstätig<br />
sind, bieten sie Anschlüsse an selbstbestimmte Tätigkeitsbereiche. Das geschieht<br />
nach einer beruflichen Phase (Eintritt in <strong>de</strong>n Ruhestand o<strong>de</strong>r Erwerbsunfähigkeit)<br />
und/o<strong>de</strong>r außerhalb <strong>de</strong>r Familienarbeit (Hausfrau).<br />
Bürgerschaftliches Engagement bietet einen Rahmen, <strong>de</strong>r sich von <strong>de</strong>n<br />
zuweisen<strong>de</strong>n Funktionen innerhalb <strong>de</strong>s „alten“Ehrenamtes emanzipiert. Damit<br />
44 Hier ist auf eine starke För<strong>de</strong>rung von Netzwerken auf kommunaler und Lan<strong>de</strong>sebene hinzuweisen, zum<br />
Beispiel in <strong>de</strong>r Stadtverwaltung –<strong>hier</strong> beson<strong>de</strong>rs Esslingen , im Sozialministerium, im Paritätischen Bildungswerk,<br />
in <strong>de</strong>r Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen.
119 <br />
entfällt eine Unterordnung unter institutionelle Rationalitätskriterien, die das Funktionieren<br />
von Verbän<strong>de</strong>n, Organisationen und Vereinen sichern. Einer Emanzipation<br />
von <strong>de</strong>n Formen eines „alten“Ehrenamtes ist zugleich auch eine Emanzipation<br />
von typischen geschlechtsspezifischen Rollen innerhalb <strong>de</strong>s Ehrenamtes immanent.<br />
Wertgeleitete sozialisatorische Voraussetzungen sind eine Ressource für<br />
die Engagementbereitschaft, zurückgreifen, die die Aufnahme eines Engagements<br />
erleichtern. Dennoch fin<strong>de</strong>t sich <strong>hier</strong> eine Akzentverschiebung: die Bereitschaft<br />
zum Engagement wird nicht hinreichend aus einem Verpflichtungsgefühl<br />
heraus geleitet, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n Möglichkeiten, Sinn, Befriedigung und Spaß in<br />
<strong>de</strong>r jeweiligen Tätigkeit erfahren zu können.<br />
Die Schaffung von Rahmenbedingungen für neue Formen <strong>de</strong>s Engagements<br />
setzt die Ermöglichung von Gelegenheiten voraus. Hierfür müssen Strukturen<br />
von Politik und großen Verbän<strong>de</strong>n Sorge tragen. Darin liegt aber zugleich die<br />
Gefahr einer Indienstnahme von Engagement. Priorität muss die Aktivierung <strong>de</strong>s<br />
Bürgers/<strong>de</strong>r Bürgerin haben und nicht die Vorteilnahme von Engagement für eigene<br />
Interessen.<br />
In <strong>de</strong>r Beschreibung <strong>de</strong>s eigenen Engagements durch die Diskussionsteilnehmer/innen<br />
wird <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s Helfens inhaltlich transformiert. Helfen im Sinne<br />
von Altruismus ist in <strong>de</strong>r Selbst<strong>de</strong>finition von Engagement immer noch präsent,<br />
ohne dabei das individuelle Verhalten zu <strong>de</strong>terminieren. Die Verwendung <strong>de</strong>s<br />
Begriffs „Helfen“transformiert die I<strong>de</strong>e eines Miteinan<strong>de</strong>rs in neue Engagementformen,<br />
in <strong>de</strong>nen selbstbestimmen<strong>de</strong> Motive gegenüber verpflichten<strong>de</strong>n Motiven<br />
im Vor<strong>de</strong>rgrund stehen.<br />
Bürgerschaftliches Engagement, wie es am Beispiel <strong>de</strong>r Engagierten im „Forum<br />
Häppeker“beschrieben wird, bedarf zweier Voraussetzungen. Erstens ist eine<br />
finanzielle Absicherung <strong>de</strong>r Engagierten notwendig. Und zweitens darf Engagement<br />
nicht primär als Instrument aufgefasst wer<strong>de</strong>n, um Zugänge zu Erwerbsarbeit<br />
zu ermöglichen. Bürgerschaftliches Engagement wird we<strong>de</strong>r im Zusammenhang<br />
eines möglichen Ersatzes für Erwerbsarbeit gesehen noch in einer Instrumentalisierungsstrategie<br />
für einen möglichen Arbeitsmarktzugang. Das mag auch<br />
<strong>de</strong>shalb <strong>hier</strong> nicht relevant sein, weil die Frage nach sozialer Integration bzw.<br />
Desintegration durch Erwerbslosigkeit eine sehr marginale Rolle spielt. Außer<strong>de</strong>m<br />
ist diese Frage für an<strong>de</strong>re NichtErwerbstätige nicht zentral, weil eine Gefährdung<br />
sozialer Integration für diese offensichtlich nicht wirklich zur Disposition steht.<br />
3.5.4 Engagementtypen<br />
Bei <strong>de</strong>n ehrenamtlich Engagierten variieren die eigenen Be<strong>de</strong>utungsgehalte<br />
in bezug auf ihr eigenes Engagement in Abhängigkeit von ihrer sozialen Situation.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r untersuchten Projekte konnten unterschiedliche Engagementtypen<br />
ausgemacht wer<strong>de</strong>n. Die Vorstellung dieser Typen, ist als eine kurze Zusammenfassung<br />
<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Projekten analysierten verschie<strong>de</strong>nen Engagementausprägungen<br />
zu verstehen. Es wird dabei nicht auf die Details <strong>de</strong>r differenzierten<br />
Formen <strong>de</strong>r Interpretation zu <strong>de</strong>n einzelnen Engagements in <strong>de</strong>n Projekten eingegangen.<br />
Vier Engagementtypen wer<strong>de</strong>n zusammenfassend im folgen<strong>de</strong>n vorgestellt:
120 <br />
• <strong>de</strong>r pensionierte Funktionär<br />
• <strong>de</strong>r Vorruheständler<br />
• <strong>de</strong>r Erwerbslose<br />
o <strong>de</strong>r Arbeitsmarktanwärter<br />
o <strong>de</strong>r sozial engagierte Erwerbslose<br />
o <strong>de</strong>r politisch engagierte Erwerbslose<br />
• <strong>de</strong>r bürgerschaftlich Engagierte<br />
Entsprechend <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Ausgangssituationen unterschei<strong>de</strong>n sich<br />
auch die Motivationen und Be<strong>de</strong>utungszuschreibungen von Engagement <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Typen.<br />
Der <strong>de</strong>m traditionellen Ehrenamt am nächsten kommen<strong>de</strong> Typ ist <strong>de</strong>r pensionierte<br />
Funktionär. Er möchte noch für die Gewerkschaft da sein bzw. sich „Nützlich<br />
Machen“. Dass dies notwendig ist, ergibt sich aus <strong>de</strong>r Tatsache rückläufiger Mitglie<strong>de</strong>rzahlen.<br />
Die Gewerkschaft wird als gesellschaftspolitische Kraft begriffen,<br />
die mittlerweile die einzige sei, die die Interessen <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Bevölkerung<br />
vertritt und sich für <strong>de</strong>ren soziale Belange einsetzt. In<strong>de</strong>m man sich in diese Organisation<br />
einbringt, leistet man (weiterhin) gesellschaftlich be<strong>de</strong>utsame politische<br />
Arbeit. Als eine <strong>de</strong>r Hauptaufgaben wird die Betreuung und Werbung von Mitglie<strong>de</strong>rn<br />
im außerbetrieblichen Bereich angesehen.<br />
Der Typ <strong>de</strong>s Vorruheständlers nutzt das ehrenamtliche Engagement als Beschäftigung,<br />
in <strong>de</strong>r er berufliches Wissen und Kompetenzen weitergeben kann. Hier ist<br />
das „NochGebrauchtWer<strong>de</strong>n“bzw. „Sich nützlich machen“vorrangig auf die e<br />
hemals berufliche Kompetenz abgestellt und hat erst nachrangig (und nicht wie<br />
beim Typ <strong>de</strong>s „pensionierten Funktionärs)“mit gewerkschaftspolitischer Arbeit zu<br />
tun. Das ehrenamtliche Engagement wird als Hobby interpretiert, was darauf verweist,<br />
dass es sich für die Engagierten ein<strong>de</strong>utig von <strong>de</strong>r Struktur von Erwerbsarbeit<br />
unterschei<strong>de</strong>t und von gewerkschaftspolitischer Arbeit abgrenzt.<br />
Diese Be<strong>de</strong>utung fin<strong>de</strong>n sich auch bei Vorruheständlerinnen und Erwerbstätigen<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Allerdings wird die freiwillige Arbeit dort nicht als<br />
Hobby verstan<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn als Möglichkeit sich interessante Tätigkeitsfel<strong>de</strong>r zu<br />
erschließen, die sich aber bezüglich <strong>de</strong>r Zeit, <strong>de</strong>r Eingebun<strong>de</strong>nheit etc. von Erwerbsarbeit<br />
unterschei<strong>de</strong>n. Unterstrichen wird die Voraussetzung, dass das Engagement<br />
Spaß machen muss. Hier wird ehrenamtliches Engagement genutzt,<br />
um sich einen TätigkeitsErsatz zu schaffen, <strong>de</strong>r vor allem <strong>de</strong>n Selbstentfaltungskriterien<br />
<strong>de</strong>r Engagierten entsprechen muss. Diese Selbstentfaltungsmotive lassen<br />
sich für die Engagierten trotz<strong>de</strong>m in Einklang mit sogenannten Werten <strong>de</strong>s<br />
sozialen Engagements bringen. Gesellschaftlich notwendige Arbeit, die an<strong>de</strong>ren<br />
zugute kommt, wird <strong>hier</strong> nicht als Pflicht aufgefasst. Bemerkenswert ist <strong>hier</strong>bei,<br />
dass das ehrenamtliche Engagement, welches im kirchlichen Umfeld stattfin<strong>de</strong>t,<br />
keine Milieuspezifik aufweist. Das mag <strong>de</strong>r Situation im Osten geschul<strong>de</strong>t sein,<br />
verweist aber auch auf die Innovation solcher Projekte. Diese liegt in <strong>de</strong>r Öffnung<br />
<strong>de</strong>s Zugangs zu solchen Projekten und in <strong>de</strong>r damit möglichen Einbindung von<br />
Engagierten.<br />
In <strong>de</strong>n Erwerbslosenprojekten sind die erwerbslosen Engagierten in <strong>de</strong>r<br />
Min<strong>de</strong>rzahl. Das hat zum einen mit <strong>de</strong>r Nichtorganisation und <strong>de</strong>m „Hang“zur Isolation<br />
von Erwerbslosen zu tun. An<strong>de</strong>rerseits hat sich in <strong>de</strong>n Gruppendiskussionen<br />
sowie in Experten/inneninterviews herauskristallisiert, dass die viel zitierte<br />
und gefor<strong>de</strong>rte „Hilfe zur Selbsthilfe“eher diese Phänomene verstärkt anstatt sie<br />
zu überwin<strong>de</strong>n. Dies erklärt sich aus <strong>de</strong>m politischen Kontext, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Begriff
121 <br />
benutzt wird und <strong>de</strong>ssen Be<strong>de</strong>utung ihm anhaftet. Hier gibt es entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterschie<strong>de</strong><br />
zwischen West und Ost<strong>de</strong>utschland. In Ost<strong>de</strong>utschland firmiert <strong>de</strong>r<br />
Begriff fast ausschließlich unter <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung gegenseitiger Hilfe von Personen,<br />
die sich aufgrund eines bestimmten Problems zusammenfin<strong>de</strong>n. Arbeitslosigkeit<br />
wird als Makel interpretiert, <strong>de</strong>r selbstverschul<strong>de</strong>t ist und <strong>de</strong>n man nicht gern nach<br />
außen trage. Erwerbslosigkeit wirkt in diesem Sinne stigmatisierend und hemmend<br />
für die Engagementbereitschaft.<br />
In <strong>de</strong>n Erwerbslosenprojekten selbst konnten drei Typen ausfindig gemacht<br />
wer<strong>de</strong>n. Die sozial engagierten Erwerbslosen, die politisch engagierten Erwerbslosen<br />
und die Arbeitsmarktanwärter. Letztere kümmern sich, in<strong>de</strong>m sie sich für die<br />
Interessen <strong>de</strong>r Erwerbslosen einsetzen, um die eigenen Interessen. Ein zentrales<br />
Motiv ist die Intention, über ehrenamtliches Engagement wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt<br />
zu gelangen. Diese Engagierten gelangen oft über Qualifizierungsmaßnahmen<br />
in <strong>de</strong>n zweiten Arbeitsmarkt. Häufig bleiben sie <strong>de</strong>n Projekten nach Auslaufen<br />
dieser Maßnahmen mehr o<strong>de</strong>r weniger – unterstützend – erhalten, in <strong>de</strong>m<br />
sie sich weiterhin ehreamtlich engagieren. Hier sind <strong>de</strong>utliche Unterschie<strong>de</strong> zwischen<br />
Ost und West<strong>de</strong>utschland sichtbar, was vor allem auf die unterschiedliche<br />
Strukturpolitik zurückzuführen ist.<br />
Der Typ <strong>de</strong>s sozial engagierten Erwerbslosen interpretiert sein Engagement aus<br />
<strong>de</strong>r Erwartung, die er an ein Engagement heranträgt. Grundlage ist dabei die eigene<br />
Situation, die auf <strong>de</strong>r Erfahrung von drohen<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r realer sozialer Ausgrenzung<br />
beruht. Für diesen Typ bieten die Möglichkeiten <strong>de</strong>s Engagements vor<br />
allem Integrationschancen, Chancen zur Strukturierung <strong>de</strong>s Alltags und <strong>de</strong>r<br />
Durchbrechung <strong>de</strong>r Isolation sowie Chancen zu erwerbsloser Tätigkeit. Die Nutzung<br />
<strong>de</strong>r Chance, seine Interessen über solche Projekte politisch zu vertreten,<br />
ließen sich in Ost<strong>de</strong>utschland nicht fin<strong>de</strong>n.<br />
Die Möglichkeit, seine Interessen politisch in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit zu artikulieren,<br />
fin<strong>de</strong>n sich im Typ <strong>de</strong>s politisch engagierten Erwerbslosen. Hier steht über<br />
die selbstbestimmte, sinnstiften<strong>de</strong>, gemeinsame Tätigkeit mit an<strong>de</strong>ren hinaus, die<br />
Intention politischer Teilhabe im Mittelpunkt. Der strukturelle Rahmen von Projekten<br />
wird dabei genutzt, die eigenen Befindlichkeiten <strong>de</strong>r sozialen Situation <strong>de</strong>r<br />
Erwerbslosigkeit in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit bekannt zu machen und die eignen Interessen<br />
zu vertreten.<br />
Der bürgerschaftlich engagierte Typ beschreibt sein Engagement als selbstbestimmt,<br />
themenorientiert, projektbezogen und zeitunabhängig. Es bietet ihm die<br />
Möglichkeit, außerhalb <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit, nach <strong>de</strong>r beruflichen Phase und außerhalb<br />
<strong>de</strong>r privaten Sphäre ein selbstentfaltungsorientiertes Engagement innerhalb<br />
einer Gruppe von Engagierten aufzunehmen. In <strong>de</strong>r neuen Form <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen<br />
Engagements wird das Verständnis <strong>de</strong>s „Helfens“als gemeinwohlorientiertes<br />
Han<strong>de</strong>ln aufrechterhalten und in ein selbstbezogenes Engagement<br />
transformiert, in<strong>de</strong>m die Verpflichtungszwänge <strong>de</strong>s „alten“Ehrenamts abgestreift<br />
wer<strong>de</strong>n. Dadurch gelingt auch eine Emanzipation von Funktionszuweisungen und<br />
Rollenverständnissen, die im „alten“Ehrenamt eingebettet sind.<br />
3.6 Zusammenfassung<br />
In <strong>de</strong>r Untersuchung wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Schwerpunkt auf erwerbslose ehrenamtlich<br />
Engagierte gelegt. Dabei stan<strong>de</strong>n gewerkschaftliche Erwerbslosenprojekte im<br />
Zentrum. In diesen Projekten sind aber Erwerbslose – mit Ausnahme <strong>de</strong>s Stutt
122 <br />
garter Arbeitslosenzentrum SALZ – als Engagierte unterrepräsentiert. Das hat<br />
nicht zuletzt damit zu tun, dass diese Projekte in erster Linie <strong>de</strong>r Beratung und<br />
Betreuung von Erwerbslosen dienen. Die Frage, die sich <strong>hier</strong> stellt, ist die nach<br />
<strong>de</strong>r möglichen Einbindung von potentiell Engagierten in ein Engagement. Dazu<br />
sind unterschiedliche Bedingungen zu beachten, die an die Voraussetzungen von<br />
Erwerbslosen anknüpfen.<br />
Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Interessen und Bedürfnissen<br />
<strong>de</strong>r potentiell Engagierten gerecht wer<strong>de</strong>n. Wie sich am Beispiel SALZ<br />
zeigen ließ, gehen Engagierte ihrem Interesse nach selbstbestimmter, gemeinsamer<br />
Tätigkeit dort nach, wo sie selbstorganisiert ihre Bedürfnisse entfalten können.<br />
Das SALZ bietet auch die Möglichkeit, sich öffentlich als Gruppe zu artikulieren.<br />
Hierzu bedarf es aber einer selbstbewussten Anerkennung <strong>de</strong>r eigenen Situation.<br />
Das ermächtigt zu einem politischen Engagement im eigenen Interesse als<br />
Erwerbslose/r, bleibt damit aber auf das Thema Erwerbsarbeit orientiert. Erwerbslose<br />
treten <strong>hier</strong> als erwerblose Engagierte im eignen Interesse auf, die sich über<br />
die isolieren<strong>de</strong>n Wirkungen einer Stigmatisierung hinwegzusetzen versuchen.<br />
Für viele Erwerbslose ist die Stigmatisierung ein Grund, sich gera<strong>de</strong> nicht<br />
in Arbeitslosenzentren zu engagieren. Darauf haben die "Dau wat" Vereine reagiert,<br />
in<strong>de</strong>m sie ihre Zentren als „Kommunikations und Beteiligungszentren“bezeichnen,<br />
die für je<strong>de</strong>n offen sind. Die Angebote dürfen sich jedoch nicht in Beratung<br />
und Informationsveranstaltungen erschöpfen, son<strong>de</strong>rn müssen strukturelle<br />
Voraussetzungen für ein Engagement schaffen. Das kann über die Beteiligung an<br />
Tätigkeiten geschehen, die ehrenamtlich ausgeführt wer<strong>de</strong>n können wie am Beispiel<br />
Rostock gezeigt wur<strong>de</strong> (Selbsthilfewerkstatt, Beratung). Das kann aber auch<br />
durch die Möglichkeit selbstorganisierter Tätigkeit ermöglicht wer<strong>de</strong>n wie es sich<br />
am Beispiel SALZ zeigt. Dabei muss allerdings sensibel mit <strong>de</strong>r Etikettierung von<br />
solchen Gruppen umgegangen wer<strong>de</strong>n. So lehnen zum Beispiel die engagierten<br />
Frauen im "Dau wat" Stralsund die Bezeichnung „Hilfe zur Selbsthilfe“ab, weil<br />
auch diese stigmatisierend wirke:<br />
Selbsthilfe im sozialen Bereich hat irgendwo so´n negativen Touch angenommen.<br />
(...)Wir wür<strong>de</strong>n uns gerne treffen, aber nicht in einer Selbsthilfegruppe. Und <strong>de</strong>swegen<br />
heißt unser Arbeitskreis „Frauenarbeitskreis“, was immer sich dahinter<br />
verbirgt. (...) Zu ner Selbsthilfegruppe zu gehen, wo sich Arbeitslose treffen, nee,<br />
zumin<strong>de</strong>st ham wir die Erfahrung gemacht. (...) Ja, weil das ne Sache is, die Arbeitslosigkeit,<br />
je<strong>de</strong>r sieht das ja. (Expertin, "Dau wat" Stralsund)<br />
Unter <strong>de</strong>r Bezeichnung „Frauenarbeitskreis“ sind dort ca. 25 Frauen<br />
selbstorganisatorisch aktiv. Die selbstbestimmte Tätigkeit in einer Gruppe ist <strong>hier</strong><br />
von beson<strong>de</strong>rer Relevanz, da es nicht nur um Selbstentfaltung und ein sich „Nützlichmachen“wie<br />
das am Beispiel Esslingen sichtbar wur<strong>de</strong>, geht, son<strong>de</strong>rn um die<br />
Selbstbestätigung aus einer Tätigkeit, die durch eine infrage gestellte I<strong>de</strong>ntität<br />
aufgrund von Erwerbslosigkeit ihre Be<strong>de</strong>utung erlangt. Die Be<strong>de</strong>utung selbstorganisierter<br />
Tätigkeit in einer Gruppe, die gleichzeitig als Netzwerk dient, fin<strong>de</strong>t<br />
sich auch beispielhaft in <strong>de</strong>r Rostocker Ehrenamtsbörse „Marientreff“.45 Die Ehrenamtsbörse<br />
dient nicht nur <strong>de</strong>r Vermittlung engagementbereiter Freiwilliger,<br />
45 Die Rostocker Ehrenamtsbörse „Marientreff“wird über drei SAMStellen betrieben. Sie ist seit<br />
1999 eröffnet und wird von <strong>de</strong>r Kirche getragen. Ca 40 Frauen sind <strong>hier</strong> ehrenamtlich involviert.<br />
Mit fünf Frauen wur<strong>de</strong> am 20.6.02 eine Gruppendiskussion durchgeführt. Zwei Expertengespräche<br />
wur<strong>de</strong>n am 23.5.02 erhoben.
123 <br />
son<strong>de</strong>rn ist vor allem auch ein „Treff“engagierter Frauen, die auch in an<strong>de</strong>ren<br />
Institutionen ehrenamtlich tätig sind. Der „Treff“ist offen für je<strong>de</strong>/n und dient als<br />
Kommunikations und Informationszentrum. Hier fin<strong>de</strong>t ein Austausch Gleichgesinnter<br />
statt, <strong>de</strong>ren Gemeinsamkeit es ist, sich engagieren zu wollen, um „aktiv zu<br />
bleiben“, sich „nützlich zu machen“, „Dinge auszuprobieren“und „Spaß zu haben“.<br />
Ausgangspunkt eines Engagements ist oft die sogenannte Selbstermächtigung<br />
(„Empowerment“), die für eine Engagementaufnahme Voraussetzung ist,<br />
aber nicht bei je<strong>de</strong>m vorausgesetzt wer<strong>de</strong>n kann. Das hat bei Erwerbslosen nicht<br />
zuletzt mit ihrer Orientierung auf Erwerbsarbeit zu tun. Bei <strong>de</strong>r Werbung von potentiell<br />
Engagierten ist dabei auf ihre biographische Situation zu achten, die mit<br />
<strong>de</strong>n offerierten Möglichkeiten in ein Passungsverhältnis gelangen muss. Das setzt<br />
eine Sensibilisierung <strong>de</strong>r Kontaktpersonen voraus (vgl. Beispiel "Dau wat" Rostock).<br />
Außer<strong>de</strong>m ist das „Abholen“von Erwerbslosen nicht zu unterschätzen, gera<strong>de</strong><br />
weil sie aufgrund <strong>de</strong>r Erwerbsorientierung und/o<strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>r Selbstermächtigung<br />
kein Engagement aufnehmen. Statt in zentralen Einrichtungen zu warten,<br />
bis die Erwerbslosen von selbst die Angebote wahrnehmen, verfolgt die Wohngebietsarbeit<br />
gera<strong>de</strong> das Ziel, die Erwerbslosen in ihrem sozialen Umfeld erreichen<br />
und motivieren zu können. Hier kann generell ein Netzwerk, wie es eine Mitglie<strong>de</strong>rstruktur<br />
darstellt, von strategischem Vorteil sein. Dies zeigt sich anhand <strong>de</strong>r<br />
erwerbslosen Engagierten im "Dau wat" Rostock.<br />
Ein Angebot von Engagementoptionen bietet <strong>de</strong>n einzelnen die Möglichkeit<br />
zur Aufnahme eines Engagements und gewährt damit Sinn und Bestätigung in<br />
einer Tätigkeit zu fin<strong>de</strong>n sowie an gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben. Nur<br />
auf die Nachfrage seitens <strong>de</strong>r Erwerbslosen zu warten, führt dagegen ins Leere<br />
und in die Resignation. Durch offene Angebote wer<strong>de</strong>n Gelegenheiten geschaffen,<br />
welche sekundär auch die Bindung an die Organisation festigen bzw. herstellten<br />
können und die Bereitschaft för<strong>de</strong>rn, sich auch in <strong>de</strong>r gewerkschaftspolitischen<br />
Arbeit zu engagieren. Dies zeigt sich beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich am Beispiel „Viva<br />
Lüd“in Schwerin.<br />
Die Ermöglichung eines Engagements für Personen, die sich in keinem betrieblichen<br />
Zusammenhang mehr befin<strong>de</strong>n, setzt eine Be<strong>de</strong>utungssteigerung <strong>de</strong>r<br />
außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit voraus. Potentiell Engagierte müssen in<br />
ihrem zentralen Lebensumfeld integriert wer<strong>de</strong>n können. Die fehlen<strong>de</strong> Engagementbereitschaft<br />
ist zum großen Teil <strong>de</strong>n organisatorischen Strukturen geschul<strong>de</strong>t<br />
und damit <strong>de</strong>r Unfähigkeit einer breiteren Integration <strong>de</strong>r einzelnen in die Organisationsstrukturen<br />
und nicht <strong>de</strong>m Egoismus <strong>de</strong>r Individuen. Ein Insistieren in selbständiges<br />
Engagement reicht <strong>de</strong>shalb nicht aus, <strong>de</strong>nn es ist im Kern auf die organisatorischen<br />
Interessen abgestellt. Es bedarf vielmehr <strong>de</strong>r Ermöglichung eines<br />
selbstbestimmten Engagements. Hierzu ist eine Reflexion über bestehen<strong>de</strong> Organisationsstrukturen<br />
notwendig. Eine kritische Auseinan<strong>de</strong>rsetzung über die<br />
Notwendigkeit gewerkschaftlicher Arbeit, die über betriebliche Strukturen hinausgeht,<br />
wird zu einem bestimmen<strong>de</strong>n Teil von <strong>de</strong>r Stärke <strong>de</strong>r nicht erwerbstätigen<br />
Mitglie<strong>de</strong>r angestoßen. So hat das Beispiel <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit in Rostock Zukunftsrelevanz,<br />
wenn man davon ausgeht, dass Erwerbsarbeit in Arbeitsgesellschaften<br />
stetig abnimmt.<br />
Für Gewerkschaften lassen sich zwei Pole <strong>de</strong>r Orientierung bei <strong>de</strong>r Gewinnung<br />
von ehrenamtlich Engagierten aufzeigen, wobei <strong>de</strong>r erste Pol eher im Sinne<br />
einer Gewinnung von Engagementbereitschaft zu verstehen ist, <strong>de</strong>r zweite im
124 <br />
Sinne einer Verhin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Verlustes von Engagementbereitschaft potentiell<br />
Engagierter.<br />
Zum einen geht es dabei um die These eines Motivationswan<strong>de</strong>ls <strong>de</strong>r Engagierten.<br />
Dabei steht eine Gruppe im Mittelpunkt, die sich durch die Zuschreibung<br />
von Selbstentfaltungsmotiven auszeichnet. Diese Menschen engagieren<br />
sich eher in Initiativen und Vereinen mit geringem Formalisierungsgrad. Angebote<br />
an diese Gruppe zu machen, be<strong>de</strong>utet eine Öffnung im Sinne einer Wertepluralität,<br />
in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r einzelne mit seinen Interessen und Bedürfnissen an Teilhabe und<br />
Gestaltung im Verständnis einer „Politik <strong>de</strong>r Lebensführung“(Gid<strong>de</strong>ns) im Mittelpunkt<br />
steht.<br />
Zum an<strong>de</strong>ren geht es dabei um die Gruppe jener, die aufgrund von spezifischen<br />
Lebenssituationen und <strong>de</strong>r Erwerbszentriertheit von Gewerkschaften keine<br />
<strong>de</strong>n eigenen Bedürfnissen und Interessen gerecht wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Engagementmöglichkeit<br />
in <strong>de</strong>n Gewerkschaften sehen. Dabei bestehen oft noch Bindungspotentiale<br />
an die Gewerkschaften. Hier geht es eher um die Anpassung von Strukturen an<br />
die gewan<strong>de</strong>lten Lebenssituationen potentiell Engagierter.<br />
Vorsicht ist allerdings bei <strong>de</strong>m Hinweis geraten, Gewerkschaften müssten<br />
sich zu ServiceCentern entwickeln. Sie laufen damit Gefahr, <strong>de</strong>n (potentiell) Engagierten<br />
lediglich als Kun<strong>de</strong>n zu sehen, <strong>de</strong>r sich das Passen<strong>de</strong> sucht. Dieser<br />
Ansatz stellt <strong>de</strong>n nutzenorientierten Engagierten in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. Das ist ein<br />
verengter Ansatz, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Motivationswan<strong>de</strong>l im Engagement in verengen<strong>de</strong>r<br />
Weise als Orientierung auf Nutzenkalküle rationaler Akteure interpretiert. Es geht<br />
darum, bürgerschaftliches Engagement zu ermöglichen und zu motivieren. Dazu<br />
braucht es allerdings an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>r Unterstützung. Ein Nach<strong>de</strong>nken über zu<br />
unterbreiten<strong>de</strong> Angebote für potentielle Engagierte reicht nicht aus. Die Angebote<br />
müssen <strong>de</strong>n jeweiligen biographischen Passungen gerecht wer<strong>de</strong>n. Diese müssen<br />
auch ein Nach<strong>de</strong>nken über die Einbeziehung von Gruppen beinhalten, die die<br />
klassische Typik <strong>de</strong>s Engagements nicht mehr aufweisen. Die Attraktivität <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft hängt damit von <strong>de</strong>r Öffnung für soziale Gruppen ab, die in <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft einen gesellschaftspolitischen Akteur sehen, <strong>de</strong>r sie über Arbeitsrechte<br />
hinaus vertritt und beheimatet.<br />
Die Voraussagen, dass durch die gesellschaftlichen Individualisierungsten<strong>de</strong>nzen<br />
auch die Grundlagen für die Engagementbereitschaft schwin<strong>de</strong>n, haben<br />
sich nicht bestätigt. Im Gegenteil, es wird bescheinigt, dass bürgerschaftliches<br />
Engagement und Selbstentfaltungsmotive sich nicht ausschließen müssen. (vgl.<br />
Klages 1998: 32) Auch wenn <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l von Motivationen die Form <strong>de</strong>s Engagements<br />
verän<strong>de</strong>rt habe, so sei Engagement als solches nicht bedroht. Anschlüsse<br />
ließen sich <strong>hier</strong> an neu gewachsene Interessen und Bedürfnisse herstellen:<br />
„Suche nach neuen sozialen Beziehungen“, „Aufwertung nichtfamilialer sozialer<br />
Netzwerke“, „neue SelbsthilfePotentiale im Alter“, „Chancen <strong>de</strong>r Sozialzeit“.<br />
(Heinze/ Olk 1999: 81f.)<br />
Bürgerschaftliches Engagement entfaltet sich in Initiativen und Projekten.<br />
Damit stehen <strong>de</strong>m Staat und <strong>de</strong>r Verwaltung aber nicht mehr mächtige korporative<br />
Akteure gegenüber, son<strong>de</strong>rn schwache Gruppierungen, die <strong>de</strong>m Steuerungsund<br />
Kontrollbedürfnis staatlicher Stellen wenig entgegensetzen können und somit<br />
<strong>de</strong>r Gefahr einer Indienstnahme ausgesetzt sind. (vgl. Zimmer/ Nährlich 2000b)<br />
Gewerkschaften zeichnen sich gegenüber <strong>de</strong>r „Staatslastigkeit“von Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>n<br />
als Akteure <strong>de</strong>r Interessenvermittlung aus und verstehen sich als politische<br />
Gegenmacht, die ihre Stärke zum wesentlichen Teil aus <strong>de</strong>r Mobilisierung
125 <br />
<strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r gewinnen“. (Wolf 2002: 2) „Da komplexe Großverbän<strong>de</strong> ‚overlapping<br />
memberships’integrieren, sind sie gezwungen, aber auch in <strong>de</strong>r Lage, auch<br />
ressourcenschwache (d.h. nicht an das Erwerbssystem gekoppelte) Gruppierungen<br />
und Interessen zu vertreten und ihnen mittelbaren Anschluss an die korporatistischen<br />
Verhandlungssysteme zu verschaffen.“(<strong>de</strong>rs.: 3)<br />
Organisationen wie <strong>de</strong>n Gewerkschaften erwächst aus <strong>de</strong>r Entwicklung von<br />
Bedürfnissen zu neuen Engagementformen damit eine wichtige Be<strong>de</strong>utung. Dies<br />
zeigt sich auch in <strong>de</strong>n Ergebnissen <strong>de</strong>r Untersuchung. Gewerkschaften können<br />
gewissermaßen eine Garantiefunktion für bürgerschaftliches Engagement gegenüber<br />
staatlicher Indienstnahme herausbil<strong>de</strong>n. Wie an<strong>de</strong>re Verbän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n aber<br />
auch Gewerkschaften als bürokratische Organisationen wahrgenommen, <strong>de</strong>nen<br />
Menschen mit einer Bereitschaft zu selbstbestimmtem Engagement skeptisch<br />
gegenüber stehen. Gewerkschaften müssen <strong>hier</strong> eine neue Politik <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung<br />
und Öffnung entwickeln, um neue Engagementformen und bedürfnisse zu integrieren.<br />
Sie wer<strong>de</strong>n aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit für immer mehr Menschen<br />
als (klassische) Organisation uninteressant. Darüber hinaus wird ihnen auch eine<br />
politische Skepsis entgegengebracht. Dies gilt beson<strong>de</strong>rs für Ost<strong>de</strong>utschland.<br />
Hier fin<strong>de</strong>t sich immer noch eine verbandsschwache Struktur, was einerseits die<br />
Skepsis verstärken mag, an<strong>de</strong>rerseits aber Chancen bietet, an die die Gewerkschaften<br />
anknüpfen können.
126 <br />
4. Ehrenamtliches Engagement von Jugendlichen<br />
Nicole Berndt<br />
4.1 Jugendliche und ehrenamtliches Engagement<br />
4.1.1 Ein Überblick<br />
Das Engagement von Jugendlichen wur<strong>de</strong> gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n letzten Jahren in<br />
zahlreichen Studien untersucht. Nach <strong>de</strong>r anfänglichen Annahme eines Mangels<br />
an Engagement wer<strong>de</strong>n Jugendliche heute als eine <strong>de</strong>r aktivsten Altersgruppe<br />
beschrieben. Nach Angaben <strong>de</strong>s Freiwilligensurveys 1999 engagieren sich 37%<br />
<strong>de</strong>r Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren freiwillig bzw. ehrenamtlich. Somit<br />
liegt die Zahl <strong>de</strong>r engagierten Jugendlichen weit über <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r engagierten<br />
Senioren, die bei 26% liegt. (Picot 2000: 127) Die 14. ShellStudie Jugend 2002<br />
spricht von 35% <strong>de</strong>r Jugendlichen, die häufig gesellschaftlich aktiv sind und 41%,<br />
die zumin<strong>de</strong>st gelegentlich gesellschaftlich aktiv sind. Allerdings dürfte ihre breit<br />
gefächerte soziale Aktivität nicht mit politischem Engagement verwechselt wer<strong>de</strong>n.<br />
Sie wer<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Jugendlichen nicht so verstan<strong>de</strong>n, auch wenn die positive<br />
Wirkung dieser gesellschaftlichen Aktivität „politisch“außeror<strong>de</strong>ntlich wichtig sei.<br />
(vgl. Deutsche Shell 2002)<br />
In einer Vielzahl von Veröffentlichungen wur<strong>de</strong> als Folge <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Individualisierungsprozesses ein „Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Ehrenamtes“vermutet und die Jugendlichen<br />
<strong>de</strong>ssen treiben<strong>de</strong> Kraft beschrieben. „Die ‚Krise <strong>de</strong>s Ehrenamtes’wur<strong>de</strong><br />
mit abnehmen<strong>de</strong>r Hilfs und Verantwortungsbereitschaft assoziiert und ein Bild<br />
von Individualisierung eingefügt, das mit <strong>de</strong>n Begriffen: IchGesellschaft und Egotrip<br />
korrespondierte“(Hacket / Mutz 2002: 39). Zwei Themenbereiche kristallisierten<br />
sich heraus: einerseits wur<strong>de</strong> ein Strukturwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Ehrenamtes <strong>de</strong>utlich,<br />
an<strong>de</strong>rerseits ein Motivwan<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>r mit einem gesellschaftlichen Wertewan<strong>de</strong>l einhergeht.<br />
Gera<strong>de</strong> Jugendliche müssen sich in <strong>de</strong>r gewärtigen gesellschaftlichen<br />
Lage hohen Leistungsanfor<strong>de</strong>rungen stellen und sind gleichzeitig erhöhten Risiken<br />
ausgesetzt. Sie reagieren <strong>hier</strong>auf eben nicht mit „Protest“o<strong>de</strong>r „Nullbock<br />
Einstellung“, son<strong>de</strong>rn erhöhen ihre Leistungsanstrengungen und betreiben ein<br />
aktives „Umweltmonitoring“, d.h. sie überprüfen ihre soziale Umwelt auf Risiken<br />
und Chancen, wobei Chancen ergriffen und Risiken minimiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Neu ist die Verknüpfung „mo<strong>de</strong>rner“und „alter“Werte. Die sogenannten<br />
„<strong>de</strong>utschen Sekundärtugen<strong>de</strong>n“wie Ordnung, Fleiß und Sicherheit wer<strong>de</strong>n verknüpft<br />
mit Kreativität, Toleranz und Genussfreudigkeit. „Altbürgerliche Werte“<br />
wur<strong>de</strong>n von ihrem „Staub befreit“. Zum Zwecke <strong>de</strong>s Erfolges in einer Leistungsgesellschaft<br />
wird die Orientierung an solchen Prinzipien als wichtig erachtet, um<br />
so die Grundlage für ein interessantes, erlebnisreiches und sinnvolles Leben zu<br />
schaffen. (Deutsche Shell 2002: 18 ff.)<br />
„Hedonistische und materialistische Wertorientierungen, wie „das Leben in<br />
vollen Zügen genießen“, „hoher Lebensstandard“, „Macht und Einfluss haben“,<br />
sind bei Jugendlichen gegenwärtig stark ausgeprägt, und zwar stärker als in <strong>de</strong>r<br />
Erwachsenengeneration. In dieser Orientierung an <strong>de</strong>n Werten <strong>de</strong>r Wettbewerbsund<br />
Konsumgesellschaft unterschei<strong>de</strong>n sich engagierte und nicht engagierte Jugendliche<br />
aber keineswegs. Engagement und Hedonismus/ Materialismus schlie
127 <br />
ßen sich offensichtlich nicht aus. Auch Selbstentfaltungswerte wie Kreativität und<br />
Phantasie zu entwickeln, sowie Pflicht und Akzeptanzwerte haben für Jugendliche<br />
einen hohen Stellenwert.“(Picot 2000, zit. Nach EnqueteKommission 2002a:<br />
99) Das Ehrenamt gilt als Medium für Prozesse <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätssuche und Selbstfindung.<br />
Es ist gekennzeichnet durch Selbstverwirklichung, sozialen Nutzen und „Ich<br />
tue etwas für mich“, während das alte Ehrenamt ein tradiertes Selbstverständnis<br />
aufweist, gekennzeichnet durch Aufopferung und die Vorstellung, Gutes für an<strong>de</strong>re<br />
zu tun. An die Stelle <strong>de</strong>r bedingungslosen Hingabe an die Organisation tritt<br />
heute <strong>de</strong>r Wunsch nach einem freiwillig gewählten Engagement, das sich zeitlich<br />
<strong>de</strong>n Bedürfnissen und <strong>de</strong>n immer individueller wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Lebensläufen anpassen<br />
lässt. (v. Rosenbladt 2000: 121)<br />
Zentrales Moment zur Aktivierung <strong>de</strong>s neuen Engagements ist nicht mehr<br />
die Sozialisation in einem bestimmten Milieu, son<strong>de</strong>rn die biographische Passung<br />
in einer bestimmten Lebensphase. Erst wenn Motiv, Anlass und Gelegenheit biographisch<br />
zusammenpassen (wie <strong>de</strong>r Bedarf an sozialen Kontakten bei Seniorinnen<br />
und Senioren, die Suche nach persönlichen Orientierungen bei Jugendlichen<br />
o<strong>de</strong>r die Überwindung von Phasen <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit), dann konstituiert sich das<br />
Engagement. (vgl. Heinz et al. 1996: 193 ff.) Die Bereitschaft Jugendlicher, sich<br />
dauerhaft zu engagieren, ist vergleichsweise gering. Jugendliche engagieren sich<br />
dann, wenn sie es für sinnvoll erachten. Allerdings wollen sie nicht institutionell<br />
einverleibt und auch nicht formell in die Pflicht genommen wer<strong>de</strong>n. Die Ten<strong>de</strong>nz<br />
geht eher zu einem projektbezogenen Engagement, welches zweck und zeitgebun<strong>de</strong>n<br />
ist.<br />
Neben <strong>de</strong>m klassischen Ehrenamt haben sich weitere Formen <strong>de</strong>s Engagements<br />
herausgebil<strong>de</strong>t. Menschen organisieren sich nicht mehr nur in Vereinen und Verbän<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn suchen nach eigenen Organisationsformen. Es haben sich informelle<br />
Strukturen herausgebil<strong>de</strong>t, die ein hohes Maß an Beweglichkeit und Gestaltungsmöglichkeiten<br />
bieten. Engagement umfasst heute mehr als das vertraute<br />
Ehrenamt, nämlich auch Tätigkeiten in <strong>de</strong>r Selbsthilfe, <strong>de</strong>r Nachbarschaftshilfe<br />
sowie Bürgerinitiativen und Projekten aller Art; es sind freiwillige und auf das Gemeinwesen<br />
bezogene Aktivitäten, <strong>de</strong>nen kein Erwerbszweck zugrun<strong>de</strong> liegt und<br />
die zu einem großen Teil gemeinschaftlich und in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit stattfin<strong>de</strong>n.<br />
(vgl. Mutz 2002)<br />
4.1.2 Gewerkschaftliche Jugendarbeit<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaften nimmt die Jugendarbeit eine wichtige Rolle ein.<br />
Jugendarbeit wird als Interessenvertretung verstan<strong>de</strong>n. Jugendlichen und jungen<br />
Erwachsenen sollen Möglichkeiten gegeben wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>r Gewerkschaft in allen<br />
gesellschaftlichen Bereichen soziale, politische und berufliche Perspektiven zu<br />
entwickeln. Traditionell stellt die Jugendbildungsarbeit einen Bereich dar, <strong>de</strong>r<br />
stark von bürgerschaftlichen Engagement geprägt ist, in <strong>de</strong>m regionale Bezüge<br />
hergestellt wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r auch gegenüber Nichtmitglie<strong>de</strong>rn offen ist.<br />
Die „traditionellen“Formen im außerbetrieblichen Engagement sind dadurch gekennzeichnet,<br />
dass sie eine I<strong>de</strong>ntifizierung mit <strong>de</strong>r Rolle als Arbeitnehmer und<br />
Gewerkschaftsmitglied voraussetzen, Arbeitserfahrungen im Fokus <strong>de</strong>r Tätigkeiten<br />
haben sowie in die gewerkschaftliche Gremienstruktur eingebun<strong>de</strong>n sind.<br />
„Neue“Formen knüpfen dagegen an Erfahrungen und Interessen an, die nicht<br />
selbstverständlich auf diesen Erfahrungshintergrund rekurrieren können und neu
128 <br />
ere, flexible Formen <strong>de</strong>s Verhältnisses von Organisation und Engagierten ermöglichen.<br />
(vgl. Wolf 2002) Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Jugendarbeit lassen sich jedoch Ansätze<br />
<strong>de</strong>r Öffnung <strong>de</strong>r Organisation erkennen. So ist (z. B. in <strong>de</strong>n Richtlinien für die Jugendarbeit<br />
bei ver.di) zu erkennen, dass eigene Interessen <strong>de</strong>r Jugendlichen im<br />
Rahmen <strong>de</strong>r Gewerkschaft umgesetzt wer<strong>de</strong>n können und geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Einen<br />
wichtigen Aspekt stellen auch projektbezogene Aktivitäten dar. Diese Projekte<br />
stehen nicht mehr nur Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>rn offen, son<strong>de</strong>rn integrieren<br />
auch (Noch) Nichtmitglie<strong>de</strong>r. Zielorientiert wird mit an<strong>de</strong>ren Jugendverbän<strong>de</strong>n,<br />
wie Jugendringen, Organisationen und Initiativen zur Durchsetzung gemeinsamer<br />
For<strong>de</strong>rungen zusammengearbeitet. Für die Jugendlichen sind <strong>hier</strong>bei beson<strong>de</strong>rs<br />
Menschenrechts und Umweltschutzorganisationen von beson<strong>de</strong>rs großem Interesse.<br />
Als Beispiel für internationale Aktivitäten kann das Projekt „Xolelanani“aufgeführt<br />
wer<strong>de</strong>n, welches im Kapitel 5 von Kirstin Bromberg näher beschrieben<br />
wird.<br />
4.2 Fallstudie Küste<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Fallstudie „Küste“wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Fokus auf Erwerbslose und Jugendliche<br />
gelegt (ebenso wie in <strong>de</strong>r Fallstudie „Stuttgart“)46. Im Rahmen dieser<br />
Fallstudie wur<strong>de</strong>n zwei Gruppendiskussionen („StrandGut“47, „Come In“48) mit<br />
Jugendlichen und drei Experteninterviews (Projektleiter „Come In“– Wismar, Projektleiter<br />
„Lunte“– Rostock, Jugendreferentin DGBJugend Nord Schwerin) geführt.<br />
4.2.1 „StrandGut“<br />
„StrandGut“wur<strong>de</strong> im Jahre 1997 vor <strong>de</strong>m Hintergrund von Zeltplatzüberfällen<br />
auf Jugendgruppen in Leisten ins Leben gerufen. In Zusammenarbeit mit<br />
verschie<strong>de</strong>nen Jugendverbän<strong>de</strong>n sollten <strong>de</strong>n Jugendlichen Möglichkeiten zur<br />
Freizeitgestaltung angeboten wer<strong>de</strong>n, um so präventiv gegen eventuelle Überfälle<br />
zu arbeiten. In <strong>de</strong>n ersten drei Jahren ist „StrandGut“vom Lan<strong>de</strong>sjugendring<br />
MecklenburgVorpommern ausgeschrieben und veranstaltet wor<strong>de</strong>n. Im Jahre<br />
2001 wur<strong>de</strong> „StrandGut“erstmals von <strong>de</strong>r DGBJugend Nord organisiert, allerdings<br />
in Kooperation mit <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>sjugendring, da dieser die Verbindung zwischen<br />
<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Lan<strong>de</strong>sjugendverbän<strong>de</strong>n 49 herstellt.<br />
Das Projekt “StrandGut“wird während <strong>de</strong>r Sommerferien über einen Zeitraum<br />
von vier Wochen auf verschie<strong>de</strong>nen Zeltplätzen in Mecklenburg<br />
Vorpommern durchgeführt. Die Jugendlichen aus <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Jugendver<br />
46 Zur Auswahl und Methodik <strong>de</strong>r Fallstudien vgl. Kap. 1.5.<br />
47 An <strong>de</strong>r Gruppendiskussion nahmen 9 Jugendliche im Alter zwischen 16 und 23 Jahren teil. Eine<br />
Skizze mit genaueren Angaben befin<strong>de</strong>t sich im Anhang.<br />
48 Hier nahmen 6 Jugendliche im Alter zwischen 17 und 22 Jahren teil. Hierzu befin<strong>de</strong>t sich ebenfalls<br />
eine Skizze mit genaueren Angaben im Anhang.<br />
49 Mitwirken<strong>de</strong> Jugendverbän<strong>de</strong> sind <strong>de</strong>r Jugendmedienverband, die Sportjugend, die Bundjugend,<br />
die Landjugend, die evangelische Aka<strong>de</strong>mie, die DGBJugend.
129 <br />
bän<strong>de</strong>n (Teamer 50 ) organisieren vor Ort die Gestaltung von Freizeitangeboten für<br />
Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche auf <strong>de</strong>n Zeltplätzen.<br />
Zu Beginn <strong>de</strong>s Jahres 2002 hat für das Projekt eine neue Phase begonnen.<br />
„StrandGut“sollte nicht weitergeführt wer<strong>de</strong>n, da keiner <strong>de</strong>r Jugendverbän<strong>de</strong> aufgrund<br />
<strong>de</strong>s zu großen Zeitaufwan<strong>de</strong>s bereit war, dieses Projekt durchzuführen. Ein<br />
Teil <strong>de</strong>r Jugendlichen beschloss daher, „die Sache selbst in die Hand zu nehmen“<br />
51 . Die Jugendlichen organisierten die Finanzierung <strong>de</strong>s Projektes, die Pressearbeit<br />
und die gesamte Durchführung in Eigeninitiative selbst. Insgesamt gesehen<br />
ist die I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>r Jugendlichen mit <strong>de</strong>m Projekt selbst über die Verbän<strong>de</strong><br />
hinaus sehr stark.<br />
Fm: Ähm es gab dann so persönlich, persönliche Differenzen im Verband zwischen<br />
mir und all <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Leuten und lag unter an<strong>de</strong>rem auch an diesem<br />
Projekt, weil ich halt im letzten Jahr in <strong>de</strong>m ich dort in <strong>de</strong>m Verband war, gesagt<br />
hab, ich mache diese Projekte nicht weiter und das hat sich halt in <strong>de</strong>m Verband<br />
so weiter entwickelt, dass es halt mehr mehr o<strong>de</strong>r weniger son Konkurrenzkampf<br />
war. Ich mache mehr, ich mache besser und ja, da ich daran nicht mehr teilgenommen<br />
habe, bin ich dann relativ schnell dort hinten runterge[.]. Aber das Projekt<br />
ist halt mir irgendwie so wichtig, daß ich gesagt hab, dann mache ich es entwe<strong>de</strong>r<br />
für nen an<strong>de</strong>rn Verband, ich also ich wollte jetzt ursprünglich für die DGB<br />
Jugend fahren.<br />
⎣<br />
Y1: Hmm.<br />
Fm: Da das nun von gar keinen Verbän<strong>de</strong>n gemacht wird, machen wirs halt<br />
selbst und ich <strong>de</strong>nke nicht, dass das unbedingt schlechter sein muss. Glaube ich<br />
da nicht dran. Ich <strong>de</strong>nke, es ist <strong>de</strong>nn ist <strong>de</strong>nn wie<strong>de</strong>r ne neue Phase, wo das dann<br />
wie<strong>de</strong>r ganz an<strong>de</strong>rs wird. Aber ich bin gespannt drauf.<br />
Diese nun beginnen<strong>de</strong> „neue Phase“ist für die Jugendlichen mit <strong>de</strong>r Hoffnung<br />
einer stressfreien Zusammenarbeit verbun<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n letzten Jahren ist je<strong>de</strong>r für<br />
seinen Verband gefahren. Aus dieser Tatsache kam es zu Problemen zwischen<br />
<strong>de</strong>n Jugendlichen. Der eine Verband warf <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Faulheit vor. Da nun alle<br />
„StrandGut“sind, gibt es eine neue Basis für die Zusammenarbeit. Je<strong>de</strong>r kann<br />
alles machen. Dennoch spielt die Repräsentation <strong>de</strong>r Verbän<strong>de</strong> eine Rolle.<br />
Bm: Also wir wer<strong>de</strong>n die Verbän<strong>de</strong> vertreten und auch wie<strong>de</strong>r Werbung für die<br />
Verbän<strong>de</strong> machen, aber es ist nicht so, dass je<strong>de</strong>r für seinen Verband fährt, weil<br />
es da in <strong>de</strong>n letzten Jahren auch ein bisschen Probleme gab. Der <strong>de</strong>r eine Verband<br />
hat <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Verband Faulheit vorgeworfen. Wir haben <strong>de</strong>n ganzen Tag<br />
gearbeitet, ihr nicht und<br />
⎣<br />
Fm: Ja.<br />
⎣<br />
50 Die Teamer erhalten über die Jugendverbän<strong>de</strong> eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 70€<br />
in <strong>de</strong>r Woche. Kosten für die Verpflegung müssen sie nicht tragen, allerdings muss die An und<br />
Abreise selbst bezahlt wer<strong>de</strong>n. In diesem Jahr (2002) erfolgte die Bezahlung <strong>de</strong>r Teamer erstmals<br />
für alle gleich. In <strong>de</strong>n vorherigen Jahren wur<strong>de</strong>n die Teamer abhängig von Jugendverband unterschiedlich<br />
bezahlt.<br />
51 Fm in GD StrandGut am 06.07.2002 in Flessenow
130 <br />
Y1: Hmm.<br />
Bm: da gab es untereinan<strong>de</strong>r auch ein bisschen Streit und das wollten wir eigentlich<br />
dadurch vermei<strong>de</strong>n, dass wir alle für Strandgut da sind und nicht äh <strong>de</strong>r<br />
eine fährt für die Gewerkschaft und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re für für irgen<strong>de</strong>inen an<strong>de</strong>ren Verband.<br />
(5) Und das wird bestimmt ein schönes Zusammenarbeiten, <strong>de</strong>nn die Basis<br />
je<strong>de</strong>r macht alles<br />
Unter Ehrenamt im Allgemeinen wird von <strong>de</strong>n Jugendlichen eine freiwillige<br />
Arbeit verstan<strong>de</strong>n, für die es keine Bezahlung gibt, die jedoch einen gesellschaftlichen<br />
Nutzen hat. Der finanzielle Aspekt steht im Hintergrund, man könnte sogar<br />
auf ihn verzichten:<br />
Bm: Oh, also für mich ist das ähm ne freiwillige Arbeit,<br />
⎣<br />
Y 1 :<br />
Hmm<br />
Bm: für die es eigentlich keine offizielle Bezahlung gibt. Es soll, wie gesagt,<br />
⎣<br />
Y 1 :<br />
Bm:<br />
Hmm<br />
äh KostenNutzen ähm Aufwandsentschädigung geben, aber äh die Kosten,<br />
dass die wie<strong>de</strong>r reinkommen, wenn überhaupt, aber selbst das ist<br />
noch nicht mal ähm <strong>de</strong>r<br />
⎣<br />
Y 1 :<br />
Hmm<br />
Bm: Hintergrund. Ich mach das ähm freiwillig, weil es eben äh gesellschaftlichen<br />
Nutzen hat<br />
⎣<br />
Y 1 : Hmm<br />
⎣<br />
Aw: [Richtig, das hätte ich auch gemacht.]<br />
Bm: und ähm mehr nicht.<br />
Ew: Ja dass man eben seine Zeit und sein Engagement mit einbringt und auch<br />
aufbringt und das mit einfließen lässt in ein Projekt.<br />
Aw: [...]<br />
Bm: Das war auch ähm unser unsere auf <strong>de</strong>m Hauptausschuss damals im Februar<br />
als wir das erste Mal Strandgut angesprochen haben, als es eigentlich<br />
fast so aussah, als wenn Strandgut nicht stattfin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, als wir dann<br />
eben sagten, es fin<strong>de</strong>t statt. Das war auch äh gesagt, wir wür<strong>de</strong>n auch auf<br />
unser Honorar verzichten, <strong>de</strong>nn das sind immerhin 3000 Euro noch mal<br />
wie<strong>de</strong>r dieses Jahr,<br />
⎣<br />
Y 1 : Ja<br />
Bm: die wir dann hätten äh weglassen können und (3) so so ist das Budget [...]<br />
Jemand <strong>de</strong>r nur aus finanziellem Interesse bei „StrandGut“mitmacht, ist<br />
aus ihrer Sicht nicht für diese Arbeit geeignet. Man bringt seine Zeit und sein Engagement<br />
ein, um für sich und für an<strong>de</strong>re etwas zu erreichen.<br />
Ehrenamtliches Engagement wird als sinnvolle Freizeitbeschäftigung mit <strong>de</strong>m Ziel<br />
gesehen, sich selbst auszuprobieren, sich entfalten zu können, Erfahrungen zu<br />
sammeln und sich mit an<strong>de</strong>ren Jugendlichen auszutauschen. Es ist aber auch<br />
eine Möglichkeit, Qualifikationen zu erlangen, die beispielsweise in <strong>de</strong>r Schule
131 <br />
nicht vermittelt wer<strong>de</strong>n (können). Hierzu zählen einerseits soziale Kompetenzen<br />
(Umgang mit an<strong>de</strong>ren Menschen, kommunikative Fähigkeiten, Verantwortung für<br />
sich und an<strong>de</strong>re tragen), aber auch die Möglichkeit Kompetenzen im Umgang mit<br />
Institutionen zu erlangen. Über diese selbstbezogenen Motive hinaus führt die<br />
Wahrnehmung <strong>de</strong>s „gesellschaftlichen Nutzens“<strong>de</strong>s Engagements zur Wahl dieses<br />
spezifischen Projekts. Ihre Be<strong>de</strong>utung erhält das freiwillige Engagement also<br />
durch ihre über die individuelle Freizeitbeschäftigung hinaus gehen<strong>de</strong> gesellschaftliche<br />
Wirksamkeit.<br />
In diesem Sinne wir <strong>de</strong>m Ehrenamt eine tragen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung für die Suche<br />
nach <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Zukunft zugeschrieben. In einer Phase, in <strong>de</strong>r erwartet<br />
wird sich zu orientieren, besteht in <strong>de</strong>r freiwilligen Betätigung die Chance Wege<br />
für die Lebensgestaltung auszuprobieren und zu fin<strong>de</strong>n. Man kann etwas tun für<br />
ein bestimmtes Lebensziel. 52<br />
Fm: Das ist, man lernt im, also man hat die Chance im Ehrenamt so viel zu lernen,<br />
was man in <strong>de</strong>r Schule niemals vermittelt bekommen kann.<br />
⎣<br />
Y 1 : Hmm<br />
Fm: Ich zum Beispiel hab mein Studium gefun<strong>de</strong>n über das Ehrenamt. Also ich<br />
studiere im ersten Hauptfach Politik.<br />
⎣<br />
Y 1 : Hmm<br />
Fm: Ähm und auch wenn das vielleicht mit mit Presse und so weiter nicht ganz<br />
direkt zu tun hat, aber irgendwie hängts doch ein bisschen damit zusammen<br />
und es sind halt so die Abläufe in <strong>de</strong>r Gesellschaft und und in <strong>de</strong>n Institutionen<br />
und manchmal weiß man halt, wie es auf <strong>de</strong>m Papier steht und<br />
wie es wirklich ist.<br />
Wie schon in an<strong>de</strong>ren Studien beschrieben, steht bei diesen Jugendlichen<br />
ebenfalls Spaß im Vor<strong>de</strong>rgrund als Motiv für ihr Engagement: Also bei mir ist das<br />
in erster Linie, das macht Spaß. Und das ist die Hauptsache. (Cm) 53 „Spaß“ist<br />
allerdings nicht gleichzusetzen mit „Fun“. „Spaß haben“be<strong>de</strong>utet mehr als dieses.<br />
Es ist auch ein Wort für Freu<strong>de</strong>, Lust, Motivation und Sinnhaftigkeit und <strong>de</strong>shalb<br />
nicht gleichzusetzen mit <strong>de</strong>r Erwartung schnelllebigen Vergnügens und „Zeitvertreibs“.<br />
Fm:<br />
Und vor allen Dingen also ja dann kommt <strong>de</strong>r Anspruch, das was da jetzt<br />
gesagt wur<strong>de</strong>, soll natürlich auch noch Spaß machen und was für mich<br />
auch immer ganz wichtig war, ist das man ähm ja diesen Spaß o<strong>de</strong>r das Interesse<br />
an <strong>de</strong>r Sache <strong>de</strong>n Leu <strong>de</strong>n Leuten, die dann zu diesem Seminar<br />
52 In früheren Veröffentlichungen wird <strong>hier</strong> von „Biographischer Passung“gesprochen. Zentrales<br />
Moment zur Aktivierung <strong>de</strong>s neuen Engagements ist nicht mehr die Sozialisation in einem bestimmten<br />
Milieu, son<strong>de</strong>rn die biographische Passung in einer bestimmten Lebensphase. Erst<br />
wenn Motiv, Anlass und Gelegenheit biographisch zusammenpassen (wie <strong>de</strong>r Bedarf an sozialen<br />
Kontakten bei Seniorinnen und Senioren, die Suche nach persönlichen Orientierungen bei Jugendlichen<br />
o<strong>de</strong>r die Überwindung von Phasen <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit), dann konstituiert sich das<br />
Engagement. Vgl.: Heinze, R.G./ Bucksteeg, M./ Helmer, A.: Freiwilliges soziales Engagement in<br />
NRW. Potentiale und För<strong>de</strong>rmöglichkeiten. In: Zukunft <strong>de</strong>s Sozialstaates. Freiwilliges soziales<br />
Engagement und Selbsthilfe. Hrsg. Vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s<br />
NordrheinWestfalen. Düsseldorf 1996. S. 193200<br />
53 Cm in GD StrandGut am 06.07.2002 in Flessenow
132 <br />
kommen o<strong>de</strong>r an dieser Arbeit teilhaben dann weitervermittelt, sozusagen<br />
multipliziert.<br />
Die Rolle von Verbän<strong>de</strong>n<br />
Die Verbän<strong>de</strong> bieten für diese Jugendlichen <strong>de</strong>n Rahmen, sich selbst entfalten zu<br />
können. Dies geschieht auf verschie<strong>de</strong>n Ebenen. Einerseits bietet <strong>de</strong>r „richtige<br />
Verband“ihnen die Möglichkeiten, sich durch ihr Engagement (also die Übernahme<br />
von Aufgaben innerhalb <strong>de</strong>s Verban<strong>de</strong>s, die auch ihren Interessen entsprechen)<br />
sich ausprobieren zu können:<br />
„… Ähm es ist, also die Ehrenamtsarbeit, wenn man sich <strong>de</strong>n richtigen Verband<br />
raussucht, sag ich mal, <strong>de</strong>r sich mit einem Gebiet befasst, das einen selber<br />
auch anspricht, ähm ist ne sehr gute Möglichkeit sich selbst auszuprobieren und<br />
sich selbst zu entfalten… “54<br />
An<strong>de</strong>rerseits wird <strong>de</strong>m Verband eine Rolle als Bildungsträger zugeschrieben.<br />
Verbän<strong>de</strong> übernehmen in ihren Augen Bildungsaufträge, die in <strong>de</strong>r Schule<br />
nicht erfüllt wer<strong>de</strong>n und zum Teil innerhalb <strong>de</strong>s Rahmens Schule auch nicht erfüllt<br />
wer<strong>de</strong>n können. In ihren Augen kommt die Schule ihrem Bildungsauftrag in Bezug<br />
auf die Vorbereitung auf das Leben sogar nur im ungenügen<strong>de</strong>n Maße nach, da<br />
eben ein Großteil wichtiger sozialer Kompetenzen in diesem Rahmen nicht vermittelt<br />
wer<strong>de</strong>n (können):<br />
Fm: Und ähm die man auch in <strong>de</strong>r Schule, also es heißt ja so, man lernt fürs<br />
Leben und nicht für die Schule und und das tut man aber nicht in <strong>de</strong>r Schule.<br />
Also die die Schule ähm kommt ihrem Bildungsauftrag, <strong>de</strong>r im Schulgesetz<br />
steht, ähm in nur sehr ungenügen<strong>de</strong>m Maße nach, also Charakterbildung<br />
und Vorbereitung auf das Leben und so weiter. Das fin<strong>de</strong>t da alles,<br />
⎣<br />
Y1: Hmm<br />
Fm: das ist alles Blödsinn. Ich mein Pisa hi hin o<strong>de</strong>r her, also ob die Studie nun<br />
so sinnvoll ist, ist ne an<strong>de</strong>re Sache, aber ähm <strong>de</strong> facto wir da von uns sehr<br />
sehr seine Schule, wird da sicherlich mehr als ein Beispiel aufzählen können,<br />
⎣<br />
Bm: Hmm<br />
Fm: was absolut dummsinnig war, äh ob das nun im Unterricht war o<strong>de</strong>r organisationstechnisch.<br />
Und ich <strong>de</strong>nke, die Verbän<strong>de</strong> im Land und die Ehrenamtlichen<br />
ähm, die diesen Prozess schon durchgemacht haben und untereinan<strong>de</strong>r<br />
vermitteln, die nehmen einen Teil dieses Bildungsauftrages wahr,<br />
⎣<br />
Y1: Hmm<br />
Fm: wo einfach <strong>de</strong>r Bedarf da ist und <strong>de</strong>r ist da, ansonsten wür<strong>de</strong>n diese Verbän<strong>de</strong><br />
ja nicht, zumin<strong>de</strong>st von <strong>de</strong>n Leuten, die es wissen und die es interessiert,<br />
äh <strong>de</strong>n Zulauf erhalten und <strong>de</strong>n Zuspruch erhalten.<br />
Den Verbän<strong>de</strong>n wird <strong>hier</strong> eine produktive Rolle zugesprochen, die sich auf<br />
eigene Entwicklungsmöglichkeiten günstig auswirken. Menschen, die um die Rolle<br />
<strong>de</strong>s Verban<strong>de</strong>s als Ort Bildung wissen und daran auch interessiert sind, können<br />
54 Fm in GD StrandGut am 06.07.2002 in Flessenow
133 <br />
diese Möglichkeit nutzen. Aus diesem Hintergrundwissen heraus ergibt sich ein<br />
weiteres Ziel <strong>de</strong>s Engagements dieser Jugendlichen: nicht die direkte Rekrutierung<br />
von Jugendlichen, son<strong>de</strong>rn die Präsentation <strong>de</strong>r Jugendverbän<strong>de</strong> und somit<br />
die Eröffnung von Möglichkeiten, die eigenen Interessen und Ziele durch Verbreiterung<br />
<strong>de</strong>r Wissensbasis zielgerichtet verfolgen und durchsetzen zu können. Im<br />
Rahmen <strong>de</strong>r gesellschaftspolitischen Interessen ihres Engagements informieren<br />
an<strong>de</strong>re Jugendliche darüber, welche Jugendverbän<strong>de</strong> es im Land gibt und was<br />
diese Verbän<strong>de</strong> <strong>de</strong>m einzelnen bieten können.<br />
Fm: Und dann haben wir wie<strong>de</strong>r das Ziel erreicht, dass wir halt die Jugendverbän<strong>de</strong><br />
präsentieren o<strong>de</strong>r repräsentieren wollen, halt auch oftmals ist gar<br />
nicht bekannt, was es für Möglichkeiten gibt, welche Verbän<strong>de</strong> es im Land<br />
gibt.<br />
⎣<br />
Y 1 : Ja.<br />
Fm: Was man, also die Kids hängen o<strong>de</strong>r die Jugendlichen hängen in <strong>de</strong>n Ghettos<br />
ab und und ja<br />
⎣<br />
Aw: [.].<br />
⎣<br />
?w: Stimmt.<br />
Fm: haben nichts besseres zu tun, als sich zu betrinken o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Sachen<br />
noch zu tun ähm und wissen meist gar nicht um die Möglichkeiten, die sie<br />
eigentlich haben und und auch viele von diesen Leuten, das hat man ja auf<br />
<strong>de</strong>n Zeltplätzen auch gemerkt, so die eigentlich so gesagt haben, ey die arbeiten<br />
freiwillig, ist ja bescheuert, die ähm auch die Leute haben Interesse<br />
und auch die Leute haben bestimmte Talente und wenn man die <strong>de</strong>nn son<br />
bisschen<br />
⎣<br />
Aw: Hmm.<br />
Fm: ähm, ja weiß nicht, herausfor<strong>de</strong>rt, dann dann springen sie darauf auch an.<br />
Wenn wenn sie merken so nach <strong>de</strong>m Motto, die sind gar nicht so, dass sie<br />
uns jetzt auslachen, wenn wir jetzt irgendwas tun, son<strong>de</strong>rn (3)<br />
Da viele Jugendliche außerhalb von Organisationen stehen und nicht wissen,<br />
welche Möglichkeiten zur Selbstentfaltung sie innerhalb von Verbän<strong>de</strong>n haben,<br />
„hängen sie in <strong>de</strong>n Ghettos ab“. Dadurch bleiben ihnen Möglichkeiten verwehrt,<br />
für das Leben wichtige Kompetenzen zu erlangen, die innerhalb <strong>de</strong>s für je<strong>de</strong>n zugänglichen<br />
Rahmen Schule nicht vermittelt wer<strong>de</strong>n. Verbän<strong>de</strong> bieten die Möglichkeit<br />
aus <strong>de</strong>m „Ghetto“herauszukommen, und daher wird von <strong>de</strong>n engagierten<br />
Jugendlichen versucht, die Verbän<strong>de</strong> nach außen hin zu repräsentieren, um so<br />
langfristige Wirkungen ihrer Arbeit zu erreichen. Nicht nur auf <strong>de</strong>m Zeltplatz sollen<br />
sinnvolle Beschäftigungen im Mittelpunkt <strong>de</strong>s Lebens <strong>de</strong>r „an<strong>de</strong>ren Jugendlichen“<br />
stehen, son<strong>de</strong>rn auch über die zwei Wochen auf <strong>de</strong>m Zeltplatz hinaus.<br />
Die pure Existenz <strong>de</strong>s Verbands bietet nicht mehr <strong>de</strong>n Anlass sich ehrenamtlich<br />
zu engagieren, weil das Interesse an seinen Aktivitäten und Betätigungsangeboten<br />
durch Eigeninitiative erworben wer<strong>de</strong>n muss 55 . Er übernimmt die Rolle<br />
55 Auch schon beschrieben bei Beher. et al. (2000): „Allerdings scheint die Verbandsi<strong>de</strong>ntifikation<br />
als Motiv für ehrenamtliche Mitarbeit mehr und mehr zu schwin<strong>de</strong>n.“ In <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn
134 <br />
als Rahmen in <strong>de</strong>m individuelle Interessen <strong>de</strong>s Einzelnen verwirklicht wer<strong>de</strong>n<br />
können („ausprobieren“, „entfalten“, „Bildung“) und neue Wege für die Gestaltung<br />
<strong>de</strong>r Zukunft gezeigt wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Wahrnehmung <strong>de</strong>s Engagements durch Außenstehen<strong>de</strong><br />
Die Sinnhaftigkeit <strong>de</strong>s Engagements <strong>de</strong>r beteiligten Jugendlichen wird von Außenstehen<strong>de</strong>n<br />
häufig in Frage gestellt. Oftmals wird selbst innerhalb <strong>de</strong>r Familien<br />
die Kritik laut, sie sollten ihre Zeit mit nützlicheren Dingen verbringen. Auch von<br />
Behör<strong>de</strong>n und Institutionen wird ihnen – aus ihrer Sicht – die Fähigkeit aberkannt,<br />
auch als Jugendliche Verantwortung zu tragen. Dies wird von <strong>de</strong>n Engagierten als<br />
Degradierung empfun<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m möchten sie entgegenwirken. Sie möchten<br />
zeigen, dass das häufig von Medien geprägte Bild „<strong>de</strong>s Jugendlichen“nicht zutrifft.<br />
Sie grenzen sich jedoch klar gegen an<strong>de</strong>re, nichtengagierte Jugendliche ab<br />
(„Kids“). Diesen wird dabei kein generelles Desinteresse unterstellt, son<strong>de</strong>rn ein<br />
fehlen<strong>de</strong>s Wissen um die Möglichkeiten, etwas zu tun.<br />
Fm: Ähm Ehrenamtlichkeit. Ähm.<br />
⎣<br />
Aw: [...]<br />
Fm: Viele Leute sagen ähm, mach doch mal was Richtiges.<br />
⎣<br />
Mehrere: Morgen.<br />
Fm: Ähm, kümmer dich um das, was du eigentlich wirklich tun musst, also<br />
Schule, Studium, Job was auch immer.<br />
⎣<br />
Y 1 : Hmm<br />
Fm: Ähm. Was bringt dir das. Ähm was bringt das <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren o<strong>de</strong>r was nützt<br />
das überhaupt. Ähm kannst du <strong>de</strong>ine Zeit nicht sinnvoller ver verbringen.<br />
Ähm was ich damit auch verbin<strong>de</strong> ist, ähm ja man wird belächelt bei Behör<strong>de</strong>n<br />
und offiziellen ja Institutionen, wenn man irgendwas will,<br />
⎣<br />
Y 1 : Hmm<br />
Fm: weil man ist ja bloß ein Jugendlicher.<br />
⎣<br />
Y 1 : Hmm<br />
Fm: Ähm wir machen sowieso nichts richtig, wir ja so wa so wie sich die Reihe<br />
halt fortsetzt und für mich steht auch so ganz persönlich son bisschen <strong>de</strong>r<br />
Anreiz dahinter, das Gegenteil zu beweisen.<br />
⎣<br />
Y 1 : Hmm<br />
Fm: Ganz einfach. (4) Und das, was ich halt vorhin gesagt hab, möglichst, also<br />
ich kann oftmals nicht verstehen was ähm Jugendliche mit ihrer Zeit und<br />
mit ihren Talenten anfangen, und das natürlich dann son son Bild in <strong>de</strong>r Öfmag<br />
ein weiterer Aspekt hinzukommen: durch die verpflichten<strong>de</strong> Mitgliedschaft in <strong>de</strong>n „Massenorganisationen“zu<br />
DDRZeiten haben die heutigen Jugendlichen nur wenige Vorbil<strong>de</strong>r, die aufgrund<br />
von Eigeninitiative <strong>de</strong>n Weg zu einer Organisation bzw. einem Jugendverband suchen und die<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Erfahrungen lebensweltlich tradieren können.
135 <br />
fentlichkeit entsteht, was natürlich dann auch noch von diversen Medien<br />
und an<strong>de</strong>ren Gruppen in <strong>de</strong>r Gesellschaft geschürt wird,<br />
Zusammenfassung<br />
Grundlegen<strong>de</strong> Aspekte für ein Engagement sind bei <strong>de</strong>n in diesem Projekt<br />
engagierten Jugendlichen individuelle Motive, die allerdings mit altruistischen und<br />
politischen Hintergrün<strong>de</strong>n verbun<strong>de</strong>n sind. „Sinnvoll“ist in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r engagierten<br />
Jugendlichen nicht gleichbe<strong>de</strong>utend mit „individuell nützlich“. Ihr Engagement<br />
ist Ausdruck einer Haltung, die sich gegen einen utilitaristischen Individualismus<br />
stellt, welcher gera<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Erwachsenenwelt und ihren Vertretern eingefor<strong>de</strong>rt<br />
wird. Spaß, Selbstentfaltung und Selbstbestimmung spielen eine ebenso<br />
starke Rolle wie <strong>de</strong>r gesellschaftliche Nutzen, <strong>de</strong>r durch ihre Arbeit erreicht<br />
wer<strong>de</strong>n soll. Im Vor<strong>de</strong>rgrund steht <strong>hier</strong> die nachhaltige Wirkung ihres Engagements.<br />
Den von ihnen betreuten Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen sollen über die kurzzeitige<br />
Betreuung auf <strong>de</strong>n Zeltplätzen hinaus sinnvolle Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung<br />
aufgezeigt wer<strong>de</strong>n, die dann in Verbindung mit <strong>de</strong>n jeweiligen Jugendverbän<strong>de</strong>n<br />
möglich sind. Verbän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n engagierten Jugendlichen als<br />
notwendige Rahmen dargestellt und genutzt, um eigene Interessen durchsetzen<br />
zu können, gesellschaftliche Kompetenzen zu erlangen, sich selbst ausprobieren<br />
zu können und als Ort, um neue Möglichkeiten zu erfahren.<br />
Die Tatsache, dass sich nicht alle Jugendlichen in irgen<strong>de</strong>iner Form engagieren,<br />
sehen diese Jugendlichen nicht im mangeln<strong>de</strong>n Interesse <strong>de</strong>r nichtengagierten<br />
Jugendlichen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>m mangeln<strong>de</strong>n Wissen um die vorhan<strong>de</strong>nen<br />
Möglichkeiten. Man müsse die Jugendlichen „aus <strong>de</strong>n Ghettos“herausfor<strong>de</strong>rn,<br />
ihnen Wege zeigen, dann gelingt es auch diese zu motivieren. Viele Jugendliche<br />
seien jedoch vom klassischen Bild <strong>de</strong>r Gremien abgeschreckt: man „sitzt und sitzt<br />
und man erzählt und labert… aber es passiert nichts“ 56 . Sie nehmen an, dass man<br />
Jugendliche eher über „Projekte kriegen“ 57 könne.<br />
Für sie selbst hat Gremienarbeit ebenfalls einen verstaubten Charakter,<br />
wird aber als Notwendigkeit anerkannt, um auf organisatorischer Ebene bestimmte<br />
Fragen abzuklären. Allerdings wird die mangeln<strong>de</strong> Flexibilität innerhalb <strong>de</strong>r<br />
Gremien bemängelt. Entscheidungen dauern oftmals zu lange o<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n aufgrund<br />
mangeln<strong>de</strong>r Kompromissbereitschaft und Paragraphenwälzerei nicht gefällt.<br />
Trotz aller Kritik an <strong>de</strong>r Gremienarbeit sehen die Jugendlichen die Verbän<strong>de</strong><br />
nicht als Hin<strong>de</strong>rnis, son<strong>de</strong>rn als notwendige Einrichtungen, welche die Bedingungen<br />
für selbstbestimmtes Engagement bereitstellen. Dass sie die Abstinenz vieler<br />
Jugendlicher gegenüber <strong>de</strong>r Verbandsarbeit als Wissensmangel interpretieren,<br />
lässt sich als Hinweis an die Verbän<strong>de</strong> verstehen, wie sie das Engagementpotential<br />
Jugendlicher erschließen können.<br />
Ein weiterer tragen<strong>de</strong>r Punkt ist für die Jugendlichen die Anerkennung ihres<br />
Engagements. Anerkennung ist für sie nicht primär finanzielle Anerkennung<br />
o<strong>de</strong>r Anerkennung in Form von Urkun<strong>de</strong>n bzw. Zertifikaten. Für sie steht die<br />
Wahrnehmung in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit im Zentrum. Die Infragestellung <strong>de</strong>r Sinnhaftigkeit<br />
ihres Engagements durch Außenstehen<strong>de</strong> und Familienmitglie<strong>de</strong>r und die<br />
56 Fm in GD StrandGut am 06.07.2002 in Flessenow<br />
57 ebd.
136 <br />
Abschreibung von Kompetenz seitens <strong>de</strong>r Institutionen und <strong>de</strong>r Medien wird als<br />
<strong>de</strong>gradierend empfun<strong>de</strong>n. Wird von diesen Stellen einerseits <strong>de</strong>r Sinn und an<strong>de</strong>rerseits<br />
die Tatsache wahrgenommen, dass sie als Jugendliche eben doch eigenverantwortlich<br />
han<strong>de</strong>ln können und durchaus in <strong>de</strong>r Lage sind Verantwortung für<br />
an<strong>de</strong>re zu tragen und dies im Gespräch ver<strong>de</strong>utlicht, ist für diese Jugendlichen ihr<br />
Ziel, als verantwortungsbewusst han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Menschen akzeptiert zu wer<strong>de</strong>n erreicht.<br />
4.2.2 Jugendberatungscafé „Come In“<br />
Das „Come In“wur<strong>de</strong> im Jahre 1995 ins Leben gerufen. Der DGB und die IG<br />
Metall wollten über „DAU WAT“ein Jugendprojekt gestalten. Daraufhin wur<strong>de</strong>n<br />
Räumlichkeiten im Frie<strong>de</strong>nshof in Wismar gemietet. Es han<strong>de</strong>lt sich <strong>hier</strong> um einen<br />
sozialen Brennpunkt (hohe Jugendarbeitslosigkeit, rechtsextreme Jugendliche).<br />
Das „Come In“wen<strong>de</strong>t sich vor allem an erwerbslose bzw. von Erwerbslosigkeit<br />
bedrohte Jugendliche. Die Beratung dieser Jugendlichen steht im Zentrum: über<br />
arbeitsrechtliche Problem wird informiert, bei <strong>de</strong>r Erstellung von Bewerbungsunterlagen<br />
geholfen, Seminare und Informationsveranstaltungen wer<strong>de</strong>n angeboten.<br />
Weiterhin haben sie auch die Möglichkeit ihre Freizeit zu gestalten (Billard, Sport,<br />
Spiele… ).<br />
Zum Zeitpunkt <strong>de</strong>r Gruppendiskussion gab es drei Mitarbeiter innerhalb<br />
<strong>de</strong>s „Come Ins“in Form von einer SAM (Projektleiter) und zwei ABMStellen.<br />
Diese Maßnahmen sollten innerhalb <strong>de</strong>r nächsten acht Wochen auslaufen. Ob<br />
und wie das Projekt weiter geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, war zu diesem Zeitpunkt noch<br />
unklar.<br />
Das „Come In“war im Jahre 2002 zum zweiten Mal auf <strong>de</strong>r In Schwerin<br />
stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n „Jobpara<strong>de</strong>“ 58 vertreten. Im Rahmen <strong>de</strong>r „Jobpara<strong>de</strong>“übernimmt<br />
die Gewerkschaft ein Drittel <strong>de</strong>r Kosten, ein Drittel trägt die Stadt. Es gibt auch<br />
Aktionen, die die Gewerkschaften vollständig finanzieren (z.B. Jugendsommerparty<br />
für Berufsstarter). Ansonsten wer<strong>de</strong>n Infomaterialien gestellt. Die IGMetall<br />
Wismar übernimmt die Kosten für Kopien, Telefonate und so weiter.<br />
Das „Come In“ist offen für Nichtmitglie<strong>de</strong>r und wird überwiegend von Jugendlichen<br />
genutzt, die in diesem Wohngebiet leben. Im Gespräch mit <strong>de</strong>n Jugendlichen<br />
wur<strong>de</strong>n zwei Nutzungsebenen <strong>de</strong>s „Come Ins“<strong>de</strong>utlich: einerseits die<br />
<strong>de</strong>r Nutzung <strong>de</strong>s „Come Ins“als Treffpunkt und an<strong>de</strong>rerseits die Nutzung als<br />
Rahmen zur Durchsetzung <strong>de</strong>r eigenen Interessen. Durch die unterschiedlichen<br />
Nutzungsebenen wur<strong>de</strong> eine Aufspaltung <strong>de</strong>r Jugendlichen in zwei Gruppen <strong>de</strong>utlich:<br />
„perspektivlose“Jugendliche 59 und „selbstbewusste Macher“ 60 .<br />
Die „perspektivlose“Jugendliche nutzen das „Come In“als Treffpunkt und Beratungszentrum.<br />
Sie leben in diesem Wohngebiet und sehen das „Come In“auch<br />
als „Zufluchtsstätte“vor ihrem Alltag. Sie sind nahezu täglich <strong>hier</strong> und übernehmen<br />
kleinere Aufgaben, wie zum Beispiel die Reinigung <strong>de</strong>r Räume. In <strong>de</strong>n Augen<br />
<strong>de</strong>s Projektleiters ist auch dies schon „ehrenamtlich“.<br />
58 Vgl. die Ausführungen zur „Jobpara<strong>de</strong>“unten.<br />
59 Die von mir so genannten „perspektivlosen“Jugendlichen sind vergleichbar mit <strong>de</strong>nen in <strong>de</strong>r<br />
ShellStudie 2002 beschriebenen „zögerlichen Unauffälligen“.<br />
60 Angelehnt an die ShellStudie 2002
137 <br />
Cm:<br />
me:<br />
Dm:<br />
Cm:<br />
Dm:<br />
Y 1 :<br />
Da ist man nicht zu hause.<br />
@2@<br />
Na ja, Treffpunkt und das man nicht so immer so durch die Gegend dad<strong>de</strong>lt<br />
so aus Jux und ja Langeweile so.<br />
Also von die Straßen [.] sag ich ma so.<br />
Genau. Und zum Beispiel geht es dann auch so, manchmal so eingerichtet,<br />
dass man über Probleme re<strong>de</strong>n könnte, sei es um Schule, Beruf o<strong>de</strong>r<br />
Familie,<br />
⎣<br />
hmm<br />
⎦<br />
Dm: irgendwie das man einen Ansprechpartner sucht [so irgendwie]<br />
(2) und ja. Und wird auch manchmal so ein Block an, also dass man ins<br />
Internet gehen kann und irgen<strong>de</strong>in Beruf suchen und so.<br />
Ansonsten nehmen sie verschie<strong>de</strong>ne „Wissensvermittlungsangebote“, wie Bewerbungstrainings,<br />
Umweltschutzvorträge usw. wahr. Die Seminare wer<strong>de</strong>n einerseits<br />
als interessant empfun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nnoch mit einer gewissen Resignation aufgenommen<br />
und die Sinnhaftigkeit in Frage gestellt. Aufgrund ihres Schulabschlusses<br />
(Hauptschulabschluss) haben sie in ihren Augen kaum eine Chance<br />
auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt. Versuche irgen<strong>de</strong>twas zu erreichen, sind stets gescheitert.<br />
Das „Come In“nimmt für sie in gewisser Weise eine „Strohhalmfunktion“ein: ihre<br />
Lage ist ihnen durchaus bewusst, alleine sehen sie jedoch keine Möglichkeit, aus<br />
ihrer Situation herauszukommen, mit Hilfestellung <strong>de</strong>r Mitarbeiter <strong>de</strong>s „Come Ins“<br />
und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jugendlichen sehen sie zumin<strong>de</strong>st eine geringe Chance. Wenn<br />
ihnen etwas gesagt wird, machen sie auch etwas, eigene I<strong>de</strong>en haben sie nicht<br />
o<strong>de</strong>r haben nicht <strong>de</strong>n Mut diese umzusetzen.<br />
Für die so genannten „selbstbewussten Macher“steht die Nutzung <strong>de</strong>s<br />
„Come In“als Rahmen zur Durchsetzung <strong>de</strong>r eigenen Interessen im Zentrum. Sie<br />
sind jedoch lediglich daran interessiert, sich selbst mit Hilfe <strong>de</strong>s „Come Ins“auf<br />
<strong>de</strong>r jährlich stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n „Jobpara<strong>de</strong>“zu präsentieren.<br />
Fm: Ich kenn <strong>de</strong>n Club jetzt seit 1 ½ Jahren,<br />
⎣<br />
Y 1 : hmm<br />
Fm:<br />
⎦<br />
aber unterm an<strong>de</strong>rn Aspekt. Also<br />
wir haben damals probiert äh an <strong>de</strong>r Jobpara<strong>de</strong> teilzunehmen in Schwerin.<br />
⎣<br />
Y 1 : hmm<br />
⎦<br />
Fm: Und ham ne Auflage von <strong>de</strong>r Stadt bekommen uns nen Verein<br />
zu suchen dafür und haben <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>n Dau wat Verein jetzt [.] o<strong>de</strong>r das<br />
Come In, weil hmm das gehört zum Dau wat und <strong>de</strong>r Dau wat gehört äh<br />
zum DGB, soweit ich irgendwie weiß<br />
⎣<br />
Y 1 : hmm<br />
⎦
138 <br />
Fm:<br />
Y 1 :<br />
und die DGBJugend veranstaltet<br />
die Jobpara<strong>de</strong>. Also so kann man schon mal nicht abgelehnt wer<strong>de</strong>n im<br />
En<strong>de</strong>ffekt,<br />
⎣<br />
Ja<br />
⎦<br />
Fm: von Anfang an mit teilzunehmen. Und na seit<strong>de</strong>m arbeiten<br />
wir in <strong>de</strong>m Punkt eigentlich zusammen, wenn wenn es um die Jobpara<strong>de</strong><br />
geht.<br />
Sie sind ehrgeizig, möchten viel erreichen. Ihr längerfristiges Ziel ist es, über ihr<br />
Engagement einen gewissen Status zu erlangen. Nützliche soziale Beziehungen<br />
sind in ihren Augen die notwendige Voraussetzung, um „nach oben“zu gelangen.<br />
Kontakte wer<strong>de</strong>n gepflegt, Benefizveranstaltungen von ihnen organisiert. Dennoch<br />
liegt das eigentliche Interesse in ihrem persönlichen Vorankommen. Über<br />
diese Aktionen haben sie in ihrer Region einen gewissen Bekanntheitsgrad als<br />
DJ’s und Veranstalter von Partys erlangt.<br />
4.2.3 Die „Jobpara<strong>de</strong>“<br />
Die „Jobpara<strong>de</strong>“wur<strong>de</strong> im Jahre 1997 von <strong>de</strong>r DGBJugend in Schwerin<br />
ins Leben gerufen 61 . Es han<strong>de</strong>lt sich <strong>hier</strong>bei um die bun<strong>de</strong>sweit größte Veranstaltung<br />
am 1. Mai. Vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r Arbeitsmarktsituation (die Jugendarbeitslosigkeit<br />
in liegt MecklenburgVorpommern zum Zeitpunkt <strong>de</strong>r Untersuchung<br />
bei 20%) sollte eine Veranstaltung geboten wer<strong>de</strong>n, die unter <strong>de</strong>m Motto „Youth<br />
can’t wait“auf die Situation von Jugendlichen aufmerksam macht. Arbeitsmarktpolitische<br />
For<strong>de</strong>rungen stehen im Zentrum <strong>de</strong>r Veranstaltung. Diese sollten mit<br />
Spaß verbun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Daher nahm man sich ein Beispiel an <strong>de</strong>r jährlich in<br />
Berlin stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n „Lovepara<strong>de</strong>“und wählte <strong>de</strong>n daran angelehnten Namen für<br />
die Veranstaltung.<br />
Die „Jobpara<strong>de</strong>“wird von Ehrenamtlichen getragen und veranstaltet. Der<br />
Lan<strong>de</strong>sjugendausschuss in MecklenburgVorpommern entschei<strong>de</strong>t, ob die „Jobpara<strong>de</strong>“stattfin<strong>de</strong>t<br />
und gestaltet diese auch in seiner Verantwortung. Im Zusammenhang<br />
mit <strong>de</strong>r „Jobpara<strong>de</strong>“ist ein starkes Engagement <strong>de</strong>r Jugendlichen zu<br />
verzeichnen. 200 bis 300 Ehrenamtliche aus <strong>de</strong>n Einzelgewerkschaften arbeiten<br />
in <strong>de</strong>r Vorbereitungsphase mit. Die DGBJugendreferentin sieht die projektbezogene<br />
Arbeit im Rahmen <strong>de</strong>r „Jobpara<strong>de</strong>“als Beispiel für neue Ehrenamtlichkeit.<br />
Man macht nicht nur pro forma Gremienarbeit, son<strong>de</strong>rn verbin<strong>de</strong>t die Gremienarbeit<br />
mit einem Ziel:<br />
„Also, und halt auch vielleicht ein halbes Jahr Gremienarbeit in sozusagen<br />
in Kauf nimmt, um dann die Jobpara<strong>de</strong> gestalten zu können. Wir haben da auch<br />
immer noch eine extra AG, die AG Jobpara<strong>de</strong>“ 62 .<br />
Die Wahrnehmung <strong>de</strong>r Jugendlichen in Bezug auf die „Jobpara<strong>de</strong>“ist unterschiedlich.<br />
Für einen Teil steht nur <strong>de</strong>r Spaß im Vor<strong>de</strong>rgrund:<br />
61 In <strong>de</strong>n Jahren 2001 und 2002 wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r DGBJugend NRW in Dortmund ebenfalls eine<br />
„Jobpara<strong>de</strong>“auf Grundlage <strong>de</strong>r Schweriner I<strong>de</strong>e durchgeführt. Allerdings fand diese Veranstaltung<br />
in einem kleineren Rahmen statt.<br />
62 Experteninterview DGBJugendbildungsreferentin am 22.11.2001 in Schwerin
139 <br />
„Ach so, na ja ich glaub, keiner fährt von <strong>de</strong>nen hin zur Jobpara<strong>de</strong> nach<br />
Schwerin und sagt, oh ich <strong>de</strong>monstrier jetzt <strong>hier</strong> für mehr Ausbildungsplätze. Auf<br />
keinen Fall, wir sehen in erster Linie nur diese Party. Da geht es um dieses Feiern<br />
und um die Musik hören und einfach nur Spaß zu haben. Wenn, wenn wir haben<br />
da auch Interviews geführt für [InputRadio] und und die meisten die da gesagt<br />
haben, sind eben da gewesen ganz einfach um Spaß zu haben, um zu feiern.<br />
Und und dann kam irgendwann mal, so ganz kurz mal erwähnt, ja und halt weil<br />
viele Leute <strong>hier</strong> auf Jobsuche sind und sich halt son bisschen damit äh ja, was<br />
haben die gesagt, dass sie ein bisschen lautstark mit dagegen angehen o<strong>de</strong>r dafür<br />
<strong>de</strong>monstrieren können, aufmerksam machen ganz einfach. Aber in erster Linie<br />
ist es nur die Party.“ 63<br />
Dem Großteil <strong>de</strong>r Jugendlichen, vor allem <strong>de</strong>njenigen die ehrenamtlich im<br />
Rahmen <strong>de</strong>r „Jobpara<strong>de</strong>“tätig sind, ist die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Veranstaltung bewusst.<br />
Ihr Engagement beruht auf <strong>de</strong>m Grundsatz, etwas bewegen zu wollen und mit<br />
Hilfe dieser Veranstaltung auch bewegen zu können. „Die Jugendlichen fahren<br />
nicht nur dahin um ihren Spaß zu haben. Diesbezüglich wird die Jugend oft unterschätzt.<br />
Sie wissen, dass da etwas hinter steht was einen größeren Wert hat.“ 64<br />
4.2.4 Experteninterviews Fallstudie „Küste“– Engagement aus Sicht <strong>de</strong>r Expert/inn/en<br />
Aus Sicht <strong>de</strong>r Expert/inn/en wird von einer mangeln<strong>de</strong>n Engagementbereitschaft<br />
Jugendlicher gesprochen. Diese wird von ihnen jedoch nicht generell beschrieben,<br />
son<strong>de</strong>rn ist im En<strong>de</strong>ffekt auf klassische Engagementformen bezogen<br />
zu sehen. Hierfür wer<strong>de</strong>n unterschiedliche Ursachen aufgeführt. Der Projektleiter<br />
eines gewerkschaftsnahen Projektes in Rostock spricht von einer generellen Entpolitisierung<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft, weshalb die eigenen Angebote in einer „Freizeit<br />
SpaßGesellschaft“nicht attraktiv genug seien. Weiterhin glaubt er, dass die wenigsten<br />
Jugendlichen um Möglichkeiten etwas zu tun wissen, und dass eine gewisse<br />
Resignation überhaupt was verän<strong>de</strong>rn zu wollen besteht. Seiner Meinung<br />
nach treffe es <strong>de</strong>r Begriff Ehrenamt nicht mehr, zumin<strong>de</strong>st nicht im Allgemeinen.<br />
Sicherlich gebe es Leute, die Lust haben etwas zu machen, etwas zu geben und<br />
dann bekommen sie auch etwas zurück. Doch hinter <strong>de</strong>n Teilbegriffen „Ehre“und<br />
„Amt“stecke mehr. Jeman<strong>de</strong>n zu begleiten sei die eine Sache. „Amt“be<strong>de</strong>utet<br />
jedoch auch Entscheidungen zu treffen, Kompetenzen zu bekommen o<strong>de</strong>r eine<br />
kostenlose Ausbildung zu erhalten. Heute habe es nichts mehr damit zu tun „ein<br />
Amt zu beklei<strong>de</strong>n“(außer z. B. in <strong>de</strong>r Funktion eines Vereinsvorstands). 65<br />
Nach Angaben <strong>de</strong>r DGBJugendreferentin ist es schwieriger gewor<strong>de</strong>n,<br />
verlässliche und gute Leute für Gremienarbeit zu fin<strong>de</strong>n, als Leute zu fin<strong>de</strong>n, die<br />
sich in Projekten engagieren. Gremienarbeit wird als „trocken“angesehen. Das<br />
einmal im Monat stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Treffen wird als etwas zwangsweise verpflichten<strong>de</strong>s<br />
gesehen. Die Anfahrtswege sind in MecklenburgVorpommern meist sehr<br />
weit, so dass es in ihren Augen verwun<strong>de</strong>rlich ist, dass überhaupt welche kommen.<br />
Gremienarbeit ist meistens auch ein abstraktes Arbeiten und das macht „eben<br />
nicht so`n Spaß“. Als ein politischer Jugendverband haben sie jedoch einen<br />
63 Fm in GD „Come In“am 24.05.2002 in Wismar<br />
64 Experteninterview Projektleiter „Come In“24.04.2002<br />
65 vgl. Experteninterview Projektleiter „Lunte“e.V. 18.04.2002
140 <br />
Stamm von Leuten, die politisch aktiv sein wollen. Diese Ehrenamtlichen sind<br />
kontinuierlich aktiv. Neu sind die „atypischen Jugendlichen und Ehrenamtlichen“,<br />
die projektbezogen dazukommen. Diese sind nur an einem bestimmten Projekt,<br />
wie z.B. Strandgut o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Jobpara<strong>de</strong> interessiert. Diese Jugendlichen haben auf<br />
die Gremienarbeit meisten keine Lust, arbeiten aber kontinuierlich an <strong>de</strong>n Projekten<br />
mit. Diese Projektarbeit ist auch für die Befragte eine neue Form <strong>de</strong>r Arbeit,<br />
und sie musste selbst lernen, dass Jugendarbeit nicht nur Gremienarbeit sein<br />
muss. Die Jugendlichen, die sich projektbezogen engagieren, sind häufig auch für<br />
verschie<strong>de</strong>ne Organisationen innerhalb <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sjugendverbands tätig. Sie holen<br />
„sich das, was sie wollen.“Eine Abgrenzung zwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />
Verbän<strong>de</strong>n ist nicht för<strong>de</strong>rlich, am Beispiel von Strandgut kann man sehen, dass<br />
die Zusammenarbeit eher bereichernd ist. Das Wort „ehrenamtlich“habe ihrer<br />
Meinung nach „was verstaubtes an sich“. Die heutigen Ehrenamtlichen seien eher<br />
„so coole Typen“, die sich zeigen wollen, sich präsentieren wollen. In <strong>de</strong>r Gremienarbeit<br />
seien meistens die „trockneren Typen“zu fin<strong>de</strong>n. Sich nach außen hin<br />
zu zeigen, sei <strong>de</strong>n Jugendlichen wichtig. Sie wollen sich selbst und auch eine Sache<br />
präsentieren.<br />
Das „neue Ehrenamt“ist das projektbezogene Engagement: zeitlich begrenzt<br />
engagiert man sich für ein bestimmtes Problem o<strong>de</strong>r Anliegen. I<strong>de</strong>en und<br />
Aktionen müssen von <strong>de</strong>n Jugendlichen kommen. Man ist bemüht, die I<strong>de</strong>en aufzunehmen<br />
und umzusetzen in Form eines Dienstleisters für die Ehrenamtlichen. 66<br />
4.2.5 Zusammenfassung Fallstudie „Küste“<br />
Im Zentrum <strong>de</strong>s Engagements <strong>de</strong>r beobachteten Jugendlichen stand kein<br />
gewerkschaftspolitisches, son<strong>de</strong>rn ein soziales Interesse. Verbän<strong>de</strong> nehmen eine<br />
Rolle als Rahmen ein, <strong>de</strong>r die Bedingungen bereitstellt, sich <strong>de</strong>n eigenen Bedürfnissen<br />
entsprechend zu engagieren. Die im Projekt „StrandGut“engagierten Jugendlichen<br />
sind im Rahmen mehrerer Verbän<strong>de</strong> projektbezogen tätig. Wenn ein<br />
Verband ihren Interessen nicht mehr nachkommen kann, gehen sie zu einem an<strong>de</strong>ren.<br />
Sie nehmen sich aus <strong>de</strong>n jeweiligen Verbän<strong>de</strong>n das was sie brauchen, um<br />
ihre Interessen zu verfolgen und ihre Ziele zu erreichen. Auch die Gewerkschaft<br />
ist für die Jugendlichen als Rahmen, in <strong>de</strong>m sie sich selbst verwirklichen und ausprobieren<br />
können, durchaus attraktiv. Eine klare Zielformulierung – wie beispielsweise<br />
bei <strong>de</strong>r „Jobpara<strong>de</strong>“– hat eine große Engagementbereitschaft <strong>de</strong>r Jugendlichen<br />
zur Folge. Das Engagement in solchen Projekten erfolgt dann auch kontinuierlich.<br />
In diesem Zusammenhang wird auch die sonst als trocken und langweilig<br />
empfun<strong>de</strong>ne Gremienarbeit in Kauf genommen.<br />
Ein grundlegen<strong>de</strong>s Problem scheint jedoch <strong>de</strong>r Zugang zum Wissen zu<br />
sein, welche Möglichkeiten es gibt, sich engagieren zu können. Dem möchten die<br />
in „StrandGut“engagierten Jugendlichen durch die Repräsentation <strong>de</strong>r jeweiligen<br />
Jugendverbän<strong>de</strong> entgegenwirken. An<strong>de</strong>rs als von <strong>de</strong>r DGBJugendreferentin beschrieben<br />
geht es ihnen nicht um die Rekrutierung neuer Mitglie<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn um<br />
die Eröffnung von Möglichkeiten für Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche, die um diese nicht<br />
wissen, um somit eine nachhaltige Wirkung ihrer Arbeit zu erzielen.<br />
Die Wohngebietsarbeit im Rahmen <strong>de</strong>s „Come Ins“stellt dagegen eine Auffangmöglichkeit<br />
für „perspektivlose“Jugendliche dar. Um <strong>de</strong>r Resignation dieser<br />
66 Experteninterview DGBJugendbildungsreferentin am 22.11.2001 in Schwerin
141 <br />
Jugendlichen entgegenzuwirken, müssen auch <strong>hier</strong> Möglichkeiten <strong>de</strong>utlicher aufgezeigt<br />
wer<strong>de</strong>n, „dass man etwas tun kann“, und dass man dabei Spaß empfin<strong>de</strong>n<br />
kann. Während die engagierten Jugendlichen <strong>de</strong>s Projekts Strandgut aktiv<br />
ihre Bedürfnisse ausdrücken und ihre Interessen verfolgen, müssen diese Jugendlichen<br />
aufgesucht und interessiert wer<strong>de</strong>n, damit ein freiwilliges Engagement<br />
als Alternative zum „Rumhängen“überhaupt ins Blickfeld gerät.<br />
4.3 Die Fallstudie Stuttgart 67<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Fallstudie „Stuttgart“wur<strong>de</strong>n zum Schwerpunkt Jugendliche eine<br />
Gruppendiskussion 68 und zwei Experteninterviews durchgeführt.<br />
4.3.1 Das Projekt „Arbeitsweltradio“<br />
Das „Arbeitsweltradio“ist ein Projekt <strong>de</strong>r DGBJugend Stuttgart. Die in diesem<br />
Projekt engagierten Jugendlichen gestalten im Rahmen <strong>de</strong>s FRS eigenverantwortlich<br />
eine 60minütige Sendung mit Beiträgen, Berichten und OTönen aus<br />
<strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Arbeit auf. Berichte über Tarifverhandlungen und aus <strong>de</strong>n Gewerkschaften<br />
sind keine Seltenheit. Das Freie Radio für Stuttgart (FRS) ist ein selbstbestimmtes<br />
und unabhängiges Radioprojekt. Es verfolgt keine eigenwirtschaftlichen<br />
Zwecke, son<strong>de</strong>rn versteht sich als gemeinnützige Einrichtung.<br />
Hauptbeweggrün<strong>de</strong> für das Engagement dieser Jugendlichen sind politische<br />
bzw. gewerkschaftliche Interessen. Sie engagieren sich, um etwas zu verän<strong>de</strong>rn.<br />
Beispielsweise wird auf Demonstrationen auf Probleme in <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
aufmerksam gemacht. Sie engagieren sich mit <strong>de</strong>m Ehrgeiz, für diese Demonstrationen<br />
möglichst viele Jugendliche „zusammenzubekommen“und dann<br />
auch etwas zu bewegen. In einer Gruppe ist dies am ehesten möglich:<br />
„Und ich mach das auch ziemlich, ziemlich <strong>de</strong>swegen, weil ich was verän<strong>de</strong>rn<br />
will, ja und ich sehe äh, ähm, ich, ich als Einzelperson kann nichts verän<strong>de</strong>rn<br />
aber wenn ich dann in eine Gruppe komme, dann kann ich sicher mehr verän<strong>de</strong>rn.<br />
Also gemeinsam sind wir stark, so nach <strong>de</strong>m Motto.“(Am in GD „Arbeitsweltradio“am<br />
15.10.2002 in Stuttgart)<br />
Im Zentrum steht die Gemeinschaft: einerseits als Möglichkeit, Dinge zu<br />
bewegen und an<strong>de</strong>rerseits als Gegenpol zum allgemeinen Egoismus in <strong>de</strong>r Gesellschaft:<br />
„… je<strong>de</strong>r bäckt sein eigenes Brötchen und äh es interessiert nicht, was<br />
mein Nachbar macht. So nach diesem Motto, ja. Und ähm es, es ist, es ist halt<br />
<strong>de</strong>r Egoismus steigt an in Deutschland und das ist halt spürbar“. (Am) Man ist<br />
nicht am Nächsten interessiert, es herrscht eine mangeln<strong>de</strong> Solidarität. Für die<br />
untersuchten Jugendlichen ist <strong>de</strong>r soziale Zusammenhalt gera<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>n Jugendlichen<br />
in West<strong>de</strong>utschland nicht mehr so ausgeprägt, was in ihren Augen im<br />
Osten nicht <strong>de</strong>r Fall ist, da dies durch <strong>de</strong>n Kommunismus geför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>:<br />
„Na ich [.] hmm, was heißt Gremienarbeit? Es ist irgendwie so ne Art Verein o<strong>de</strong>r<br />
irgendwie, was man vielleicht früher sich irgendwie im Jugendhaus getroffen hat<br />
o<strong>de</strong>r so, ist es vielleicht eher irgend so was. Ähm, wir machen auch irgendwie oft<br />
67 Für eine vollständige Übersicht über die Fallstudie Stuttgart vgl. Kap. 36.<br />
68 Methodisch gesehen han<strong>de</strong>lt es sich nicht um eine Gruppendiskussion, da an <strong>de</strong>m Gespräch<br />
lediglich zwei Jugendliche teilnahmen. Daher beschränke ich mich lediglich auf eine inhaltliche<br />
Auswertung <strong>de</strong>s Materials.
142 <br />
Fe Feste o<strong>de</strong>r so, gehen am Weihnachten essen, im Sommer zusammen. Das<br />
es irgendwie auch ne Gemeinschaft ist. Ich glaub irgendwie ist das in letzter Zeit<br />
irgendwie auseinan<strong>de</strong>rgedriftet, gera<strong>de</strong> in West<strong>de</strong>utschland, mit <strong>de</strong>m ganzen<br />
ähm, mit <strong>de</strong>m Zusammen, Zusammenhalt von Jugendlichen. Das ist vielleicht im<br />
Osten noch etwas eher ausgeprägt, weil das grad vom Kommunismus irgendwie<br />
geför<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n ist. Aber ist jetzt egal. Auf je<strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>nk ich halt irgendwie,<br />
man ist sich irgendwie näher, von Gleichgesinnten, mehreren Leuten und kann<br />
irgendwelche Themen besprechen, wo mich interessieren und wo man dann irgendwie<br />
verwirklichen kann, ja.“ (Bm)<br />
Durch ihr politisches bzw. gewerkschaftliches Interesse profilieren sich gegenüber<br />
Jugendlichen, die an<strong>de</strong>re Interessen haben und sich <strong>de</strong>mentsprechend<br />
auch in diesen Bereichen engagieren. Eine starke Abgrenzung erfolgt allerdings<br />
zu <strong>de</strong>n „an<strong>de</strong>ren“, nichtengagierten Jugendlichen. Die von ihnen so genannte<br />
„Fungeneration“zeichne sich durch Desinteresse („… ich leb halt so in <strong>de</strong>n Tag<br />
hinein, nach mir die Sintflut… “ (Bm) und Desillusioniertheit („… man kann eh<br />
nichts verän<strong>de</strong>rn, es bleibt eh alles so… “(Bm) aus. Ihnen fehlt <strong>de</strong>r Gruppensinn,<br />
sie sind eher allein zuhause vor <strong>de</strong>m Fernseher o<strong>de</strong>r Computer und kümmern<br />
sich nicht mehr darum „was so abgeht in <strong>de</strong>r Welt“(Bm). Als Gegenposition zu<br />
<strong>de</strong>n gegenwärtigen „Wohlstandskin<strong>de</strong>rn“beziehen sich die Jugendlichen auf die<br />
68er, welche sie als politisch aktive Jugend beschreiben, die etwas bewegt hat. In<br />
ähnlicher Weise wollen die Befragten – im Gegensatz zum Desinteresse <strong>de</strong>r „an<strong>de</strong>ren“<br />
Jugendlichen – etwas an<strong>de</strong>res machen und die Möglichkeit erfahren,<br />
selbst wirksam sein zu können. Auf Demonstrationen trafen sie auf „coole Leute“,<br />
die gleiche Interessen verfolgen. Sie folgten diesem Beispiel und sind auf diesem<br />
Weg in das gewerkschaftliche Engagement „hineingeschlittert“.<br />
Gewerkschaft als politische Heimat<br />
Die Gewerkschaft nimmt in diesem Fall die Rolle einer politischen Heimat<br />
ein. Ba<strong>de</strong>nWürttemberg ist ein „schwarzes Land“(Am) und in <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
tritt man auf politisch Gleichgesinnte. Die Jugendlichen beschreiben sich selbst<br />
als „eher links eingestellt“(Bm). Als eventuelles Motiv, sich gera<strong>de</strong> innerhalb <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft politisch zu engagieren wird die Herkunft aus <strong>de</strong>m Arbeitermilieu<br />
genannt: „Vielleicht weil ich auch noch Proletarier bin und ... mich ein bisschen<br />
für die Rechte <strong>de</strong>r Arbeitnehmer einsetzen will. Das kann natürlich auch sein.“<br />
(Bm). Allerdings stellt dies kein „richtiges“Motiv dar – im Gegensatz zum Typus<br />
<strong>de</strong>s „geborenen Gewerkschafters“alter Schule, für <strong>de</strong>n die Mitgliedschaft in <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft selbstverständlich zum Milieuzusammenhang gehörte, führt <strong>hier</strong><br />
kein direkter Weg von <strong>de</strong>r sozialen Herkunft in die Organisation. Die Gewerkschaft<br />
ist eine Option neben an<strong>de</strong>ren, und die Entscheidung für die Mitwirkung in<br />
ihr unterliegt <strong>de</strong>n Kontingenzen <strong>de</strong>r alltäglichen Lebensrealität. Wäre <strong>de</strong>r interviewte<br />
Jugendliche auf jemand an<strong>de</strong>ren getroffen, hätte er sich möglicherweise<br />
für eine an<strong>de</strong>re Organisation entschie<strong>de</strong>n.<br />
Gegenüber Parteipolitikern haben die Jugendlichen ein großes Misstrauen,<br />
und auch ein Grundvertrauen in die Politik ist nicht vorhan<strong>de</strong>n. Die Gewerkschaft<br />
muss sich ihres Erachtens von Politikern abgrenzen:<br />
„Ähm, für mich wären die Grün<strong>de</strong>, wenn ich merk, dass irgendwie die Gewerkschaft<br />
ähm ein korrupter La<strong>de</strong>n ist, wie die Politiker. Das kann man natürlich<br />
nicht alles verallgemeinern aber ähm es sind im Großen und Ganzen viele Politi
143 <br />
ker gleich. Und wenn ich das irgendwie merk, dass dieser ähm Touch von <strong>de</strong>r<br />
Politik auch ziemlich stark auf die äh Gewerkschaft äh übergreift, was wahrscheinlich<br />
jetzt auch schon in gewissem Sinne so ist, man kann nicht alles um,<br />
umsetzen, was man sich wünscht als Gewerkschaftler, weil ja immer noch äh<br />
Deutschland ne Wirtschafts, äh ein Wirtschaftsland ist, und wenn ich irgendwie<br />
merk, dass wie gesagt das ein korrupter Haufen ist und eigentlich die nur eigene<br />
Interessen irgendwie nachgehen, gera<strong>de</strong> die Hauptamtlichen, und nicht irgendwie<br />
auf dieses kleine Volk auch schauen, dann muss ich sagen, dass ich<br />
dann eher zu ´ner kleineren Organisation gehen würd,… “(Bm)<br />
Hier kommt ein politisches Motiv zur Sprache, das dafür verantwortlich ist,<br />
die Gewerkschaft als Ort <strong>de</strong>s Engagements zu wählen. Dieses Motiv wird mit moralischen<br />
Maßstäben bewertet, welche sich aus <strong>de</strong>r Abgrenzung zur „großen Politik“ergeben.<br />
Wenn die Gewerkschaft <strong>de</strong>n Rahmen als politische Heimat in diesem<br />
Sinne nicht mehr bieten kann, stellt dies eine Legitimation zur Beendigung<br />
<strong>de</strong>s Engagements und auch <strong>de</strong>s Austritts dar – bzw. <strong>de</strong>s Wechsels zu einer „kleineren<br />
Organisation“, die direktere Mitwirkungs und Kontrollmöglichkeiten bietet.<br />
Gewerkschaft als Karrieremöglichkeit<br />
Die Gewerkschaft wird nicht nur politische Heimat o<strong>de</strong>r Milieu thematisch,<br />
sie stellt auch eine Institution (und nicht nur einen Interessenverband) dar, um<br />
Karriere machen zu können. Die Jugendlichen sind interessiert, hauptamtlich in<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaft tätig zu wer<strong>de</strong>n und sehen ihre ehrenamtliche Tätigkeit als<br />
Sprungbrett:<br />
„Ähm, ok, ich muss jetzt ehrlich sagen, ich kuck vielleicht, ich schiel vielleicht<br />
auch mit einem Auge ein bissel auf was ähm hauptamtliches, wo man dann<br />
vielleicht auch Bez ne Bezahlung bekommt. Weil es würd mir auch Spaß machen,<br />
mehr auf je<strong>de</strong>n Fall wie irgendwie am Band zu stehen und das Geld zu verdienen.<br />
Da krieg ich vielleicht weniger, wenn ich für irgend ne Gewerkschaft arbeite<br />
aber es gibt mir auf je<strong>de</strong>n Fall mehr, weil ich <strong>de</strong>nke, ich hab was bewegt, wie<br />
jetzt nur <strong>de</strong>n rechten Hinterreifen montiert.“(Bm)<br />
Die hauptamtliche Tätigkeit ist eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und Mitgestaltung.<br />
Zu<strong>de</strong>m wird dies auch als Aufstieg in einer Hierarchie „unbezahlt <br />
bezahlt“gesehen. Durch die Rolle <strong>de</strong>r Gewerkschaft als Karriereinstitution besteht<br />
nunmehr auch keine Bindungspflicht mehr:<br />
„… also ich bin kein eingefleischter Gewerkschaftler. Wenn ich seh, dass<br />
<strong>de</strong>s nicht bringt bin ich auch wahrscheinlich wie<strong>de</strong>r schnell weg, ja.“(Bm) Wenn<br />
Aufstiegsmöglichkeiten nicht mehr gegeben sind, tritt man aus <strong>de</strong>r Gewerkschaft<br />
aus und versucht es dann in an<strong>de</strong>ren Organisationen.<br />
4.3.2 Experteninterviews Fallstudie „Stuttgart“ Engagement aus Sicht <strong>de</strong>r Expert/inn/en<br />
Ehrenamtliches Engagement liegt für <strong>de</strong>n DGBJugendreferenten dann vor,<br />
wenn sich Menschen in einer irgendwie gearteten Gemeinschaft selber freiwillig,<br />
unentgeltlich o<strong>de</strong>r für eine Aufwandsentschädigung ein gemeinsames Ziel verfolgen<br />
und das auch gemeinsam umsetzen sei es, dass sie Jugendfreizeiten gestalten<br />
o<strong>de</strong>r politische Aktionen vorbereiten.
144 <br />
Jugendliche für verbandliche Belange dauerhaft zu gewinnen, stellt dagegen eine<br />
Schwierigkeit dar. Viele Jugendlich möchten zeitlich begrenzt an einer konkret<br />
abgesteckten Sache arbeiten. In <strong>de</strong>r DGBJugendarbeit versucht man <strong>de</strong>shalb,<br />
Jugendliche durch projektbezogene Arbeit zu gewinnen. Dieses projektbezogene<br />
Engagement <strong>de</strong>finiert <strong>de</strong>r DGBJugendreferent als neue Form <strong>de</strong>s Engagements.<br />
Eine weitere Neuheit ist für ihn <strong>de</strong>r Anspruch auf Professionalität seitens <strong>de</strong>rjenigen,<br />
die sich engagieren wollen. Die Ehrenamtlichen messen ihre Arbeit immer<br />
häufiger an <strong>de</strong>m was Profis machen, die in vergleichbaren Bereichen tätig sind.<br />
Die Motive sich zu engagieren, liegen in seinen Augen bei <strong>de</strong>n Jugendlichen<br />
im Bedürfnis, in einer Gemeinschaft etwas zu tun, das über reinen Konsum<br />
hinausgeht. Zusätzlich müsse auch die Möglichkeit geboten wer<strong>de</strong>n, selbst etwas<br />
gestalten zu können, eigene Ziele entwickeln und diese auch umsetzen zu können.<br />
Die Beson<strong>de</strong>rheit am ehrenamtlichen Engagement Jugendlicher sei es, dass<br />
die Jugendlichen sehr große Freiheiten hätten und letzten En<strong>de</strong>s in jungen Jahren<br />
bereits Dinge machen und ausprobieren könne, zu <strong>de</strong>nen man „im normalen Leben“wahrscheinlich<br />
noch mal weitere 30 Jahre bräuchte.<br />
Seine Aufgabe als Hauptamtlicher sieht er darin, dass er Ehrenamtlichen<br />
hilft, ihre selbst bestimmten und entwickelten Aktivitäten umzusetzen. Den Ehrenamtlichen<br />
einseitig Aktivitäten vorzuschlagen o<strong>de</strong>r gar stellvertretend auszuführen<br />
und zu kontrollieren, könne nur ein „Notfallplan“sein. Die größte Anerkennung <strong>de</strong>r<br />
Engagierten bestün<strong>de</strong> für ihn darin, das Ehrenamt auch seitens <strong>de</strong>r Organisation<br />
ernst zu nehmen. Vor allen Dingen sollte nicht versucht wer<strong>de</strong>n Ehrenamt zu instrumentalisieren.<br />
Als Beispiel <strong>hier</strong>für führt er die aktuelle Lan<strong>de</strong>spolitik an: in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg<br />
sollen flächen<strong>de</strong>ckend Ganztagsschulen eingerichtet wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Lan<strong>de</strong>sregierung versucht nun, Kooperationen mit Jugendverbän<strong>de</strong>n einzugehen,<br />
die dann verlässlich große Teile <strong>de</strong>s Nachmittagsangebotes in <strong>de</strong>r Ganztagsschule<br />
übernehmen sollen. Er meint, dass dies eine Überfor<strong>de</strong>rung und letzten<br />
En<strong>de</strong>s sogar ein Missbrauch <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen sei. Diese Instrumentalisierung<br />
von Ehrenamt wi<strong>de</strong>rspricht seinem eigenen Ehrenamtsverständnis. Für ihn<br />
ist es wichtig, die Unabhängigkeit zu haben, mit einer Gruppe Ziele selbst<br />
bestimmen und diese auch selbst umsetzen zu können. 69<br />
ver.diJugend Stuttgart<br />
„Jugendarbeit versteht sich als Interessenvertretung, die gemeinsam mit<br />
Jugendlichen und jungen Erwachsenen in allen gesellschaftlichen Bereichen soziale,<br />
politische und berufliche Perspektiven eröffnet und Angebote für <strong>de</strong>ren Umsetzung<br />
macht. Durch ein vielfältiges Angebot soll <strong>de</strong>r Entwicklungsprozess von<br />
jungen Menschen unterstützt wer<strong>de</strong>n. Um dabei <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Interessen <strong>de</strong>r<br />
jugendlichen Mitglie<strong>de</strong>r gerecht wer<strong>de</strong>n zu können, müssen diese die Möglichkeit<br />
zur Willensbildung in eigenen Gremien haben. Die Gremien <strong>de</strong>r jugendlichen Mitglie<strong>de</strong>r<br />
müssen ihre Auffassung in die Organe <strong>de</strong>r ver.di einbringen können, und<br />
die Organe <strong>de</strong>r ver.di müssen <strong>de</strong>n Gremien <strong>de</strong>r jugendlichen Mitglie<strong>de</strong>r für die<br />
Durchführung ihrer Aufgaben die erfor<strong>de</strong>rliche Unterstützung gewähren. Dadurch<br />
folgt die Notwendigkeit zu enger Zusammenarbeit zwischen <strong>de</strong>n Gremien <strong>de</strong>r ju<br />
69 Experteninterview DGBJugendbildungsreferent Stuttgart 15.10.02
145 <br />
gendlichen Mitglie<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>n Organen sowie <strong>de</strong>n Funktionsträger/innen <strong>de</strong>r<br />
ver.di.“ 70<br />
In Stuttgart arbeiten die ehrenamtlichen Jugendlichen bei ver.di in festen<br />
Gremien mit. Es gibt einen Bezirksjugendvorstand. In diesem Gremium wer<strong>de</strong>n<br />
z.B. Entscheidungen getroffen, mit wem die Jugendlichen zusammenarbeiten wollen.<br />
Diese Zusammenarbeit mit an<strong>de</strong>ren Organisationen ist noch in <strong>de</strong>r Aufbauphase.<br />
Aus <strong>de</strong>m Gremium heraus wer<strong>de</strong>n Arbeitsgruppen gebil<strong>de</strong>t, die sich mit<br />
verschie<strong>de</strong>nen Themenbereichen befassen. Nicht je<strong>de</strong>r Jugendliche interessiert<br />
sich für alles, und <strong>de</strong>shalb soll ihnen die Möglichkeit gegeben wer<strong>de</strong>n, sich entsprechend<br />
ihrer Neigungen und Interessen zu engagieren. Hierbei fühlt sich die<br />
Jugendsekretärin sieht sich als „ausführen<strong>de</strong> Hand“ 71 . Nicht sie macht Vorschläge,<br />
„son<strong>de</strong>rn die Jugendlichen sagen was sie wollen und sie versuchen es durchzuführen“.<br />
Wenn die Jugendlichen die Möglichkeit haben „selbst entschei<strong>de</strong>n zu<br />
können, was sie machen wollen, bleiben sie auch länger dabei“.<br />
Aufgrund <strong>de</strong>s Zusammenschlusses <strong>de</strong>r Einzelgewerkschaften zu ver.di gibt<br />
es nicht nur einen „Typ Jugendlicher“<strong>de</strong>r sich engagiert. „Mittlerweile ist es kunterbunt.<br />
Es gibt <strong>de</strong>n Jugendlichen, <strong>de</strong>r nur politisch interessiert ist, das „typische<br />
Mä<strong>de</strong>l“, diejenigen, die sich nur für Bildungsarbeit interessieren“. Die Jugendlichen<br />
sind alle „total verschie<strong>de</strong>n, das macht aber <strong>de</strong>n Bezirksjugendvorstand interessant.<br />
Wenn man genügend unterschiedliche Menschen hat die zusammen arbeiten,<br />
kann man nur erfolgreich sein. Wenn alle gleich sind, geht man immer nur<br />
in eine Richtung“. Nach Meinung <strong>de</strong>r Jugendsekretärin spricht man so „mehr Leute“an.<br />
Auch bei ver.di soll die Ehrenamtlichkeit programmatisch geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />
Hierzu gehört auch die Weiterbildung <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen. Die Jugendlichen haben<br />
die Möglichkeit, an Seminaren teilzunehmen. Wenn Potentiale bei <strong>de</strong>n Jugendlichen<br />
erkannt wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n diese dann auf weiterführen<strong>de</strong>n Veranstaltungen<br />
geför<strong>de</strong>rt. Sie selbst hat es auch so erlebt, als sie selbst noch ehrenamtliche<br />
Mitarbeiterin war. Diese Seminare hat sie als wichtig für ihre persönliche Entwicklung<br />
empfun<strong>de</strong>n.<br />
Um die Arbeit <strong>de</strong>r Jugendlichen anzuerkennen, wer<strong>de</strong>n nach Abschluss eines<br />
Projektes beispielsweise kleinere Partys veranstaltet. Es ist auch wichtig „so<br />
<strong>de</strong>n Kontakt zu pflegen“, zu zeigen, dass man „nicht nur an ihrer Arbeitskraft“interessiert<br />
ist, son<strong>de</strong>rn auch „so an <strong>de</strong>m Menschen“. So kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl<br />
und auch eine Art Freundschaft entstehen.<br />
Den Ehrenamtlichen soll eine reale Verantwortlichkeit eingeräumt und somit<br />
die eigene Kompetenz <strong>de</strong>utlich gemacht wer<strong>de</strong>n. Sie sollen Dinge selbst gestalten<br />
können, „<strong>de</strong>nn wenn sie etwas machen und das auch gelingt, so ist dieses<br />
Erfolgserlebnis Motivation mehr zu machen“. Man muss ihnen aber auch <strong>de</strong>shalb<br />
Verantwortung überlassen, weil sie dann das Gefühl vermittelt bekommen, gebraucht<br />
zu wer<strong>de</strong>n und dadurch das Zugehörigkeitsgefühl zur Gewerkschaft dauerhaft<br />
gestärkt wird. Für die Zusammenarbeit zwischen Ehrenamtlichen und<br />
Hauptamtlichen sieht die Interviewte gar die Notwendigkeit einer Kompetenzumkehr.<br />
Die Hauptamtlichen sind gegenüber <strong>de</strong>n Ehrenamtlichen „dazu da, das auszuführen,<br />
was ihnen gesagt wird, sie zu unterstützen und Hilfe anzubieten“. Die<br />
70 vgl. Richtlinien zur Jugendpolitik. Aus Richtlinienband ver.di. S. 25<br />
71 Experteninterview ver.diJugendsekretärin, Stuttgart 18.10.02
146 <br />
Hauptverantwortung liegt sicherlich bei <strong>de</strong>n Hauptamtlichen, „<strong>de</strong>nnoch entschei<strong>de</strong>n<br />
die Ehrenamtlichen selbst, was sie tun wollen und tragen auch die Verantwortung<br />
dafür“.<br />
4.3.3 Zusammenfassung Fallstudie Stuttgart<br />
Die Gewerkschaft wird von diesen Jugendlichen als politische Heimat gesehen,<br />
in <strong>de</strong>r man eigene politische Interessen mit Hilfe <strong>de</strong>r Gemeinschaft vertreten<br />
kann. Sie gibt einen gewissen Halt und ermöglicht ein Gefühl von Gemeinschaft.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Gruppe hat man die Möglichkeit, die eigene Wirksamkeit zu<br />
erfahren. Der Zugang zur Gewerkschaft und die Mitgliedschaft in ihr ist keine<br />
Selbstverständlichkeit. Die Gewerkschaft steht in Konkurrenz mit an<strong>de</strong>ren Möglichkeiten<br />
<strong>de</strong>s Engagements, zu <strong>de</strong>nen dann übergewechselt wird, wenn die politische<br />
Programmatik in Wi<strong>de</strong>rspruch zur praktischen Arbeit und zu <strong>de</strong>n moralischen<br />
Wertmaßstäbe geraten. Hierbei wird die Kooperation mit an<strong>de</strong>ren Organisationen<br />
(wie bspw. Umweltschutz und Menschenrechtsorganisationen) befürwortet,<br />
jedoch sollte die Gewerkschaft ihre politischen Ziele nicht aus <strong>de</strong>n Augen<br />
verlieren. Zentrales Motiv für ein Engagement sind individuelle Interessen: in diesem<br />
Falle han<strong>de</strong>lt es sich um ein starkes politisches, welches im Rahmen Gewerkschaft<br />
erfüllt wer<strong>de</strong>n kann. Ein weiterer Beweggrund ist die Wahrnehmung<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaft als Organisation, die selbst Karriereaussichten bietet.<br />
In <strong>de</strong>n Aussagen <strong>de</strong>r Experten wird <strong>de</strong>utlich, dass von Seiten <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen<br />
Jugendverantwortlichen das Interesse <strong>de</strong>r Jugendlichen in <strong>de</strong>n Mittelpunkt<br />
gestellt wird. Ihnen wer<strong>de</strong>n im Rahmen Gewerkschaft Möglichkeiten geboten,<br />
über die Alltagssituation hinaus ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend<br />
I<strong>de</strong>en zu entwickeln und diese auch umzusetzen.<br />
Nach Aussage <strong>de</strong>r Experten hat die Qualifikation und För<strong>de</strong>rung von Ehrenamtlichen<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaften hohe Be<strong>de</strong>utung. Einerseits besteht<br />
<strong>de</strong>r Anspruch bei <strong>de</strong>n Engagierten selbst, professioneller han<strong>de</strong>ln zu können, und<br />
an<strong>de</strong>rerseits wird auch von <strong>de</strong>n Ehrenamtlichen mehr Professionalität in ihrem<br />
Han<strong>de</strong>ln verlangt. Für die untersuchten Projekte kann diese Aussage bestätigt<br />
wer<strong>de</strong>n. Ob <strong>de</strong>r Anspruch sich aber nicht doch im wesentlichen auf betriebliche<br />
Funktionen beschränkt, kann zumin<strong>de</strong>st vermutet wer<strong>de</strong>n. Die Qualifikation von<br />
Ehrenamtlichen spielt in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg generell eine große Rolle. Im Jugendbereich<br />
wer<strong>de</strong>n SchülerMentorenprogramme angeboten. Ziel dieser Programme<br />
ist es, <strong>de</strong>n Zugang zum ehrenamtlichen Engagement in <strong>de</strong>r Jugendarbeit<br />
<strong>de</strong>r Vereine und Verbän<strong>de</strong> zu ermöglichen und zu begleiten sowie wichtige<br />
Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit, Führungsverantwortung, Kommunikationsfähigkeit,<br />
Selbstständigkeit und Toleranz zu vermitteln. 72<br />
4.3.4 Vergleich <strong>de</strong>r Fallstudien Küste und Stuttgart<br />
Im Vergleich <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Fallstudien wird <strong>de</strong>utlich, dass die Motive für das<br />
Engagement <strong>de</strong>r Jugendlichen ähnlich sind. Individuelle Motive sind ausschlaggebend<br />
für ein Engagement. Der Verband dient als Rahmen, sich selbst zu ver<br />
72 Vgl. Experteninterview Geschäftsführer Lan<strong>de</strong>sbüro Ehrenamt (Kultusministerium) in Stuttgart<br />
am 18.10.2002 und Nie<strong>de</strong>rschrift über die Sitzung <strong>de</strong>s Ministerrats am 23.06.2002 zum Thema<br />
„Ehrenamt und Bürgerschaftliches Engagement – Schwerpunktaufgabe <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>spolitik“
147 <br />
wirklichen und gemeinsam mit Gleichgesinnten eigene Interessen zu vertreten. Im<br />
Projekt „StrandGut“steht dabei das soziale Engagement im Vor<strong>de</strong>rgrund, während<br />
beim „Arbeitsweltradio“die gewerkschaftliche Interessenpolitik ausschlaggebend<br />
ist.<br />
Auffällig sind auch die unterschiedlichen Einschätzungen seitens <strong>de</strong>r Experten<br />
in Bezug auf die Projekte. Trotz ähnlicher Auffassungen bezüglich <strong>de</strong>r Definition<br />
neuerer Formen ehrenamtlichen Engagements verwies die DGB<br />
Jugendreferentin (Küste) auf das Projekt „StrandGut“, welches klar in <strong>de</strong>n Bereich<br />
<strong>de</strong>s „Neuen Ehrenamtes“einzuglie<strong>de</strong>rn ist und <strong>de</strong>r DGBJugendreferent (Stuttgart)<br />
auf das „Arbeitsweltradio“, welches doch eher im Bereich <strong>de</strong>s klassischen<br />
gewerkschaftlichen Engagements im Jugendbereich anzusie<strong>de</strong>ln ist – zumin<strong>de</strong>st<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>r inhaltlichen Ausrichtung, weniger in bezug auf die Organisationsform.<br />
Wichtig ist die Schaffung von Zugangsmöglichkeiten für Jugendliche: einerseits<br />
kann dies im Rahmen von Wohngebietsarbeit, wie sie beim „Come In“<br />
vorhan<strong>de</strong>n sind geschehen, an<strong>de</strong>rerseits durch ist Öffnung <strong>de</strong>r Gewerkschaft für<br />
Projekte, in <strong>de</strong>nen sich auch nicht gewerkschaftlich engagierte Jugendliche beteiligen<br />
können. Die untersuchten Projekte sind nie<strong>de</strong>rschwellig, in erreichbarer Nähe<br />
<strong>de</strong>s Lebensraums <strong>de</strong>r Jugendlichen und offen für alle Interessierten, also nicht<br />
nur für Mitglie<strong>de</strong>r. Neben <strong>de</strong>n Daueraufgaben, die von Hauptamtlichen o<strong>de</strong>r eigens<br />
eingestellten Beschäftigten – in <strong>de</strong>r Fallstudie Küste vom zweiten Arbeitsmarkt<br />
– betreut wer<strong>de</strong>n, sind die Aktivitäten auf i<strong>de</strong>ntifizierbare Projekte ausgerichtet,<br />
für die sich die Jugendlichen auch punktuell engagieren können.<br />
Ehrenamt wird von <strong>de</strong>n Jugendlichen nicht als eine (milieubedingt) auferlegte<br />
Pflicht angesehen, son<strong>de</strong>rn verstärkt als Anlass für Selbstverwirklichungsund<br />
Selbstentfaltungsinteressen betrachtet. Die Fallstudien zeigen, dass auch die<br />
Gewerkschaften in <strong>de</strong>r Lage sein können, Strukturen und Angebote zu schaffen,<br />
in <strong>de</strong>nen Jugendliche die Möglichkeit haben, nach ihren eigenen Bedürfnissen<br />
Gestaltungsräume zu fin<strong>de</strong>n. Projektarbeit steht im Vor<strong>de</strong>rgrund <strong>de</strong>s Interesses,<br />
da in einer relativ kurzen Zeit Ergebnisse ihres Engagements zu sehen sind. Ausgehend<br />
von <strong>de</strong>r Projektarbeit kann dann sogar die reguläre Beteiligung an Gremien<br />
für die engagierten Jugendlichen attraktiv sein, sofern sie ihre Anliegen dort<br />
in einem nachvollziehbaren Rahmen vertreten sehen und zur Sprache bringen<br />
können.<br />
„Man muss <strong>de</strong>n Ehrenamtlern mehr Kompetenz geben und auch ein gewisses<br />
Budget auf das sie zurückgreifen können. Dies be<strong>de</strong>utet aber gleichzeitig,<br />
dass man mehr Vielfalt zulassen muss und auch dass die Ehrenamtlichen mehr<br />
geschult wer<strong>de</strong>n müssen“. 73 Diese Bedingungen für die aktive Teilnahme <strong>de</strong>r Jugendlichen<br />
können dann auch zu einer höheren I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>r Organisation<br />
führen.<br />
Das Gemeinschaftsgefühl spielt für die Jugendlichen eine tragen<strong>de</strong> Rolle.<br />
Mit Gleichgesinnten zusammenzukommen und mit ihnen auf ein bestimmtes politisches<br />
bzw. soziales Ziel hin zu arbeiten, wird als ausschlaggebend erachtet. Erst<br />
in einer Gruppe ist es möglich, ihre I<strong>de</strong>en umzusetzen und ein bestimmtes Ziel zu<br />
erreichen, da man als diese in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Insofern<br />
kann die Gewerkschaft kann auch als politische Heimat be<strong>de</strong>utsam sein. Aller<br />
73 Experteninterview DGBKreisvorsitzen<strong>de</strong>r Stuttgart 17.10.2002
148 <br />
dings muss zunächst <strong>de</strong>r Zugang geschaffen wer<strong>de</strong>n. Hierzu müssen die politischen<br />
Ziele klar formuliert wer<strong>de</strong>n. Eine Abgrenzung zur Politik von Parteien ist<br />
zwingend notwendig. Die Zusammenarbeit mit an<strong>de</strong>ren Organisationen und Verbän<strong>de</strong>n,<br />
insbeson<strong>de</strong>re mit Umweltschutz und Menschenrechtsorganisationen,<br />
wird von <strong>de</strong>n Jugendlichen als positiv wahrgenommen und von ihnen auch gefor<strong>de</strong>rt,<br />
wobei das spezifisch Gewerkschaftliche – als Interessenpolitik – auch in diesen<br />
Kooperationen gewahrt wer<strong>de</strong>n muss.<br />
Einen wichtigen Aspekt stellt für die Jugendlichen die Anerkennung ihres<br />
Engagements dar. Es geht ihnen <strong>hier</strong>bei nicht um eine materielle Anerkennung,<br />
son<strong>de</strong>rn um die Akzeptanz ihres Engagements seitens <strong>de</strong>r Organisation un letztlich<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft als ganzer. Die Anerkennung beginnt mit Aktivitäten wie <strong>de</strong>n<br />
„kleinen Partys“bei ver.di Stuttgart, muss sich aber auch <strong>de</strong>r materiellen und professionellen<br />
Unterstützung durch Hauptamtliche sowie Mitwirkungsrechten in <strong>de</strong>n<br />
Organisationsgremien nie<strong>de</strong>rschlagen.<br />
Die befragten Experten heben die produktive Rolle <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements nicht nur für die jeweilige Organisation, son<strong>de</strong>rn auch für die Jugendlichen<br />
selbst hervor. Jugendliche sind offen und bereit, sich zu engagieren,<br />
haben aber vielfach keine Kenntnisse von <strong>de</strong>n Möglichkeiten. Entsprechen<strong>de</strong> organisierte<br />
Angebote sind in <strong>de</strong>r Regel nicht Teil <strong>de</strong>s im jeweiligen Milieu selbstverständlich<br />
verfügbaren lebensweltlichen Wissens. Sie stehen in Konkurrenz zu<br />
einem überkomplexen Angebot, das kommerzielle Freizeitangebote umfasst, aber<br />
auch das kollektive „Rumhängen“in <strong>de</strong>r Gruppe bis zur privatistischen Beschäftigung<br />
am und mit <strong>de</strong>m Computer. Die Entscheidung für ein Engagement ist also<br />
eine kontingente biographische Option, für die Zugänge geschaffen wer<strong>de</strong>n müssen.<br />
Das erwähnte Mentorenprogramm, das sich in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg an Schülerinnen<br />
und Schüler wen<strong>de</strong>t ist in dieser Hinsicht ein erfolgversprechen<strong>de</strong>r Ansatz,<br />
<strong>de</strong>ssen Resultate jedoch noch nicht feststellbar sind. Kampagnen wie die<br />
„Jobpara<strong>de</strong>“in Schwerin o<strong>de</strong>r „StrandGut“sind eine an<strong>de</strong>re Herangehensweise.<br />
Sie nutzen eher <strong>de</strong>n Mechanismus, <strong>de</strong>n man aus <strong>de</strong>r Verbreitung von Informationen<br />
(„twostepflow of communication) o<strong>de</strong>r technischen Innovationen kennt: Es<br />
kommt nicht auf die breite Streuung von Informationen an, son<strong>de</strong>rn auf die I<strong>de</strong>ntifizierung<br />
von Personen, die als Meinungsführer akzeptiert sind und Vertrauen genießen.<br />
Es geht darum, diese Personen zur Teilnahme zu bewegen, <strong>de</strong>nn sie dienen<br />
– durch ihre Vorbildfunktion – als Multiplikatoren, welche das Wissen um die<br />
„neuen“Möglichkeiten verbreitern und die Bereitschaft zur Beteiligung för<strong>de</strong>rn.
149 <br />
5. Bindungspotentiale <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements – Fallstudien<br />
zur gewerkschaftlichen Seniorenarbeit und einem Jugendprojekt<br />
Kirstin Bromberg<br />
5.1 Einleitung<br />
Im folgen<strong>de</strong>n Kapitel wer<strong>de</strong>n Ergebnisse zur ehrenamtlichen Seniorenarbeit<br />
vorgestellt, die weit über diesen Fokus hinausgehen, in<strong>de</strong>m ein Mo<strong>de</strong>ll zu<br />
Bindungspotentialen ehrenamtlichen Engagements empirisch generiert wird. Damit<br />
sind die Gestaltungsmöglichkeiten und strukturellen Merkmale <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements gemeint, welche eine Bindung <strong>de</strong>r Individuen an Vereinigungen<br />
– von Gewerkschaften bis zu lokalen Initiativen – begünstigen und weiteres<br />
Engagement anregen. Die im folgen<strong>de</strong>n präsentierten Ergebnisse basieren auf<br />
<strong>de</strong>r qualitativen Analyse unterschiedlicher Formen ehrenamtlichen Engagements<br />
in gewerkschaftlichen und außergewerkschaftlichen Kontexten, welche im Rahmen<br />
von Fallstudien untersucht wur<strong>de</strong>n. Ergänzend zu <strong>de</strong>n <strong>hier</strong> dargestellten Ergebnissen<br />
sind noch die Ergebnisse <strong>de</strong>r Fallstudie „Küste“heranzuziehen, in welcher<br />
– im Zusammenhang <strong>de</strong>r Erwerbslosen und Wohngebietsarbeit – ebenfalls<br />
das ehrenamtliche Engagement von Senioren untersucht wur<strong>de</strong>.<br />
Die in diesem Teilbereich <strong>de</strong>s Forschungsprojektes erarbeiteten Ergebnisse<br />
rekurrieren einerseits auf <strong>de</strong>n Schwerpunkt Seniorenarbeit, eröffnen darüber<br />
hinaus aber die Möglichkeit, in einem theoretisch abstra<strong>hier</strong>en<strong>de</strong> Mo<strong>de</strong>ll weitere<br />
Beispiele ehrenamtlichen Engagements anhand <strong>de</strong>r analysierten Dimensionen<br />
einzuordnen. Aus <strong>de</strong>n in die Auswertung eingeflossenen empirischen Daten konnten<br />
außer<strong>de</strong>m aufschlussreiche Hinweise im Hinblick auf EngagementBarrieren,<br />
welche einerseits in <strong>de</strong>n Strukturen und Inhalten <strong>de</strong>r Institutionen und an<strong>de</strong>rerseits<br />
in <strong>de</strong>n han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Subjekten zu verorten sind, gewonnen wer<strong>de</strong>n. Diese<br />
Barrieren liegen <strong>de</strong>mnach in drei Bereichen begrün<strong>de</strong>t: im wechselseitigen Verhältnis<br />
von Haupt und Ehrenamtlichen, in <strong>de</strong>r Ressourcenausstattung <strong>de</strong>r örtlichen<br />
ehrenamtlichen Strukturen und <strong>de</strong>n individuellen Belastungsgrenzen sowohl<br />
beim hauptamtlichen als auch beim ehrenamtlichen Personal. Hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />
individuellen Dimension kristallisierten sich neben einem hohen I<strong>de</strong>alismus <strong>de</strong>r<br />
ehrenamtlichen Akteure zwei weitere Bedingungen für das ehrenamtliche Engagement<br />
heraus: die Vereinbarkeit mit <strong>de</strong>m Familienleben und die Verfügung über<br />
ein subjektiv ausreichen<strong>de</strong>s Einkommen.<br />
Senioren sind im übrigen ein gutes Beispiel für das Konzept <strong>de</strong>r „biographischen<br />
Passung“<strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements, <strong>de</strong>nn „wichtiger als die Zugehörigkeit<br />
zu einem sozialen Milieu ist die Koppelung <strong>de</strong>r freiwilligen Tätigkeit an<br />
eigene, biographisch konstituierte Erfahrungen und Fähigkeiten“(Heinze / Olk<br />
1999: 77). Im Unterschied zu Erwerbslosen ist ihr Engagement nicht auf die Wie<strong>de</strong>reinglie<strong>de</strong>rung<br />
in <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt gerichtet (vgl. <strong>hier</strong>zu Kap. 3), und im Unterschied<br />
zu Jugendlichen nicht auf Selbstfindung (vgl. Kap. 4). Sie haben in <strong>de</strong>r<br />
Regel die Familienphase abgeschlossen und müssen <strong>de</strong>n Ruhestand als biographisches<br />
Projekt gestalten. Dabei können Sie auf Organisations und Lebenserfahrung<br />
zurückgreifen, die sie auch für Organisationen interessant wer<strong>de</strong>n lässt.<br />
Die Ergebnisse <strong>de</strong>r schriftlichen Befragung sind <strong>hier</strong>für ein guter Beleg: Der über
150 <br />
wiegen<strong>de</strong> Teil neuer ehrenamtlicher Tätigkeitsbereiche wird von <strong>de</strong>n Befragten im<br />
Seniorenbereich angesie<strong>de</strong>lt (vgl. Kap. 2).<br />
Die im vorliegen<strong>de</strong>n Kontext verwandte Forschungsstrategie orientiert sich<br />
an <strong>de</strong>r von Barney Glaser und Anselm Strauss begrün<strong>de</strong>ten „groun<strong>de</strong>d theory“.<br />
Dieser Prozess <strong>de</strong>r gegenstandsbezogenen Theoriegenerierung basiert auf <strong>de</strong>n<br />
zentralen Prinzipien von Interaktion, Zeitlichkeit, Prozesshaftigkeit sowie Strukturiertheit<br />
(Hil<strong>de</strong>nbrand, 2000, 33). Die genannten forschungsleiten<strong>de</strong>n Prinzipien<br />
implizieren eine weitere tragen<strong>de</strong> Notwendigkeit, nämlich die <strong>de</strong>r Offenheit, woraus<br />
sich eine eben solche auch für die zur Systematisierung <strong>de</strong>s Datenmaterials<br />
verwen<strong>de</strong>ten Kodierkategorien ergibt (Kelle/Kluge, 1999, 66).<br />
Die Samplingstrategien folgten zunächst <strong>de</strong>r im ForschungsprojektAntrag<br />
festgelegten äußeren Kategorisierung und wur<strong>de</strong>n dann entsprechend <strong>de</strong>r Strategie<br />
<strong>de</strong>s „theoretical sampling“(Strauss 1988; Strauss / Corbin 1996) um zusätzliche<br />
Fälle erweitert. Somit wur<strong>de</strong>n innovative Projekte ehrenamtlichen Engagements<br />
im gewerkschaftlichen und außergewerkschaftlichen Bereich für die Alten<br />
und Neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r ausfindig gemacht und im Sinne <strong>de</strong>s Feldforschungs<strong>de</strong>signs<br />
untersucht. Hierzu wur<strong>de</strong>n Hauptamtliche als Experten einzeln o<strong>de</strong>r in<br />
Gruppen sowie Ehrenamtliche einzeln o<strong>de</strong>r in Gruppen interviewt.<br />
5.2 Das Engagement <strong>de</strong>r Älteren<br />
Insgesamt betrachtet unterschei<strong>de</strong>t sich das freiwillige Engagement Älterer<br />
hinsichtlich seiner Formen nicht beträchtlich vom Engagement an<strong>de</strong>rer Gruppen.<br />
Das heißt, dass die ehrenamtlichen Tätigkeitsfel<strong>de</strong>r älterer Menschen ähnlich<br />
vielseitig sind wie jene aller an<strong>de</strong>ren Altersgruppen. Auch das geringere Ausmaß<br />
<strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements in <strong>de</strong>n neuen gegenüber <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
betrifft nicht nur die Älteren, son<strong>de</strong>rn alle Altersgruppen. 74 Entgegen alltäglicher<br />
Vorurteile ist <strong>de</strong>r Anteil ehrenamtlich engagierter Männer höher als jener <strong>de</strong>r<br />
Frauen – und diese Differenz nimmt über die Altersgruppen zu (vgl. Kohli / Künemund<br />
2000: 285). Mit zunehmen<strong>de</strong>m Alter geht die Beteiligung jedoch stark zurück<br />
– von 22% bei <strong>de</strong>n 4054jährigen auf 7% bei <strong>de</strong>n 7085jährigen (vgl. Künemund<br />
2001: 69). Dennoch variieren individuelle Möglichkeiten und Bedarfslagen<br />
entsprechend <strong>de</strong>r Lebenslage und <strong>de</strong>r Zugehörigkeit zu Altersgruppen, Geschlecht<br />
und Familienstand. Jugendliche sind zum Beispiel im Bereich Sport und<br />
Bewegung doppelt so aktiv wie SeniorInnen, und 14 % <strong>de</strong>r Menschen im Erwerbsalter<br />
engagieren sich im Bereich Kin<strong>de</strong>rgarten und Schule, jedoch lediglich<br />
2% <strong>de</strong>r Älteren – welche sich an<strong>de</strong>rerseits überdurchschnittlich in <strong>de</strong>r Enkelbetreuung<br />
betätigen.<br />
Laut Freiwilligensurvey (Picot 2000) gibt es unter <strong>de</strong>n Älteren viele Hochengagierte,<br />
die mehr als 5, zum Teil 15 Stun<strong>de</strong>n wöchentlich für ihr Engagement<br />
aufwen<strong>de</strong>n Diese zeitliche Investition übertrifft teilweise sogar <strong>de</strong>n bereits hohen<br />
Wert (1012 Stun<strong>de</strong>n) <strong>de</strong>r Jugendlichen). Der Zeitpunkt <strong>de</strong>r Aufnahme <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements liegt in <strong>de</strong>r Regel weit (10 o<strong>de</strong>r mehr Jahre) vor <strong>de</strong>m Ü<br />
bergang in <strong>de</strong>n Ruhestand. Kurz (vier Jahre) vor <strong>de</strong>m Übergang steigt die Engagementbereitschaft<br />
noch einmal stark an, um danach wie<strong>de</strong>r zu sinken (Kohli /<br />
Künemund 2000: 298).<br />
74 Abweichend zu diesem Befund stellt Olk fest, dass die Unterschie<strong>de</strong> im Ausmaß ehrenamtlichen<br />
Engagements bei einer NordSüdBetrachtung größer ausfallen als die im OstWestVergleich.
151 <br />
In <strong>de</strong>n meisten empirischen Studien zum Ehrenamt wird das Kriterium Erwerbstätigkeit<br />
als ein das Engagement begünstigen<strong>de</strong>r Faktor vorgestellt. Erwerbslose<br />
sind in <strong>de</strong>utlich geringerem Umfang ehrenamtlich engagiert als Berufstätige.<br />
Das heißt jedoch nicht, dass die Älteren ihre Engagement nach Ausschei<strong>de</strong>n<br />
aus <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit einstellen wür<strong>de</strong>n. So hat die multivariate Analyse <strong>de</strong>s<br />
Alterssurvey ergeben, dass <strong>de</strong>r Umfang <strong>de</strong>s Engagements bei <strong>de</strong>n Ruheständlern<br />
und an<strong>de</strong>ren älteren NichtErwerbstätigen (z. B. „Vorruheständlern“) sogar höher<br />
ist als bei <strong>de</strong>n Erwerbstätigen (vgl. Kohli / Künemund 2000: 301f). Es spricht allerdings<br />
vieles dafür, dass dies darauf zurück zu führen ist, dass das bestehen<strong>de</strong><br />
Engagement ausgeweitet und weniger dafür, dass ein Engagement neu aufgenommen<br />
wird. Der Ruhestand unterschei<strong>de</strong>t in dieser Hinsicht <strong>de</strong>utlich von <strong>de</strong>r<br />
Erwerbslosigkeit (vgl. <strong>hier</strong>zu auch die Befun<strong>de</strong> in Kap. 3; allgemein: Wolf 1994).<br />
Der Motivations und Formenwan<strong>de</strong>l Freiwilliger Arbeit wird vor allem an<br />
ausgeprägteren Selbstbezügen bei <strong>de</strong>r Ausübung ehrenamtlichen Engagements<br />
<strong>de</strong>utlich. Diesbezüglich wur<strong>de</strong> gezeigt, dass Menschen nach ihrer gegenwärtigen<br />
biographischen Situation entschei<strong>de</strong>n, ob und wie lange sie sich wo ehrenamtlich<br />
engagieren wollen. Auch wenn dieser Motivationswan<strong>de</strong>l (von Pflichtwerten zur<br />
Selbstverwirklichung) zeitlich gesehen sicherlich keine ganz junge Entwicklung ist,<br />
kann diesbezüglich mit Sicherheit von einer enormen Zunahme in <strong>de</strong>n letzten<br />
Jahrzehnten ausgegangen wer<strong>de</strong>n. Hierbei kann die Gruppe <strong>de</strong>r Jugendlichen als<br />
Agenten dieses Trends angesehen wer<strong>de</strong>n, aber auch die Älteren sind davon<br />
nicht unberührt geblieben. Auch bei ihnen haben sich die Pflichtwerte relativiert,<br />
und sie treten <strong>de</strong>m Engagement mit größeren Ansprüchen an die Befriedigung<br />
individueller Bedürfnisse entgegen (allgemein <strong>hier</strong>zu Evers / Wolf 1999). Diese<br />
Entwicklung zeigt sich auch in <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Seniorenarbeit.<br />
5.3 Alterspolitik und gewerkschaftliche Seniorenarbeit<br />
Jürgen Wolf<br />
5.3.1 Die Mo<strong>de</strong>rnisierung <strong>de</strong>r aktiven Seniorenpolitik<br />
Mit <strong>de</strong>m steigen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mographischen Gewicht <strong>de</strong>r Älteren ist auch die<br />
Frage nach ihrer sozialen und politischen Partizipation in das öffentliche Bewusstsein<br />
gelangt. Die Diagnose ist ein<strong>de</strong>utig: die Teilhabe <strong>de</strong>r älteren Menschen am<br />
öffentlichen Leben ist in unserem Land unterentwickelt. Unterschiedliche Entwicklungen<br />
haben dazu geführt, diese Situation überhaupt als ein gesellschaftliches<br />
Problem wahrzunehmen. Die Altersphase und ihre gesellschaftliche Be<strong>de</strong>utung<br />
haben sich quantitativ und qualitativ verän<strong>de</strong>rt. Die Älteren wur<strong>de</strong>n und wer<strong>de</strong>n<br />
zahlenmäßig mehr, sie verbringen einen <strong>de</strong>utlich längeren Teil <strong>de</strong>r Lebenszeit im<br />
Ruhestand, sie sind – durch <strong>de</strong>n international zu beobachten<strong>de</strong>n Trend zum frühen<br />
Ruhestand – „jünger“gewor<strong>de</strong>n, leben aber zugleich länger, und ihre Ressourcenausstattung<br />
(materielle Sicherung, Bildung und Gesundheit) hat sich während<br />
<strong>de</strong>r letzten Jahrzehnte verbessert. Zugleich ist die Heterogenität <strong>de</strong>r Lebenslagen<br />
im Alter größer gewor<strong>de</strong>n. Vor diesem Hintergrund hat sich das Engagement<br />
<strong>de</strong>r Älteren generell, aber speziell zur Vertretung <strong>de</strong>r eigenen Interessen<br />
sehr stark ausgeweitet (<strong>hier</strong>zu Kohli / Neckel / Wolf 1999; EnqueteKommission<br />
2002b: 213 ff.). Entschei<strong>de</strong>nd bei dieser Form <strong>de</strong>s Engagements ist nicht nur das<br />
quantitative Ausmaß, son<strong>de</strong>rn auch seine neue qualitative Dimension. Ein Aspekt
152 <br />
<strong>hier</strong>von ist die Interessenformulierung auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s Status <strong>de</strong>s Seniors.<br />
Während viele noch davor zurückschrecken, sich unter <strong>de</strong>r Bezeichnung „Senioren“zu<br />
engagieren, können die organisierten Älteren dazu beitragen, das eigene<br />
und das gesellschaftliche Altersbild positiv zu beeinflussen. Der an<strong>de</strong>re Aspekt ist<br />
<strong>de</strong>r Formwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r politischen Beteiligung in Richtung partizipativer Politik. Es<br />
geht nicht nur darum, dass – durch advokatorische Akteure – überhaupt Politik für<br />
Ältere gemacht wird, son<strong>de</strong>rn dass sie von <strong>de</strong>n Älteren selbst bestimmt wird.<br />
Die Chancen <strong>de</strong>r Älteren, ihre politische Vertretung und Mitwirkung auszuweiten,<br />
haben sich verbessert. Es wird sogar davon gesprochen, dass sich ein<br />
breiter „altenpolitischer Aktivismus“(Neckel 1993) entwickelt habe. Da mit <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>mographischen Entwicklung auch <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Älteren unter <strong>de</strong>n Wählern und<br />
<strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn von Verbän<strong>de</strong>n und Parteien zugenommen hat, wirkt auf die bestehen<strong>de</strong>n<br />
Organisationen ein Druck, sich auf die verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Altersstruktur <strong>de</strong>r<br />
Bevölkerung einzustellen und die wachsen<strong>de</strong> Zahl älterer Mitglie<strong>de</strong>r besser zu<br />
integrieren. Als Antwort auf diese Entwicklung hat die CDU bereits 1988 begonnen,<br />
ihre älteren Mitglie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r „SeniorenUnion“zu organisieren. Die SPD ist<br />
ihr im Jahr 1994 mit <strong>de</strong>r Gründung <strong>de</strong>r „Arbeitsgemeinschaft 60plus“gefolgt. Auch<br />
die Gewerkschaften folgen diesem Trend und praktizieren seit einigen Jahren<br />
verschie<strong>de</strong>ne Formen <strong>de</strong>r Seniorenarbeit.<br />
Die Zunahme <strong>de</strong>s aktiven Engagements älterer Menschen lässt sich nicht<br />
als Reaktion auf eine Verschlechterung ihrer Lebenslage erklären. Das Gegenteil<br />
ist <strong>de</strong>r Fall. Die Ausweitung <strong>de</strong>s Engagements ging parallel mit einer Verbesserung<br />
<strong>de</strong>r Ressourcenausstattung für die Mehrheit <strong>de</strong>r Älteren – <strong>de</strong>r materiellen<br />
Lage, <strong>de</strong>r Gesundheit und Bildung. Diese Beobachtung steht im Einklang mit Ergebnissen<br />
<strong>de</strong>r Forschung zu <strong>de</strong>n Neuen Sozialen Bewegungen: die Mobilisierung<br />
für das öffentliche Engagement setzt mobilisierbare Ressourcen voraus. Die erfolgreiche<br />
Mobilisierung wie<strong>de</strong>rum erzeugt selbst ihre Fortsetzung – durch die<br />
Anziehungskraft ihrer Aktivitäten o<strong>de</strong>r Führungspersonen, aber auch durch die<br />
Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Öffentlichkeit. Die Voraussetzungen für das Engagement<br />
auch <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Seniorengenerationen sind – angesichts gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r absehbaren<br />
Verschlechterung <strong>de</strong>r Lage Älterer – günstig. Ihr Bildungs und Qualifikationsniveau<br />
wird im Mittel noch ansteigen. Sowohl die Beitrittsbereitschaft zu<br />
Organisationen als auch die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit steigen mit <strong>de</strong>m<br />
Bildungsgrad, so wie allgemein für öffentliche Aktivitäten „ein höherer Status das<br />
Engagement begünstigt“(Kohli / Künemund 1997, S. 112).<br />
Der Zuwachs subjektiver Handlungsvoraussetzungen stellt also <strong>de</strong>n sozialstrukturellen<br />
Hintergrund <strong>de</strong>s altenpolitischen Engagements <strong>de</strong>r Senioren dar. Sie<br />
lassen altersbezogene soziale Ausgrenzungen und Diskriminierungen als beson<strong>de</strong>rs<br />
ungerechtfertigt erscheinen – zumal, wenn sich die soziale Altersgrenze vom<br />
biologischen Alter entfernt und so noch über Jahre hinaus die Kraft zum Han<strong>de</strong>ln<br />
bereitsteht. Sozialer Zwang zum „Rückzug“wird dann als Schranke <strong>de</strong>r Selbstverwirklichung<br />
im Alter erfahren. Die Älteren mel<strong>de</strong>n dagegen nicht nur Protest<br />
an, son<strong>de</strong>rn erweitern ihre Handlungsmöglichkeiten praktisch und politisch. Hierbei<br />
haben wir es mit <strong>de</strong>m Ergebnis eines Prozesses <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rnisierung <strong>de</strong>r Interessenvertretung<br />
zu tun, <strong>de</strong>r nicht nur in Deutschland, son<strong>de</strong>rn auch und sogar<br />
noch <strong>de</strong>utlicher im Ausland stattgefun<strong>de</strong>n hat (vgl. zum folgen<strong>de</strong>n auch Evers /<br />
Wolf 1999).
153 <br />
Traditionellerweise fin<strong>de</strong>n wir zwei Formen <strong>de</strong>r Interessenvertretung Älterer:<br />
gewerkschaftliche o<strong>de</strong>r gewerkschaftsähnliche Gruppierungen, die auf die<br />
materielle Absicherung im Alter gerichtet sind, sowie karitative Einrichtungen, die<br />
Dienstleistungen zur gesundheitlichen und sozialen Versorgung erbringen. Eine<br />
Vertretung <strong>de</strong>r Interessen von Älteren durch die Älteren selbst fin<strong>de</strong>t sich – im<br />
Kontext <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung – bereits seit <strong>de</strong>n frühen Jahrzehnten dieses Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
in <strong>de</strong>n skandinavischen Län<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r auch in Österreich durch <strong>de</strong>n dortigen<br />
„Pensionistenverband“. In Deutschland ist Rentenpolitik eine Sache <strong>de</strong>r politischen<br />
und korporativen Akteure, und ihre Politik hat lange nicht dazu geführt,<br />
dass sich die Interessen <strong>de</strong>r Älteren in Form einer eigenständigen Lobby organisieren<br />
mussten. Starke Interessenvertretungen <strong>de</strong>r Älteren fin<strong>de</strong>n sich typischerweise<br />
in Län<strong>de</strong>rn, die eine schwächer ausgebaute soziale Sicherung im Alter bieten.<br />
Ein <strong>de</strong>utliches Beispiel <strong>hier</strong>für sind die USA, in <strong>de</strong>nen Altenorganisationen zu<br />
<strong>de</strong>n mitglie<strong>de</strong>rstärksten Verbän<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n mächtigsten Lobbys gehören – die<br />
„American Association of Retired People“hat beispielsweise mehr als 30 Millionen<br />
Mitglie<strong>de</strong>r, die durch <strong>de</strong>n Verband vergünstigte Lebensversicherungen, Krankenversicherungen<br />
und an<strong>de</strong>re Leistungen erhalten können.<br />
Die Organisations und Artikulationsformen <strong>de</strong>r Interessen älterer Bürger<br />
unterliegen aber einem Wandlungs und Mo<strong>de</strong>rnisierungsprozess, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Rahmen<br />
für die Mitwirkung Älterer <strong>de</strong>utlich ausweitet. Die skizzierte traditionelle Interessenvertretung<br />
<strong>de</strong>r Älteren formierte sich um ihre Eigenschaft als Empfänger<br />
staatlicher Leistungen, die es einzuklagen und abzusichern gilt. Die neuen Formen<br />
setzen dagegen die materielle Versorgung durch Rente o<strong>de</strong>r Pension bereits<br />
als mobilisierbare Ressource voraus (neben verbesserter Gesundheit und gestiegenem<br />
Bildungsniveau). Sie gehen einher mit einem geän<strong>de</strong>rten Altersbild: Ältere<br />
sind nicht mehr nur Leistungsempfänger, <strong>de</strong>ren Not durch staatliche o<strong>de</strong>r karitative<br />
Einrichtungen gelin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n muss, son<strong>de</strong>rn kompetente Bürger und Konsumenten,<br />
die ihre Lebenslage selbst bestimmen und zwischen verschie<strong>de</strong>nen<br />
Möglichkeiten <strong>de</strong>r Lebensführung wählen können. Sie drängen auf die Demokratisierung<br />
und öffentliche Aushandlung von traditionellerweise als privat erachteten<br />
Lebensbereichen (Wohnen, Pflege).<br />
Die neuen Formen <strong>de</strong>r aktiven Alterspolitik, die von <strong>de</strong>n Älteren selbst getragen<br />
wer<strong>de</strong>n, basieren auf einem weiteren Verständnis <strong>de</strong>r politischen Aktivbürgerschaft.<br />
Ältere Bürger mischen sich in alle Belange ein, die ihre Lebensverhältnisse<br />
betreffen. Der Demokratisierungsimpuls, <strong>de</strong>r dadurch hervorgerufen wird, ist<br />
einer <strong>de</strong>r Kernprozesse, <strong>de</strong>r zugunsten erweiterter Partizipationsmöglichkeiten<br />
gesellschaftlich wirksam wer<strong>de</strong>n kann. Die staatliche Sozialpolitik schafft in diesem<br />
Zusammenhang neue Notwendigkeiten, da ihre Maßnahmen zur Kostendämpfung<br />
zugleich die verstärkte Beteiligung <strong>de</strong>r Betroffenen erfor<strong>de</strong>rn. So zielt<br />
beispielsweise die Pflegeversicherung auf eine „neue Kultur <strong>de</strong>s Helfens“durch<br />
die Mobilisierung <strong>de</strong>r Netzwerke Pflegebedürftiger zur Absicherung <strong>de</strong>r Pflege (§<br />
8 SGB XI). Freiwilliges Engagement wird dabei zu einem notwendigen Bestandteil<br />
<strong>de</strong>r pflegerischen Versorgung. Das Pflegegeld, das als Zuschuss zur Ab<strong>de</strong>ckung<br />
<strong>de</strong>r tatsächlichen Kosten zu verstehen ist, hat dabei die Be<strong>de</strong>utung eines Anreizes<br />
und einer Gratifikation für das freiwillige Engagement <strong>de</strong>r Pflegepersonen. Die<br />
Aktivierung <strong>de</strong>s Hilfepotentials wird faktisch jedoch durch Informationsmängel und<br />
bürokratische Verfahren vielfach behin<strong>de</strong>rt (vgl. Evers 1998b) – und so droht das
154 <br />
freiwillige Engagement zum „billigen“Ersatz für professionelle Dienste zu wer<strong>de</strong>n.<br />
75 Die Gewerkschaften stehen <strong>hier</strong> in beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlicher Weise vor <strong>de</strong>r<br />
Herausfor<strong>de</strong>rung, außerbetriebliche Organisationsformen und allgemeine, nicht<br />
auf das Arbeitsleben begrenzte Interessen zu integrieren. Die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements in Zeiten <strong>de</strong>r Kostendämpfung ist ein Teil <strong>de</strong>r Wohlfahrtsproduktion,<br />
in<strong>de</strong>m es gegen Leistungseinschränkungen und bürokratische<br />
Kontrolle die Hilfe und Selbsthilfepotentiale aktiviert, zur Bildung <strong>de</strong>s Bewusstein<br />
über die soziale Lage beiträgt und die Beteiligung <strong>de</strong>r Betroffenen erhöht.<br />
Dies be<strong>de</strong>utet, dass <strong>de</strong>r Schwerpunkt einer entsprechen<strong>de</strong>n Politik darauf<br />
liegen müsste, die Partizipations und Aktivierungskultur in Organisationen auszuweiten,<br />
statt auf <strong>de</strong>r Basis einer nur quantitativen Repräsentanz formal garantierte<br />
Mitspracherechte einzuräumen und ansonsten alles beim alten zu belassen.<br />
Generell könnte das wohlmeinen<strong>de</strong> Anliegen, die politische Mitwirkung von Senioren<br />
in allen Bereichen zu formalisieren, gera<strong>de</strong> leer laufen. Wird nämlich einfach<br />
nur ein weiterer Stuhl an <strong>de</strong>n Verhandlungstisch gestellt und ein weiterer Posten<br />
im Vorstand geschaffen, wird das Engagement <strong>de</strong>r Älteren wie<strong>de</strong>r verengt auf<br />
Verfahren, die lediglich ein biographisches Fortsetzungsverhalten für verdiente<br />
Funktionäre erlauben.<br />
5.3.2 Gewerkschaftliche Seniorenarbeit<br />
Die Gewerkschaften haben auf das Altern ihrer Mitgliedschaft in ähnlicher<br />
Weise reagiert wie die politischen Parteien. Sie haben unterschiedliche Formen<br />
von „Seniorenarbeit“entwickelt, in <strong>de</strong>nen die älteren Mitglie<strong>de</strong>r organisatorisch<br />
zusammengefasst sind (vgl. umfassen <strong>hier</strong>zu Wolf et al. 1994).. Mehr als eine<br />
beraten<strong>de</strong> Funktion haben diese in <strong>de</strong>n wichtigen Gewerkschaftsgremien überwiegend<br />
nicht, allerdings ist die Seniorenarbeit inzwischen bei <strong>de</strong>n meisten Gewerkschaften<br />
als Regelaufgabe satzungsmäßig verankert. Außergewerkschaftliche<br />
Gewerkschaftsarbeit be<strong>de</strong>utet in <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r Gewerkschaften <strong>de</strong>shalb<br />
ganz überwiegend Seniorenarbeit (vgl. Kap. 2). Sie ist inzwischen in allen Gewerkschaften<br />
etabliert und bil<strong>de</strong>t einen erheblichen Anteil im Volumen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements. Die gewerkschaftliche Seniorenarbeit hat sich – auf <strong>de</strong>r<br />
Grundlage unterschiedlicher Vorläufer – in <strong>de</strong>n 90er Jahren ausgebreitet und als<br />
fester Bestandteil <strong>de</strong>r Organisation etabliert.<br />
Rund 1,7 Millionen Ruheständler (rund 18%) sind in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Gewerkschaften<br />
organisiert. Einige Gewerkschaften haben bereits eigene Vorstandsressorts<br />
und Organisationssäulen eingerichtet – bis hin zu einer „Seniorenquote“(Transnet,<br />
ehemals Gewerkschaft <strong>de</strong>r Eisenbahner Deutschlands). Der<br />
Hintergrund dieser Entwicklung ist einerseits die <strong>de</strong>mographische Entwicklung,<br />
an<strong>de</strong>rerseits die Entwicklung <strong>de</strong>s Arbeitsmarktes. Bei<strong>de</strong>s hat dazu geführt, dass<br />
die Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r, die aus Altersgrün<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Arbeit ausgeschie<strong>de</strong>n<br />
sind, einen zunehmen<strong>de</strong>n Anteil in <strong>de</strong>r Mitgliedschaft eingenommen haben. Verstärkt<br />
wur<strong>de</strong> diese Entwicklung durch die Rekrutierungsschwierigkeiten in <strong>de</strong>n<br />
jüngeren Altersgruppen. Die Seniorenarbeit zielt zunächst darauf, die Älteren als<br />
75 Die Kritik vor allem gewerkschaftlicher Vertreter am staatlich geför<strong>de</strong>rten bürgerschaftlichen<br />
Engagement, von <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Fallstudie Stuttgart berichtet wird (vgl. Kap. 3), bezieht sich auf diesen<br />
Zusammenhang.
155 <br />
Mitglie<strong>de</strong>r zu behalten. Hinzu kommt aber auch eine stärkere Aktivitätsorientierung<br />
<strong>de</strong>r Älteren selbst. Mit <strong>de</strong>r traditionellen „Betreuung“geben sie sich nicht<br />
mehr zufrie<strong>de</strong>n. Ein Problem für die Seniorenarbeit stellt die Heterogenität <strong>de</strong>r<br />
Zielgruppe dar: Altersrentenempfänger, Frührentner / „Vorruheständler“und ältere<br />
Arbeitslose. Ihre Interessen unterschei<strong>de</strong>n sich, ebenso das Erleben <strong>de</strong>r jeweiligen<br />
Lebenslage. Überlappungen mit an<strong>de</strong>ren Formen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements,<br />
z.B. in <strong>de</strong>r Arbeitslosenarbeit, ergeben sich aus diesem Grund zwangsläufig.<br />
Der Anteil <strong>de</strong>r Senioren unter <strong>de</strong>n Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r hat bereits zu<br />
Beginn <strong>de</strong>r 90er Jahre <strong>de</strong>utlich zugenommen und ist bis heute weiter gestiegen.<br />
In <strong>de</strong>n drei großen Gewerkschaften – ver.di, IG Metall und IG BCE – lauten die<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Daten für das Jahr 2002 folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />
Mitglie<strong>de</strong>r<br />
insgesamt<br />
Gewerkschaftssenioren<br />
(Rentner)<br />
IG Metall<br />
2.651.435 546.925 20,6%<br />
IG BCE 836.500 230.996 27,6%<br />
Ver.di 2.737.927 456.845 16,7%<br />
Die Senioren sind damit in diesen Gewerkschaften jeweils die zweitgrößte<br />
Mitglie<strong>de</strong>rgruppe. Die schwächste Gruppe sind dagegen die jüngeren: bei ver.di<br />
beträgt <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r unter 28jährigen 5,4%.<br />
Abbildung<br />
Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>r und Seniorenanteil En<strong>de</strong> 1989 (nur alte Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r) und En<strong>de</strong><br />
1991 (einschließlich neue Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r) (Quelle: Wolf et al. 1994: 33)<br />
En<strong>de</strong> 1989 En<strong>de</strong> 1991<br />
Mitglie<strong>de</strong>r Gewerkschaftssenioren Mitglie<strong>de</strong>r Gewerkschaftssenioren<br />
Gewerkschaft insgesamt abs. % insgesamt abs. %<br />
<br />
Le<strong>de</strong>r 44.583 2.450 5.4 41.783 3.311 7.9<br />
HBV 407.326 22.710** 5.6 737.075 32.784 4.4<br />
GEW 188.910* 11.231** 5.9 359.852 12.677 3.5<br />
IG Medien 182.150 12.350 6.8 244.774 18.414 7.5<br />
GHK 149.098 11.483 7.7 238.658 17.100 7.2<br />
GTB 250.783 32.862 13.1 348.095 41.166 11.8<br />
IG CPK 664.618 88.990 13.4 817.311 105.000 12.9<br />
ÖTV 1234.546 171.119 13.9 2138.317 206.905 9.7<br />
NGG 271.291 41.345 15.2 431.211 42.584 9.9<br />
DPG 472.145 73.831 15.6 611.969 96.099 15.7<br />
IGM 2679.237 442.227 16.5 3625.428 499.151 13.8<br />
GGLF 43.817 7.321 16.7 134.980 10.850 8.0<br />
IG BSE 460.559 92.143** 20.0 776.781 108.187 13.9<br />
GdP 161.310 33.600 20.8 200.997 36.746 18.3<br />
GdED 319.641 110.700 34.6 527.478 162.948 30.9<br />
IG BE 331.106 136.006 41.1 506.640 161.973 32.0<br />
DGB gesamt 7861.120 1290.368 16.4 11741.349 1555.945 13.3<br />
<br />
Quellen: Angaben <strong>de</strong>r Einzelgewerkschaften, eigene Berechnungen; *: StBA (1990: 634); **: iwd<br />
(1990: 1)
156 <br />
Nicht berücksichtigt sind in diesen Daten die älteren Erwerbslosen, Frührentner<br />
und Vorruheständler. Sie wür<strong>de</strong>n die entsprechen<strong>de</strong>n Anteile noch <strong>de</strong>utlich<br />
erhöhen. Ältere Erwerblose sind in <strong>de</strong>r Regel Langzeitarbeitslose. So waren<br />
am 30. September 2000 1,6 Millionen von insgesamt 3,7 Millionen Arbeitslosen im<br />
Alter von 45 bis 65 Jahren. Unter <strong>de</strong>n 56 bis 65jährigen waren 38% zwei Jahre<br />
und länger arbeitslos gemel<strong>de</strong>t (gegenüber 18,7% unter allen Arbeitslosen). Aber<br />
auch ohne <strong>de</strong>n Weg über die Arbeitslosigkeit schei<strong>de</strong>n Ältere relativ früh aus <strong>de</strong>m<br />
Erwerbsleben aus. Nur je<strong>de</strong>r Fünfte in <strong>de</strong>r Altersgruppe <strong>de</strong>r 60 bis 64Jährigen ist<br />
noch erwerbstätig. Nicht zuletzt aus gesundheitlichen Grün<strong>de</strong>n schei<strong>de</strong>n viele vor<br />
Erreichen <strong>de</strong>r gesetzlichen Altersgrenze aus <strong>de</strong>m Berufsleben aus, vor allem im<br />
Baugewerbe. Die Seniorenarbeit liegt damit an <strong>de</strong>r Grenze zur Erwerbslosenarbeit,<br />
die ebenfalls überwiegend von Ehrenamtlichen getragen wird. Diese Engagierten<br />
gehören vielfach jedoch nicht selbst zu <strong>de</strong>n Arbeitslosen, son<strong>de</strong>rn rekrutieren<br />
sich beispielsweise aus <strong>de</strong>r Senioren und Wohngebietsarbeit (vgl. Kap. 3).<br />
Prinzipiell kann gewerkschaftliche Alterspolitik drei Formen annehmen: Politik<br />
für die Älteren, Politik von Älteren und schließlich Politik von Älteren für Ältere.<br />
Die erste Alternative benennt das traditionelle Konzept <strong>de</strong>r stellvertreten<strong>de</strong>n Interessenwahrnehmung<br />
und umfasst zum Beispiel die Beteiligung <strong>de</strong>r Gewerkschaften<br />
in <strong>de</strong>n Selbstverwaltungsorganen <strong>de</strong>r Sozialversicherung. Die zweite Alternative<br />
ist auch nicht neu. Ältere Gewerkschaftsfunktionäre fin<strong>de</strong>n sich in zahlreichen<br />
Positionen und Funktionen. Es geht dabei um <strong>de</strong>n Einfluss Älterer in Entscheidungsprozessen,<br />
die nicht unbedingt altersspezifisch ausgerichtet sein müssen.<br />
Die dritte Alternative, welche die Seniorenarbeit als neuartiges Tätigkeitsfeld umschreibt,<br />
zielt dagegen auf die Selbstorganisation <strong>de</strong>r Älteren und die Vertretung<br />
ihrer gruppenspezifischen Interessen innerhalb <strong>de</strong>r Organisation. Gewerkschaftliche<br />
Alterspolitik auf dieser Ebene be<strong>de</strong>utet etwas grundlegend an<strong>de</strong>res als die<br />
traditionelle erste Ebene: Mit ihr wechselt sowohl das Netz relevanter Akteure als<br />
auch die Arena politischer Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen. Die Älteren treten als Akteure<br />
in eigener Sache auf und wer<strong>de</strong>n in die Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen<br />
<strong>de</strong>r Organisation einbezogen. Dies steckt hinter <strong>de</strong>r Feststellung, dass Alterspolitik<br />
neuartige Anfor<strong>de</strong>rungen an die Gewerkschaften stelle und ist sicherlich ein<br />
Grund für die Hemmnisse, die einer entsprechen<strong>de</strong>n Beteiligung <strong>de</strong>r Älteren am<br />
Gewerkschaftsleben entgegenstehen.<br />
Betrachtet man das tatsächliche Aktivitätsspektrum <strong>de</strong>r Seniorenarbeit,<br />
kann man feststellen, dass es sich bei <strong>de</strong>n aktiv ehrenamtlich Engagierten häufig<br />
um gewerkschaftliche Funktionsträger sind, die sich beim Übergang in <strong>de</strong>n Ruhestand<br />
ein neues Tätigkeitsfeld erschließen. Im Vor<strong>de</strong>rgrund steht <strong>de</strong>r Wunsch<br />
nach Aufrechterhaltung <strong>de</strong>s Engagements, das bereits vorher bestan<strong>de</strong>n hat. So<br />
ist das vorrangige Ziel <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Seniorenarbeit die Nutzung <strong>de</strong>r<br />
Erfahrungen und die soziale Integration in die Gemeinschaft <strong>de</strong>r Gewerkschaftssenioren.<br />
Überwiegend han<strong>de</strong>lt es sich bei <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Seniorenarbeit<br />
um Angebote zur Fortsetzung einer bereits vorher bestehen<strong>de</strong>n Mitarbeit. Die<br />
Formen, in <strong>de</strong>nen diese Aktivitäten organisiert sind, erstrecken sich von informellen<br />
und eher zufälligen Zusammenkünften in kleinen Gewerkschaften bzw. Verwaltungsstellen<br />
– die nicht selten das Fehlen von seniorenpolitischen "Aktivisten"<br />
beklagen –, über einzelne Verantwortliche, die von <strong>de</strong>r Verwaltungsstellenleitung<br />
"ernannt" o<strong>de</strong>r kooptiert wer<strong>de</strong>n, bis hin zu gewählten, regelmäßig tagen<strong>de</strong>n Seniorengruppen<br />
mit eigenem Vorstand. In größeren Städten können auch mehrere
157 <br />
Seniorenarbeitskreise etwa in Stadtbezirken o<strong>de</strong>r Ortsnebenstellen mit jeweils<br />
eigenem Programm und eigenen Vorstän<strong>de</strong>n bestehen, <strong>de</strong>ren Vorsitzen<strong>de</strong> dann<br />
<strong>de</strong>n zentralen Seniorenarbeitskreis <strong>de</strong>r Verwaltungsstelle bil<strong>de</strong>n.<br />
Neuartige Initiativen, beispielsweise <strong>de</strong>r IG Metall, bei <strong>de</strong>r die Senioren die<br />
tragen<strong>de</strong>n Akteure bei <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r “außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit“darstellen<br />
und ohne die die Wohngebietsarbeit nicht existieren könnte, sind<br />
noch selten. Mit <strong>de</strong>n „BTeams“engagieren sich <strong>hier</strong> Senioren auch im Schnittfeld<br />
zwischen <strong>de</strong>r betrieblichen und außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit. Mit <strong>de</strong>r<br />
För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s dieses Engagements, bei <strong>de</strong>m Senioren in einzelnen Bezirken die<br />
Aufgabe <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rwerbung und betreuung in Kleinbetrieben übernommen<br />
haben, macht sich die Gewerkschaft die Organisationserfahrungen <strong>de</strong>r Älteren<br />
direkt zunutze.<br />
Mit <strong>de</strong>r Umsetzung <strong>de</strong>s selbst formulierten Anspruchs, eine Lobby für die<br />
Älteren zu bil<strong>de</strong>n und die Älteren bei <strong>de</strong>r Vertretung ihrer Interessen selbst einzubeziehen,<br />
tun sich die Gewerkschaften dagegen schwerer. Die Zentrierung ihrer<br />
Politik auf die Erwerbsarbeit dürfte <strong>hier</strong>für die wichtigste Hür<strong>de</strong> darstellen. Auch<br />
die einzelgewerkschaftliche Organisationsform könnte bei <strong>de</strong>n Älteren an ihre<br />
Grenzen stoßen. Zwar ist die biographisch gewachsene Zugehörigkeit ein wichtiges<br />
Motiv, um die Mitgliedschaft aufrecht zu erhalten; geht es aber um die Formulierung<br />
und Vertretung <strong>de</strong>r Interessen <strong>de</strong>r Älteren, ist es fraglich, ob die (ehemalige)<br />
Branchenzugehörigkeit ein sinnvolles Kriterium darstellt. Wenn sich die Interessen<br />
<strong>de</strong>r Senioren aber auf allgemeinere und branchenübergreifen<strong>de</strong> Themen<br />
beziehen, müsste zumin<strong>de</strong>st darüber nachgedacht wer<strong>de</strong>n, ob nicht <strong>de</strong>r DGB die<br />
organisatorische Basis für die Senioren bereitstellen sollte. Überlegungen in dieser<br />
Richtung sind bereits formuliert wor<strong>de</strong>n (vgl. Wolf 1994, S. 393 ff.), und es<br />
wäre sicherlich sinnvoll, sie weiterzuentwickeln und auf ihre Umsetzungsmöglichkeiten<br />
hin zu überprüfen.<br />
5.4 Sample und Feldzugang<br />
Kirstin Bromberg<br />
Untersuchungsgegenstand <strong>de</strong>r Studie waren innovative außerbetrieblich<br />
angesie<strong>de</strong>lte gewerkschaftliche Ehrenamtsprojekte und –zusammenhänge, <strong>de</strong>ren<br />
Adressaten nicht primär als Arbeitnehmer angesprochen wer<strong>de</strong>n. Als solche gelten<br />
neben <strong>de</strong>r Gruppe <strong>de</strong>r Erwerbslosen auch die Gruppe <strong>de</strong>r Senioren, welche<br />
sich aus Rentnern und VorRuheständlern (darunter die sogenannten „Sozialpläner“)<br />
zusammensetzt. 76 Diesen ist gemeinsam, dass die Phase ihrer Erwerbstätigkeit<br />
bereits (planmäßig o<strong>de</strong>r unplanmäßig) been<strong>de</strong>t ist, sie somit aus betrieblichen<br />
Zusammenhängen herausfallen und über diesen Weg nicht mehr erreichbar<br />
sind. Die gewerkschaftliche Seniorenarbeit gehört sicher nicht zu <strong>de</strong>n neuesten<br />
innovativen Ansätzen ehrenamtlicher Gewerkschaftsarbeit, vielmehr fällt sie in<br />
das Handlungsfeld <strong>de</strong>s „traditionellen“außerbetrieblichen Engagements (vgl. Kap.<br />
6.2).<br />
Aus <strong>de</strong>n oben geschil<strong>de</strong>rten Grün<strong>de</strong>n gewinnt die Seniorenarbeit allerdings<br />
zunehmend mehr Be<strong>de</strong>utung für die allgemeine Seniorenpolitik <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik,<br />
aber auch im speziellen für die Gewerkschaften als Ressource ehrenamtli<br />
76 vgl. Mitglie<strong>de</strong>rstatistiken <strong>de</strong>r Einzelgewerkschaften IGM, IG BCE, verdi, IG BAU
158 <br />
chen Engagements. Insofern zählen die Senioren zu <strong>de</strong>n im engeren Sinn fokussierten<br />
Untersuchungsgruppen <strong>de</strong>s Forschungsprojektes, wobei es <strong>hier</strong> darauf<br />
ankam, innovative Ansätze aufzufin<strong>de</strong>n und diese auf ihr verallgemeinerungsfähiges<br />
Potential hinsichtlich gelungener Ehrenamtlichkeit zu untersuchen.<br />
Auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r beschriebenen konzeptionellen Überlegungen war das<br />
„Östliche Ruhrgebiet“interessant, welches eine hohe Dichte an ehrenamtlichen<br />
Aktivitäten – nicht nur im Bereich <strong>de</strong>r Senioren – aufweist. Diese stellt gleichzeitig<br />
die umfangreichste Fallstudie dieses Untersuchungsfel<strong>de</strong>s dar und fungierte als<br />
weitere Basis für sich anschließen<strong>de</strong> Erhebungen insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>n Neuen<br />
Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn, was mit <strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n SampleTabelle veranschaulicht wird.<br />
Sample Seniorenarbeit<br />
Äußere Kategorisierung nach ‚innovativen‘außerbetrieblichen Projekten<br />
ehrenamtlichen Engagements in <strong>de</strong>n Alten und Neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
NBL<br />
ABL<br />
Experteninterviews mit Hauptamtlichen bei IGM, IG BCE, ver.di, DGB<br />
Telefonintervies mit Hauptamtlichen: ver.di Spielwerkstatt<br />
Rudolstadt,<br />
Einzelinterview mit Ehrenamtlicher: LAG „Aktiv im (Vor)<br />
Verein „Eine Welt Projekt Düsseldorf“,<br />
Jugendprojekt IGM „Xolelanani“<br />
Ruhestand“SachsenAnhalt e.V.<br />
Experteninterview mit Hauptamtlicher: Arbeitslosenprojekt<br />
„Menschen für Menschen“Kreis TeltowFläming<br />
Gruppendiskussion mit Ehrenamtlichen, teilnehmen<strong>de</strong><br />
Beobachtung, Einzelinterviews mit Ehrenamtlichen,<br />
biographische Interviews, Dokumentenanalyse :<br />
Fallstudie:DGB Ueckerrando<br />
ZWARZentralstelle Dortmund<br />
BASTAStadtteilmanagmentBüro Dortmund<br />
Fallstudie IGM Jugendprojekt „Xolelanani“<br />
Fallstudie „Östliches Ruhrgebiet“<br />
AGEAgentur für gesellschaftliches Engagement<br />
Hamm, ZWARGruppe Hamm „Intergeneratives<br />
Internetprojekt“, Seniorenbeirat Dortmund, Kollektives<br />
Experteninterview bei Arbeit und Leben Düsseldor,<br />
Stadtteilgruppen IGM Dortmund, Senioren AK<br />
Dortmund, DGB Lünen, GEBIKO Unna<br />
Gruppendiskussion mit Ehrenamtlichen:<br />
Erwerblose Bad Orb<br />
Telefonisches Experteninterview mit Hauptamtlichem :<br />
Eine wichtige Grundlage für die Fallauswahl im gewerkschaftlichen Bereich<br />
waren die Befragungsergebnisse zu Inhalt, Ausmaß und Verteilung ehrenamtlichen<br />
Engagements in <strong>de</strong>n vier Einzelgewerkschaften IGM, IG Bau, IG BCE und<br />
ver.di (vgl. Kap. 2). In die Auswertung sind alle Angaben in <strong>de</strong>n Fragebögen berücksichtigt<br />
wor<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen ein spezielles Projekt o<strong>de</strong>r Arbeitskreis <strong>de</strong>m Bereich<br />
Seniorenarbeit zugeordnet wur<strong>de</strong> benannt wur<strong>de</strong>n.<br />
Die Erhebungen für diesen Untersuchungsteil umfassen folgen<strong>de</strong> Interviews<br />
und Gruppendiskussionen:<br />
• 18 Experteninterviews (davon: 5 telefonische Interviews und 3<br />
Gruppeninterviews)<br />
• 1 Einzelinterview mit Ehrenamtlichen<br />
• 3 biographische Einzelinterviews mit Ehrenamtlichen<br />
• 8 Gruppendiskussionen mit Ehrenamtlichen
159 <br />
Ergebnisse aus <strong>de</strong>r schriftlichen Befragung<br />
Die Auswertung <strong>de</strong>r offenen Fragen aus <strong>de</strong>r schriftlichen Befragung sowie<br />
die systematische Auflistung <strong>de</strong>r genannten Projekte ergab eine umfangreiche<br />
Tabelle 77 , die Aufschluss über die regionale Verteilung ehrenamtlicher außerbetrieblicher<br />
und innerbetrieblicher Arbeitskreise und Projekte gibt. Sie umfasst die<br />
Tätigkeitsfel<strong>de</strong>r, die Inhalte, Ziele und Laufzeit sowie Vermerke zu geplanten bzw.<br />
gescheiterten Projekten außerbetrieblichen Engagements und ggf. die Ursachen<br />
<strong>de</strong>s Scheiterns. Darüber hinaus wur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Fragebögen festgehaltene Randnotizen,<br />
Kommentare und <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>r offenen Fragen festgehalten und in Verbindung<br />
mit <strong>de</strong>n qualitativen Daten <strong>de</strong>r Interviews in die Auswertung einbezogen.<br />
Im Hinblick auf die gewerkschaftliche Seniorenarbeit geben die Fragebögen<br />
Aufschluss über die Form <strong>de</strong>r jeweiligen Seniorenarbeit. Hierbei wer<strong>de</strong>n am<br />
häufigsten die Seniorenarbeitskreise genannt, seltener Seniorentreffs o<strong>de</strong>r –clubs<br />
und Stammtische. Vereinzelt wer<strong>de</strong>n Formen wie „übergreifen<strong>de</strong> Seniorenarbeit“,<br />
„außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit und Seniorenarbeit“o<strong>de</strong>r auch „Projektgruppe<br />
im AK Senioren“angegeben. Das Themenspektrum reicht von explizit so<br />
benannter politischmotivierter Arbeit, Mitglie<strong>de</strong>r(rück)gewinnung über die Stärkung<br />
<strong>de</strong>s Zusammengehörigkeitsgefühls, Durchführung von Informationsveranstaltungen<br />
bis zu kreativen und geselligen Kreisen.<br />
Bei genauerer Betrachtung <strong>de</strong>r Antworten wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, dass die in <strong>de</strong>n<br />
Fragebögen aufgeführten Kontexte gewerkschaftlicher Seniorenarbeit sich im wesentlichen<br />
in <strong>de</strong>n traditionellen Seniorenarbeitskreisen erschöpfen. Im Zentrum<br />
ihrer Tätigkeiten steht die Pflege <strong>de</strong>r Bindungsgefühle <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r an „ihre Gewerkschaft“und<br />
sind gut frequentiert. Gegenüber diesen traditionell anmuten<strong>de</strong>n<br />
Formen <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rbetreuung fin<strong>de</strong>n sich innovative Formen <strong>de</strong>r Seniorenarbeit<br />
vor allem im Kontext <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit. Diese ist häufiger in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
vorfindbar, was sich mit <strong>de</strong>r seit 1990 massiv einsetzen<strong>de</strong>n Schließung<br />
<strong>de</strong>r DDRBetriebe erklären lässt, die schlagartig viele Menschen vorzeitig<br />
und zumeist unfreiwillig in <strong>de</strong>n VorRuhestand versetzte. Somit ergab sich in <strong>de</strong>n<br />
neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn im Gegensatz zu <strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn, wo sich dieser<br />
DeIndustrialisierungsprozess bis heute schleichend abspielt, die Notwendigkeit,<br />
bislang innerbetrieblich angesie<strong>de</strong>lte Strategien <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>rgewinnung und –<br />
betreuung auf <strong>de</strong>n außerbetrieblichen Bereich zu verlagern und somit quasi eine<br />
„VorreiterRolle“im Bereich <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit – z.T. recht erfolgreich – einzunehmen.<br />
Die empirischen Ergebnisse zur Seniorenarbeit wer<strong>de</strong>n im folgen<strong>de</strong>n in<br />
fallbezogenen Darstellungen exemplarisch unter individueller und institutioneller<br />
Perspektive dargestellt. Die aus <strong>de</strong>m Datenmaterial gewonnenen Aussagen lassen<br />
sich in eine inhaltliche und eine strukturelle Dimension fassen. Die exemplarischen<br />
Falldarstellungen erörtern insofern neben <strong>de</strong>n Inhalten und Zielen <strong>de</strong>r ehrenamtlichen<br />
Arbeit individuelle Motivationen und institutionelle Anreize für ehrenamtliches<br />
Engagement. 78<br />
77 Siehe Anhang.<br />
78 Die folgen<strong>de</strong> Darstellung ist strikt ergebnisbezogen, d.h. dass die methodische Produktion <strong>de</strong>r<br />
Aussagen zugunsten einer strukturellen Beschreibung geringer gewichtet wird.
160 <br />
Die Fälle <strong>de</strong>r Seniorenarbeit wer<strong>de</strong>n anhand eines traditionellen Beispiels<br />
und eines mo<strong>de</strong>rnen Kontrastfalles dargestellt. Das dritte Fallbeispiel wur<strong>de</strong> als<br />
ein weiterer Kontrastfall aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Jugendarbeit<br />
ausgewählt. Es ist thematisch <strong>de</strong>nnoch nicht fehl am Platz (obwohl es als Ergänzung<br />
zum Kapitel 4 zur Jugendarbeit gelesen wer<strong>de</strong>n kann), weil es die anschließen<strong>de</strong><br />
Verallgemeinerung vervollständigt und plausibilisiert.<br />
5.5 Die Fallstudie „östliches Ruhrgebiet“<br />
5.5.1 Die IGMetall Stadtteilgruppen in Dortmund<br />
Der folgen<strong>de</strong> Fall wur<strong>de</strong> insbeson<strong>de</strong>re wegen seines traditionellen Charakters<br />
ehrenamtlichen Engagements als Beispiel für <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Seniorenarbeit<br />
ausgewählt. Er dient im Rahmen einer größeren Gruppierung empirischer Fälle<br />
als typisches Beispiel, an <strong>de</strong>m vor allem die <strong>de</strong>n Fällen gemeinsame Merkmalsausprägung<br />
ver<strong>de</strong>utlicht wer<strong>de</strong>n kann, auch wenn fallvergleichen<strong>de</strong> Analysen<br />
neben diesen Gemeinsamkeiten auch Unterschie<strong>de</strong> ergeben haben.<br />
Obwohl die Gewerkschaftsstrukturen in Deutschland bis 1933 nach <strong>de</strong>m<br />
Wohnortprinzip organisiert waren, knüpften nur wenige Verwaltungsstellen <strong>de</strong>r IG<br />
Metall an dieses Strukturmuster an (Hielscher 1999: 11).79 Die fortschreiten<strong>de</strong><br />
Separation <strong>de</strong>r Arbeitswelt aus <strong>de</strong>r Lebenswelt und die parallel <strong>hier</strong>zu wachsen<strong>de</strong><br />
Konzentration <strong>de</strong>r Gewerkschaftspolitik auf die Erwerbsinteressen ihrer Mitglie<strong>de</strong>r<br />
stellt lediglich eine Facette in <strong>de</strong>m mehrdimensionalen Prozess dar, <strong>de</strong>r zum<br />
Phänomen eines zunehmend gelockerten Bindungsverhältnisses <strong>de</strong>r Gewerkschaften<br />
und ihrer Mitglie<strong>de</strong>r führte. Diese Situation stellt einen beson<strong>de</strong>ren Verlust<br />
für die einstmals durch Kultur und Freizeitaktivitäten geprägte Alltagskultur<br />
<strong>de</strong>r Arbeitnehmerschaft dar. Dieser kollektiv von <strong>de</strong>n älteren Gewerkschaftsmitglie<strong>de</strong>rn<br />
erfahrene Verän<strong>de</strong>rungsprozeß spielt im Kontext <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements von Gewerkschaftssenioren eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle.<br />
Niemeyer (1988: 53 ff.) bezeichnet die Verwaltungsstelle Dortmund als<br />
letzte mit einer so weitreichen<strong>de</strong>n Wohnbezirksorganisation in <strong>de</strong>r BRD und verbin<strong>de</strong>t<br />
mit dieser die Chance zu einer <strong>de</strong>zentralisierten und <strong>de</strong>mokratischen Basisorganisation.<br />
Die außerbetriebliche Organisationsstruktur <strong>de</strong>r Stadtteilgruppen<br />
in Dortmund nimmt somit in <strong>de</strong>r IG Metall einen beson<strong>de</strong>ren Status ein.<br />
Die Mitglie<strong>de</strong>r im Bereich <strong>de</strong>r Verwaltungsstelle Dortmund80 sind entsprechend<br />
ihrem Wohnort in <strong>de</strong>rzeit 19 Stadtteilgruppen zusammengefasst. In diesen<br />
wer<strong>de</strong>n die Vertreter für das beschlussfassen<strong>de</strong> Organ <strong>de</strong>r Verwaltungsstelle –<br />
<strong>de</strong>r Vertreterversammlung – gewählt.81 Die Stadtteilgruppen wer<strong>de</strong>n mit ca. 75 %<br />
79 Die IG BCE stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar, da sie als einzige Einzelgewerkschaft das<br />
Strukturprinzip <strong>de</strong>r Ortsgruppen wie<strong>de</strong>r aufgenommen hat.<br />
80 Die Stadtteilgruppen sind von männlichen Mitglie<strong>de</strong>rn dominiert, weibliche fin<strong>de</strong>n sich nur vereinzelt.<br />
Dieses Erscheinungsbild stellt sich allerdings im Kontext einer ohnehin vorwiegend männlichen<br />
Mitgliedschaft <strong>de</strong>r IGM lediglich eine strukturelle Fortsetzung und keine lokale Beson<strong>de</strong>rheit<br />
dar. Für die Verwaltungsstelle Dortmund wer<strong>de</strong>n insgesamt 12% weibliche Mitglie<strong>de</strong>r angegeben.<br />
In einer einzigen Stadteilgruppe ist eine überproportionale Teilnahme weiblicher Mitglie<strong>de</strong>r festzustellen.<br />
81 Die Vertreterversammlung wie<strong>de</strong>rum wählt die Ortsverwaltung, welche als Vorstand <strong>de</strong>r Verwaltungsstelle<br />
fungiert. Im Rahmen <strong>de</strong>r kürzlich vorgenommenen Satzungsän<strong>de</strong>rung wur<strong>de</strong>n Mandate<br />
für <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Jugend, <strong>de</strong>r Frauen und <strong>de</strong>s Handwerks beschlossen. Die verbleiben<strong>de</strong>n
161 <br />
von Rentnern und Vorruheständlern dominiert und nur ungefähr 25 % sind erwerbstätige<br />
Mitglie<strong>de</strong>r.82 Diese Zusammensetzung führt zu einem sehr hohen<br />
Altersdurchschnitt, <strong>de</strong>r über 60 Jahre liegt. Die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Stadtteilgruppen, die<br />
jeweils eine ehrenamtliche StadtteilgruppenLeitung83 aus ihren Reihen wählen,<br />
treffen sich in <strong>de</strong>r Regel einmal monatlich zu meist informativen Bildungsveranstaltungen<br />
in einem im Stadtteil angemieteten Lokal.84 Eine thematische Analyse<br />
<strong>de</strong>r stadtteilbezogenen Mitglie<strong>de</strong>rversammlungen ergab einen <strong>de</strong>utlichen<br />
Schwerpunkt bei sozialpolitischen und gewerkschaftspolitischen Themen. So waren<br />
für die Mitglie<strong>de</strong>rversammlungen beispielsweise Informationen zur Rentenreform,<br />
zur Rentenversicherung, zu Leistungen <strong>de</strong>r Krankenkassen, zur Einführung<br />
<strong>de</strong>s Euros sowie zur Altersvorsorge von Interesse. Bei <strong>de</strong>n gewerkschaftspolitischen<br />
Themen dominierte das Betriebsverfassungsgesetz, die Zukunfts<strong>de</strong>batte<br />
<strong>de</strong>r IG Metall und die Tarifpolitik. Gelegentlich fin<strong>de</strong>n Veranstaltungen zur Strukturpolitik<br />
im Stadtteil statt, in <strong>de</strong>nen die Infrastruktur und Arbeitsplatzsituation sowie<br />
die allgemeine Lebensqualität im Stadtteil Gegenstand <strong>de</strong>r Versammlungen<br />
sind. Einige Veranstaltungen fan<strong>de</strong>n zu gesellschaftspolitischen Themen wie beispielsweise<br />
zum Rechtsextremismus statt. Darüber hinaus wer<strong>de</strong>n aktuelle Themen<br />
und Entwicklungen aus <strong>de</strong>n Betrieben aufgegriffen o<strong>de</strong>r auch historische<br />
Perspektiven wie die zur „Unternehmensgeschichte von Hoesch“eingenommen.<br />
Kultur und Freizeit spielt lediglich im Rahmen <strong>de</strong>r Veranstaltungen zum Jahresausklang<br />
ein Rolle.<br />
Das ehrenamtliche Aktivitätsniveau zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Stadtteilgruppen<br />
ist stark schwankend, wobei sie strukturell betrachtet im Vergleich zur betriebsbezogenen<br />
Mitglie<strong>de</strong>rorganisation <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Vorteil einer quantitativ<br />
hohen Mobilisierung von Mitglie<strong>de</strong>rn zur Herstellung einer größeren Öffentlichkeit<br />
bieten (vgl. Niemeyer 1988: 58f).<br />
Dennoch sind die Stadtteilgruppen faktisch Seniorengruppen traditioneller<br />
Prägung. In ihnen stellt die gewerkschaftssozialisatorische Habitualisierung eine<br />
bis ins höhere Alter aufrechterhaltene, prägen<strong>de</strong> Kraft für das Engagement dar.<br />
Dies kommt im Rahmen von biographischen Erzählungen ehrenamtlicher Akteure<br />
zum Ausdruck, welche gleichzeitig die ausgeprägte Kontinuität ihres Engagements<br />
<strong>de</strong>utlich machen: sie haben das „gewerkschaftlich tätig sein schon über die<br />
Muttermilch mitbekommen“. Die Engagierten teilen kollektive Erfahrungen wie die<br />
<strong>de</strong>s 2. Weltkrieges, <strong>de</strong>n Wie<strong>de</strong>raufbau <strong>de</strong>r Industrie in West<strong>de</strong>utschland und die<br />
damit für sie verbun<strong>de</strong>nen Möglichkeiten kollektiv vor allem über <strong>de</strong>n Alltagsbezug<br />
gewerkschaftlicher Politik, welcher Betriebliches und Außerbetriebliches vereinte,<br />
gebun<strong>de</strong>n zu wer<strong>de</strong>n. Hierbei spielte nach Meinung <strong>de</strong>r ehrenamtlichen Akteure,<br />
die ausnahmslos bereits im Betrieb gewerkschaftspolitisch engagiert waren, zum<br />
Beispiel <strong>de</strong>r Gewerkschaftsunterricht in <strong>de</strong>n Großbetrieben eine wichtige Rolle. In<br />
<strong>de</strong>n Gruppendiskussionen unterschei<strong>de</strong>n die Beteiligten die „Lehre früher“stark<br />
von <strong>de</strong>r „Lehre heute“, was mit <strong>de</strong>r sukzessive abgebauten För<strong>de</strong>rung politischen<br />
Bewusstseins durch die Organisation Gewerkschaft in Verbindung gebracht wird.<br />
Mandate wer<strong>de</strong>n innerhalb <strong>de</strong>r Stadtteilgruppen gewählt und besetzt.<br />
82 Biographisches Einzelinterview mit Herrn Kraft vom 14.05.02<br />
83 Diese besteht aus Stadtteilgruppenleiter, Stellvertreter und Schriftführer (vgl. Niemeyer, 1988,<br />
58).<br />
84 Hierbei han<strong>de</strong>lt es sich überwiegend um Gaststätten, aber auch AWORäumlichkeiten, Bürgerhaus<br />
und Räumlichkeiten in Gartenanlagen wer<strong>de</strong>n für die Treffen genutzt.
162 <br />
Das Fehlen „[...] dieses Vorbereitens auch auf ein gesellschaftliches Leben nicht<br />
nur auf <strong>de</strong>n Beruf, dass ich ne Schraube andrehen kann“wird als großer Verlust<br />
im Kontext <strong>de</strong>r gewerkschaftspolitischen Habitualisierung empfun<strong>de</strong>n und führt zu<br />
immer geringeren Rekrutierungsmöglichkeiten. Zu<strong>de</strong>m wird herausgestellt, dass<br />
das Gewerkschaftspolitische früher in Gesellschaftspolitischem aufgegangen sei<br />
– das „politische Bewusstsein als Mensch dieser Gesellschaft“selbstverständlich<br />
gewesen sei, Beruf und Freizeit zusammengehörten und zu Sinnstiftung und Persönlichkeitsbildung<br />
geführt hätten. Auf diesem Hintergrund schwin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Beschreibung<br />
<strong>de</strong>r Ehrenamtlichen sowohl die betrieblichen als auch die außerbetrieblichen<br />
Gelegenheitstrukturen für ein gesellschaftspolitisches Engagement.<br />
Dass Betriebliches und Außerbetriebliches für die Befragten in einem dialektischen<br />
Verhältnis stehen, kann auch empirisch nachgewiesen wer<strong>de</strong>n. Der Anstoß<br />
zum ehrenamtliches Engagement wur<strong>de</strong> bei ihnen in <strong>de</strong>r Regel im Betrieb entwickelt<br />
und in <strong>de</strong>n außerbetrieblichen Bereich aufgrund eines generativen o<strong>de</strong>r eines<br />
ökonomischen Statuspassagenwechsels transformiert. Diese Verflechtung<br />
kommt in <strong>de</strong>r homogenen Gruppe <strong>de</strong>r Senioren in <strong>de</strong>n Stadtteilgruppen auch im<br />
Bezug auf innerbetriebliche Entwicklungen zum Ausdruck. Auf <strong>de</strong>r kollektiven Be<strong>de</strong>utungsebene<br />
wird gesellschaftspolitisches Engagement eher <strong>de</strong>m außerbetrieblichen<br />
Bereich, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n ehrenamtlichen Akteuren enger an <strong>de</strong>n individuellen<br />
Bedürfnissen verortet wird, und gewerkschaftspolitisches Engagement mehr<br />
<strong>de</strong>m innerbetrieblichen Bereich – <strong>de</strong>r <strong>gesamten</strong> Arbeitnehmerschaft – zugeordnet.<br />
Unter gesellschaftspolitischem Engagement wird im Verständnis <strong>de</strong>r StadtteilgruppenEngagierten<br />
insbeson<strong>de</strong>re das Aufgreifen von Themen verstan<strong>de</strong>n,<br />
„die die Leute vor Ort beschäftigen“, insbeson<strong>de</strong>re die stadtteilbezogene Kommunalpolitik.<br />
In diesem Zusammenhang wer<strong>de</strong>n Beispiele wie das Organisieren von<br />
Wi<strong>de</strong>rstand gegen die geplante Abschaffung einer Straßenbahnlinie o<strong>de</strong>r Informationsveranstaltungen<br />
zu Mobilfunkantennen im Stadtteil genannt. Im Jahr 2002<br />
fan<strong>de</strong>n beispielsweise zahlreiche Diskussionsveranstaltungen zur Zukunft <strong>de</strong>r<br />
Stadtteilgruppen statt, die aus <strong>de</strong>r Frustration über die mangeln<strong>de</strong> Resonanz bei<br />
jüngeren Stadtteilbewohner resultierten. Die Ergebnisse beschränkten sich jedoch<br />
auf Überlegungen zur Zusammenlegung von Gruppen. 85<br />
Die beschriebenen empirischen Ergebnisse zuammenfassend, lassen sich<br />
die Stadtteilgruppen als beson<strong>de</strong>rs homogene, hoch institutionalisierte und familialisierte<br />
Gruppe von Ehrenamtlichen beschreiben. Die Akteure – selbst Bewohner<br />
<strong>de</strong>s jeweiligen Stadtteils – sind kontinuierlich langjährig ehrenamtlich engagiert.<br />
Dieses Engagement rührt aus <strong>de</strong>n Arbeitserfahrungen während ihrer Zeit als aktive<br />
Arbeitnehmer her. Ihr Engagement innerhalb <strong>de</strong>r Stadtteilgruppen hat noch<br />
immer <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s betrieblichen Gewerkschaftsaktivisten. Deshalb gelingt<br />
es so schwer, das gewerkschaftliche Engagement für bürgerschaftliche Ziele auf<br />
eine breitere Basis zu stellen und Nachwuchs aus jüngeren Altersgruppen anzuziehen.<br />
Diese Form <strong>de</strong>s Engagements und die dazugehören<strong>de</strong>n Strukturen wer<strong>de</strong>n<br />
in enger Anbindung an die örtliche Verwaltungsstelle vom betrieblichen auf <strong>de</strong>n<br />
außerbetrieblichen Bereich transformiert. Das führt in <strong>de</strong>n Stadtteilen mit ihren<br />
fast dörflichen Strukturen zu vereinsähnlichen, ritualisierten Sitzungen, die sich<br />
85 Diesbezüglich wur<strong>de</strong> im Februar 2003 eine Satzungsän<strong>de</strong>rung beschlossen, welche die Fusionierung<br />
einiger Stadtteilgruppen vorsieht und die Gesamtzahl auf 19 Stadtteilgruppen reduziert.
163 <br />
thematisch eng an sozialpolitischen Entwicklungen und <strong>de</strong>m gewerkschaftspolitischen<br />
Geschehen orientieren, in <strong>de</strong>nen wohngebietsbezogene Themen aufgegriffen<br />
und kommunalpolitisch in einer stadtteilbezogenen Vernetzungsstruktur von<br />
Parteien und Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>n umgesetzt wer<strong>de</strong>n. Motiviert ist diese Form<br />
ehrenamtlichen Engagements durch <strong>de</strong>n Wunsch nach „sozialer Integration“über<br />
das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Erwerbsphase hinaus, <strong>de</strong>m Bedürfnis weiterhin kollektiv im Rahmen<br />
<strong>de</strong>r Gemeinschaft politisch aktiv zu sein. Diese milieugebun<strong>de</strong>ne Form <strong>de</strong>s Engagements<br />
wird individuell sinnstiftend für die Phase <strong>de</strong>s Ruhestands empfun<strong>de</strong>n<br />
und kann als Fortführung <strong>de</strong>r im Erwerbsleben eingenommenen Rolle als Experte<br />
für die Interessen <strong>de</strong>r Arbeitnehmerschaft und <strong>de</strong>r damit einhergehen<strong>de</strong>n Wertschätzung<br />
verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. In diesem Zusammenhang wird zwar ein fehlen<strong>de</strong>s<br />
Budget zur selbständigen Umsetzung vorhan<strong>de</strong>ner Wünsche nach kultureller<br />
Geselligkeit beklagt, ansonsten ist eine individuelle materielle Gratifikation aber<br />
nicht von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung.<br />
Die Bindungspotentiale dieses ehrenamtlichen Engagements liegen nicht in<br />
<strong>de</strong>n Gruppenstrukturen selbst, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n kollektiven Überzeugungen und<br />
Haltungen, einen sozial verantwortlichen Umgang miteinan<strong>de</strong>r im Stadtteil zu<br />
pflegen. In <strong>de</strong>n von ihnen initiierten stadtteilbezogenen Aktivitäten im Rahmen von<br />
Jugendtreffs, BasketballNächten o<strong>de</strong>r Bolzplatzturnieren stellen die Akteure <strong>de</strong>r<br />
Stadtteilgruppen intergenerative Bezüge insbeson<strong>de</strong>re zu jugendlichen Stadtteilbewohnern<br />
her, die über diese Gelegenheiten für Gewerkschaften interessiert<br />
wer<strong>de</strong>n sollen. Zu einer „Verjüngung“<strong>de</strong>r Stadtteilgruppen haben diese Aktivitäten<br />
jedoch nicht geführt.<br />
5.5.2 Die Agentur für Gesellschaftliches Engagement (AGE) in Hamm<br />
Die folgen<strong>de</strong> Falldarstellung wur<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>r Perspektive von Bindungspotentialen<br />
kontrastierend zur ersten Falldarstellung gewählt und steht exemplarisch<br />
für eine vergleichsweise mo<strong>de</strong>rne Form <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung ehrenamtlichen Engagements<br />
auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r Seniorenarbeit.<br />
Die Agentur für Gesellschaftliches Engagement (AGE) 86 ist ein vom Ministerium<br />
für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Nordrhein<br />
Westfalen geför<strong>de</strong>rtes Kooperationsprojekt <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sarbeitsgemeinschaft „Arbeit<br />
und Leben“<strong>de</strong>s DGB und <strong>de</strong>r Stadt Hamm. 87 Sie wur<strong>de</strong> auf Initiative <strong>de</strong>s Bereichs<br />
Seniorenbildung in <strong>de</strong>r Volkshochschule Hamm und „Arbeit und Leben“in<br />
Düsseldorf im April 2001 gegrün<strong>de</strong>t, und ist insofern eine recht junge Einrichtung.<br />
AGE zielt auf die gesellschaftliche Öffnung von Gewerkschaften über verschie<strong>de</strong>ne<br />
Kanäle. Einerseits dient sie als Kontakt und Informationsstelle für SeniorInnen,<br />
die aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen wollen und leistet die Beratung<br />
und Vermittlung interessierter Freiwilliger sowie <strong>de</strong>ren Fort und Weiterbildung.<br />
An<strong>de</strong>rerseits zielt sie über Informationsveranstaltungen zu möglichen Engagementformen<br />
in Hamm sowie Weiterbildungen und Seminaren zur Ruhestandsvorbereitung<br />
in Unternehmen unter <strong>de</strong>m Motto "Neue Chance Ruhestand“<br />
auf die Gründung von Betriebsgruppen. Diese I<strong>de</strong>e orientiert sich am Konzept <strong>de</strong>r<br />
86 Die Abkürzung klingt nicht zufällig wie die englische Bezeichnung für das Alter („age“). Die Beteiligten<br />
sprechen es in dieser Weise aus und signalisieren damit, anwelche Zielgruppe sie sich<br />
wen<strong>de</strong>n.<br />
87 Die vom Ministerium getragene För<strong>de</strong>rung läuft bis En<strong>de</strong> 2003.
164 <br />
„corporate citizenship“– an <strong>de</strong>r Vorstellung, dass die Unternehmen gleichsam<br />
„Bürger“<strong>de</strong>s Gemeinwesens darstellen, und sie insofern Träger gesellschaftlichen<br />
Engagements sind. Die Betriebsgruppen entstehen in Kooperation mit <strong>de</strong>r Betriebsleitung<br />
von Unternehmen und rekrutieren sich aus älteren Beschäftigten, die<br />
sich in <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>s Übergangs vom Erwerbsleben zum Ruhestand befin<strong>de</strong>n<br />
und im Rahmen <strong>de</strong>s Fortbildungmoduls „Neue Chance Ruhestand“für ehrenamtliches<br />
Engagement interessiert wer<strong>de</strong>n sollen. Es existiert <strong>de</strong>rzeit eine Betriebsgruppe<br />
mit ca. 35 männlichen Mitglie<strong>de</strong>rn im Alter zwischen 55 und 66 Jahren. 88<br />
Hierunter befin<strong>de</strong>n sich einige, die bereits langjährig gewerkschaftspolitisch engagiert<br />
sind und im Rahmen dieses Konzeptes eine Möglichkeit sehen, ihr Engagement<br />
fortzusetzen. Das Aktivitätsspektrum <strong>de</strong>r Betriebsgruppe spannt sich vom<br />
gesellschaftlichen Engagement über Bildung bis zur Freizeitgestaltung, wobei die<br />
bei<strong>de</strong>n erstgenannten Bereiche in enger Verbindung zu AGE realisiert wer<strong>de</strong>n<br />
und letztere autonom von <strong>de</strong>n Senioren durchgeführt wird. Die Agentur ist in ein<br />
regionales Kooperationsnetz von Gewerkschaften, Betriebsräten und Vertrauensleuten,<br />
örtlichen Bildungsorganisationen sowie <strong>de</strong>r Kommune und ansässigen<br />
Unternehmen eingebun<strong>de</strong>n. Die Akteure <strong>de</strong>r Betriebsgruppe wer<strong>de</strong>n im Rahmen<br />
dieser Kooperationen mit MultiplikatorenKompetenzen ausgestattet, die in erster<br />
Linie <strong>de</strong>r Vermittlung von Praktika und Ausbildungsplätzen für Sozialhilfeempfänger<br />
o<strong>de</strong>r im Rahmen von ABM dienen sollen. Die „Ehemaligen“sollen aus institutioneller<br />
Sicht als eine Art Werbeträger für das Unternehmen fungieren. Sie wer<strong>de</strong>n<br />
im Kontext regelmäßiger monatlicher Treffen auf <strong>de</strong>m Betriebsgelän<strong>de</strong> stets<br />
aktuell hinsichtlich freiwer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Stellen o<strong>de</strong>r möglicher Praktikumsplätze informiert<br />
und können diese Informationen an interessierte Arbeitnehmer im Rahmen<br />
ihrer jeweiligen persönlichen Netzwerke weitergeben. Das Unternehmen stellt<br />
sowohl Räume als auch Bewirtung für die monatlichen Treffen, die Mo<strong>de</strong>ration<br />
und Fortbildung hingegen wird von AGE gesichert.<br />
Die Arbeit von AGE zielt insofern auf die Herstellung eines Passungsverhältnisses<br />
persönlicher Interessen und Vorlieben ehrenamtlich interessierter älterer<br />
Bürger mit gesellschaftlichen Erfor<strong>de</strong>rnissen und vermittelt somit individuelle<br />
Orientierungen <strong>de</strong>r Engagierten mit gesellschaftlichen Interessen über die aktive<br />
Engagementför<strong>de</strong>rung von Unternehmen.<br />
Im Rahmen von AGE wer<strong>de</strong>n sowohl Projekte initiiert als auch ehrenamtlich<br />
Engagierte für bereits bestehen<strong>de</strong> Projekte gewonnen und vermittelt. Die Projekte<br />
sind in drei Bereichen verortet: <strong>de</strong>m sozialen, <strong>de</strong>m kulturellen und <strong>de</strong>m wirtschaftlichen<br />
Bereich.<br />
AGE för<strong>de</strong>rt die gesellschaftliche Teilhabe Älterer mit <strong>de</strong>m Ziel eines solidarischen<br />
Zusammenwirkens <strong>de</strong>r Generationen und Bevölkerungsgruppen, wobei<br />
es bei dieser Engagementform nicht so sehr auf eine stark ausgeprägte Bindung<br />
innerhalb eines Projektes ankommt, son<strong>de</strong>rn vielmehr auf die themenbezogene<br />
und kooperative Umsetzung gerichtet ist. Beispielsweise wer<strong>de</strong>n von ehrenamtlich<br />
engagierten SchülerInnen eines ortsansässigen Berufskollegs im Rahmen<br />
von Mo<strong>de</strong>llprojekten Sprachkurse für Englisch sowie InternetEinführungen angeboten.<br />
Diese mehrwöchigen intergenerativen Projekte basieren auf einer Kooperation<br />
<strong>de</strong>r Volkshochschule Hamm mit <strong>de</strong>m Kollegium <strong>de</strong>s Berufskollegs und fin<strong>de</strong>n<br />
regen Zuspruch sowohl bei <strong>de</strong>n SchülerInnen als auch bei <strong>de</strong>n SeniorInnen.<br />
88 Experteninterview mit Herrn Jung am 13.02.03.
165 <br />
Die Fokussierung <strong>de</strong>r Selbstverwirklichungsbedürfnisse interessierter Engagierter<br />
ist an <strong>de</strong>r die Arbeit tragen<strong>de</strong> biographischen Orientierung, am hergestellten<br />
Lebensumfeldbezug also <strong>de</strong>r Alltagsnähe <strong>de</strong>r Projekte sowie an <strong>de</strong>r<br />
Möglichkeit <strong>de</strong>s selbstbestimmten Agierens für die Ehrenamtlichen erkennbar.<br />
Gleichzeitig wird <strong>hier</strong>durch die I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>r ehrenamtlich Engagierten mit ihrem<br />
Projekt geför<strong>de</strong>rt, was zu einer hohen Verantwortungsübernahme in diesem<br />
Rahmen führt. In <strong>de</strong>r empirischen Analyse wur<strong>de</strong> zu<strong>de</strong>m ein hohes Maß an Hilfe<br />
zur Selbsthilfe herausgearbeitet. Dieser enge lebenspraktische Bezug, <strong>de</strong>r insbeson<strong>de</strong>re<br />
für ältere Menschen Be<strong>de</strong>utung bekommt, kann anhand weiterer BeispielProjekte,<br />
die im Rahmen von AGE erfolgreich gestartet wur<strong>de</strong>n, belegt wer<strong>de</strong>n:<br />
In <strong>de</strong>m einen Beispiel wur<strong>de</strong>n Führungen für behin<strong>de</strong>rte Kin<strong>de</strong>r in einem<br />
Freizeitpark von einem Vater eines behin<strong>de</strong>rten Mädchens konzeptualisiert und<br />
angeboten. Diese I<strong>de</strong>e wur<strong>de</strong> mit in <strong>de</strong>r lokalen Presse veröffentlichten Artikeln<br />
von AGE unterstützt, die neben <strong>de</strong>n Informationen zum Projekt selbst <strong>de</strong>n Aufruf<br />
an potentiell interessierte Bürger enthielt, dieses Projekt aktiv durch eigene Mitarbeit<br />
zu unterstützen. In einem an<strong>de</strong>ren Projekt erstellen ca. 16 Menschen eine<br />
Hörzeitung für die Stadt Hamm. Die von <strong>de</strong>n in vier Gruppen aufgeteilten Akteure<br />
gelesenen Artikel aus <strong>de</strong>r regionalen und überregionalen Presse wer<strong>de</strong>n auf<br />
Tonträger aufgenommen, vervielfältigt und an sehbehin<strong>de</strong>rte Menschen in Hamm<br />
abgegeben. Die redaktionelle Arbeit <strong>de</strong>r Hörzeitung fin<strong>de</strong>t im Studio für Bürgerradio<br />
in <strong>de</strong>r Volkshochschule Hamm statt. Über diese Form <strong>de</strong>s Engagements erreichen<br />
die ehrenamtlich Engagierten einen direkten Einfluss auf die jeweils mit<br />
<strong>de</strong>m Engagement verfolgten Ziele, was wie<strong>de</strong>rum das individuelle Verantwortungsgefühl<br />
für das Projekt stärkt und somit zu Stabilisierung und Kontinuität <strong>de</strong>s<br />
Engagements beiträgt. Gleichzeitig stellen sich die im Rahmen von AGE angebotenen<br />
Gratifikationsformen als eher gering dar und fallen vor allem in <strong>de</strong>n Bereich<br />
<strong>de</strong>r Logistik. 89<br />
AGE agiert schwerpunktmäßig in zwei Bereichen: sie unterstützt individuell<br />
motivierte Projekte von älteren Menschen durch Organisation und Ausstattung,<br />
Räumlichkeiten und professionelle Begleitung und initiiert an<strong>de</strong>rerseits Betriebsgruppen<br />
in Kooperation mit regionalen Unternehmen, die sich im Sinne von <strong>de</strong>r<br />
„corporate citizenship“gesellschaftlich verantwortlich zeigen wollen. Die ältere<br />
Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Betriebsgruppen engagieren sich ihrerseits ehrenamtlich in verschie<strong>de</strong>nen<br />
Zusammenhängen. Auf diesen Wegen soll die Statuspassage vom<br />
Erwerbsleben in <strong>de</strong>n Ruhestand erleichtert und erfolgreiches Altern im Sinne eines<br />
aktiven Ruhestan<strong>de</strong>s unterstützt wer<strong>de</strong>n. Dies geschieht nicht zuletzt durch<br />
die För<strong>de</strong>rung von Verantwortungsübernahme für gesellschaftliche Aufgaben, die<br />
in einem zeitlich überschaubaren Rahmen erfolgreich realisiert wer<strong>de</strong>n können<br />
und sowohl individuelle Kompetenzerweiterung als auch Erfolgserlebnisse für die<br />
SeniorInnen bereithalten.<br />
5.5.3 Das IG Metall Jugendprojekt „Xolelanani“<br />
Das Jugendprojekt <strong>de</strong>r IG Metall mit <strong>de</strong>r Bezeichnung „Xolelanani“ 90 stellt<br />
im Sample dieses Untersuchungsteils eine Beson<strong>de</strong>rheit dar, nicht nur weil es von<br />
89 Außer einer einmal im Jahr ausgesprochenen Einladung zum Kaffee in die VHS Hamm fin<strong>de</strong>n<br />
sich neben <strong>de</strong>n oben genannten keine weiteren individuellen Gratifikationen.<br />
90 ‚Xolelanani‘ist <strong>de</strong>r KhosaSprache, eine von sieben Muttersprachen in Südafrika und be<strong>de</strong>utet
166 <br />
<strong>de</strong>r Untersuchungsgruppe <strong>de</strong>r Senioren abweicht, son<strong>de</strong>rn auch, weil es sowohl<br />
inhaltliches als auch strukturelles Innovationspotential im Bereich <strong>de</strong>s gewerkschaftlichen<br />
Engagements vereint.<br />
Den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund für dieses Projekt bil<strong>de</strong>t die<br />
gewerkschaftliche Tradition <strong>de</strong>r internationalen Solidarität. Seit <strong>de</strong>n 80er Jahren<br />
bestehen Kontakte <strong>de</strong>r IG Metall zu südafrikanischen Gewerkschaften, und <strong>hier</strong><br />
verfolgte sie unter an<strong>de</strong>rem das Ziel eines Min<strong>de</strong>ststandardLohnAbkommens für<br />
VWBetriebe in Südafrika. Das Projekt entstand 1996/1997 im Rahmen einer Delegationsfahrt<br />
von Beschäftigten aus <strong>de</strong>utschen Betrieben, die IGMetallBetriebe<br />
in Südafrika besuchten.<br />
„Xolelanani“zielt auf die Begegnung und Kooperation mit <strong>de</strong>r südafrikanischen<br />
Gewerkschaftsjugend und darüber zugleich <strong>de</strong>r Sensibilisierung von Jugendlichen<br />
für an<strong>de</strong>re Kulturen. Zur Realisierung dieses Ziels wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bau eines<br />
Jugendzentrums im Walmer Township bei Port Elisabeth als Möglichkeit <strong>de</strong>r<br />
Begegnung und <strong>de</strong>s wechselseitigen Lernens in Angriff genommen. 91<br />
Das Jugendprojekt wird von einer netzwerkartigen Kooperationsstruktur<br />
aus vier OrtsjugendAusschüssen <strong>de</strong>r IG Metall in vier Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn und <strong>de</strong>r<br />
engen Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n Evangelischen Aka<strong>de</strong>mien getragen. Zu<strong>de</strong>m<br />
wur<strong>de</strong> in Amberg ein gleichnamiger eingetragener Verein gegrün<strong>de</strong>t, welcher das<br />
ehrenamtliche Engagement auf eine noch breitere Basis stellt 92 und einen günstigen<br />
Finanzrahmen für das Projekt abgibt 93 . 2001 wur<strong>de</strong> dieses Jugendprojekt neben<br />
drei weiteren in <strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>s Arbeitskreises „Internationale Solidarität“<br />
integriert und seither vom IG MetallVorstand finanziell und logistisch unterstützt.<br />
Weitere finanzielle Unterstützung erhält das Projekt aus Bun<strong>de</strong>sjugendmitteln,<br />
vom DGB und <strong>de</strong>m Land Nie<strong>de</strong>rsachsen sowie aus privaten Spen<strong>de</strong>n.<br />
Im Februar 2002 fand die dritte Briga<strong>de</strong>Fahrt nach Südafrika statt. Während<br />
<strong>de</strong>r Vorbereitungsphase wur<strong>de</strong> das empirische Material für unsere Untersuchung<br />
gewonnen. 94 Unter <strong>de</strong>n 20 TeilnehmerInnen dieser Briga<strong>de</strong> haben 5 bereits<br />
an min<strong>de</strong>stens einer Fahrt nach Südafrika teilgenommen, die übrigen 15 waren<br />
zum ersten Mal dabei. Wie in <strong>de</strong>n vorangehend beschriebenen Gruppen überwiegen<br />
auch in dieser Gruppe die männlichen Teilnehmer (14:6). Die Gruppe setzt<br />
sich überwiegend aus Beschäftigten in Metallbetrieben zusammen, aber auch 5<br />
Studieren<strong>de</strong> waren darunter. Die meisten TeilnehmerInnen waren zwischen 20<br />
und 24 Jahren alt und „vertraten“in <strong>de</strong>r Regel min<strong>de</strong>stens zu zweit ihre jeweilige<br />
Verwaltungsstelle.<br />
Das Projekt verbin<strong>de</strong>t einen hohen Grad an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten<br />
mit <strong>de</strong>n kollektiven Orientierungen <strong>de</strong>r Jugendlichen. Dies kann anhand<br />
‚Versöhnung‘(vgl. Protokoll <strong>de</strong>r 7. Sitzung <strong>de</strong>r EnquêteKommission „Zukunft <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen<br />
Engagements“).<br />
91 Das Gebäu<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> im Rahmen <strong>de</strong>r Briga<strong>de</strong>fahrt 2002 fertiggestellt und darüber hinaus konnte<br />
für das Jahr 2003 ein hauptamtlich Beschäftigter im Jugendzentrum angestellt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r eine<br />
ganztägige Öffnung <strong>de</strong>sselben sichert.<br />
92 Die Zahl <strong>de</strong>r Vereinsangehörigen belief sich nach Angaben <strong>de</strong>s Vorstands Anfang 2003 auf 90.<br />
93 Im Rahmen <strong>de</strong>s Vereins können ohne weiteres Spen<strong>de</strong>n für die Arbeit eingenommen wer<strong>de</strong>n,<br />
was innerhalb <strong>de</strong>r Verwaltungsstrukturen <strong>de</strong>r IGM nicht o<strong>de</strong>r nur mit unverhältnismäßig viel Verwaltungsaufwand<br />
möglich wäre.<br />
94 Die nächste Briga<strong>de</strong>fahrt ist für das Jahr 2004 geplant und in 2003 soll ein Besuch einiger südafrikanischer<br />
Kooperationspartner in Deutschland realisiert wer<strong>de</strong>n.
167 <br />
von Äußerungen <strong>de</strong>r TeilnehmerInnen an <strong>de</strong>r Gruppendiskussion ver<strong>de</strong>utlicht<br />
wer<strong>de</strong>n: „das <strong>hier</strong> ist eine Lebenserfahrung und Hilfe zugleich“, „eben für mich<br />
und an<strong>de</strong>re, aber nicht allein, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Gruppe mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zusammen“<br />
o<strong>de</strong>r auch die zugeschriebene Be<strong>de</strong>utung einer „Grenzerfahrung“, „die Möglichkeit,<br />
eine an<strong>de</strong>re Kultur nicht als Tourist kennenzulernen und gleichzeitig direkt<br />
helfen zu können“. 95 Im Rahmen dieses gewerkschaftlich getragenen Projektes<br />
kommen also parallel eine Reihe von individuellen und kollektiven Orientierungen<br />
zum Tragen, die einen Bogen von „Spaß haben“ 96 , „Persönlichkeitslernen“und<br />
„interkulturellem Lernen“zu <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen von Gewerkschaft als sozialer Bewegung,<br />
internationaler Solidarität und „Hilfe in <strong>de</strong>r Gemeinschaft“spannen. Der beson<strong>de</strong>re<br />
Reiz für die Jugendlichen, sich in diesem Projekt zu engagieren und zu<br />
integrieren, liegt in <strong>de</strong>r Verbindung <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ell wie materiell gleichermaßen hohen<br />
Gratifikationsstruktur 97 und <strong>de</strong>m ausgeprägten Projektcharakter, <strong>de</strong>r strukturell ein<br />
kurzes, intensives Engagement ermöglicht und verlangt, jedoch auch die Möglichkeit<br />
zu Kontinuität bietet. Das Erfolgreiche an dieser Koppelung läßt sich auch mit<br />
<strong>de</strong>r tatsächlichen Kontinuität eines Kerns ehrenamtlich engagierter Jugendlicher<br />
belegen, welche seit über 6 Jahren Verantwortung für <strong>de</strong>n Fortgang <strong>de</strong>s Projektes<br />
übernehmen. Die TeilnehmerInnen gewinnen über das <strong>hier</strong> mögliche, aber auch<br />
notwendige selbstbestimmte Engagement eine unmittelbare soziale Erfahrung<br />
sowie die Möglichkeit <strong>de</strong>s direkten Einflusses auf die Effekte <strong>de</strong>r Globalisierung<br />
über persönliche Hilfe. Das innovative Potential von ‚Xolelanani‘liegt nicht zuletzt<br />
in <strong>de</strong>r Vielseitigkeit <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements, da nicht nur Sprachkenntnisse,<br />
son<strong>de</strong>rn interkulturelles Wissen vertieft und darüber hinaus praktische<br />
handwerkliche Fähigkeiten wie Mauern erlernt wer<strong>de</strong>n müssen. Die Äußerungen<br />
in <strong>de</strong>r Gruppendiskussion lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass das<br />
Engagement eine hoch emotionale Erfahrung darstellt, die Freizeitangebote beinhaltet<br />
und ohne finanzielle und logistische Unterstützung <strong>de</strong>r IG Metall und <strong>de</strong>n<br />
Schutz <strong>de</strong>r Gruppe für die Einzelnen nicht realisierbar wäre. Den Erfolg ihres ehrenamtlichen<br />
Engagements sehen die Jugendlichen darin „Glück für an<strong>de</strong>re zu<br />
bereiten“, „ein besserer Mensch zu wer<strong>de</strong>n“aber auch „<strong>de</strong>n persönlichen Erfahrungsschatz<br />
zu erweitern“und das „Erleben für südafrikanische Jugendliche zum<br />
Freund zu wer<strong>de</strong>n“.<br />
Eine Analyse <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungszuschreibungen von Gewerkschaftsarbeit<br />
und Projektarbeit ergab, dass zwischen bei<strong>de</strong>n die Gemeinsamkeiten überwiegen.<br />
Das Engagement ziele in die gleiche Richtung, im Projekt zähle jedoch <strong>de</strong>r<br />
„Wille zum Engagement“und <strong>de</strong>r „Weg zum Ergebnis“, wohingegen im Betrieb<br />
lediglich das Ergebnis und nicht <strong>de</strong>r Prozess wichtig sei und das Resultat <strong>de</strong>s Engagements<br />
oft genug keinerlei Wertschätzung erfahre. 98<br />
Die empirischen Ergebnisse zusammenfassend, kommt es im Rahmen <strong>de</strong>s<br />
Projektes „Xolelanani“zur Initiierung gewerkschaftlichen Bewusstseins über die<br />
Vermittlung interkulturellen Wissens und <strong>de</strong>r Möglichkeit zu persönlichen Begeg<br />
95 Transkript Gruppendiskussion vom 27.01.02<br />
96 Als wichtigster Faktor für Jugendliche, die freiwillig engagiert sind, wird <strong>de</strong>r „Spaß“angegeben.<br />
Dies entspreche <strong>de</strong>m Wertekanon Jugendlicher, in welchem hedonistische und auch materialistische<br />
Lebensziele eine große Rolle spielen (Picot: Freiwilligensurvey, 1999, 124).<br />
97 Die Abteilung Jugend beim IGMVorstand finanziert das die Briga<strong>de</strong>fahrt vorbereiten<strong>de</strong> Wochenendseminar<br />
sowie anteilig die Reisekosten nach Südafrika.<br />
98 Transkripte Gruppendiskussionen vom 26. und 27.01.02
168 <br />
nungen mit südafrikanischen Jugendlichen in <strong>de</strong>ren Alltagswelt. Das Engagement<br />
zeichnet sich sowohl durch eine klare institutionelle Einbindung in die IG Metall<br />
aus als auch in ein Kooperationsnetz mit Freien Trägern vor Ort und <strong>de</strong>r evangelischen<br />
Kirche. Grundlage für ein kontinuierliches Engagement <strong>de</strong>r Jugendlichen ist<br />
einerseits die familialisiert erlebte Gewerkschaft im Rahmen von Bildungsseminaren<br />
und die <strong>hier</strong>mit verbun<strong>de</strong>ne prozesshafte gewerkschaftliche Sozialisation im<br />
Schutz einer größeren Gemeinschaft. An<strong>de</strong>rerseits die Möglichkeit über selbstbestimmtes<br />
ehrenamtliches Han<strong>de</strong>ln –zum Beispiel das Vorstellen <strong>de</strong>s Projektes im<br />
Rahmen von Tagungen <strong>de</strong>r Gewerkschaft und Evangelischen Aka<strong>de</strong>mien und<br />
<strong>de</strong>m Sammeln von Spen<strong>de</strong>n – Verantwortung durch eine hohe I<strong>de</strong>ntifikation mit<br />
<strong>de</strong>r Projektarbeit zu entwickeln. Diese I<strong>de</strong>ntifikation, die sich durchaus auf die das<br />
Projekt tragen<strong>de</strong> IG Metall bezieht, wird durch speziell gedruckte „Xolelanani<br />
Shirts“mit <strong>de</strong>m Symbol <strong>de</strong>r IGM nach außen getragen. Der Verkauf dieser Shirts<br />
dient gleichzeitig <strong>de</strong>r Finanzierung <strong>de</strong>r Projektarbeit. Inzwischen entstand eine<br />
weitere Einnahmequelle sowohl für die Projektarbeit als auch für die südafrikanischen<br />
Jugendlichen in Form von Töpferware, die in <strong>de</strong>r selbst erstellten Jugendbegegnungsstätte<br />
gefertigt und von <strong>de</strong>n Projektmitglie<strong>de</strong>rn in Deutschland verkauft<br />
wird.<br />
Die jugendlichen Engagierten beschreiben die Projektarbeit als Möglichkeit<br />
eines gezielten und direkten Einflusses auf die Globalisierungseffekte im Rahmen<br />
einer Interkulturellen Begegnung. Diese wird emotional intensiv im Schutz <strong>de</strong>r<br />
Gruppe erlebt und stellt eine beson<strong>de</strong>re Erfahrung mit nachhaltiger Wirkung auf<br />
ihr Leben dar. Insofern ist das Engagement Jugendlicher in biographische Prozesse<br />
eingebun<strong>de</strong>n und Krisen und Wen<strong>de</strong>punkte im Lebenslauf entfalten Auswirkungen<br />
auf die individuelle Gestaltung ehrenamtlicher Arbeit. Die im Rahmen<br />
<strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements gemachten gesellschaftlichen Erfahrungen<br />
nehmen Einfluß auf an<strong>de</strong>re Lebensbereiche, was in <strong>de</strong>m vorliegen<strong>de</strong>n Fall insbeson<strong>de</strong>re<br />
für <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r berufsbiographischen Entscheidungen analysiert<br />
wer<strong>de</strong>n konnte. Insgesamt ver<strong>de</strong>utlicht das empirische Material <strong>de</strong>n wechselseitigen<br />
Einfluss zwischen Engagement und <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit. 99<br />
Einschlägige empirische Studien konstatieren gera<strong>de</strong> für die Gruppe <strong>de</strong>r<br />
Jugendlichen eine starke Unterrepräsentation in <strong>de</strong>n Bereichen <strong>de</strong>s sozialen und<br />
politischen Engagements und stellen statt<strong>de</strong>ssen eine EngagementPräferenz im<br />
persönlichen Lebensumfeld <strong>de</strong>r jungen Menschen 100 fest. Unter <strong>de</strong>r Perspektive<br />
von Bindungspotentialen ehrenamtlichen Engagements zeigt dieses gewerkschaftliche<br />
Jugendprojekt exemplarisch, dass es gelingen kann, Jugendliche für<br />
eine politische ehrenamtliche Arbeit an Verbandstrukturen zu bin<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m institutionell<br />
sowohl auf ihre solidarischen I<strong>de</strong>ale als auch ihre Selbstverwirklichungs<br />
Wünsche im Kontext familialisierter Gruppen Bezug genommen wird.<br />
5.6 Bindungspotentiale ehrenamtlichen Engagements<br />
In <strong>de</strong>n nachstehen<strong>de</strong>n Ausführungen wird die <strong>de</strong>n Einzelfalldarstellungen<br />
folgen<strong>de</strong> Ergebnisebene – nämlich die Abstraktion <strong>de</strong>r Einzelfälle dargestellt.<br />
99 Kodierungen <strong>de</strong>r Transkripte vom 26. und 27.01.02<br />
100 stellvertretend: Freiwilligensurvey, 1999, 124f
169 <br />
Diese dient <strong>de</strong>m Ziel <strong>de</strong>r Verallgemeinerbarkeit <strong>de</strong>r fallbezogenen empirischen<br />
Ergebnisse in Form von Bindungspotentialen und erschließt insofern Optionsräume<br />
zur Stärkung gewerkschaftlichen ehrenamtlichen Engagements.<br />
Die im vorangegangenen Kapitel erörterten Falldarstellungen dienen als<br />
prototypische Beispiele für eine jeweils spezifische Kombination von Merkmalen<br />
über welche eine Bindung an Gewerkschaften und Vereine im Kontext ehrenamtlichen<br />
Engagements hergestellt wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Im Vergleich <strong>de</strong>r Fälle konnten verschie<strong>de</strong>ne Formen von Bindungspotentialen<br />
ehrenamtlichen Engagements exploriert wer<strong>de</strong>n, die im folgen<strong>de</strong>n unter zwei<br />
zentralen Perspektiven differenzierter betrachtet wer<strong>de</strong>n. Die aus <strong>de</strong>m empirischen<br />
Material gewonnenen Kategorien wer<strong>de</strong>n somit auf einer abstrakten Ebene<br />
erörtert und dienen als Basis für das Mo<strong>de</strong>ll, in <strong>de</strong>m eine individuelle und eine<br />
institutionelle Perspektive auf Bindungspotentiale <strong>de</strong>utlich wird, welche miteinan<strong>de</strong>r<br />
korrespondieren. Während die individuelle Perspektive die subjektiven Bedingungen<br />
ehrenamtlichen Engagements betrachtet, fokussiert die institutionelle<br />
Perspektive <strong>de</strong>n strukturellen Kontext, in <strong>de</strong>n die ehrenamtliche Arbeit eingebun<strong>de</strong>n<br />
ist.<br />
5.6.1 Die Individuelle Perspektive auf Bindungspotentiale<br />
In <strong>de</strong>r individuellen Perspektive im Hinblick auf Bindungspotentiale in <strong>de</strong>r<br />
Falldarstellung <strong>de</strong>r IGMStadtteilgruppen in Dortmund kann eine insbeson<strong>de</strong>re<br />
<strong>hier</strong> vorliegen<strong>de</strong> Bindung über die langjährige Zugehörigkeit zur Gruppe ausgemacht<br />
wer<strong>de</strong>n. Bindung entsteht in diesem Fall vor allem über <strong>de</strong>n individuell<br />
ausgeprägten Wunsch <strong>de</strong>r biographisch kontinuierlichen Teilhabe an <strong>de</strong>r kollektiven<br />
Gemeinschaftlichkeit. Die Akteure <strong>de</strong>r Stadtteilgruppen wur<strong>de</strong>n in einem jahrzehntelangen<br />
betrieblich initiierten Prozess in gewerkschaftliche Strukturen eingebun<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>n Austritt aus <strong>de</strong>m Erwerbsleben hinaus i<strong>de</strong>ntitätsstiftend 101<br />
und sinngebend empfun<strong>de</strong>n wird und zur Aufrechterhaltung <strong>de</strong>s ehrenamtlichen<br />
Engagements führt. Die Engagierten orientieren sich stärker an gemeinschaftlichen,<br />
kollektiven Werten, verfolgen soziale Gerechtigkeit und verstehen Gewerkschaft<br />
als soziale Bewegung. Das zentrale Motiv für die ehrenamtlich Tätigen<br />
kann folglich als eine Orientierung an solidarischen I<strong>de</strong>alen gefaßt wer<strong>de</strong>n, die für<br />
sie sowohl Basis <strong>de</strong>s Zusammenhalts in <strong>de</strong>r Gruppe als auch gesellschaftspolitisches<br />
Ziel darstellt.<br />
Anhand <strong>de</strong>r Falldarstellung <strong>de</strong>s AGEProjekts konnte eine weitere Ten<strong>de</strong>nz<br />
<strong>de</strong>r individuellen EngagementBereitschaft empirisch exploriert wer<strong>de</strong>n. Dieser<br />
Fall steht exemplarisch für eine individuell stärker im Vor<strong>de</strong>rgrund stehen<strong>de</strong> Orientierung<br />
an Bedürfnissen im Rahmen <strong>de</strong>r eigenen Biographie. Unter dieser als<br />
Selbstverwirklichung zusammengefassten Kategorie verstehen die ehrenamtlichen<br />
Akteure beispielsweise Hobby, Spaß, Selbstwertsteigerung und Hilfe zur<br />
Selbsthilfe. Die Motivation für ehrenamtliches Engagement bewegt sich im Kontext<br />
<strong>de</strong>r Projekte bei „AGE“stärker an einer an Selbstverwirklichung orientierten<br />
Bedürfnissen <strong>de</strong>r Engagierten. Im Hinblick auf die von „AGE“initiierte Betriebsgruppe<br />
läßt das empirische Material auf eine Kombination von individuellen Orien<br />
101 Die kursiv gedruckten Beggriffe sind empirisch gewonnene Kategorien.
170 <br />
tierungen schließen, die sich zwischen solidarischen I<strong>de</strong>alen und Selbstverwirklichung<br />
bewegen.<br />
Dass die Kategorien Selbstverwirklichung und solidarische I<strong>de</strong>ale keine<br />
einan<strong>de</strong>r ausschließen<strong>de</strong> Motivationen darstellen, son<strong>de</strong>rn eher als individuelle<br />
Gewichtungen zu verstehen sind , kann auch am Beispiel <strong>de</strong>r dritten Falldarstellung<br />
gezeigt wer<strong>de</strong>n. Im gewerkschaftlichen Jugendprojekt „Xolelanani“fin<strong>de</strong>n<br />
sich sowohl die Orientierung an solidarischen I<strong>de</strong>alen als internationale Solidarität<br />
als auch die Verfolgung eigener Bedürfnisse wie Reisen, Freizeit und Geselligkeit<br />
in <strong>de</strong>r Gruppe o<strong>de</strong>r interkulturelle Bildung gleichgewichtig nebeneinan<strong>de</strong>r.<br />
Als erste wichtige Dimension zur Erläuterung von Bindungspotentialen ehrenamtlichen<br />
Engagements kann exemplarisch anhand <strong>de</strong>r drei Falldarstellungen<br />
zunächst <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Motivation extrapoliert wer<strong>de</strong>n, die sich in solidarisch<br />
und selbstverwirklichend motiviert unterteilen lässt.<br />
Motivation<br />
solidarisch<br />
selbstverwirklichend<br />
Die empirisch unter <strong>de</strong>r individuellen Perspektive von Bindungspotentialen<br />
gewonnene Dimension Motivation korreliert mit einer zweiten zentralen Dimension.<br />
Im Rahmen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements spielt Anerkennung und Wertschätzung<br />
für die geleistete Arbeit ein große Rolle. Aus <strong>de</strong>n Kontrastierungen <strong>de</strong>r<br />
qualitativen Daten kann für die Stadtteilgruppen in Dortmund eine vor allem i<strong>de</strong>ell<br />
ausgeprägte Anerkennung <strong>de</strong>s individuellen Engagements festgestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Akteure verstehen ihr stadtteilbezogenes Engagement als selbstverständliche<br />
und somit unentgeltliche Leistung im Rahmen <strong>de</strong>r gewachsenen Gruppenstrukturen.<br />
Neben <strong>de</strong>m persönlichen Gewinn <strong>de</strong>r Geselligkeit erwarten die Engagierten<br />
allerdings eine ausdrückliche Wertschätzung ihres ehrenamtlichen Engagements<br />
durch die hauptamtlich Beschäftigten. Diese Wertschätzung kann über kleine<br />
Gesten wie ein „Dankeschön“, kleine Geschenke am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Jahres o<strong>de</strong>r auch<br />
ein gewisses Budget für die Realisierung kultureller Interessen individuell vermittelt<br />
wer<strong>de</strong>n. Auch im Rahmen von „AGE“kann eine eher i<strong>de</strong>elle Wertschätzung<br />
und Anerkennung <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements ausgemacht wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Realisierung eigener biographisch motivierter Bedürfnisse durch professionelles<br />
Know How stellt an sich bereits einen hohen Gewinn für die Akteure dar. Fallübergreifend<br />
konnte eine Reihe von Kategorien i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n, welche mit<br />
<strong>de</strong>r Verstärkung <strong>de</strong>r EngagementBereitschaft korrespondieren. Sie lassen sich in<br />
<strong>de</strong>r Dimension Gratifikation zusammenfassen, die sich zwischen i<strong>de</strong>eller und materieller<br />
Gratifikation bewegen. Zur erstgenannten zählen verbale und nonverbale<br />
Anerkennungen und Wertschätzungen sowie Geselligkeit und soziale Integration.<br />
Zur materiellen Gratifikation wer<strong>de</strong>n Aufwandsentschädigungen, Fahrtkosten, Geschenke,<br />
Seminare und Fortbildung, Freizeitangebote sowie Literatur gezählt.<br />
Auch die materielle und i<strong>de</strong>elle Gratifikation schließen einan<strong>de</strong>r nicht aus, son<strong>de</strong>rn<br />
ergänzen sich wie im Fall <strong>de</strong>s IGM Jugendprojektes.
171 <br />
Gratifikation<br />
materiell<br />
i<strong>de</strong>ell<br />
Die beschriebenen Kategorien für die individuelle Perspektive können entlang<br />
ihrer zwei Dimensionen schematisch in einem Vierfel<strong>de</strong>rSchema dargestellt<br />
wer<strong>de</strong>n und zu einem strukurellen Feld abstra<strong>hier</strong>en, in das die <strong>hier</strong> untersuchten<br />
Fälle eingeordnet wer<strong>de</strong>n können.<br />
Abbildung: Bindungspotentiale ehrenamtlichen Engagements: Motivation und Gratifikation<br />
Motivation<br />
Gratifikation<br />
Selbstverwirklichung<br />
Bsp.: Hilfe zur Selbsthilfe, Bildung, Sinnstiftung,<br />
Hobby, Spaß, biographische Kontinuität,<br />
Überbrückungshilfe, Selbstwertsteigerung<br />
Solidarische I<strong>de</strong>ale<br />
Bsp.: Gewerkschaft als soziale Bewegung,<br />
Gemeinschaftlichkeit, gewerkschaftliches Bewußtsein,<br />
Geselligkeit<br />
I<strong>de</strong>elle Gratifikation<br />
Bsp.: verbale und nonverbale Anerkennung<br />
und Wertschätzung, soziale Integration<br />
Materielle Gratifikation<br />
Bsp.: Aufwandsentschädigung, Geschenke,<br />
finanzierte Fortbildung, Freizeitangebote,<br />
Literatur, Seminare, technische Geräte, Budget<br />
Im Datenmaterial zeigen sich vor allem zwei ZusammenhangsMuster <strong>de</strong>r<br />
Dimensionen aus individueller Perspektive. Das erste kombiniert die hohe Ausprägung<br />
solidarischer I<strong>de</strong>ale mit einer eher i<strong>de</strong>ellen Gratifikationsstruktur und<br />
wer<strong>de</strong>n durch die Fälle „Stadtteilgruppen Dortmund“sowie die DGBOrtskartelle<br />
repräsentiert. Die ehrenamtlich Engagierten reagieren zumeist auf innerbetriebliche<br />
o<strong>de</strong>r kommunale Ereignisse und Entwicklungen und verfolgen mit Ihrem Engagement<br />
kommunal und gewerkschaftspolitische Zielsetzungen innerhalb ihrer<br />
Heimatregion und können <strong>hier</strong>über an Verbän<strong>de</strong> gebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Ihr Engagement<br />
dient insofern oftmals <strong>de</strong>r Flankierung <strong>de</strong>r betrieblichen Arbeit, zum Beispiel<br />
durch außerbetriebliche Unterstützung <strong>de</strong>r Tarifpolitik in Streikphasen (Fallbeispiel<br />
1 und DGBOrtskartell Eggesin). Diese Form <strong>de</strong>s Engagements weist einen<br />
dienstleisten<strong>de</strong>n Charakter auf und dient vor allem <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung und<br />
Verbesserung kollektiver Güter im Bereich <strong>de</strong>s Erwerbssektors. Der zweite Zusammenhang<br />
verbin<strong>de</strong>t einen hohen Grad an Selbstverwirklichung mit einer hoch<br />
ausgeprägten i<strong>de</strong>ellen Gratifikationsstruktur wie „AGE“o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r „Arbeitslosenverein<br />
TeltowFläming“. Die Fälle „Xolelanani“und die „DauWatVereine“<strong>de</strong>s Bezirks<br />
Küste stellen eine Kombination dieser bei<strong>de</strong>n spezifisch korrelieren<strong>de</strong>n Dimensionen<br />
aus individueller Perspektive dar, wobei das IGM Jugendprojekt insgesamt<br />
die höchste Ausprägung materieller Gratifikationen aufweist.<br />
Im Hinblick auf diese Perspektive können zwei klare Ten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r Typisierung<br />
von Motivation ehrenamtlichen Han<strong>de</strong>lns konstatiert wer<strong>de</strong>n. Menschen
172 <br />
sind über <strong>de</strong>n Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und kollektiven Werten zu ehrenamtlichem<br />
Engagement motiviert und bin<strong>de</strong>n sich auf diesem Weg an Organisationen<br />
und Vereine, wobei sie sich hinsichtlich ihrer Orientierungen und hergestellten<br />
Selbstbezüge unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Schema zu <strong>de</strong>n Dimensionen von Bindungspotentialen ehrenamtlichen Engagements<br />
aus individueller Perspektive<br />
Individuelle Motivationen für<br />
ehrenamtliches Engagement<br />
Struktur<br />
Gratifikation<br />
materiell<br />
Solidarische I<strong>de</strong>ale<br />
XOLELANANI<br />
Selbstverwirklichung<br />
Ziele/ I<strong>de</strong>ale<br />
Inhalt<br />
AGE<br />
Stadtteilgruppen<br />
DGB<br />
Ortskartelle<br />
i<strong>de</strong>ell<br />
Gewerkschaftliches ehrenamtliches Engagement wird inhaltlich durch eine<br />
Orientierung <strong>de</strong>r Engagierten an solidarischen I<strong>de</strong>alen und durch einen niedrigen<br />
materiellen Gratifikationsgrad charakterisiert. Ehrenamtliches Han<strong>de</strong>ln steht <strong>hier</strong><br />
zuallererst im Dienst <strong>de</strong>r jeweiligen sozialen Gemeinschaft, also <strong>de</strong>r (örtlichen)<br />
Gewerkschaftsgruppe. Persönliche Wünsche und Bedürfnisse wer<strong>de</strong>n eher <strong>de</strong>n<br />
gemeinschaftlichen Anfor<strong>de</strong>rungen untergeordnet. Diese in traditionellen Milieus <br />
wie <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Gewerkschaften gewachsene Ehrenamtlichkeit kann als ein Muster<br />
<strong>de</strong>r Vergesellschaftung bezeichnet wer<strong>de</strong>n, welches zur Orientierung für die eigene<br />
Lebensführung dient (stellvertretend Jakob, 1993, 229 und Olson, 1998, 4f).<br />
Hierdurch wer<strong>de</strong>n biographische Kontinuität und somit Stabilität für die ehrenamt
173 <br />
lich Engagierten erreicht. Pointiert könnte man aus <strong>de</strong>r <strong>hier</strong> vorliegen<strong>de</strong>n Dimensionierung<br />
schlussfolgern, dass für diese Form ehrenamtlichen Han<strong>de</strong>lns in erster<br />
Linie die über kontinuierliches Engagement in verbindlichen Strukturen erreichte<br />
Vertrautheit in und mit <strong>de</strong>r Gemeinschaft katalysatorisch bin<strong>de</strong>nd wirken. Nicht<br />
zufällig fin<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>r beschriebenen Merkmalskombination nahezu ausschließlich<br />
Senioren und Seniorinnen. Die beschriebene InDienststellung <strong>de</strong>r eigenen<br />
Person stellt jedoch keineswegs selbstloses Han<strong>de</strong>ln dar (vgl. Jakob,<br />
1993, 229). Bei einem höheren regionalen Aktivitätsniveau <strong>de</strong>r Engagierten, wie<br />
in einigen DGBOrtskartellen, bedarf das Engagement verstärkt materieller Gratifikationen,<br />
um dauerhaft in Verbandsstrukturen integriert wer<strong>de</strong>n zu können.<br />
Eine weitere Konzentration <strong>de</strong>r untersuchten EngagementFormen kann für<br />
die Merkmalskombination „hoher Grad an Selbstverwirklichung“also Selbstbezug<br />
bei gleichzeitig „hoch ausgeprägter i<strong>de</strong>eller Gratifikationsstruktur“ ausgemacht<br />
wer<strong>de</strong>n. Mit diesen Merkmalen fin<strong>de</strong>n sich vor allem Engagementformen <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen<br />
Engagements. Neben „AGE“basieren zwei weitere im Sample<br />
untersuchte und <strong>hier</strong> verortbare Fälle auf einer gewerkschaftlichen Mit<br />
Trägerschaft, darüber hinaus ist jedoch die strukturelle Anbindung an die Gewerkschaft<br />
gering und für Engagierte z.T. kaum wahrnehmbar. Für die Engagementformen<br />
in diesem Zusammenhang konnten aus <strong>de</strong>m Datenmaterial krisenhafte<br />
Ereignisse als Initialisierungsmoment für ein ehrenamtliches Engagement<br />
herausgefiltert wer<strong>de</strong>n. Das be<strong>de</strong>utet, dass die <strong>hier</strong> vorliegen<strong>de</strong> Sinnorientierung<br />
ehrenamtlichen Han<strong>de</strong>lns im Bezug auf die eigene Person hergestellt wird. Insbeson<strong>de</strong>re<br />
im Kontext <strong>de</strong>r Transformationsprozesse in Ost<strong>de</strong>utschland entwickelte<br />
sich bei einer Reihe von Engagierten aufgrund eingetretener Arbeitslosigkeit eine<br />
erhöhte Engagementbereitschaft – sofern günstige strukturelle Voraussetzungen<br />
<strong>hier</strong>für vorlagen (Arbeitslosenverein in <strong>de</strong>n NBL).<br />
5.6.2 Die Institutionelle Perspektive auf Bindungspotentiale<br />
Die zweite zentrale, empirisch gewonnene Perspektive auf Bindungspotentiale<br />
fokussiert auf institutionelle Bezüge zu ehrenamtlicher Bindung. Die explorierten<br />
Kategorien lassen sich ebenfalls in zwei Dimensionen vereinen. Die Kategorien<br />
wur<strong>de</strong>n <strong>hier</strong>bei einerseits in Verantwortung für ehrenamtliches Engagement<br />
und an<strong>de</strong>rerseits zur Netzwerkstruktur, in welche das Engagement eingebun<strong>de</strong>n<br />
ist, zusammengefasst. Diese Dimensionen wer<strong>de</strong>n nachfolgend ebenfalls<br />
exemplarisch aus <strong>de</strong>n prototypischen Falldarstellungen dieses Kapitels hergeleitet.<br />
Diese Dimension korrespondiert mit <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r individuellen Perspektive erörterten<br />
Dimension Motivation und berücksichtigt die von gewerkschaftlichen Institutionen<br />
favorisierten Zielsetzungen und Aufgabenbereiche.<br />
In Fällen mit einer <strong>de</strong>r Falldarstellung IGM Stadtteilgruppen ähnlichen<br />
Merkmalskombination wie beispielsweise die untersuchten DGB Ortskartelle können<br />
Engagierte aus institutioneller Sicht vor allem aufgrund ihrer stark ausgeprägten<br />
kollektiven Orientierungen für ehrenamtliche Arbeit gewonnen wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Akteure übernehmen entsprechend <strong>de</strong>r Ausrichtung ihrer Gewerkschaftsgruppen<br />
Verantwortung vor allem durch ihre I<strong>de</strong>ntifikation mit kollektiven Orientierungen im<br />
Rahmen ihres örtlichen bzw. regionalen Engagements. Diese verbandsorientierten<br />
Engagementstrukturen fin<strong>de</strong>n sich insbeson<strong>de</strong>re in überschaubaren kleineren<br />
Städten bzw. Stadtteilen o<strong>de</strong>r auch in strukturschwachen ländlichen Regionen mit<br />
lokalökonomischen und gemeinwesenorientierten Ansätzen.
174 <br />
Hauptamtliche Akteure <strong>de</strong>r Gewerkschaften stellen in diesen Fällen „Räume“für<br />
ehrenamtliches Engagement zur Verfügung, <strong>de</strong>n Engagierte quasi als<br />
„verlängerter Arm“<strong>de</strong>r Hauptamtlichen belegen können. Insofern wer<strong>de</strong>n gewerkschaftspolitisch<br />
ehrenamtliche Akteure über ihr Verantwortungsgefühl für bereits<br />
errungene o<strong>de</strong>r perspektivisch zu erringen<strong>de</strong> kollektive Güter erfolgreich an Verbän<strong>de</strong><br />
wie Gewerkschaften gebun<strong>de</strong>n. Hauptamtlich in Verbän<strong>de</strong>n Beschäftigte<br />
offerieren über diese Form <strong>de</strong>r Beteiligung ehrenamtlichen Akteuren vor allem<br />
indirekten Einfluß auf die von ihnen verfolgten Ziele. Strukturell betrachtet han<strong>de</strong>lt<br />
es sich <strong>hier</strong>bei um prozessuale kommunal und gewerkschaftspolitische Vorgänge,<br />
innerhalb <strong>de</strong>rer ohnehin nur über langfristige Präsenz Erfolge durch ehrenamtliches<br />
Engagement erreicht wer<strong>de</strong>n können. Das Verständnis <strong>de</strong>r Hauptamtlichen<br />
zum ehrenamtlichen Engagement kann auf <strong>de</strong>r Umsetzungsebene mit selbständigem<br />
Reagieren <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen vor Ort charakterisiert wer<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>r diskursiven<br />
Ebene konnte für hauptamtliche Gewerkschaftsakteure eine weitere O<br />
rientierung – jene <strong>de</strong>s selbstbestimmten ehrenamtlichen Han<strong>de</strong>lns exploriert wer<strong>de</strong>n,<br />
die sich jedoch im empirischen Material zu <strong>de</strong>n ehrenamtlich Engagierten in<br />
diesen Kontexten nicht wie<strong>de</strong>rfand.<br />
Zusammenfassend kann aus <strong>de</strong>n vorangegangenen Ausführungen auf eine<br />
Konzentration eines an ehrenamtlich selbstständigem Han<strong>de</strong>ln orientierten<br />
EhrenamtsVerständnisses hauptamtlicher Akteure – für das vorliegen<strong>de</strong> Sample<br />
– in verbandsorientierten Engagementstrukturen geschlossen wer<strong>de</strong>n.<br />
In Fällen mit einer <strong>de</strong>r Falldarstellung „Agentur für Gesellschaftliches Engagement“ähnlichen<br />
Merkmalskombination wird in erster Linie auf individuelle<br />
Orientierungen <strong>de</strong>r ehrenamtlich Engagierten Bezug genommen. In dieser Merkmalskombination<br />
fin<strong>de</strong>n sich neben „AGE“vor allem Engagementformen <strong>de</strong>s Bürgerschaftlichen<br />
Engagements wie beispielsweise <strong>de</strong>m Arbeitslosenverein „Menschen<br />
für Menschen“TeltowFläming. In diesen Engagementformen wird institutionell<br />
in erster Linie Bezug auf Bewohner bzw. Mitglie<strong>de</strong>rorientierungen genommen–<br />
z.B. im Rahmen von Soziokultureller Bürgerarbeit, Kulturarbeit o<strong>de</strong>r auch<br />
Erwerbslosenarbeit. Es wer<strong>de</strong>n institutionell durch Alltagsnähe geprägte Engagementangebote<br />
verfolgt, welche biographieorientiert und vielseitig gestaltet sind.<br />
Darüber hinaus wird <strong>de</strong>n Akteuren über diese Formen selbstbestimmtes Agieren<br />
im Rahmen von lebensumfeldbezogenen Projekten offeriert. Sie setzen aus institutioneller<br />
Perspektive auf eine aktive Mitglie<strong>de</strong>r – bzw. Bewohnerbeteiligung und<br />
bieten <strong>de</strong>n ehrenamtlichen Akteuren eine eher direkte Einflußnahme auf ihre EngagementZiele,<br />
<strong>de</strong>ren erfolgreiche Realisierung in einen zeitlich überschaubaren<br />
Rahmen fällt und in sichtbare Ergebnisse mün<strong>de</strong>t.<br />
In <strong>de</strong>n untersuchten Fällen mit einer <strong>de</strong>r Falldarstellung „Xolelanani“ähnlichen<br />
Merkmalskombination wird institutionell sowohl auf kollektive als auch auf<br />
individuelle Orientierungen rekurriert. Diese Fälle vereinen insofern erfolgreich die<br />
vorstehend erörterten Kategorien und führen zu einer gelungenen Bindung ehrenamtlicher<br />
Akteure in Verbands o<strong>de</strong>r Vereinsstrukturen wie zum Beispiel in <strong>de</strong>n<br />
DauWatVereinen <strong>de</strong>s Bezirks Küste. 102<br />
102 Vergleiche <strong>hier</strong>zu die Falldarstellung in Kapitel 3.
175 <br />
Verantwortung<br />
Kollektive Orientierungen<br />
Individuelle Orientierungen<br />
Neben <strong>de</strong>r Dimension Verantwortung konnten die empirischen Kategorien<br />
in eine weitere Dimension, <strong>de</strong>r Netzwerkstruktur zusammengefasst wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Dimension Netzwerkstruktur bewegt sich zwischen Integration in professionelle<br />
Strukturen und autonome Strukturen, in welche die Engagementformen institutionell<br />
eingebun<strong>de</strong>n sind.<br />
Engagementformen wie solche, die mit <strong>de</strong>r Falldarstellung IGMetall<br />
Stadtteilgruppen in Dortmund prototypisch beschrieben wur<strong>de</strong>, weisen eine starke<br />
Einbindung in verbandsorientierte Strukturen auf. In diesen wer<strong>de</strong>n verlässliche<br />
und ritualisierte Angebote im Rahmen von Stadtteil und Wohngebietsarbeit gemacht.<br />
In diesem Zusammenhang stellt <strong>de</strong>r Kontakt zu <strong>de</strong>n Betrieben vor Ort eine<br />
wichtige Verbindung für lokales Engagement dar; die Räumlichkeiten für die Treffen<br />
wer<strong>de</strong>n institutionell gestellt. Trotz <strong>de</strong>zentralen wohngebietsnahen Bezugs<br />
solcher Engagementformen wird die Teilnahme im Sinne eines „Kommens“Interessierter<br />
zu <strong>de</strong>n jeweiligen Veranstaltungen erwartet – weshalb für diesen Zusammenhang<br />
ein KommStrukturBezug aus institutioneller Perspektive exploriert<br />
wer<strong>de</strong>n kann. Darüber hinaus sind die Engagementformen durch einen hohen<br />
Grad an Verbindlichkeit und Vertrautheit gekennzeichnet und können insofern als<br />
familialisierte Engagementformen charakterisiert wer<strong>de</strong>n. Sie weisen sowohl eine<br />
innergewerkschaftliche als auch außergewerkschaftliche Kooperation und Anbindung<br />
auf.<br />
Fälle wie „AGE“weisen eine an<strong>de</strong>re Ausprägung <strong>de</strong>r Dimension Netzwerkstruktur<br />
auf – sind eher durch autonome Strukturen charakterisiert und intendieren<br />
gegenständliche Zielorientierungen. Aufgrund <strong>de</strong>r Engagementför<strong>de</strong>rung von „A<br />
GE“in zwei Schwerpunkten müssen die <strong>hier</strong> vorfindbaren Netzwerkstrukturen<br />
differenziert dargestellt wer<strong>de</strong>n. Im Rahmen <strong>de</strong>r von „AGE“initiierten Betriebsgruppen<br />
kommt es zu einer stärkeren Integration in professionelle Strukturen –<br />
nämlich in die <strong>de</strong>s Betriebes und in die von „AGE“selbst. In diesem Kontext beschränkt<br />
sich das Autonome auf <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Freizeitgestaltung, welchen die<br />
ehrenamtlichen Akteure selbstbestimmt gestalten. Die bei „AGE“bestehen<strong>de</strong>n<br />
Projekte zielen auf eine stärkere Berücksichtigung selbstbestimmten Agierens<br />
und sind insofern stärker in Kooperationsstrukturen eingebettet als in enge institutionelle<br />
Strukturen. Insgesamt weisen die Merkmalsräume solcher Fälle Gelegenheitsstrukturen<br />
zu ehrenamtlichem Engagement –wie im Fall <strong>de</strong>s Stadtteilmanagments<br />
in Dortmund und einen höheren Grad an Anonymität unter <strong>de</strong>n Beteiligten<br />
auf. Die <strong>hier</strong> praktizierten Kooperationsformen liegen vor allem im außergewerkschaftlichen<br />
Feld und beziehen sich in erster Linie auf Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>,<br />
Kirche, Vereine und Kommunen sowie Parteien. Die Angebote ehrenamtlicher<br />
Arbeit solcher Engagementformen wer<strong>de</strong>n institutionell häufig im Lebensumfeld<br />
<strong>de</strong>r (potentiellen) ehrenamtlichen Akteure angesie<strong>de</strong>lt und nicht in <strong>de</strong>r Institution<br />
(Verein, Verband) selbst. Diesbezüglich kann man von einem GehStruktur
176 <br />
Bezug 103 aus <strong>de</strong>r institutionellen Perspektive sprechen. Im Fall <strong>de</strong>r Gewerkschaften<br />
fin<strong>de</strong>t sich diese Struktur am ehesten in <strong>de</strong>r Wohngebiets und Jugendarbeit.<br />
Mit <strong>de</strong>r prototypischen Falldarstellung „Xolelalani“vergleichbare Fälle weisen<br />
wie<strong>de</strong>rum eine Kombination von Kategorien auf, die sich zwischen Integration<br />
in professionelle Strukturen und autonome Strukturen mit gegenständlicher Zielorientierung<br />
bewegen. Schematisch läßt sich diese vierte Dimension wie folgt<br />
darstellen.<br />
Netzwerkstruktur<br />
Integration in professionelle Strukturen<br />
Autonome Strukturen<br />
Die unter <strong>de</strong>r institutionellen Perspektive von Bindungspotentialen gewonnenen<br />
Dimensionen einschließlich <strong>de</strong>r dazugehören<strong>de</strong>n BeispielKategorien lassen<br />
sich im folgen<strong>de</strong>n VierFel<strong>de</strong>rSchema zusammenfassen.<br />
Abbildung: Schema zu <strong>de</strong>n Dimensionen von Bindungspotentialen ehrenamtlichen<br />
Engagements aus institutioneller Perspektive<br />
Verantwortung<br />
Netzwerkstruktur<br />
Individuelle Orientierung<br />
Bsp.: Bewohner / Mitglie<strong>de</strong>rorientierung,<br />
niedrigschwellige Beratung, Kreativkurs,<br />
interkulturelle Arbeit, Konfliktmanagment,<br />
Alltagsnähe, selbstbestimmtes Agieren,<br />
biographieorientiert, vielseitig, direkter Einfluß<br />
Autonome Strukturen<br />
Bsp.: Projektcharakter, Gelegenheitsstruktur,<br />
Anonymität, außergewerkschaftliche<br />
Kooperation mit Parteien, Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>n,<br />
Kirchen, Vereinen, Anbindung außergewerkschaftlich<br />
und/ o<strong>de</strong>r gewerkschaftlich als<br />
Verein, an Verwaltungsstelle<br />
Kollektive Orientierung<br />
Bsp.: Gemeinwesenorientierung, selbständiges<br />
Reagieren, Dienstleistung, indirekter<br />
Einfluß, Tarifpolitik, Betriebsflankierung<br />
Integration in professionelle<br />
Strukturen<br />
Bsp.: verlässliche und ritualisierte Angebote,<br />
Bereitstellung von Räumen, Kontakt<br />
zu Betrieben, Familialisierung, Verbindlichkeit,<br />
Vertrautheit, innergewerkschaftliche und<br />
außergewerkschaftliche Kooperation, gewerkschaftliche<br />
und/ o<strong>de</strong>r außergewerkschaftliche<br />
Anbindung<br />
Abbildung: Institutionelle Anreize für das ehrenamtliche Engagement<br />
103 Hiermit ist das Hinwen<strong>de</strong>n, Gehen zu <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn bzw. Bewohnern in <strong>de</strong>ren Lebensumfeld<br />
gemeint.
177 <br />
Institutionelle Anreize für Ehrenamtliches<br />
Engagement<br />
Netzwerkstruktur<br />
Kollektive Orientierung<br />
Struktur<br />
Stadtteilgruppen<br />
DGB<br />
Ortskartelle<br />
XOLELANANI<br />
Integration in<br />
professionelle<br />
Strukturen<br />
AGE<br />
ALVerein<br />
NBL<br />
Individuelle<br />
Orientierung<br />
Verantwortung<br />
Inhalt<br />
Autonome<br />
Strukturen/<br />
Projektcharakter<br />
Auch für die institutionelle Perspektive zeigen sich zwei Zusammenhangs<br />
Muster <strong>de</strong>r Dimensionen Netzwerkstruktur und Verantwortungsbereiche. Hier verbin<strong>de</strong>t<br />
sich eine kollektive Orientierung eher mit einer starken Einbindung in professionelle<br />
Strukturen bzw. eine hohe individuelle Orientierung mit autonomen<br />
Strukturen und Projektcharakter. Aus diesen Zusammenhängen ergeben sich<br />
spezifische Merkmalsräume, <strong>de</strong>nen die untersuchten Fälle zugeordnet wer<strong>de</strong>n<br />
können. Hierbei können Konzentrationen verbandsorientierten Engagements vor<br />
allem für die erstgenannte Kombination festgestellt wer<strong>de</strong>n, wohingegen insbeson<strong>de</strong>re<br />
Formen <strong>de</strong>s Bürgerschaftlichen Engagements für die zweite Kombination<br />
ausgemacht wer<strong>de</strong>n können. Das AGEProjekt kann in Bezug auf die Dimension<br />
Netzwerkcharakter als „Grenzfall“bezeichnet wer<strong>de</strong>n, da sie sich durch institutionelle<br />
Bezüge sowohl im Rahmen autonomer Strukturen mit Projektcharakter als<br />
auch durch die Integration in professionelle Strukturen auszeichnet. In <strong>de</strong>n EngagementAngeboten<br />
<strong>de</strong>s Jugendprojektes „Xolelanani“ sowie <strong>de</strong>r „DauWat“<br />
Vereine können an<strong>de</strong>re als die beschriebenen Merkmalsräume erschlossen wer<strong>de</strong>n,<br />
da sie bei<strong>de</strong> Dimensionen berücksichtigen – also individuelle und kollektive
178 <br />
Orientierungen vereinen sowie in professionelle und autonome Strukturen integriert<br />
sind. Das <strong>hier</strong> vorfindbare Engagement stellt eine beson<strong>de</strong>rs innovative Variante<br />
gewerkschaftlicher ehrenamtlicher Arbeit dar. Sie fokussiert auf <strong>de</strong>r individuellen<br />
Ebene sowohl die Wünsche nach Selbstentfaltung als auch solche <strong>de</strong>r Solidarität<br />
und bietet die Möglichkeit einer <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements<br />
weitestgehend angemessenen materiellen Gratifikation. Aus institutioneller<br />
Perspektive konnte eine erfolgreiche Verbindung individueller und kollektiver Orientierungen<br />
für ein gewerkschaftspolitisches projektförmiges Engagement im<br />
Rahmen <strong>de</strong>r Verbandsstruktur hergestellt wer<strong>de</strong>n. Diese innovative Verbindung<br />
<strong>de</strong>r beschriebenen Dimensionen führt zu einer erfolgreichen Bindung ehrenamtlich<br />
Engagierter an gewerkschaftliche Strukturen.<br />
5.6.3 Mo<strong>de</strong>ll für Bindungspotentiale ehrenamtlichen Engagements<br />
Das Mo<strong>de</strong>ll zu Bindungspotentialen ehrenamtlichen Engagements eröffnet<br />
neben <strong>de</strong>r Möglichkeit zur differenzierten Darstellung <strong>de</strong>r in diesem Forschungsprojekt<br />
untersuchten Engagementformen die Chance zur gezielten verbandsorientierten<br />
Engagementför<strong>de</strong>rung und erschließt somit Optionsräume, wie ehrenamtliches<br />
Engagement in die (gewerkschaftlichen) Organisationsstrukturen erfolgreich<br />
integriert wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Sowohl für die individuelle als auch die institutionelle Perspektive konnten<br />
die Dimensionen einer inhaltlichen und einer strukturellen Ebene zugeordnet wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Dimensionen Motivation und Verantwortung stellen in <strong>de</strong>r jeweiligen Perspektive<br />
<strong>de</strong>n inhaltlichen Bezug dar und die Dimensionen Gratifikation und Netzwerkstruktur<br />
analog <strong>hier</strong>zu <strong>de</strong>n strukturellen Bezug.<br />
Aus <strong>de</strong>m empirischen Material konnte sowohl für das gewerkschaftliche als<br />
auch das außergewerkschaftliche Engagement vorrangig die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r i<br />
<strong>de</strong>ellen Gratifikation exploriert wer<strong>de</strong>n. Im Kontext <strong>de</strong>r außergewerkschaftlichen<br />
EngagementFormen führt eine hohe i<strong>de</strong>elle Gratifikation über die starke Berücksichtigung<br />
selbstverwirklichen<strong>de</strong>r Motive in <strong>de</strong>r ehrenamtlichen Arbeit zu einer<br />
Bindung <strong>de</strong>r ehrenamtlich Engagierten, so dass eine darüber hinaus gehen<strong>de</strong><br />
materielle Gratifikation als anreizstrukturelles Moment nicht nötig ist. Die Engagementformen<br />
in verbandsorientierten Strukturen zeichnen sich jedoch vor allem<br />
durch kollektive Orientierungen und eine geringe i<strong>de</strong>elle und materielle Gratifikation<br />
aus.<br />
Für die EngagementFör<strong>de</strong>rung aus gewerkschaftlicher Perspektive kann<br />
somit geschlussfolgert wer<strong>de</strong>n, dass Gewerkschaften ihre strukturellen Angebote<br />
an <strong>de</strong>r Motivation ihrer (potentiellen) Mitglie<strong>de</strong>r – also an <strong>de</strong>ren vorliegen<strong>de</strong>n individuellen<br />
bzw. kollektiven Orientierungen ausrichten müssen, um erfolgreich ehrenamtliches<br />
Engagement in ihren Verbandsstrukturen zu stärken. Das heißt aus<br />
institutioneller Perspektive künftig eine verstärkte materielle Gratifikation (z. B.<br />
durch unbürokratische Aufwandsentschädigungen) zu installieren, um die EngagementBereitschaft<br />
für eine von Verantwortungsbewusstsein getragene ehrenamtliche<br />
Arbeit im Rahmen von Verbän<strong>de</strong>n und Vereinen zu erhöhen. Eine erfolgreiche<br />
Bindung ehrenamtlicher Akteure gelingt am ehesten über die Berücksichtigung<br />
je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r vier vorangehend erörterten Dimensionen. Die Art und das Ausmaß<br />
<strong>de</strong>r strukturellen För<strong>de</strong>rung über eine materielle Gratifikation hängt nicht nur<br />
von EngagementBereich (Thema) und EngagementForm (Projekt o<strong>de</strong>r zeitlich<br />
langfristig angelegt) ab, son<strong>de</strong>rn wird auch vom Alter <strong>de</strong>r anvisierten Engagierten
179 <br />
abhängig sein. So können beispielsweise institutionelle Anreizstrukturen, die erwachsene<br />
Engagierte erfolgreich in Verbän<strong>de</strong> und Vereine bin<strong>de</strong>n, bei einer Übertragung<br />
auf die Gruppe <strong>de</strong>r Jugendlichen scheitern. Insgesamt sollte jedoch das<br />
EngagementAngebot eine Schnittmenge <strong>de</strong>r 4 Dimensionen bil<strong>de</strong>n, da es ansonsten<br />
zu EngagementBarrieren kommen kann. Einige Hinweise auf solche,<br />
das Engagement hemmen<strong>de</strong>, Barrieren konnten aus <strong>de</strong>m empirischen Datenmaterial<br />
gewonnen und sollen nachstehend erörtert wer<strong>de</strong>n.<br />
5.6.4 Institutionelle und individuelle Barrieren verbandsorientierten Engagements<br />
Das Mo<strong>de</strong>ll zu Bindungspotentialen ehrenamtlichen Engagements ermöglicht<br />
neben empirischen Ergebnissen zu Bindungspotentialen ehrenamtlichen Engagements<br />
eine Analyse von EngagementBarrieren. Die in die Auswertung eingeflossenen<br />
empirischen Daten geben über die fallübergreifen<strong>de</strong>, vergleichen<strong>de</strong><br />
Analyse von Textpassagen aufschlussreiche Hinweise im Hinblick auf solche Barrieren.<br />
104<br />
Die EngagementHemmnisse können analog <strong>de</strong>r Dimensionen aus institutioneller<br />
und individueller Perspektive beschrieben wer<strong>de</strong>n. Die Barrieren sind<br />
einerseits in <strong>de</strong>n Strukturen und Inhalten <strong>de</strong>r Institutionen und an<strong>de</strong>rerseits in <strong>de</strong>n<br />
han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Subjekten zu verorten. Sie liegen in drei Bereichen:<br />
• im wechselseitigen Verhältnis <strong>de</strong>r Haupt und Ehrenamtlichen,<br />
• <strong>de</strong>r Ressourcenausstattung <strong>de</strong>r örtlichen ehrenamtlichen Strukturen<br />
• <strong>de</strong>n individuellen Belastungsgrenzen sowohl beim hauptamtlichen als<br />
auch beim ehrenamtlichen Personal.<br />
Insgesamt sind hinsichtlich <strong>de</strong>r strukturellen Dimension vor allem eine partiell<br />
mangelhafte materielle Ressourcenausstattung <strong>de</strong>r ehrenamtlichen EngagementZusammenhänge<br />
festzustellen. Dieser Mangel bezieht sich vor allem auf<br />
EngagementStrukturen in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn in strukturschwachen ländlichen<br />
Regionen, weniger auf die untersuchten großstädtischen Strukturen in <strong>de</strong>n<br />
alten Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn.<br />
Hin<strong>de</strong>rlich für das Wachsen ehrenamtlichen Engagements insgesamt wirkt<br />
<strong>de</strong>r verstärkte Personalabbau sowohl bei <strong>de</strong>n Einzelgewerkschaften als auch<br />
beim DGB. Diese Prozesse führen bei <strong>de</strong>n in die Untersuchung einbezogenen<br />
ehrenamtlichaktiven Mitglie<strong>de</strong>rn zunächst zu einer tieferen Solidarität mit <strong>de</strong>n<br />
verbleiben<strong>de</strong>n Hauptamtlichen und zur erhöhten Bereitschaft eigenen Engagements.<br />
Mittelfristig führt es jedoch bei <strong>de</strong>n betroffenen Engagierten zum Gefühl<br />
<strong>de</strong>s Zwangs, ehrenamtlich tätig sein zu müssen. Dieses Gefühl läßt sich trotz hohen<br />
I<strong>de</strong>alismus‘und einer stark ausgeprägten kollektiven Orientierung dieser ehrenamtlichen<br />
Akteure nicht mit <strong>de</strong>n oben angeführten Bedingungen individuellen<br />
Engagements wie <strong>de</strong>r biographischen Passung und schwächer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>m Altruismus<br />
– in Einklang bringen. Bei einer Beibehaltung <strong>de</strong>rzeit existieren<strong>de</strong>r struktureller<br />
und inhaltlicher Rahmenbedingungen ehrenamtlichen Engagements wird<br />
es auch weiterhin zunehmend schwerer für Verbän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n, ehrenamtliche Engagierte<br />
erfolgreich für verbandsorientiertes Engagement zu bin<strong>de</strong>n. 105<br />
104 Zur Analyse von Hemmnissen ehrenamtlicher Arbeit wur<strong>de</strong>n die Daten <strong>de</strong>r Fragebögen triangulierend<br />
mit einbezogen.<br />
105 Als wichtiger Schritt zur Erhöhung <strong>de</strong>r materiellen Gratifikation kann die bessere finanzielle und
180 <br />
Neben <strong>de</strong>m hohen I<strong>de</strong>alismus kristallisierten sich zwei weitere Voraussetzungen<br />
für das ehrenamtliche Engagement heraus:<br />
• die Vereinbarkeit mit <strong>de</strong>m Familienleben und<br />
• das Verfügen über ein subjektiv ausreichen<strong>de</strong>s Einkommen.<br />
Die befragten Experten heben die produktive Rolle <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements<br />
nicht nur für die jeweilige Organisation, son<strong>de</strong>rn auch für die Jugendlichen<br />
selbst hervor. Jugendliche sind offen und bereit, sich zu engagieren, haben aber<br />
vielfach keine Kenntnisse von <strong>de</strong>n Möglichkeiten. Entsprechen<strong>de</strong> organisierte Angebote<br />
sind in <strong>de</strong>r Regel nicht Teil <strong>de</strong>s im jeweiligen Milieu selbstverständlich verfügbaren<br />
lebensweltlichen Wissens. Sie stehen in Konkurrenz zu einem überkomplexen<br />
Angebot, das kommerzielle Freizeitangebote umfasst, aber auch das<br />
kollektive „Rumhängen“in <strong>de</strong>r Gruppe bis zur privatistischen Beschäftigung am<br />
und mit <strong>de</strong>m Computer. Die Entscheidung für ein Engagement ist also eine kontingente<br />
biographische Option, für die Zugänge geschaffen wer<strong>de</strong>n müssen. Das<br />
erwähnte Mentorenprogramm, das sich in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg an Schülerinnen<br />
und Schüler wen<strong>de</strong>t ist in dieser Hinsicht ein erfolgversprechen<strong>de</strong>r Ansatz, <strong>de</strong>ssen<br />
Resultate jedoch noch nicht feststellbar sind. Kampagnen wie die „Jobpara<strong>de</strong>“in<br />
Schwerin o<strong>de</strong>r „StrandGut“sind eine an<strong>de</strong>re Herangehensweise. Sie nutzen<br />
eher <strong>de</strong>n Mechanismus, <strong>de</strong>n man aus <strong>de</strong>r Verbreitung von Informationen<br />
(„twostepflow of communication) o<strong>de</strong>r technischen Innovationen kennt: Es<br />
kommt nicht auf die breite Streuung von Informationen an, son<strong>de</strong>rn auf die I<strong>de</strong>ntifizierung<br />
von Personen, die als Meinungsführer akzeptiert sind und Vertrauen genießen.<br />
Es geht darum, diese Personen zur Teilnahme zu bewegen, <strong>de</strong>nn sie<br />
dienen – durch ihre Vorbildfunktion – als Multiplikatoren, welche das Wissen um<br />
die „neuen“Möglichkeiten verbreitern und die Bereitschaft zur Beteiligung för<strong>de</strong>rn.<br />
Die Vereinbarkeit mit <strong>de</strong>m Familienleben – insbeson<strong>de</strong>re das uneingeschränkte<br />
Einverständnis <strong>de</strong>r Ehefrau bzw. <strong>de</strong>s Ehemanns – bezieht sich sowohl<br />
auf ehrenamliche Akteure <strong>de</strong>r alten als auch <strong>de</strong>r neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r. Die Be<strong>de</strong>utung<br />
<strong>de</strong>s verfügbaren Einkommens, welches für die Bereitschaft und Ausübung<br />
einer ehrenamtlichen Tätigkeit subjektiv als ausreichend eingeschätzt wer<strong>de</strong>n<br />
müssen – im Sinne von „Ehrenamtlichkeit muss man sich leisten können“– trifft<br />
stärker auf Ost<strong>de</strong>utschland zu, was mit <strong>de</strong>n nicht vollständig an das west<strong>de</strong>utsche<br />
Niveau angepaßten objektiven Lebensbedingungen und sich <strong>hier</strong>aus entwickeln<strong>de</strong><br />
Beeinträchtigungen im subjektiven Wohlbefin<strong>de</strong>n korrespondiert (vgl. Datenreport<br />
1999, 420ff). Diese empirische Ten<strong>de</strong>nz wird allerdings durch das vorliegen<strong>de</strong><br />
Sample, welches in Ost<strong>de</strong>utschland insbeson<strong>de</strong>re strukturschwache Regionen<br />
enthält, zusätzlich verstärkt. Dennoch kann diese tentative Aussage sowohl auf<br />
das verbandsorientierte als auch auf das bürgerschaftliche Engagement in Ost<strong>de</strong>utschland<br />
bezogen wer<strong>de</strong>n.<br />
Die beschriebenen Hemmnisse verringern vor allen Dingen in additiv vorliegen<strong>de</strong>r<br />
Form die Bindungsbereitschaft <strong>de</strong>r ehrenamtlich Interessierten zugunsten<br />
ihrer häuslichen Vereinzelung o<strong>de</strong>r Zuwendung zur reizstärkeren individualisierten<br />
kommerziellen Freizeitindustrie. Die Analyse <strong>de</strong>r EngagementBarrieren<br />
unterstreicht die im Hinblick auf Bindungspotentiale gewonnenen empirischen<br />
Ergebnisse insbeson<strong>de</strong>re hinsichtlich einer perspektivisch institutionell zu verstärken<strong>de</strong>n<br />
materiellen Gratifikationsstruktur für verbandsorientiertes ehrenamtliches<br />
technische Ausstattung <strong>de</strong>r neu gegrün<strong>de</strong>ter „vierten Ebene“<strong>de</strong>r DGBOrtsverbän<strong>de</strong> bezeichnet<br />
wer<strong>de</strong>n.
181 <br />
Engagement. Dieses Ergebnis bezieht sich vor allem auf gewerkschaftliche ehrenamtliche<br />
Engagementstrukturen sowohl in <strong>de</strong>n Einzelgewerkschaften als auch<br />
in <strong>de</strong>n alten DGBOrtskartellen bzw. neuen Orts und Regionalverbän<strong>de</strong>n.
182 <br />
6. Neue Ehrenamtlichkeit in traditionellen Mitglie<strong>de</strong>rorganisationen: Zusammenfassen<strong>de</strong><br />
Ergebnisse<br />
6.1 Ehrenamtliches Engagement im Verständnis <strong>de</strong>r Befragten<br />
Frank Ernst<br />
6.1.1 Das Selbstverständnis <strong>de</strong>r Engagierten<br />
Den Ergebnissen <strong>de</strong>s Freiwilligensurveys zufolge bezeichnet die Mehrheit<br />
<strong>de</strong>r Engagierten ihre Tätigkeit als freiwillige Tätigkeit. Das korrespondiert mit <strong>de</strong>n<br />
Ergebnissen unserer eigenen Erhebungen. Bemerkenswert ist, dass einige Engagierte<br />
<strong>de</strong>n Begriff „Ehrenamt“ablehnen, ohne ihre Tätigkeit durch einen an<strong>de</strong>ren<br />
Begriff zu ersetzen. Das geschieht mehr beiläufig, in <strong>de</strong>m sie die ausgeübte Tätigkeit<br />
insgesamt beschreiben. (so z. B. im Erwerbslosenprojekt SALZ) Bun<strong>de</strong>sweit<br />
bevorzugen 48% <strong>de</strong>r Engagierten <strong>de</strong>n Begriff „Freiwilligenarbeit“für ihre freiwillig<br />
ausgeübte Tätigkeit. 32% verstehen ihr Engagement als ein „Ehrenamt“, 7%<br />
bezeichnen es als „Initiativen o<strong>de</strong>r Projektarbeit“, 6% als „Bürgerengagement“<br />
und nur 2% als „Selbsthilfe“. (vgl. v. Rosenbladt 2001: 19) Im Engagementbereich<br />
<strong>de</strong>r „beruflichen Interessenvertretung“präferieren dagegen 44% <strong>de</strong>r Engagierten<br />
<strong>de</strong>n Begriff „Ehrenamt“.<br />
Die verwen<strong>de</strong>te Begrifflichkeit durch die Befragten hängt vor allem davon<br />
ab, welche Art freiwilliger Tätigkeit sie ausüben, wo sie diese ausüben und welchen<br />
Anspruch sie an diese stellen. Entschei<strong>de</strong>nd ist nicht zuletzt, in welcher Position<br />
sie zu <strong>de</strong>n freiwilligen Tätigkeiten stehen, mit <strong>de</strong>nen sie zu tun haben. So<br />
lassen sich nach <strong>de</strong>n jeweiligen Untersuchungsschwerpunkten vier Typen i<strong>de</strong>ntifizieren:<br />
• die Expert/inn/en in <strong>de</strong>n Gewerkschaften bzw. Gewerkschaftsprojekten<br />
• die Expert/inn/en in <strong>de</strong>n Projekten, Initiativen bzw. Vereinen außerhalb <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft<br />
• die freiwillig Tätigen in <strong>de</strong>n Gewerkschaftsprojekten<br />
• die freiwillig Tätigen in <strong>de</strong>n Projekten, Initiativen bzw. Vereinen außerhalb<br />
<strong>de</strong>r Gewerkschaft.<br />
Die Selbstbeschreibung <strong>de</strong>s Engagements <strong>de</strong>r von uns befragten Engagierten<br />
differiert je nach Art <strong>de</strong>r Tätigkeit und seines Organisationskontextes:<br />
• Der geringste Teil benutzt die Bezeichnung „Ehrenamt“. Der Begriff ist vor<br />
allem dort verbreitet, wo das Engagement in <strong>de</strong>r gewerkschaftspolitischen<br />
Arbeit besteht.<br />
• Ein größerer Teil benutzt <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Ehrenamts mit einer an<strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung,<br />
die jeweils ergänzend erläutert wird.<br />
• Eine dritte Gruppe grenzt sich vom Begriff <strong>de</strong>s Ehrenamtes ab, ohne jedoch<br />
eine an<strong>de</strong>re Bezeichnung an seine Stelle zu setzen. Sie beschreiben<br />
<strong>de</strong>n Unterschied anhand <strong>de</strong>r Tätigkeiten, die sie ausüben sowie <strong>de</strong>r Begründung,<br />
warum sie diese ausüben.
183 <br />
• Schließlich lehnen einige Engagierte <strong>de</strong>n Begriff Ehrenamt konsequent ab,<br />
und <strong>de</strong>finieren ihr Engagement anhand eines an<strong>de</strong>ren Begriffes (z.B. freiwillige<br />
Tätigkeit, bürgerschaftliches Engagement). 106<br />
6.1.2 Das Selbstverständnis <strong>de</strong>r Expert/inn/en<br />
Auch bei <strong>de</strong>n befragten Expert/inn/en fällt die verwen<strong>de</strong>te Begrifflichkeit für<br />
das freiwillige Engagement vielfältig aus.107 Sie ist in erster Linie nicht individuellen<br />
Vorlieben geschul<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r jeweiligen beruflichen Einbindung. Unabhängig<br />
davon, spiegeln sich in <strong>de</strong>n Aussagen <strong>de</strong>r Expert/inn/en auch die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Konzepte von Engagement wi<strong>de</strong>r, die in <strong>de</strong>n unterschiedlichen Einrichtungen<br />
tragend sind. Es geht bei <strong>de</strong>r Verwendung <strong>de</strong>r unterschiedlichen Bezeichnungen<br />
nicht zuletzt um die Gewinnung o<strong>de</strong>r Bewahrung – und bei neueren<br />
Begriffen um die Etablierung – <strong>de</strong>r Definitionshoheit sowie um Konkurrenz um die<br />
Ressource Freiwilligkeit. Die einzelnen Konzepte grenzen sich auch gera<strong>de</strong> über<br />
die Begrifflichkeit voneinan<strong>de</strong>r ab.<br />
Im folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n die unterschiedlichen Verständnisse <strong>de</strong>r Expert/inn/en<br />
unter Beachtung <strong>de</strong>r jeweiligen Einrichtung, die sie vertreten, analysieren.<br />
Ein grobes Raster, das dabei als ein Leitfa<strong>de</strong>n dienen soll, ist die Unterscheidung<br />
zwischen Expert/inn/en inner und außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft. Es ist außer<strong>de</strong>m<br />
zu beachten, ob die Expert/inn/en das Engagementverständnis von ehrenamtlich<br />
Engagierten beschreiben o<strong>de</strong>r ihr eigenes.<br />
Die Expert/inn/en reflektieren <strong>de</strong>n Begriff Engagements in <strong>de</strong>r Regel sehr<br />
spezifisch. Die Reflektionsgenauigkeit nimmt mit steigen<strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Aufgaben in<br />
bezug auf freiwillige Tätigkeit innerhalb <strong>de</strong>r Organisation bzw. <strong>de</strong>s Vereins zu. Am<br />
stärksten hängt diese aber von <strong>de</strong>r Etablierung <strong>de</strong>s verwen<strong>de</strong>ten Begriffs in <strong>de</strong>r<br />
eigenen Organisation bzw. Einrichtung ab. Dort, wo unterschiedliche Be<strong>de</strong>utungen<br />
von freiwilliger Tätigkeit existieren, gibt es aufgrund <strong>de</strong>r größeren Reibungspotentiale<br />
größere Reflektionsgenauigkeiten.<br />
Unter <strong>de</strong>n Expert/inn/en aus <strong>de</strong>n Gewerkschaften o<strong>de</strong>r aus Projekten, die<br />
von <strong>de</strong>n Gewerkschaften getragen wer<strong>de</strong>n, wird vorrangig <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s Ehrenamts<br />
verwen<strong>de</strong>t. Dabei sind allerdings unterschiedliche Be<strong>de</strong>utungen auszumachen,<br />
die <strong>de</strong>m Begriff zugeschrieben wer<strong>de</strong>n. Konsens besteht darüber, dass neben<br />
die Formen klassischer Ehrenamtlichkeit neue Formen getreten sind. Die<br />
neuen Formen wer<strong>de</strong>n als projektorientiertes, themenbezogenes und zumeist<br />
zeitlich befristetes Engagement verstan<strong>de</strong>n. Dieses Verhältnis von „neuer“und<br />
„alter“Ehrenamtlichkeit lässt sich an <strong>de</strong>r Unterscheidung von Projekt und Gremienarbeit<br />
festmachen. So stellt eine Gewerkschaftsexpertin fest, dass in <strong>de</strong>r ehrenamtlichen<br />
Arbeit in bezug zu früher eigentlich kein großer Unterschied auszumachen<br />
sei. Neu seien lediglich die „atypischen Jugendlichen und Ehrenamtlichen“,<br />
die projektbezogen arbeiten und auf Gremienarbeit keine Lust hätten.<br />
Neues Ehrenamt wird <strong>hier</strong> als ein zusätzliches Engagement verstan<strong>de</strong>n, das zum<br />
klassischen Ehrenamt hinzugekommen ist. An<strong>de</strong>re Expert/inn/en sehen das Neue<br />
106 Als empirische Beispiele für die differenzierte Selbstbeschreibung vgl. z.B. Kap. 3.6.4 („Engagementtypen“).<br />
107 Mit Expert/inn/en sind jene gemeint, die spezifische berufliche o<strong>de</strong>r politische Positionen innehaben,<br />
die in einem Zusammenhang zu ehrenamtlichem Engagement stehen (ohne selbst notwendigerweise<br />
entsprechend engagiert zu sein) und von uns diesbezüglich interviewt wur<strong>de</strong>n.
184 <br />
im Ehrenamt lediglich in <strong>de</strong>r Erweiterung <strong>de</strong>s Angebotes in bezug auf bestimmte<br />
Gruppen, beispielsweise auf Erwerbslose.<br />
Anhand <strong>de</strong>r Expert/inn/enInterviews zeigt sich, dass es <strong>hier</strong> ein Verständnis<br />
von neuer Ehrenamtlichkeit gibt, das sich grob in drei Niveaus unterteilen<br />
lässt.<br />
• Die Aus<strong>de</strong>hnung ehrenamtlicher Tätigkeit, um neue relevante Gruppen<br />
(wie die Arbeitslosen) zu erreichen.<br />
• Neue Ehrenamtlichkeit als zusätzliche Form von Engagement, die zu <strong>de</strong>m<br />
klassischen Engagement hinzugekommen ist. Sie zeichnet sich vor allem<br />
durch Projektorientierung aus.<br />
• Die Entwicklung neuer Ehrenamtlichkeit durch ein Lösen von eingefahrenen<br />
Strukturen innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaften.<br />
Die zuletzt aufgeführte Position zu Engagement geht von <strong>de</strong>r Organisation<br />
aus und sieht in <strong>de</strong>ren Fähigkeit zur Flexibilität die Chance für eine Entwicklung<br />
neuer Formen von Engagement. Die Ansicht, die im ersten Niveau zusammengefasst<br />
ist, begrenzt <strong>de</strong>n Blick nicht nur auf die Engagierten, son<strong>de</strong>rn auch auf die<br />
Form <strong>de</strong>s Engagements. Hier gibt es statt einer Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Form (nur) eine<br />
Erweiterung <strong>de</strong>s Wirkungsbereichs (Expansion). Dieses Verständnis spiegelt sich<br />
auch in <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Unterstützung und För<strong>de</strong>rung von außerbetrieblicher Gewerkschaftsarbeit<br />
wi<strong>de</strong>r. Die Strukturen <strong>de</strong>r Wohngebietsarbeit sind dort besser etabliert,<br />
wo die Position, die im Niveau drei zusammengefasst ist, vertreten wird. Das<br />
unterstreicht noch einmal, wie stark <strong>de</strong>r Aufbau von Strukturen in <strong>de</strong>r außerbetrieblichen<br />
Gewerkschaftsarbeit von einzelnen Personen abhängig ist:<br />
Dieses Thema Ehrenamtlichkeit und Entwicklung von Ehrenamtlichkeit, das<br />
hängt viel von han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Personen ab. Inwieweit sie sich lösen können von <strong>de</strong>n<br />
eingefahrenen Strukturen, von <strong>de</strong>n verinnerlichten Erfahrungen, wie sie bereit<br />
sind, auch mal neue Wege zu gehen, wie sie eben halt sich nicht vom Tagesgeschäft<br />
umbringen lassen. (...) Und diese Dinosauriertum, was da teilweise vorliegt,<br />
ich kann eben halt nur sagen, es gibt Geschichten, gesicherte Erfahrungen in <strong>de</strong>r<br />
Organisationspolitik von Gewerkschaften ,da ist es gut, das man Traditionalist ist,<br />
und es gibt an<strong>de</strong>re Fel<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m Bereich, wo es sehr wichtig ist, dass man da<br />
auch neue Wege geht und nur in <strong>de</strong>r Kombination, das Eine mit <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>ren,<br />
und bei<strong>de</strong>s muss gut sein, funktioniert das Ganze.(Experte IGMRostock)<br />
Die Ansicht, dass eine erfolgreiche außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />
von <strong>de</strong>n einzelnen Personen vor Ort abhängig ist, wur<strong>de</strong> von all jenen gewerkschaftlichen<br />
Expert/inn/en vertreten, die außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />
für einen wichtigen, zu för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Bereich halten. Aus diesem Grund ist auch<br />
nicht je<strong>de</strong>/r geeignet. Die ehrenamtlich Tätigen müssen von <strong>de</strong>n Zielgruppen anerkannt<br />
und außer<strong>de</strong>m organisationserfahren sein. Diese Bedingungen dürften<br />
einen gewichtigen Grund für die große Zahl Aktiver in <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen<br />
Wohngebietsarbeit darstellen.<br />
Differenzen zwischen <strong>de</strong>n Expert/inn/en sind auch in <strong>de</strong>r Einschätzung<br />
neuer Formen <strong>de</strong>s Engagements sichtbar. Hier konnte mit <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gruppendiskussion<br />
pointierter herausgearbeitet wer<strong>de</strong>n, was sich in <strong>de</strong>n Expert/inn/eninterviews<br />
ange<strong>de</strong>utet hatte. Dass es unter <strong>de</strong>n Befürworter/innen für<br />
eine Unterstützung und Investitionen in ehrenamtliche Tätigkeit zwei Richtungen<br />
gibt. Während die einen im befürworteten Ausbau <strong>de</strong>s Ehrenamtes ein Risiko sehen,<br />
begreifen die an<strong>de</strong>ren ihn als Chance. Ersteren geht es bei ehrenamtlicher
185 <br />
Tätigkeit um die Selbständigkeit <strong>de</strong>r Engagierten, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren um <strong>de</strong>ren Selbstbestimmung.<br />
Diese Debatte um die Be<strong>de</strong>utung ehrenamtlichen Engagements in<br />
<strong>de</strong>n Gewerkschaften wird auf <strong>de</strong>r diskursiven Folie von Professionalisierung <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaften einerseits und Gewerkschaften als soziale Bewegung an<strong>de</strong>rerseits<br />
geführt. „Selbständigkeit“bezieht sich auf die Wahl <strong>de</strong>r Mittel o<strong>de</strong>r auch das<br />
Verfügungsrecht über ein gewisses Budget, „Selbstbestimmung“dagegen auch<br />
auf die Festlegung <strong>de</strong>r Ziele durch die Engagierten selbst. Im ersten Fall erscheint<br />
das Ehrenamt als Risiko, weshalb die Hauptamtlichen das Ehrenamt zu kontrollieren<br />
haben. Im zweiten Fall wird stärker auf die Selbstorganisation vertraut. Das<br />
ehrenamtliche Engagement gewinnt <strong>hier</strong> <strong>de</strong>n Charakter einer Chance für die Weiterentwicklung<br />
<strong>de</strong>r Organisation und die Bindung <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r an sie. 108<br />
Ehrenamtliches Engagement hat aber auch nach Einschätzung einiger Expert/inn/en<br />
seine Grenzen, die in <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s Engagements liegen. So wur<strong>de</strong><br />
freiwilliges Engagement von ihnen nur dann als Möglichkeit gesehen, wenn es<br />
eine zusätzliche Tätigkeit neben <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit ist:<br />
Aber meine Auffassung von Ehrenamtlichkeit ist die, wenn ich einen festen<br />
Job hab und da meine Brötchen verdienen kann, dann kann ich Nachmittags ein<br />
zweimal die Woche auch noch ehrenamtlich tätig wer<strong>de</strong>n. Aber wenn ich kein,<br />
wenn ich nur <strong>hier</strong> mein meine Arbeitslosenhilfe abhole in <strong>de</strong>m dreh, dann bin ich<br />
nicht bereit in meiner Freizeit, und da hat man genug Freizeit, in <strong>de</strong>m dreh dann<br />
noch ehrenamtlich zu machen. Gut ja, aber nicht übermäßig, weil das ja ausgenutzt<br />
wird dann irgendwo und das fin<strong>de</strong> ich nicht in Ordnung. (Experte gewerkschaftsnaher<br />
Jugendverein, Wismar)<br />
So im Gespräch erzählt sie mir [eine Bekannte, Anm. F. Ernst], och, dann<br />
geh ich ja zwei mal zur AWO, aber sagt se, das nimmt immer mehr Formen an, so<br />
erst mal hab ich immer da Kaffee und Kuchen ausgeteilt, so zwei Nachmittage,<br />
und jetzt kommt sie schon [...] o<strong>de</strong>r dann putz ich auch schon mal. Ich sag, und<br />
was kriegst du dafür. Ja sagt se, ach, ich hab ja Zeit. Ich sag hör mal zu, das ist<br />
gar nicht in unserm Sinne. (...) Dann möchtest du das <strong>bitte</strong> bezahlt bekommen,<br />
ne. Aber da ham die noch Hemmungen; und die hat wirklich kein Geld. Da hört<br />
bei mir ehrenamtliche Arbeit auch auf, da gibt es auch irgendwo Grenzen, ne.<br />
(Expertin, ver.di Essen)<br />
Hier wird erkennbar ein Dienstleistungscharakter <strong>de</strong>s Engagements abgelehnt<br />
und verurteilt, da die Engagierten nicht in <strong>de</strong>r Lage sind, die eigenen Interessen<br />
– nicht zuletzt ihre finanziellen zu vertreten. Engagement ist in dieser<br />
Situation allein die Verrichtung von Dienstleistungsarbeit, <strong>de</strong>ren Nutzen nur für die<br />
Organisation ersichtlich ist.<br />
Die befragten Expert/inn/en außerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft verwen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />
Begriff <strong>de</strong>s Ehrenamtes nicht o<strong>de</strong>r nur sehr differenziert. Häufig wird <strong>de</strong>r Begriff<br />
„freiwillige Tätigkeit“bevorzugt. Der Verwendung <strong>de</strong>r Begrifflichkeit ist ein Konzept<br />
bzw. eine I<strong>de</strong>e immanent. Freiwilligenagenturen o<strong>de</strong>r Ehrenamtsbörsen verstehen<br />
die Tätigkeiten, die sie vermitteln, als Freiwilligentätigkeiten, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Freiwillige<br />
im Mittelpunkt steht. Hierbei ist zwischen alten und neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn zu<br />
unterschei<strong>de</strong>n. So ist in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s bürgerschaftlichen<br />
Engagements zentral und wird als Abgrenzung zum klassischen Ehrenamt verstan<strong>de</strong>n:<br />
108 In <strong>de</strong>r Gruppendiskussion mit gewerkschaftlichen Experten im Mai 2002 nahmen diese bei<strong>de</strong>n<br />
Pole einen zentralen Stellenwert ein.
186 <br />
Das sind Menschen [bürgerschaftlich Engagierte, Anm. F. Ernst], die sich<br />
einbringen ins Gemeinwesen, mit einer Aktivität, die ganz unterschiedlich sein<br />
kann, ohne Bezahlung. Aber mit Rahmenbedingungen, sprich Räumlichkeiten,<br />
Arbeitsbedingungen, die sie dazu brauchen, und ich meine auch mit einem zumin<strong>de</strong>stens<br />
hauptamtlichen Ansprechpartner. (...)<br />
Also für mich ist das bürgerschaftliche Engagement nach meiner Definition<br />
schon <strong>de</strong>s neue Engagement, weil einfach die Bedingungen an<strong>de</strong>re sind. Was ich<br />
mit Ehrenamt verbin<strong>de</strong>: dieses ausgenutzt wer<strong>de</strong>n, Stück weit missbraucht wer<strong>de</strong>n<br />
auch, nicht nein sagen zu dürfen, äh dann auf Lebenszeit so dieser Aufgabe<br />
verschworen. Das sind für mich Ehrenamts<strong>de</strong>finitionen. Und damit wird man heute,<br />
glaub ich, kaum noch Menschen erreichen können. (Expertin, Stadt Esslingen)<br />
Grundsätzlich verstehe ich unter bürgerschaftlichem Engagement je<strong>de</strong><br />
Form <strong>de</strong>r freiwilligen Betätigung von Bürgerinnen und Bürgern und da differenziere<br />
ich jetzt nicht ob das jemand als Ehrenamt als klassischer Ehrenamtlicher im<br />
Verein tut o<strong>de</strong>r in einem Wohlfahrtsverband o<strong>de</strong>r wo er auch immer das tut.<br />
...,son<strong>de</strong>rn dass die Kommune ein Stück weit Bürgerschaftliche einbezieht im<br />
Prozess und Entscheidungen. (...) Aber dass dann wirklich <strong>de</strong>r Bürger in jeglichen<br />
Entscheidungen einer Kommune eingebun<strong>de</strong>n wird, das wär für mich eine Vision.<br />
Das ist auch für mich dann eine mo<strong>de</strong>rne Verwaltung. (...) Die aktive Mitwirkung<br />
am Prozess in einer Stadt, Gemein<strong>de</strong>, Kommune, Landkreis, wie auch immer, das<br />
wär für mich das Optimale. (Experte, Ministerium, Stuttgart)<br />
Nach Auskunft eines ministeriellen Verwaltungsmitarbeiters wird <strong>de</strong>r Begriff<br />
bürgerschaftliches Engagement auf Verwaltungsebene konsequent benutzt. In<br />
<strong>de</strong>r Kommunikation mit <strong>de</strong>n Engagierten verwen<strong>de</strong> man auch oft die Bezeichnung<br />
„freiwilliges Engagement“, um <strong>de</strong>n Präferenzen <strong>de</strong>r Engagierten entgegenzukommen.<br />
Denn von kleineren Vereinen wird <strong>de</strong>r Begriff bürgerschaftliches Engagement<br />
als reiner Mo<strong>de</strong>begriff interpretiert. Dies Vereine bevorzugen auch in Ba<strong>de</strong>nWürttemberg<br />
die Beschreibung „freiwillige Tätigkeit“.<br />
Die Begrifflichkeiten sind auf <strong>de</strong>n politischen und <strong>de</strong>n Verwaltungsebenen<br />
gut reflektiert und entsprechen mehr o<strong>de</strong>r weniger <strong>de</strong>m politischen Programm,<br />
das man damit verbin<strong>de</strong>t. Das wird in <strong>de</strong>r Fallstudie Stuttgart beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich.<br />
Hier gibt es in <strong>de</strong>r Begrifflichkeit drei abgrenzbare Gruppierungen, die sich nach<br />
Form, Inhalt und Zeit unterschei<strong>de</strong>n:<br />
a) bürgerschaftliches Engagement<br />
b) Engagement <strong>de</strong>r Agenda21Gruppen<br />
c) Ehrenamt.<br />
a) und b) setzen sich zwar aus unterschiedlicher Klientel mit unterschiedlichen<br />
Ansprüchen und Inhalten zusammen, sind aber ten<strong>de</strong>nziell im bürgerschaftlichen<br />
Engagement verankert. Während es bei <strong>de</strong>r Abgrenzung von c) nicht einfach<br />
um an<strong>de</strong>re Inhalte o<strong>de</strong>r um arbeitsteilige Aufgaben geht, son<strong>de</strong>rn um unterschiedliche<br />
politische Konzepte.<br />
In MecklenburgVorpommern wird <strong>de</strong>r Begriff „neues Ehrenamt“auf Verwaltungsebene<br />
synonym mit bürgerschaftlichem Engagement verwen<strong>de</strong>t.<br />
Generell lässt sich sagen, dass sich die befragten Expert/inn/en darin einig<br />
sind, dass sie im Begriff Ehrenamt eine Konnotation sehen, die <strong>de</strong>n Tätigkeiten<br />
<strong>de</strong>r Engagierten nicht gerecht wird. Begriffe wie „neues Ehrenamt“und „bürgerschaftliches<br />
Engagement“wer<strong>de</strong>n zwar von vielen Expert/inn/en benutzt, aber<br />
von vielen Engagierten in <strong>de</strong>n Vereinen als aufoktroyiert empfun<strong>de</strong>n.Der Begriff<br />
„neues Ehrenamt“hat sich bis jetzt nicht wirklich etablieren können. Am ehesten
187 <br />
wird er noch innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaft verwen<strong>de</strong>t. Hier kennzeichnet er vor allem<br />
die projektbezogene ehrenamtliche Tätigkeit.<br />
6.1.3 Motive <strong>de</strong>r Engagierten aus Sicht <strong>de</strong>r Expert/inn/en<br />
Nach Einschätzungen <strong>de</strong>r Expert/inn/en engagieren sich die einzelnen aus<br />
unterschiedlichen Motiven. Innerhalb <strong>de</strong>r Gewerkschaften gibt es darüber verschie<strong>de</strong>ne<br />
Meinungen. Diese reichen von <strong>de</strong>r Ansicht, dass Arbeitslosigkeit und<br />
die damit reichlich vorhan<strong>de</strong>ne Zeit ein Grund für Engagement seien, dass ein<br />
Engagement Ausdruck von Solidarität sei und/o<strong>de</strong>r aus Angst ausgeübt wird, um<br />
nicht in ein Loch zu fallen, bis hin zu <strong>de</strong>r diffuseren Ansicht, dass die Motive sehr<br />
vielschichtig seien und sich nicht auf einen Erklärungszusammenhang reduzieren<br />
lassen.<br />
Frage: Was treibt die Leute sich ehrenamtlich zu engagieren? Was sind die<br />
Motive?<br />
Experte: Also in hohem Maße Selbstverwirklichung, glaub ich. Anerkennung,<br />
in einem etwas geringeren Maße. Aber glaub ich auch eher typisch für die<br />
Arbeitsmarktsituation <strong>hier</strong>, die Hoffnung, dass sich daraus möglicherweise ne<br />
verstätigte Beschäftigung entwickelt. Wär falsch das zu verschweigen. Und an<br />
manchen Stellen, <strong>de</strong>nk ich auch, so was wie sich selber ausprobieren, zurechtzufin<strong>de</strong>n<br />
und für die eigene Entwicklung etwas zu tun. Auf Leute zuzugehen, miteinan<strong>de</strong>r<br />
zu kommunizieren, Gleichgesinnte zu fin<strong>de</strong>n, bestimmte I<strong>de</strong>en zu verwirklichen,<br />
die man selber so mit sich rumträgt o<strong>de</strong>r an manchen Stellen auch das Gefühl<br />
äh, mal auszutesten und zu hinterfragen. (...) Ich glaub, dass vieles, was da<br />
so passiert auch zur Selbstorientierung, zur Selbstfindung beiträgt. (Experte IGM<br />
Rostock)<br />
Im außergewerkschaftlichen Bereich sehen die Befragten innerhalb <strong>de</strong>r<br />
Fallstudie Stuttgart die Motivation <strong>de</strong>r Engagierten in erster Linie in <strong>de</strong>r Erhaltung<br />
von Lebensqualität, in einem sinnvollen Ausgleich zur Arbeit, im Einfluss bei <strong>de</strong>r<br />
Gestaltung <strong>de</strong>s Wohnumfel<strong>de</strong>s und in einem Bedürfnis, zusammen mit an<strong>de</strong>ren<br />
aktiv zu sein. In <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn richtet sich die Motivation zum Engagement<br />
aufgrund <strong>de</strong>r hohen Arbeitslosigkeit dagegen stark am Arbeitsmarkt aus.<br />
So ist nach Auskunft <strong>de</strong>r Freiwilligenagentur Halle die Gruppe <strong>de</strong>r Erwerbslosen<br />
mit ca. 40% unter <strong>de</strong>n Interessenten vertreten, obwohl sie nicht die primäre Zielgruppe<br />
<strong>de</strong>r Agentur darstellen. Viele sehen in <strong>de</strong>r Vermittlung in ein Engagement<br />
<strong>de</strong>n Versuch, wie<strong>de</strong>r in Erwerbsarbeit zu kommen. (Experte Freiwilligenagentur<br />
Halle)<br />
Die Motivation für ein Engagement kann laut einer Expertin aus MecklenburgVorpommern<br />
nach vier verschie<strong>de</strong>nen Typen unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n:<br />
• Ehrenamt im Sinne von Verpflichtung. Menschen, die in überleben<strong>de</strong>n<br />
Strukturen engagiert sind: z. B. die Volkssolidarität o<strong>de</strong>r die Gewerkschaft.<br />
• Subjektive Motivationen <strong>de</strong>s einzelnen: Umweltschutzgrün<strong>de</strong>, Kirche, also<br />
aus <strong>de</strong>n eigenen inneren Einstellungen heraus. Hier gibt es keinen Unterschied<br />
zwischen Ost und West.<br />
• Die „Es muss doch was passieren“Motivierten, die versuchen, eine von ihnen<br />
empfun<strong>de</strong>ne Lücke zu füllen, oft im Bereich <strong>de</strong>r Jugendarbeit und <strong>de</strong>r<br />
Kultur. Hier engagieren sich sehr viele Senioren, die das Gefühl haben,<br />
dass <strong>de</strong>r Arbeitsmarkt sie nicht mehr braucht, die auch kaum noch eine
188 <br />
Chance haben, in <strong>de</strong>n ersten Arbeitsmarkt zu kommen, die aber viel Elan<br />
und Kenntnisse haben.<br />
• Menschen, die in ABM bzw. SAM sind und sich eigentlich für <strong>de</strong>n ersten<br />
Arbeitsmarkt qualifizieren wollen, die dann aber durchaus ein Engagement<br />
aufnehmen und dabei bleiben.<br />
Die Expertin betont, dass ein Motivationsknick bei Jugendlichen zu beobachten<br />
sei, <strong>de</strong>n sie auf die Erfahrung <strong>de</strong>r Jugendlichen zurückführt, dass die Eltern<br />
„keine Chance mehr hatten und vom neuen Staat allein gelassen wur<strong>de</strong>n“.<br />
(Expertin, MecklenburgVorpommern) Aufbauend auf dieser Erkenntnis, ist es die<br />
Absicht politischer Stellen, Jugendliche darüber zu motivieren, dass sich das Engagement<br />
beruflich verwerten lässt. Das berücksichtigt <strong>de</strong>n Anspruch <strong>de</strong>r Jugendlichen,<br />
dass ein Engagement für die weitere berufliche Entwicklung nützlich sein<br />
müsse. Der Verwertbarkeitsanspruch bei Jugendlichen sei generell höher als bei<br />
älteren Menschen. (Expertin, MecklenburgVorpommern)<br />
In <strong>de</strong>r Fallstudie Stuttgart spielt das Thema Arbeitslosigkeit bei <strong>de</strong>n Expert/inn/en<br />
– mit Ausnahme im Arbeitslosenzentrum SALZ eine völlig untergeordnete<br />
Rolle. Engagement wird <strong>hier</strong> in einer an<strong>de</strong>ren Funktion zu Erwerbslosigkeit<br />
gesehen und eher als eine Möglichkeit verstan<strong>de</strong>n, sich zu qualifizieren, um<br />
Anschlüsse an <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt herzustellen. Viele Erwerbslose wollen sich über<br />
ein Engagement Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen. Gera<strong>de</strong> Mütter mit Kin<strong>de</strong>rn<br />
sehen bürgerschaftliches Engagement als Sprungbrett, um wie<strong>de</strong>r in Arbeit<br />
zu kommen. Engagement und Erwerbslosigkeit sei in <strong>de</strong>r Bürgerschaftlichen<br />
EngagementLandschaft ein randständiges Thema . Aber es sei gera<strong>de</strong> im Sinne<br />
von Qualifizierung sinnvoll, kommunikative Zusammenhänge wie<strong>de</strong>rzufin<strong>de</strong>n, die<br />
wie<strong>de</strong>r Wege in das Erwerbsleben erschließen. (Experte, Verband, Stuttgart)<br />
6.2 Engagement im Rahmen <strong>de</strong>r Gewerkschaftsarbeit<br />
Jürgen Wolf<br />
Ehrenamtliches Engagement spielt in <strong>de</strong>n Gewerkschaften seit jeher eine<br />
herausragen<strong>de</strong> Rolle. Die Handlungsfel<strong>de</strong>r lassen sich nach <strong>de</strong>m Ort (betrieblich /<br />
außerbetrieblich), nach <strong>de</strong>n Zielgruppen (Jugendliche, Senioren, Erwerbslose)<br />
und <strong>de</strong>r Form („traditionelles“/ „neues“Ehrenamt) unterschei<strong>de</strong>n (Abb. 1). Darüber<br />
hinaus kann das Engagement direkt in <strong>de</strong>r Gewerkschaft erfolgen o<strong>de</strong>r indirekt<br />
durch sie geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />
Das betriebsbezogene Engagement (Fel<strong>de</strong>r 1 und 2 <strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n Tafel)<br />
wird durch Verän<strong>de</strong>rungen von Arbeitsstrukturen und Arbeitszeiten herausgefor<strong>de</strong>rt.<br />
Hier fin<strong>de</strong>n sich „neue“Formen <strong>de</strong>s gewerkschaftlichen Engagements<br />
beispielsweise in Betrieben <strong>de</strong>r „New Economy“, wobei sich die Erwartungen <strong>de</strong>r<br />
Mitarbeiter in dieser Branche laut einer Befragung <strong>de</strong>r connexx.av (vgl. zusammenfassend<br />
http://www.einblick.dgb.<strong>de</strong>/archiv/0116/gf011602.htm) vorrangig auf ein<br />
kompetentes Dienstleistungs und Vertretungsangebot richten. Nicht die Inhalte,<br />
son<strong>de</strong>rn die Form <strong>de</strong>r Ansprache und Einbindung scheinen in diesem Bereich die<br />
hauptsächliche Herausfor<strong>de</strong>rung darzustellen. In diesen Komplex gehört auch die<br />
Definition <strong>de</strong>r Rolle, die Gewerkschaften im Rahmen von Konzepten und Aktivitäten<br />
<strong>de</strong>r „corporate citizenship“einnehmen. Bisher scheint dies aber ein unterbelichtetes<br />
Handlungsfeld zu sein.
189 <br />
Ein wichtiges Aufgabengebiet stellen <strong>hier</strong> auch „indirekte“Formen <strong>de</strong>r Engagementför<strong>de</strong>rung<br />
dar, insbeson<strong>de</strong>re Regelungen und Vereinbarungen zugunsten<br />
einer besseren Vereinbarkeit von Arbeits und Engagementzeiten. Zwar sind<br />
Berufstätige in höherem Ausmaß ehrenamtlich aktiv als nicht Erwerbstätige, allerdings<br />
wer<strong>de</strong>n die ungünstige Lage und mangeln<strong>de</strong> Flexibilität <strong>de</strong>r Arbeitszeit sowie<br />
mangeln<strong>de</strong> Freistellungsmöglichkeiten als ein wesentlicher Hin<strong>de</strong>rungsgrund<br />
für die Aufnahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit gesehen (vgl. Klenner / Pfahl<br />
2001).<br />
Schema: Handlungsfel<strong>de</strong>r ehrenamtlichen Engagements in <strong>de</strong>n Gewerkschaften 109<br />
Handlungsfel<strong>de</strong>r ehrenamtlichen Engagements in <strong>de</strong>n Gewerkschaften<br />
Form Betrieblich außerbetrieblich<br />
„traditionell“ 1 <br />
Betriebs / Personalräte<br />
(nicht freigestellt)<br />
Vertrauensleute<br />
Jugend und Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>nvertreter<br />
Arbeit in Ausschüssen<br />
und Kommissionen<br />
„neu“ 2 <br />
Vertretungsformen in <strong>de</strong>r<br />
„New Economy“<br />
Rolle in „corporate citizenship“Aktivitäten<br />
Engagementför<strong>de</strong>rung<br />
durch Arbeitszeitregelungen<br />
3 <br />
Beratung, Betreuung,<br />
Expertise<br />
Seniorenarbeit<br />
Jugendarbeit<br />
4 <br />
Arbeitslosenarbeit<br />
Wohngebietsarbeit<br />
Kulturarbeit<br />
„BTeams“<br />
Im außerbetrieblichen Bereich ehrenamtlicher Tätigkeiten lassen sich „traditionelle“Formen<br />
i<strong>de</strong>ntifizieren, die eine I<strong>de</strong>ntifizierung mit <strong>de</strong>r Rolle als Arbeitnehmer<br />
und Gewerkschaftsmitglied voraussetzen, zum Teil milieugeprägt sind<br />
und Arbeitserfahrungen im Fokus <strong>de</strong>r Tätigkeiten haben sowie in die gewerkschaftliche<br />
Gremienstruktur eingebun<strong>de</strong>n sind (Feld 3). „Neue“Formen knüpfen<br />
dagegen an Erfahrungen und Interessen an, die nicht selbstverständlich auf diesen<br />
Erfahrungshintergrund rekurrieren können und neuere, flexiblere Formen <strong>de</strong>s<br />
Verhältnisses von Organisation und Engagierten ermöglichen (Feld 4).<br />
Die Tätigkeiten als ehrenamtliche Arbeitsrichter, Versicherungsobleute in<br />
<strong>de</strong>n Einrichtungen <strong>de</strong>r Sozialversicherung und Schiedsleute stellen hergebrachte<br />
Formen <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements dar, die aus <strong>de</strong>r Stellung <strong>de</strong>r Gewerkschaften<br />
im korporatistischen System resultieren (z.B. <strong>de</strong>r paritätischen Besetzung<br />
<strong>de</strong>r Aufsichtsorgane <strong>de</strong>r Sozialversicherungsträger). Eine zentrale Voraussetzung<br />
dieser Tätigkeiten ist die langjährige Organisationserfahrung und Qualifi<br />
109 Die Abbildung ist i<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>r Darstellung im Bericht <strong>de</strong>r EnqueteKommission „Zukunft<br />
<strong>de</strong>s bürgerschaftlichen Engagements“(EnqueteKommission 2002b: 447). Sie wird <strong>de</strong>nnoch ohne<br />
Quellenangabe abgebil<strong>de</strong>t, weil sie im Forschungsprojekt entwickelt und <strong>de</strong>r Kommission zur Verfügung<br />
gestellt wur<strong>de</strong>.
190 <br />
kation. Aus diesem Grund wer<strong>de</strong>n <strong>hier</strong> vor allem „verdiente Gewerkschafter“angesprochen.<br />
Zahlreiche ehrenamtliche Aktivitäten und Angebote <strong>de</strong>r Gewerkschaften<br />
richten sich auf die Mitglie<strong>de</strong>rgewinnung und –betreuung. Die DGB<br />
Gewerkschaften zählten En<strong>de</strong> 2000 rund 7,77 Millionen Mitglie<strong>de</strong>r, 264 000 weniger<br />
als En<strong>de</strong> 1999. Damit ist die Mitglie<strong>de</strong>rzahl erstmals wie<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>n Stand<br />
von 1990 gefallen: Vor <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch<strong>de</strong>utschen Vereinigung hatten die DGB<br />
Gewerkschaften 7,9 Millionen Mitglie<strong>de</strong>r, danach 11,8 Millionen. Der absolute<br />
Verlust hat sich im vergangenen Jahr zwar weiter abgeschwächt (264 000 statt<br />
274 000 im Jahr 1999), <strong>de</strong>r relative jedoch nicht – er ist mit 3,3 Prozent in bei<strong>de</strong>n<br />
Jahren gleich geblieben. Diese Entwicklung hat nicht nur <strong>de</strong>mographische Ursachen<br />
son<strong>de</strong>rn auch die mangeln<strong>de</strong> Bereitschaft, Mitglied zu wer<strong>de</strong>n. So ist <strong>de</strong>r<br />
Organisationsgrad von rund 33% im Jahr 1991 auf 22,5% im Jahr 2000 gesunken.<br />
Die Erwerbslosigkeit ist für die hohen Mitglie<strong>de</strong>rverluste vor allem in <strong>de</strong>n<br />
neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn verantwortlich. Zugleich liegt eine wesentliche Ursache <strong>de</strong>s<br />
Mitglie<strong>de</strong>rschwunds in <strong>de</strong>n Schwierigkeiten, jüngere Mitglie<strong>de</strong>r zu gewinnen. Wie<br />
an<strong>de</strong>ren Großorganisationen geht auch <strong>de</strong>n Gewerkschaften allmählich die Jugend<br />
aus. 518 068 junge Menschen, d.h. 6,7 Prozent aller DGBMitglie<strong>de</strong>r, zählen<br />
heute noch zur Gewerkschaftsjugend. Neben <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Seniorenarbeit<br />
richten sich <strong>de</strong>shalb gewerkschaftliche Aktivitäten auf <strong>de</strong>n Jugendbereich. Einerseits<br />
wer<strong>de</strong>n hauptamtlich betreute Projekte initiiert, an<strong>de</strong>rerseits wird versucht,<br />
durch neuartige Angebote zum Engagement die freiwillige Mitwirkung zu för<strong>de</strong>rn.<br />
Einen Erfolg konnte damit zum Beispiel bereits die IG Metall verbuchen: erstmals<br />
seit Anfang <strong>de</strong>r 90er Jahre konnten sie einen Zuwachs neu aufgenommener jugendlicher<br />
Mitglie<strong>de</strong>r verbuchen (32.556 im Jahr 2001 gegenüber noch 23.693 im<br />
Jahr 1996 (Quelle: IG Metall, Abt. Jugend). Dies lässt sich auf verstärkte Anstrengungen<br />
im betrieblichen Bereich zurückführen, aber auch auf eine Ausweitung <strong>de</strong>r<br />
jugendspezifischen Projekte ehrenamtlichen Engagements.<br />
Ein wichtiges Handlungsfeld stellt insgesamt die außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit<br />
dar. Sie konkretisiert sich in <strong>de</strong>n ehrenamtlichen DGB<br />
Kreisverwaltungen <strong>de</strong>r „vierten Ebene“, aber auch darin, dass beispielsweise die<br />
IG Metall eine Abteilung in <strong>de</strong>r Vorstandsverwaltung unter dieser Bezeichnung<br />
eingerichtet hat. Neben <strong>de</strong>r Senioren und Arbeitslosenarbeit fin<strong>de</strong>n sich <strong>hier</strong><br />
neue Formen <strong>de</strong>r Einbeziehung ehrenamtlich Engagierter in Jugend und Kulturprojekten<br />
sowie in <strong>de</strong>r „Wohngebietsarbeit“(vgl. Hielscher 1999; IG Metall 2001),<br />
die als „zweites Standbein“<strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Organisation verstan<strong>de</strong>n wird,<br />
das überwiegend von Ehrenamtlichen getragen wird.<br />
Aufgrund <strong>de</strong>s Rückgangs <strong>de</strong>r betrieblich angebun<strong>de</strong>nen Mitglie<strong>de</strong>r durch<br />
Arbeitslosigkeit und Verrentung wird die Wohngebietsarbeit von <strong>de</strong>r IG Metall als<br />
<strong>de</strong>zentrale Verwaltungsstruktur vor allem in jenen Gebieten geför<strong>de</strong>rt, in <strong>de</strong>nen<br />
die (potentiellen) Mitglie<strong>de</strong>r in beson<strong>de</strong>rs hohem Ausmaß nicht o<strong>de</strong>r nicht mehr<br />
betrieblich angebun<strong>de</strong>n sind und wo Traditionen <strong>de</strong>r Ortsgebietsarbeit vorhan<strong>de</strong>n<br />
sind, an welche angeknüpft wer<strong>de</strong>n kann. Sie konzentriert sich <strong>de</strong>shalb gegenwärtig<br />
vor allem auf die neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>r. Ehrenamtliche Wohnbereichs<br />
Vertrauensleute sollen eine bürger und mitglie<strong>de</strong>rnahe Infrastruktur gewährleisten.<br />
Die Ziele richten sich auf <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rbestand <strong>de</strong>r Organisation, aber auch<br />
auf eine Vernetzung von gewerkschafts und kommunalpolitischen Themen, z.B.
191 <br />
durch ein Beratungsangebot, sowie von inner und außerbetrieblichen Interessen<br />
und Aktionen. Hierfür wer<strong>de</strong>n an Mo<strong>de</strong>llstandorten (u. a. Bautzen und Rostock)<br />
infrastrukturelle Voraussetzungen bereitgestellt (Büroräume mit technischer Ausstattung)<br />
und Qualifizierungsmöglichkeiten für Ehrenamtliche angeboten.<br />
Ein weiteres Kennzeichen <strong>de</strong>r außerbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit besteht<br />
in projektbezogenen Aktivitäten. Diese setzen nicht unbedingt die Mitgliedschaft<br />
<strong>de</strong>r Teilnehmer in <strong>de</strong>r Gewerkschaft voraus, sind aufgabenorientiert und<br />
nicht an die Beteiligung an Gremien gebun<strong>de</strong>n. Sie entsprechen in so fern am<br />
ehesten <strong>de</strong>n Merkmalen <strong>de</strong>r „neuen Ehrenamtlichkeit“. Hier fin<strong>de</strong>n sich etwa die<br />
„BTeams“<strong>de</strong>r IG Metall: Ehrenamtliche Gewerkschaftsbeauftragte, in <strong>de</strong>r Regel<br />
aus <strong>de</strong>m Arbeitsleben ausgeschie<strong>de</strong>ne Funktionsträger, sind zuständig für die<br />
Betreuung von Klein, Mittel und Handwerksbetrieben, um dort Mitglie<strong>de</strong>r zu werben<br />
und zu betreuen sowie Organisationsstrukturen zu etablieren. Aus einer Initiative<br />
von Senioren <strong>de</strong>r Verwaltungsstelle Hannover hervorgegangen, haben sich<br />
in mehreren Regionen inzwischen solche Strukturen entwickelt.<br />
Jugendprojekte bil<strong>de</strong>n einen zweiten wichtigen Schwerpunkt projektbezogener<br />
ehrenamtlicher Gewerkschaftsarbeit. Von <strong>de</strong>r Gewerkschaft initiiert o<strong>de</strong>r in<br />
Kooperation mit ihr wer<strong>de</strong>n Projekte mit einem weiteren Themen und Aktivitätshorizont<br />
angeboten. Beispiele: In MecklenburgVorpommern bieten beispielsweise<br />
Unterglie<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s von mehreren Gewerkschaften getragenen „Dau Wat<br />
e.V.“Beratung, Bildung und Aktivitätsangebote für arbeitslose Jugendliche an. Im<br />
Rahmen <strong>de</strong>s „Aktionsbündnisses gegen rechts“organisiert das Projekt „Strandgut<br />
2001“in Trägerschaft <strong>de</strong>r DGBJugend Freizeit und Bildungsaktivitäten. Das internationale<br />
Jugendprojekt „Xelonanani“wird von <strong>de</strong>r IG MetallJugend angeboten.<br />
Einmal jährlich fährt eine Gruppe – nach Vorbereitungsseminaren – an <strong>de</strong>n<br />
Standort <strong>de</strong>s südafrikanischen VWWerkes in Soweto, um <strong>de</strong>n Bewohnern beim<br />
Aufbau ihres Wohnviertels zu helfen (vgl. zu <strong>de</strong>n Beispielen die ausführlichen<br />
Darstellungen in <strong>de</strong>n Kapiteln 3, 4 und 5 dieses <strong>Berichts</strong>).<br />
6.3 Voraussetzungen <strong>de</strong>r Engagementför<strong>de</strong>rung (Thesen und Empfehlungen)<br />
Jürgen Wolf<br />
Einige Folgerungen aus <strong>de</strong>n Ergebnissen <strong>de</strong>r Untersuchung lassen sich in<br />
Thesen zusammenfassen, die zugleich <strong>de</strong>n Charakter praktisch umsetzbarer<br />
Empfehlungen haben.<br />
• Im Vor<strong>de</strong>rgrund <strong>de</strong>s gewerkschaftlichen Han<strong>de</strong>lns muss die Gesamtheit <strong>de</strong>r<br />
Mitglie<strong>de</strong>r stehen, nicht nur die Gruppe <strong>de</strong>r Erwerbstätigen. Dies be<strong>de</strong>utet eine<br />
Öffnung in Richtung <strong>de</strong>s allgemeinen Gemeinwohls und <strong>de</strong>r Lebenslagen <strong>de</strong>r<br />
Mitglie<strong>de</strong>r in ihren Rollen als Mitbürger, Mieter, Konsumenten, Abhängige von<br />
Sozialsystemen. Die Gewerkschaft kann damit ihren Partikularismus aufbrechen<br />
und ten<strong>de</strong>nziell eine Rolle als „BürgerGewerkschaft“gewinnen.<br />
Die „Gesamtheit <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r“umfasst auch jene Mitglie<strong>de</strong>r, welche aufgrund<br />
von Erwerbslosigkeit, Ruhestand o<strong>de</strong>r einer Beschäftigung in Kleinbetrieben<br />
– ohne betriebliche Anbindung sind. Die IG Metall hat diesen Grundsatz<br />
beispielsweise bereits in ihrer Satzung verankert (§ 2.1). Ehrenamtliches
192 <br />
Engagement kann dazu beitragen, dass Beteiligungsstrukturen aufgebaut<br />
wer<strong>de</strong>n, welche diesen Mitglie<strong>de</strong>rn größere Mitspracherechte erlauben. Die<br />
Wohngebietsarbeit, die in <strong>de</strong>r Untersuchung ausführlich dargestellt wur<strong>de</strong>, ist<br />
beispielsweise ein Ansatz, <strong>de</strong>r diesem Ziel entspricht. Eine Beteiligungsorientierung<br />
setzt jedoch eine Ausweitung <strong>de</strong>r Betreuung voraus.<br />
• Ehrenamtliches Engagement be<strong>de</strong>utet nicht nur außerbetriebliches Engagement.<br />
Betriebliches und außerbetriebliches Engagement ergänzen sich. Die<br />
För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s freiwilligen Engagements ist auch eine Frage <strong>de</strong>r Tarif, Arbeits<br />
und Arbeitszeitpolitik (Freistellungsregelungen, Anerkennung freiwilligen<br />
Engagements als Arbeit, Anerkennung von Qualifikationen, die in freiwilliger<br />
Arbeit erworben wer<strong>de</strong>n).<br />
Diese These ergibt sich indirekt aus <strong>de</strong>n Forschungsergebnissen. So sehr außerbetriebliche<br />
Gewerkschaftsarbeit för<strong>de</strong>rungswürdig ist, so sehr muss <strong>de</strong>r<br />
Ten<strong>de</strong>nz entgegengewirkt wer<strong>de</strong>n, dass sie sich von <strong>de</strong>r betrieblichen Arbeit<br />
separiert. Zum einen wür<strong>de</strong>n dann die realen Wechselbeziehungen ausgeblen<strong>de</strong>t,<br />
zum an<strong>de</strong>ren wäre die Entwicklung eines Gefälles zu befürchten, das<br />
die außerbetriebliche Arbeit schnell wie<strong>de</strong>r in eine untergeordnete Position<br />
drängen wür<strong>de</strong>. Bei<strong>de</strong> Engagementformen beeinflussen sich. Betriebliche<br />
Freistellungsregelungen ermöglichen außerbetriebliches Engagement.<br />
Zugleich könnten die betrieblichen Akteure dabei mitwirken, dass freiwilliges<br />
Engagement – im Sinne <strong>de</strong>r „corporate citizenship“– sich innerbetrieblich<br />
„auszahlt“, in<strong>de</strong>m erworbene Qualifikationen auch beruflich eingesetzt und anerkannt<br />
wer<strong>de</strong>n und das außerbetriebliche Engagement ein karriereför<strong>de</strong>rliche<br />
Auswirkungen erhält.<br />
• Freiwilliges Engagement und Erwerbsarbeit stehen in einem wechselseitigen<br />
Abhängigkeitsverhältnis. Männern kann ein Hinüberwechseln von <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit<br />
in die Familie und Frauen ein Hinüberwechseln in umgekehrter<br />
Richtung erleichtert wer<strong>de</strong>n. Ehrenamtliches Engagement kann eine Brücke<br />
bauen, die aus <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit in die Erwerbsarbeit führt.<br />
Diese These steht im engen Zusammenhang mit <strong>de</strong>r vorangegangenen. In<br />
Zeiten hoher Arbeitslosigkeit klingt sie illusionär. Im Zusammenhang mit einer<br />
betrieblichen Aufwertung <strong>de</strong>s außerbetrieblichen Engagements gewinnt sie jedoch<br />
an Realitätsgehalt. Die beruflich Anerkennung <strong>de</strong>s freiwilligen Engagements<br />
kann dazu beitragen, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – zum<br />
Beispiel bei <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rerziehung – egalitärer zu gestalten. Sie kann umgekehrt<br />
<strong>de</strong>n Anspruch von Frauen in <strong>de</strong>r Erziehungsphase auf eine Beschäftigung<br />
ver<strong>de</strong>utlichen. Denkbar wären <strong>hier</strong>für beispielsweise flexible Regelungen für<br />
eine befristete (teilweise) Freistellung nach <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Job Sharing.<br />
• Die Wirksamkeit <strong>de</strong>s ehrenamtlichen Engagements beruht auf <strong>de</strong>r Integration<br />
mit (ehemaligen) gewerkschaftlichen Funktionsträgern, also auf <strong>de</strong>r Kombination<br />
von Engagement und Professionalität. Dies erfor<strong>de</strong>rt Sensibilisierung,<br />
Qualifizierung und erweiterte Aufgaben<strong>de</strong>finition <strong>de</strong>r Hauptamtlichen.
193 <br />
Freiwillige, ehrenamtliche Tätigkeit darf nicht allein auf <strong>de</strong>n Schultern <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen<br />
ruhen. Wie die Fallstudien gezeigt haben, gelingt das ehrenamtliche<br />
Engagement dort am ehesten, wo professionelle Flankierung und materielle<br />
Unterstützung vorhan<strong>de</strong>n sind. Das be<strong>de</strong>utet, das die Hauptamtlichen<br />
qualifiziert wer<strong>de</strong>n müssen, die ehrenamtlichen Projekte kompetent zu betreuen.<br />
Das be<strong>de</strong>utet auch, dass Ressourcen bereitgestellt wer<strong>de</strong>n müssen – ehrenamtliches<br />
Engagement bedarf professioneller Unterstützung, für die ein<br />
entsprechen<strong>de</strong>s Budget zur Verfügung stehen muss.<br />
• Auch die ehrenamtlich Engagierten müssen sich neue Kompetenzen aneignen.<br />
Die Qualifizierung <strong>de</strong>r Engagierten ist <strong>de</strong>shalb eine wichtige Aufgabe, ohne<br />
das die freiwillige Arbeit sich zum Ersatz für die Arbeit <strong>de</strong>r Hauptamtlichen<br />
entwickelt. Zugleich ist <strong>de</strong>r Rückfluss dieser Kompetenzen in die Organisation<br />
sicherzustellen, <strong>de</strong>nn die freiwillig Engagierten verfügen über eigene, nicht zu<br />
ersetzen<strong>de</strong> Erfahrungen.<br />
Die Interviews und Gruppendiskussionen haben gezeigt, dass die freiwillig<br />
Engagierten ein großes Interesse an professioneller Qualität ihrer Arbeit haben,<br />
um darüber die Wirksamkeit ihres Engagements sicherstellen zu können.<br />
Vergleichbar mit <strong>de</strong>n Betriebsräteseminaren wäre <strong>de</strong>shalb ein Bildungs und<br />
Qualifizierungsangebot für die Ehrenamtlichen in unkonventionellen Handlungsfel<strong>de</strong>rn<br />
sinnvoll. Die Unterstützung <strong>de</strong>s Qualifizierungsinteresses – auch<br />
beispielsweise durch die anteilige Kostenübernahme für externe Angebote –<br />
dürfte als Motivationsanreiz dienen, welcher nicht nur die Qualität <strong>de</strong>r ehrenamtlichen<br />
Arbeit sicherstellen, son<strong>de</strong>rn auch die Bereitschaft zum Engagement<br />
erhöhen könnte.<br />
• Den Engagierten kann <strong>de</strong>r Vorteil <strong>de</strong>r Zugehörigkeit zu einem großen Verband<br />
praktisch erfahrbar wer<strong>de</strong>n, wenn die Organisation im Umgang mit <strong>de</strong>n<br />
ehrenamtlich Engagierten <strong>de</strong>n Leitlinien <strong>de</strong>r Befähigung und <strong>de</strong>s Empowerments<br />
folgt.<br />
Insbeson<strong>de</strong>re die Fallstudien zur Jugendarbeit haben gezeigt, dass die Zugehörigkeit<br />
zu einem großen Verband von Jugendlichen positiv eingeschätzt<br />
wird. Die Engagierten sind auch bereit, sich in <strong>de</strong>r Gremienarbeit zu beteiligen,<br />
sind dabei jedoch anspruchsvoll. Die praktische Arbeit <strong>de</strong>r Organisation muss<br />
mit <strong>de</strong>r politischen Programmatik übereinstimmen, und die Unterstützung<br />
durch <strong>de</strong>n Verband muss erkennbare Vorteile für die Wirksamkeit <strong>de</strong>s eigenen<br />
Han<strong>de</strong>lns und <strong>de</strong>r Erreichung seiner Ziele haben.<br />
• Ehrenamtliches Engagement bedarf einer adäquaten Anerkennung und Gratifikation.<br />
Die in <strong>de</strong>r Forschungsliteratur zum Teil konstatierte Ten<strong>de</strong>nz zum „bezahlten<br />
Ehrenamt“konnten wir in unseren Fallstudien nicht feststellen. Dies mag an<br />
<strong>de</strong>r Fallauswahl liegen. Dennoch ist die Anerkennung und Gratifikation <strong>de</strong>s<br />
Engagements in allen Fällen von großer Be<strong>de</strong>utung für die Motivation <strong>de</strong>r Engagierten.<br />
Ten<strong>de</strong>nziell zeigen die Fallstudien, dass Engagementformen mit<br />
bürgerschaftlichem Charakter eher symbolische bzw. i<strong>de</strong>elle Anerkennung<br />
präferieren, verbandliche Formen eher materielle. Insbeson<strong>de</strong>re bei Engage
194 <br />
mentformen mit Projektcharakter ist eine wirksame Anerkennung notwendig,<br />
um die Engagementbereitschaft nicht zu frustrieren, da die zeitliche Befristung<br />
jeweils eine neue Entscheidung für das Engagement erfor<strong>de</strong>rt. Materielle Anerkennung<br />
muss nicht Bezahlung <strong>de</strong>r Tätigkeit be<strong>de</strong>uten, aber zum Beispiel<br />
ein unbürokratisches Verfahren <strong>de</strong>r Aufwandsentschädigung, etwa durch ein<br />
flexibel handhabbares, selbstverwaltetes Budget statt <strong>de</strong>r zentralisierten Abrechnung<br />
über die Verwaltungsstelle. In ländlichen Gebieten entstehen beispielsweise<br />
zum Teil hohe Fahrtkosten, die für Geringverdiener zu einer spürbaren<br />
Belastung wer<strong>de</strong>n können.<br />
• Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit steigert die politische Wirksamkeit <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaft. Engagementoptionen im sozialpolitischen Bereich wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />
Bedürfnissen <strong>de</strong>r Engagierten gerecht, stärken die Bindung an die Organisation,<br />
motivieren zu zusätzlichem gewerkschaftspolitischem Engagement und<br />
können Mitglie<strong>de</strong>rgewinne bewirken.<br />
Die Fallstudien zu <strong>de</strong>n Kooperationsprojekten (Dau Wat, AGE, StrandGut u.a.)<br />
zeigen, dass die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Engagements für allgemeine Interessen das<br />
Image <strong>de</strong>r Gewerkschaft stärkt und die Engagementbereitschaft auch bei<br />
NichtMitglie<strong>de</strong>rn för<strong>de</strong>rt. Dasselbe gilt für die Wohngebietsarbeit. Betreuung<br />
und Beratung in sozialen Fragen und Engagement für lokale Anliegen min<strong>de</strong>rn<br />
die Wahrnehmung <strong>de</strong>r Organisation als bürokratisches Gebil<strong>de</strong>, schaffen Nähe<br />
zum Mitglied und potentiell die Mitwirkungsbereitschaft. Eine kritische Frage<br />
ist <strong>hier</strong>bei, ob es Personen, die nicht in einem Beschäftigungsverhältnis<br />
stehen – Senioren, Jugendliche, Hausfrauen – möglich ist, Mitglied zu wer<strong>de</strong>n.<br />
• Außerbetriebliche Gewerkschaftsarbeit erfor<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n Abbau von Konkurrenz<br />
und <strong>de</strong>n Ausbau von Kooperation zwischen <strong>de</strong>n Einzelgewerkschaften und<br />
von Gewerkschaften und an<strong>de</strong>ren Gruppierungen.<br />
Je allgemeiner die Anliegen sind, die mit <strong>de</strong>m ehrenamtlichen Engagement<br />
verfolgt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto weniger lassen sie sich als allein einzelgewerkschaftliche<br />
Aufgaben <strong>de</strong>finieren. Kooperationsprojekte fin<strong>de</strong>n sich beispielsweise in<br />
<strong>de</strong>r Jugend und Erwerbslosenarbeit, weniger dagegen im Seniorenbereich.<br />
Dies ist in sofern sinnvoll, als die Engagementinteressen Jugendlicher stärker<br />
„bürgerschaftlichen“Charakter und Bezug zu „allgemeinen“Interessen aufweisen.<br />
In <strong>de</strong>r Seniorenarbeit besteht die hauptsächliche Quelle <strong>de</strong>r Engagementbereitschaft<br />
in <strong>de</strong>r Organisationserfahrung und Bindung an die Organisation.<br />
Je größer jedoch die Öffnung zu allgemeinen Fragen – etwa <strong>de</strong>s Wohngebiets<br />
– wird, <strong>de</strong>sto eher wird eine Koordinierungsstruktur für die einzelgewerkschaftlichen<br />
Aktivitäten sinnvoll. Hierin könnte beispielsweise eine produktive<br />
Aufgabe für die ehrenamtlichen DGBRegionen bestehen.
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205 <br />
Anhang<br />
Anhang 1: Fragebogen, Teil 1<br />
Anhang 2: Fragebogen, Teil 2<br />
Anhang 3: Übersicht über ehrenamtliche Projekte <strong>de</strong>r IG Metall, IG BAU,<br />
IG BCE und ver.di (schriftliche Befragung <strong>de</strong>r Verwaltungsstellen<br />
/ Bezirksverwaltungen)<br />
Anhang 4: Leitfa<strong>de</strong>n für Experteninterviews im Teilfeld „Gewerkschaften“<br />
Anhang 5: Leitfa<strong>de</strong>n für Experteninterviews im Teilfeld „Bürgerschaftliches<br />
Engagement“<br />
Anhang 6: Co<strong>de</strong>system <strong>de</strong>r Interviewauswertung mit WinQDA<br />
Anhang 7: Skizze <strong>de</strong>r Fallstudie Küste<br />
Anhang 8: Skizze <strong>de</strong>r Fallstudie Stuttgart / Esslingen<br />
Anhang 9: Skizzen <strong>de</strong>r Gruppendiskussionen mit Jugendlichen
206