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Abstract - Kultur.uni-hamburg.de

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Kongress<br />

<strong>Kultur</strong>wissenschaftliche<br />

Technikforschung<br />

Hamburg, 25.–27. November 2005<br />

abstracts<br />

<br />

<br />

Christine Haug<br />

„Eine schnelle und flüchtige Unterhaltung soll die Lektüre gewähren“ –<br />

Auswirkungen <strong>de</strong>r Eisenbahnen auf die <strong>Kultur</strong>technik <strong>de</strong>s Lesens um 1900<br />

Seit <strong>de</strong>r Studie von Wolfgang Schivelbusch „Geschichte <strong>de</strong>r Eisenbahnreise.<br />

Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt“ (NA 1995) ist<br />

bekannt, wie sehr Industrialisierung und technischer Fortschritt die Alltags-<br />

und Erfahrungswelten <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Menschen zu beeinflussen vermochten.<br />

Schivelbusch beschreibt <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l von <strong>Kultur</strong>techniken vor <strong>de</strong>m Hintergrund<br />

einer fortschreiten<strong>de</strong>n Industrialisierung <strong>de</strong>s Reisens seit <strong>de</strong>r zweiten Hälfte<br />

<strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Eine nur marginale Erwähnung fin<strong>de</strong>n in seiner Studie die<br />

Einwirkungen <strong>de</strong>s neuen Verkehrsmittels auf die <strong>Kultur</strong>technik <strong>de</strong>s Lesens.<br />

Die kultur-, literatur- wie auch buchhistorische Dimension dieses Phänomens,<br />

nämlich die Entstehung von speziellen Eisenbahnlektüren und neuartigen Distributionssystemen<br />

für die literarische Versorgung von Eisenbahnreisen<strong>de</strong>n,<br />

ist Gegenstand meiner Habilitationsschrift „Reisen und Lesen im Zeitalter <strong>de</strong>r<br />

Industrialisierung. Die Geschichte <strong>de</strong>s Bahnhofs- und Verkehrsbuchhan<strong>de</strong>ls in<br />

Deutschland von seinen Anfängen um 1850 bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Weimarer Republik“,<br />

die am Institut für Buchwissenschaft entstan<strong>de</strong>n ist und im Frühjahr 2006 erscheinen<br />

wird.<br />

Die neuen Formen von Mobilität und ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung von<br />

Raum und Zeit im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt brachten eine neuartige Publikationsform<br />

hervor: »Eisenbahnbibliotheken«, die eine spezielle Form von Reiseliteratur<br />

anboten. Die eigens für Eisenbahnreisen<strong>de</strong> angefertigten Eisenbahnlektüren<br />

orientierten sich unmittelbar an <strong>de</strong>n von Eisenbahnreisen<strong>de</strong>n neu artikulierten<br />

Bedürfnissen, die überwältigen<strong>de</strong>n Erfahrungen von Geschwindigkeit und<br />

Verän<strong>de</strong>rung von Zeit, Raum und Wahrnehmung zu verarbeiten. Verleger von Eisenbahnlektüren<br />

passten einerseits die äußere Gestaltung ihrer »Eisenbahnbibliotheken«<br />

(u. a. Format, Umfang, Schrifttyp und Schriftgröße) an die Erfor<strong>de</strong>rnisse<br />

von Eisenbahnunterhaltung an; aber auch die inhaltliche Bestückung<br />

<strong>de</strong>r kleinen Lesebändchen richtete sich an <strong>de</strong>r neuen Art <strong>de</strong>r Fortbewegung aus.<br />

Die frühen Eisenbahnlektüren boten speziell für bestimmte Streckenabschnitte<br />

gefertigte Kurzgeschichten, <strong>de</strong>ren Lektürezeiten sich an <strong>de</strong>n Fahrtzeiten zwischen<br />

Abfahrts- und Zielort festgelegter Eisenbahnverbindungen orientierten,<br />

sowie spezielle Eisenbahnreisebeschreibungen mit <strong>de</strong>m Anspruch, die durch das<br />

Abteilfenster zu betrachten<strong>de</strong>n Landschaftspanoramen authentisch wie<strong>de</strong>rzugeben<br />

und <strong>de</strong>n Eisenbahnreisen<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>r Bewältigung <strong>de</strong>s ungewohnten Erlebens von<br />

Zeit und Raum anzuleiten bzw. zu unterstützen.<br />

Die Eisenbahn, genauer die zunehmen<strong>de</strong> Geschwindigkeit <strong>de</strong>s neuen Verkehrsmittels,<br />

wirkte aber auch massiv auf das Leseverhalten von Reisen<strong>de</strong>n ein. <strong>Kultur</strong>kritische<br />

Stimmen beklagten schon im letzten Drittel <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts,<br />

dass Eisenbahnlektüren die extensive, im zeitgenössischen Sprachgebrauch<br />

„feuilletoneske“ Lektüre för<strong>de</strong>rten, so analysierte Friedrich Spielhagen in<br />

„Die epische Poesie unter <strong>de</strong>m wechseln<strong>de</strong>n Zeichen <strong>de</strong>s Verkehrs“ (1898) <strong>de</strong>n<br />

„Einbän<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n man auf <strong>de</strong>m Bahnsteig für eine Mark erstehen kann, bequem<br />

in die Tasche stecken und ebenso zwischen Anfangs- und Endstation <strong>de</strong>r Fahrt<br />

durchblättern kann“ und seine Auswirkungen auf Erzählweisen und Rezeptionsverhalten<br />

um 1900.<br />

So umfassend die Einwirkungen technischer Innovationen im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt auf<br />

die Lebens- und Alltagswelten <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Menschen bereits untersucht wor<strong>de</strong>n<br />

sind, so lassen sich am Beispiel <strong>de</strong>r Eisenbahnlektüre – ein in <strong>de</strong>r Forschung<br />

bislang weitgehend unbeachtetes Segment <strong>de</strong>r Populärliteratur – die Fragen<br />

nach Qualität und Quantität <strong>de</strong>r Einwirkungen von technischem Fortschritt auf<br />

bestimmte <strong>Kultur</strong>techniken, also nach <strong>de</strong>m Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Leseverhaltens und <strong>de</strong>r<br />

Informationsverarbeitung, auf <strong>de</strong>r Grundlage konkreter Publikationsformen und<br />

Textsorten erhellen. Flankiert wer<strong>de</strong>n die Ausführungen von autobiographischen


Kongress<br />

<strong>Kultur</strong>wissenschaftliche<br />

Technikforschung<br />

Hamburg, 25.–27. November 2005<br />

abstracts<br />

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<br />

Texten zeitgenössischer Autoren, die das Phänomen Eisenbahnlektüre kritisch<br />

reflektierten, aber auch von medizinischer Fachliteratur, <strong>de</strong>ren Umfang in <strong>de</strong>r<br />

zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts stark zunahm, und die physische Schä<strong>de</strong>n<br />

beim exzessiven Lektürekonsum während <strong>de</strong>r Eisenbahnfahrt prognostizierte;<br />

eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung, die nicht zuletzt Auswirkungen auf die Einführung<br />

neuer Schrifttypen für Eisenbahnlektüre hatte. Berücksichtigung fin<strong>de</strong>n aber<br />

auch außerliterarische Faktoren, z.B. <strong>de</strong>r steigen<strong>de</strong> Reisekomfort, hier insbeson<strong>de</strong>re<br />

die Beleuchtungstechnik im Eisenbahnabteil, die zu <strong>de</strong>r epi<strong>de</strong>mischen<br />

Verbreitung von Eisenbahnlektüren um 1900 maßgeblich beitrugen.<br />

Diese Wechselwirkungen zwischen <strong>de</strong>r Industrialisierung <strong>de</strong>s Reisens und <strong>de</strong>m<br />

Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r <strong>Kultur</strong>technik <strong>de</strong>s Lesens sollen aus buchhistorischer Perspektive<br />

und auf <strong>de</strong>r Grundlage empirisch gewonnenen Forschungsmaterials dargestellt<br />

wer<strong>de</strong>n.

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