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<strong>Christian</strong> <strong>Dörge</strong>: <strong>Tee</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Sahara</strong><br />
<strong>Tee</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Sahara</strong><br />
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<strong>Christian</strong> <strong>Dörge</strong>: <strong>Tee</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Sahara</strong><br />
Tabakqualm hängt über <strong>der</strong> Wüste wie W<strong>in</strong>ternebel. Männer- und Frauenklei<strong>der</strong> liegen<br />
verstreut herum. Musik kl<strong>in</strong>gt fröhlich und hohl aus e<strong>in</strong>em Grammophon unter den Dünen.<br />
Ich träume es sei Fasch<strong>in</strong>g, denke ich. Schäumende Feste mit fröhlicher Musik. Was<br />
kümmern mich die Toten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruft?<br />
E<strong>in</strong>e alte Frau, ganz <strong>in</strong> schwarz gekleidet und das Haar mit e<strong>in</strong>em schwarzen Tuch<br />
verhüllt, s<strong>in</strong>gt leise e<strong>in</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>lied. Ihre Augen gleichen versunkenen Höhlen, Höhlen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em kahlen, schmutzigen Schädel.<br />
Der Gesang verstummt. »Möchtest du e<strong>in</strong>e Erdbeere essen?« fragt die alte Frau. Sie<br />
beobachtet mich, ohne zu lächeln, ohne zu s<strong>in</strong>gen.<br />
Ich schaue <strong>in</strong> die Wüste h<strong>in</strong>aus. Die Wüste gehört <strong>der</strong> Vergangenheit an, geheimnisvoll,<br />
unerkennbar, e<strong>in</strong> altertümlicher Hafen. So wie ihr Treibsand <strong>von</strong> <strong>der</strong> Strömung des W<strong>in</strong>des<br />
fortgeschleckt wird, so verschl<strong>in</strong>gt die Wüste die Zeit <strong>von</strong> dem Augenblick an, da man sie<br />
betritt. Sie bietet dem Leben nichts: Salzw<strong>in</strong>de vernichten alles, was dort wachsen will. Die<br />
Wüste ist das Produkt e<strong>in</strong>es fremdartigen Sekrets, das <strong>in</strong> ersticktem, heißen Blut überkocht,<br />
alle Nervenzellen zum Zucken br<strong>in</strong>gt, die Nacht <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Grau verwandelt und jede Faser sich<br />
verkrampfen und aus dem Gleichgewicht geraten lässt.<br />
Die Wüste ist alles Fleischige und alles Unbewegliche.<br />
Es ist e<strong>in</strong> prächtiger Tag, Dezember und heiß, und irgendwo ist e<strong>in</strong> Vogel über das Wetter<br />
verrückt geworden. Feuchte W<strong>in</strong>dstöße schlagen mir <strong>in</strong>s Gesicht. Aus dem Gewirr <strong>der</strong><br />
wogenden Dünen ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Sich-W<strong>in</strong>den aller Verdammten irgende<strong>in</strong>er Unterwelt. Und<br />
alle Gesichter s<strong>in</strong>d sich <strong>in</strong> ihrer seltsamen Blässe gleich: e<strong>in</strong>gefallene Wangen, glänzende<br />
Schläfen, die Knochen <strong>der</strong> ausgemergelten Körper knapp unter <strong>der</strong> Haut.<br />
E<strong>in</strong>e rituelle Orgie, e<strong>in</strong>gefroren für Jahrtausende.<br />
E<strong>in</strong>e Gestalt mit dem Gesicht e<strong>in</strong>er jungen Frau, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en fleckigen schwarzen Mantel<br />
gehüllt, markiert mit rotem Speichel die Leiber <strong>der</strong>jenigen, die am nächsten Morgen<br />
verdurstet se<strong>in</strong> werden.<br />
»Komm mit«, flüstert sie und führt mich durch Blitzentladungen, Sonnenflecken und durch<br />
enge Wüstenstraßen, die kaum beleuchtet s<strong>in</strong>d, doch voller Menschen, die mit tuberkulösen<br />
Stimmen s<strong>in</strong>gen und rufen. Weiße Gesichter tanzen wie verblühte Blumen durch die<br />
Dunkelheit. Die Frau, die alles Leben verschl<strong>in</strong>gt, steht gegen e<strong>in</strong>e Wand gelehnt und<br />
raucht e<strong>in</strong>e Zigarette. Plötzlich durchbohren Schmerzensschreie die Wüste; das reflektierte<br />
Sonnenlicht huscht die Wand empor und frisst die Frau, um stattdessen Flecken tiefen Rots<br />
zu erleuchten. Zwei Ranken dieses Rots verlaufen zu e<strong>in</strong>er nahen Tür. Ich öffne diese Tür,<br />
und die Wand verschw<strong>in</strong>det im Himmel. Ich schaue höher, sehe, wie sich e<strong>in</strong> großes<br />
Bleiglasfenster weit öffnet und die Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em pfauenblauen und grünen Seidenkleid <strong>in</strong><br />
die Sonne bl<strong>in</strong>zelt. Ich warte auf die Sonne, auf e<strong>in</strong>e zufällige Bewegung, die mich Brüste,<br />
Nabel o<strong>der</strong> Schamhaar sehen lässt.<br />
»Komm heraus, komm heraus!« ruft sie, und ungeschickt überspr<strong>in</strong>ge ich die Mauer, und<br />
es sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e Art Wendekreis lieblicher als schlimmstes Höllenfeuer zu se<strong>in</strong>, denn das<br />
Leben, das ich auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite vorf<strong>in</strong>de, ist maßlos, gespenstisch, wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
fleischfressend, <strong>von</strong> bitterem Geschmack.<br />
Die Frau gleitet aus ihrem Kleid. »Ich habe mir nur die Augen geschm<strong>in</strong>kt«, sagt sie mit<br />
e<strong>in</strong>em dekadenten Flüstern. »Me<strong>in</strong>e Lippen können de<strong>in</strong> Blut rösten, wenn wir uns küssen.«<br />
(»So s<strong>in</strong>k zu Füßen/Mir nun, w<strong>in</strong>sel nach mir/Auch wenn die Tränen getrocknet/Bleibt<br />
dennoch ihr Schmerz dir.«)<br />
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<strong>Christian</strong> <strong>Dörge</strong>: <strong>Tee</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Sahara</strong><br />
Sie beg<strong>in</strong>nt mich zu liebkosen, wie lange dies so geht, weiß ich nicht. Vielleicht mehrere<br />
Tage; das Licht über <strong>der</strong> Wüste wechselt ununterbrochen.<br />
Die Nacht gehört uns, Liebste, <strong>der</strong> Himmel ist frei. Komm mit mir und lass uns<br />
da<strong>von</strong>fliegen...<br />
Salzwasser schlägt gegen ihre Füße. Wolken ziehen vorüber, Aasgeier kreisen am<br />
Himmel. Die Augen <strong>der</strong> Frau reflektieren die rote Sonne und die weißen Nebelschwaden,<br />
die aus dem Wasser <strong>von</strong> unter <strong>der</strong> Wüste emporzusteigen beg<strong>in</strong>nen. Ich kann Flammen aus<br />
Licht h<strong>in</strong>ter me<strong>in</strong>en Augenli<strong>der</strong>n blitzen sehen, ich sehe, wie sich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Kopf wirbelnde<br />
Gewässer drehen. Me<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>ger s<strong>in</strong>d voll Feuerfunken. Ich sehe riesige Boote mit weißen<br />
Segeln <strong>in</strong>mitten e<strong>in</strong>es Ozeans, und aus dem Wasser ragen gezackte Felsen, die zum<br />
Himmel emporsteigen wie ungeheure Klippen.<br />
Ich habe dies we<strong>der</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er me<strong>in</strong>er Visionen vorher gesehen.<br />
Tränen fallen aus me<strong>in</strong>en Augen und gefrieren noch im Fallen, schlagen wie Hagelkörner<br />
auf die Frau, die zu Ste<strong>in</strong> geworden ist.<br />
»E<strong>in</strong>e neue Geschichte«, fleht die Frau. »Erzähle mir e<strong>in</strong>e neue Geschichte.«<br />
»Ich weiß ke<strong>in</strong>e«, antworte ich. Die Worte s<strong>in</strong>d so alt wie Wüstenw<strong>in</strong>d; es verursacht<br />
unglaubliche Qualen, e<strong>in</strong>e neue Geschichte zu erzählen.<br />
Lange Stunden verbr<strong>in</strong>ge ich damit, <strong>in</strong> den Worten, die sich wie sich unablässig r<strong>in</strong>gelnde<br />
Würmer bilden, e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n zu entdecken, ihre Bedeutung zu verstehen.<br />
Was ist <strong>der</strong> Wahns<strong>in</strong>n? Woher kommt er? Der Wüstenw<strong>in</strong>d kommt herbei, um mich wie<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>mal den stürmischen Auftrieb e<strong>in</strong>es heißen und kühlen W<strong>in</strong>des spüren zu lassen.<br />
»Du hast gelernt, neue Geschichten zu f<strong>in</strong>den, Dichter.«<br />
Ich schaue sie an und spreche e<strong>in</strong> paar neue Worte: »Dies ist die Nacht des Wahns<strong>in</strong>ns <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Wüste; das Blut wird <strong>in</strong> Strömen fließen!«<br />
Ich wie<strong>der</strong>hole es immer wie<strong>der</strong>, bis die Frau ihre Augen schließt und für den Moment<br />
e<strong>in</strong>es Traumes dah<strong>in</strong>siecht.<br />
E<strong>in</strong>e Uhr tickt, Sand spritzt auf mich herab und es wird dunkel. Die quälende Geschichte<br />
erweist sich als D<strong>in</strong>g, als D<strong>in</strong>g aus Worten, Versen und Lauten. Das D<strong>in</strong>g, das mich lehrt,<br />
was Wahns<strong>in</strong>n bedeutet, hat <strong>der</strong> Frau aus Ste<strong>in</strong> ihre großen, wun<strong>der</strong>schönen Augen aus<br />
dem Kopf geschnitten. Still und kalt liegt sie da, mit leeren Augenhöhlen <strong>in</strong> die Wüste<br />
blickend.<br />
Ich taste nach Worten, Szenen, nach Symbolen, höre grausames Gelächter. Sehe die<br />
glühenden roten Zigarettenenden im Dunkel, wie sie sich bewegen, wie sie kreisen. Stelle<br />
mir die kalten Küsse <strong>der</strong> ste<strong>in</strong>ernen Frau vor. Schmecke Blut und Tränen. Sehe jetzt<br />
treibende Qualmwolken. Verschwommene Gestalten bewegen sich dar<strong>in</strong>. Dicke<br />
Tränengaswolken. Gekrümmte Gestalten taumeln h<strong>in</strong>durch.<br />
»E<strong>in</strong> Schuss Dummheit für de<strong>in</strong>e Geschichte«, sagt die Frau aus Ste<strong>in</strong>. »E<strong>in</strong> Schuss<br />
Wahns<strong>in</strong>n!«<br />
Aus ihrer Nase und ihrem Mund r<strong>in</strong>nt Speichel.<br />
Direkt vor mir sehe ich die schreckliche Fratze e<strong>in</strong>es Fisches. Wasser r<strong>in</strong>nt <strong>von</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Kiemenspalten, die <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er dünnen Salzschicht bedeckt s<strong>in</strong>d, herab.<br />
Mit Mühe br<strong>in</strong>ge ich me<strong>in</strong>e willenlosen Lippen zum Sprechen. »Die Gedanken kommen<br />
aus dem Nichts.«<br />
Richtig, denke ich. Nichts.<br />
»Ich fühle, dies ist e<strong>in</strong> großartiges Epos. Der Dichter wird das Orakel se<strong>in</strong>.«<br />
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<strong>Christian</strong> <strong>Dörge</strong>: <strong>Tee</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Sahara</strong><br />
Die Wüste kennt Gewalt <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Form; me<strong>in</strong>e Hände, me<strong>in</strong>e Stimme, me<strong>in</strong> Gesicht, me<strong>in</strong><br />
Gesicht, me<strong>in</strong> Gesicht...<br />
Was auch immer mir die Wüste angetan hat, ich b<strong>in</strong> jetzt e<strong>in</strong> Teil da<strong>von</strong>.<br />
Die Wüste wird mich bis <strong>in</strong>s Grab begleiten; e<strong>in</strong>e Sonne ohne Umriss, e<strong>in</strong>e endlose Küste,<br />
die mir fremd ist wie die Antarktis des Mondes, salziger Dunst, Stoff im Stacheldraht, die<br />
Starre <strong>der</strong> Felsen, die Gebrechlichkeit des Fleisches, das Sterben e<strong>in</strong>er Frau aus Ste<strong>in</strong>, <strong>der</strong><br />
schaurige Schrei <strong>der</strong> Aasgeier des Nebels.<br />
Die Wüste schrumpft zum schwarzen Seidekreis; dieses klagende, sich selbst<br />
bemitleidende Sprachwirrwarr! »Ich weiß, sie will mit schwarzen Zaubertränken auch<br />
mich zur Liebesraserei verführen...!«<br />
Jenseits <strong>der</strong> Wüste s<strong>in</strong>gen Vögel, und Blätter tanzen im W<strong>in</strong>d, ohne dass man es hört.<br />
Copyright © 1991 by <strong>Christian</strong> <strong>Dörge</strong>. All rights reserved.<br />
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