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Gebet eines Gelehrten - Janusz Korczak-Wochen

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<strong>Janusz</strong> <strong>Korczak</strong>:<br />

<strong>Gebet</strong> <strong>eines</strong> <strong>Gelehrten</strong><br />

Wir gehen den Weg der Geschichte – wir<br />

tragen die brennenden Fackeln und die<br />

Papierrollen unserer Gesetze. Die<br />

Richtung heisst: vorwärts; die Losung:<br />

warum? – Unser Wille ist, zu verstehen,<br />

unser Gedanke gilt dem Geheimnis – Gott,<br />

du Geheimnis aller Geheimnisse.<br />

Alle sind Freiwillige!<br />

An der Spitze tragen flotte Burschen die<br />

Fahne. Sie heissen Sänger: unsere<br />

forschen Priester. Zuchtlos, mutwillig, man<br />

möchte sagen – ein entbehrlicher Ballast<br />

unseres Marsches. – Unsere Späher sind<br />

voller Opfermut – sie fallen am dichtesten<br />

– bei den jungen Leuten findest du keine<br />

Widerstandskraft – sie lachen, während<br />

sie bluten, mit einem Lied küssen sie den<br />

Tod, mit dem Ruf: „auf, auf“, mit dem<br />

Schwur: „bis zur Bahre“.<br />

Wir lieben dieses rappelige junge Volk, wir<br />

werden still, wenn sie wie aufgescheuchte<br />

Vögel davonfliegen und irgendwo vorne<br />

verschwinden. – „Was habt ihr dort<br />

erspäht.“ – „Weiss der Teufel: die Sonne!“<br />

– Jeder schwätzt etwas anderes, erzählt<br />

von anderen Wundern, lockt auf andere<br />

Weise. – „Still da – wir kommen – wir<br />

werden sehen.“ – „Schnell – uns nach...“<br />

Zu dir, o Gott.<br />

Es kommen die Buchhalter. Mit der Zahl<br />

haben sie Welten in Fesseln gelegt und<br />

den Menschen umschlungen. Für sie ist<br />

alles gleich, die Sonne und der<br />

Sandstaub, die Liebe und das Brot. Sie<br />

haben die Unendlichkeit von Raum und<br />

Zeit gemessen, das Gewicht von Erde und<br />

Atom gewogen. – Der Astronom, der<br />

Himmelsspäher, sieht den Stern nicht, sie<br />

aber haben ihn mit der Zahl aus den<br />

Strudeln des Alls bestimmt: „Da hast du –<br />

schau –.“<br />

Und der Astronom schaut ihn, den er nie<br />

gesehen hat, in der Kabbala der Ziffern<br />

und bezeichnet ihn mit einem Punkt auf<br />

der Karte. – Der Chemiker, der<br />

Konstellationen im Odem des Universums<br />

wittert, die Welten der Düfte aus Rosen<br />

und Fäulnis; der Physiker, der dem Beben<br />

lauscht und den Blitz der Gedanken mit<br />

dem Blitz der Wolken kreuzte im tödlichen<br />

Ringen um dich, o Gott.<br />

Es gehen, mit Spaten bewaffnet, die<br />

Pioniere der Berge und Meere. In den<br />

rauchenden Gedärmen der Vulkane, in<br />

den kalten Skeletten der Granite stochern<br />

sie herum, sie zwacken am Fleisch des<br />

erkaltenden Globus, in den Tausenden<br />

Zellen seiner Herzen suchen sie die<br />

Quellen vergangener Leben. In dem im<br />

Bernstein erstarrten Insekt, im zu Diamant<br />

gewordenen Kohlenstaub, auf dem<br />

Korallengrab der Inseln, im salzigen Blut<br />

des irdischen Riesen – enträtseln sie die<br />

Vergangenheit und prophezeien künftige<br />

Jahrmillionen; mühsam reimen sie sich<br />

zusammen, wie Tod aus dem Leben und<br />

Leben aus dem Tod erblühte. Aus Höhlen<br />

und Morästen, aus Schädeln und<br />

Schienbeinen, aus überfluteten Friedhöfen<br />

erforschen sie das Sanskrit<br />

verschwundener Formen des Daseins.<br />

Und hinter ihnen – Zug um Zug – von Kopf<br />

bis Fuss gerüstet mit dem Stahl der<br />

Gedanken – folgen andere, die sich von<br />

ihnen unterscheiden – so gross ist ihre<br />

Zahl, und jeder ist anders – und doch sind<br />

alle Brüder.<br />

Dieser stille Abt Gregor leitete von grünen<br />

Erbsen das gefährliche Gesetz der<br />

Vererbung ab. Dieser Weltenbummler<br />

begrüsste mit dem Ruf „Land“ als erster<br />

den neuen Kontinent. Jener besiegte das<br />

Sein mit seinem stolzen und mannhaften:<br />

„Ich denke, also bin ich“. Dieser entdeckte<br />

im steinernen Grabe den uralten Kodex<br />

des Hammurabi. Dieser, ein Schulmeister<br />

aus der tiefsten Provinz, entlockte einer<br />

Wahrsagerin das farbige Reich der<br />

Insekten. Dieser, in hundert Flügen<br />

verwundet, schaute den Vögeln die Macht<br />

der Schwingen ab und lernte die Luft zu<br />

beherrschen. Jener ist Herr auf dem<br />

Boden der Meere. Dieser, ein Brauer,<br />

führte Frauen und Kinder aus den von der<br />

© by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.


Seuche brennenden Städten und infizierte<br />

den Feind – die Seuche – selbst. Dieser<br />

stürzte sich auf den Mob der<br />

verschiedensprachigen Worte und zwang<br />

sie zu einer Einheit. – Dieser unterwarf die<br />

Welt der grünen Pflanzen, indem er ihre<br />

Rangordnung fand. Jener riss dem König<br />

der Schöpfung die Krone herunter: ein<br />

Gesetzgeber der Tiere. – Dieser löste die<br />

Sonne aus ihren Fundamenten. Jener<br />

band die Gottheit in eine geometrische<br />

Formel. Dieser entriss der Hexe des<br />

Elends den vergifteten Stachel. Dieser<br />

schrie im Triumph: „omnis e cellula<br />

cellula.“<br />

Zu deinem Ruhme, o Gott.<br />

Und hinter den bewaffneten Reihen die<br />

Trossknechte und Marodeure, die<br />

Juristen, Ingenieure, Doktoren, die<br />

Agronomen, die politischen Grossmäuler,<br />

das übliche Gesindel, die Schwindler und<br />

Händler – aus den Schnitzeln unserer<br />

Siege schaffen sie für die<br />

Menschenmassen Reichtum,<br />

Bequemlichkeit und Stärke. – Sie<br />

verkaufen um Pfennige, ergötzen die<br />

Menge mit Schwärmern und locken zu<br />

sich die Mädchen.<br />

Wir kümmern uns nicht um sie, wir Ritter<br />

der Schönheit und Wahrheit. Manchmal<br />

schaut flüchtig der Traurigste – ein Segler<br />

der menschlichen Seele – und lächelt voll<br />

Nachsicht.<br />

Und wenn wir so vorwärts gehen, den<br />

Blick auf dich gerichtet, heiliges<br />

Urgeheimnis, dann seufzt unsere naive<br />

Brust: „Wir armen kleinen Soldaten.“ Man<br />

sieht die bronzenen Gesichter und die<br />

gebückten Rücken: Gern würde man sie,<br />

die so einsam sind, als Gäste bewirten, in<br />

die helle Hütte führen, damit sie ausruhen.<br />

Wir sollen arm sein? – Ruhe für uns? –<br />

Am fröhlichsten sind wir in den Orkanen<br />

des Kampfes, der uns führt zu<br />

unbekannten Enden unseres freien Fluges<br />

– Auge in Auge mit dem feindlichen<br />

Dunkel – unter vier Augen mit Gott.<br />

Du bist uns Familie, Wohnung und<br />

Vaterland. Du bist uns Freude und<br />

Belohnung. Du bist uns Bundesgenosse<br />

unter Eingeweihten. Vor unseren Augen<br />

entstehen und erstarken Morgenröten von<br />

Wahrheiten – und neue, immer neue<br />

Geheimnisse dieser Wahrheiten – für uns<br />

und für den Schatz unserer Erben, für die<br />

Söhne unseres Morgen.<br />

© by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

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