11 Regelungssysteme für Bremsen und Antriebsschlupf - Christiani
11 Regelungssysteme für Bremsen und Antriebsschlupf - Christiani
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<strong>11</strong> <strong>Regelungssysteme</strong> <strong>für</strong> <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Antriebsschlupf</strong><br />
<strong>Regelungssysteme</strong> <strong>für</strong> Motorradbremsen (ABS = Anti-Blockier-System) wurden erstmals 1988<br />
von BMW <strong>für</strong> die Serie vorgestellt. Andere Motorradhersteller folgten nur zögerlich <strong>und</strong> erst<br />
Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrtausends ist ABS bei allen namhaften Motorradherstellern<br />
im Angebot. <strong>Antriebsschlupf</strong>-Regelungen (auch Traktionskontrolle genannt) sind trotz<br />
vorhandener Basistechnologien in den modernen Motorrädern noch sehr seltene Ausnahmen.<br />
Die <strong>Regelungssysteme</strong> sowohl <strong>für</strong> <strong>Bremsen</strong> als auch <strong>für</strong> den Antrieb von Motorrädern müssen<br />
speziell auf die Eigenheiten der Motorrad-Fahrdynamik ausgelegt <strong>und</strong> abgestimmt werden,<br />
vom Automobil können lediglich einige Systemkomponenten in abgewandelter Form übernommen<br />
werden. Da die physikalischen Zusammenhänge bei der Bremsung komplex <strong>und</strong> wichtig<br />
<strong>für</strong> das Verständnis der <strong>Bremsen</strong>regelung sind, wird zunächst auf diese eingegangen.<br />
<strong>11</strong>.1 Gr<strong>und</strong>legende Gesetzmäßigkeiten bei der Bremsung<br />
Die Kraftverhältnisse am gebremsten Rad sind im Bild <strong>11</strong>.1 dargestellt. Wir nehmen vereinfachend<br />
an, dass die gesamte Bremsleistung nur an diesem Rad (Vorderrad) aufgebracht wird.<br />
Der Energiebedarf zur Abbremsung eines Fahrzeugs kann überschlägig bestimmt werden aus<br />
der kinetischen Energie, die das Fahrzeug beim Beginn der Bremsung hat (Luft- <strong>und</strong> Rollwiderstand<br />
werden vernachlässigt).<br />
E = 1 / 2 · m · v2 (<strong>11</strong>-1)<br />
Für ein 230 kg schweres Motorrad (zuzüglich 70 kg Fahrermasse) beträgt die <strong>Bremsen</strong>ergie bei<br />
einer Abbremsung aus 100 km/h dann<br />
EBr = 0,5 · 300 [kg] · (27,8) 2 [m/s] 2 = <strong>11</strong>5,9 [kJ].<br />
Bild <strong>11</strong>.1<br />
Kraftwirkungen am<br />
gebremsten Rad<br />
369
370<br />
<strong>11</strong> <strong>Regelungssysteme</strong> <strong>für</strong> <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong> <strong>Antriebsschlupf</strong><br />
Um daraus die Leistung, die die Bremse verkraften muss, zu errechnen, muss die Zeitdauer<br />
der Abbremsung berechnet werden. Unter der Annahme, dass die Bremsverzögerung während<br />
der Bremsung konstant bleibt (was in der Realität nicht ganz der Fall ist), gelten sehr einfache<br />
physikalische Beziehungen. Die Bremse soll 80 der maximalen Bremsverzögerung aufbringen,<br />
also r<strong>und</strong> 8 m/s 2 (≈ 0,8fache Erdbeschleunigung).<br />
∆v<br />
∆ v<br />
b = ∆t<br />
=<br />
(<strong>11</strong>-2)<br />
∆t<br />
b<br />
b = Bremsverzögerung<br />
Dv = Geschwindigkeitsdifferenz<br />
Dt = Zeitdauer der Bremsung<br />
Eingesetzt ergibt sich<br />
27, 8 [ m/s]<br />
∆t = = 35 , [ s]<br />
8 [ m/s2<br />
]<br />
Mit der Bremsdauer kann, unter der Annahme einer linearen <strong>und</strong> konstanten Verzögerung, jetzt<br />
auch der Bremsweg errechnet werden,<br />
1<br />
s = ⋅v⋅∆ t<br />
(<strong>11</strong>-3)<br />
2<br />
bzw. mit (<strong>11</strong>-2)<br />
v2<br />
s =<br />
2 ⋅ b<br />
Eingesetzt ergibt sich ein Bremsweg von r<strong>und</strong> 48,5 m.<br />
Die Leistung an der Bremse errechnet sich mit<br />
(<strong>11</strong>-3a)<br />
EBr<br />
PBr<br />
= (<strong>11</strong>-4)<br />
∆ t<br />
Es ergibt sich <strong>für</strong> unser Beispiel eine Leistung von 33 kW, die am Anfang der Bremsung in Form<br />
von Wärme an der Bremse abgeführt werden muss. Bekanntermaßen steigt wegen der quadratischen<br />
Abhängigkeit der Bremsweg über der Fahrgeschwindigkeit stark an, ebenso die notwendige<br />
in Wärme umzuwandelnde Energie. Tabelle <strong>11</strong>.1 zeigt in einer Übersicht in Schritten<br />
von 50 km/h ger<strong>und</strong>ete Werte <strong>für</strong> die <strong>Bremsen</strong>ergie, Anfangs-Bremsleistung, den Bremsweg<br />
<strong>und</strong> die Zeitdauer der Bremsung, jeweils bei Abbremsung bis zum Stillstand. Die Bremsverzögerung<br />
beträgt einheitlich 8 m/s2 .<br />
An der jeweiligen Zeit bis zum Stillstand wird die Leistungsfähigkeit moderner Motorradbremsen<br />
deutlich. Die Beschleunigung auf 100 km/h dauert immer noch länger als das Abbremsen<br />
aus dieser Geschwindigkeit bis zum Stillstand.<br />
Am überproportionalen Anstieg der Zahlenwerte <strong>für</strong> den Bremsweg <strong>und</strong> die <strong>Bremsen</strong>ergie<br />
sieht man unmittelbar die quadratische Abhängigkeit. Weiterhin erkennt man an Gleichung<br />
(<strong>11</strong>.3a), dass der theoretische Bremsweg nur von der Verzögerung <strong>und</strong> der Fahrgeschwindigkeit<br />
abhängt, hingegen unabhängig von der Masse ist! Der scheinbare Widerspruch zur praktischen<br />
Erfahrung ergibt sich daraus, dass in der Realität als Folge einer höheren Gesamtmasse des Fahrzeugs<br />
die Bremsverzögerung abnimmt. Durch die höhere <strong>Bremsen</strong>ergie <strong>und</strong> den damit größeren<br />
Wärmeanfall ändert sich der Reibwert der Bremse <strong>und</strong> damit sinkt die Verzögerung (<strong>Bremsen</strong>-
<strong>11</strong>.1 Gr<strong>und</strong>legende Gesetzmäßigkeiten bei der Bremsung 371<br />
fading). Sind die <strong>Bremsen</strong> <strong>für</strong> das Maximalgewicht <strong>und</strong> Wiederholbeanspruchung (Passabfahrten)<br />
gut dimensioniert, ist auch in der Praxis der Bremsweg weitgehend gewichtsunabhängig.<br />
Eine Rolle spielt allerdings die Schwerpunktverlagerung <strong>und</strong> die veränderte Gewichtsverteilung<br />
bei Beladung des Fahrzeugs. Dadurch kann sich die Radlastverteilung so ändern, dass die<br />
übertragbaren Bremskräfte zwischen Vorder- <strong>und</strong> Hinterrad sich ungünstig aufteilen <strong>und</strong> sich<br />
dadurch eine tatsächliche Bremswegverlängerung einstellt, siehe dazu weiter unten.<br />
Tabelle <strong>11</strong>.1 Charakteristische Bremsgrößen in Abhängigkeit von der Fahrgeschwindigkeit<br />
Geschwindigkeit<br />
[km/h]<br />
Bremsweg<br />
[m]<br />
Zeit bis Stillstand<br />
[s]<br />
<strong>Bremsen</strong>ergie<br />
[kJ]<br />
Bremsleistung (zu Beginn<br />
der Bremsung)<br />
[kW]<br />
50 12 1,7 29 16<br />
100 48 3,5 <strong>11</strong>6 33<br />
150 108 5,2 260 50<br />
200 191 6,9 463 67<br />
250 302 8,7 723 83<br />
Rechenwerte ger<strong>und</strong>et, Basis: Bremsverzögerung von 8 m/s 2 . Die Bremswirkung der Fahrwiderstände wurde<br />
nicht berücksichtigt.<br />
Je nach Gesamtauslegung kann eine großzügig dimensionierte Bremse allerdings den Nachteil<br />
haben, dass sie relativ giftig anspricht mit der Gefahr, dass der ungeübte Fahrer bei unbeladenem<br />
Fahrzeug überbremst. Daher wird bei ungeregelten <strong>Bremsen</strong> manchmal eine kompromissbehaftete<br />
Auslegung als optimal angesehen <strong>und</strong> ein gewisses Nachlassen der Bremswirkung<br />
bei hoher Dauer- oder Wiederholbeanspruchung in Kauf genommen. ABS-Bremssysteme lassen<br />
sich kompromisslos auf höchste Bremsleistung auslegen <strong>und</strong> bieten hier Vorteile.<br />
Ein weiteres, gr<strong>und</strong>sätzliches Problem stellt sich bei der Abbremsung infolge der dynamischen<br />
Radlastverlagerung ein, die beim Motorrad viel ausgeprägter als beim Automobil auftritt<br />
(ungünstigeres Verhältnis von Schwerpunkthöhe <strong>und</strong> Radstand), Bild <strong>11</strong>.2<br />
L Pkw<br />
L Motorrad<br />
Bild <strong>11</strong>.2 Schwerpunkthöhe <strong>und</strong> Radstand beim Pkw <strong>und</strong> beim Motorrad<br />
(L = Abstand Radaufstand zu Schwerpunkt)<br />
H Pkw<br />
H Motorrad
372<br />
<strong>11</strong> <strong>Regelungssysteme</strong> <strong>für</strong> <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong> <strong>Antriebsschlupf</strong><br />
Wie bereits im Kapitel 8, Bild 8.5 erläutert, wird mit steigender Verzögerung zunehmend das<br />
Vorderrad be- <strong>und</strong> das Hinterrad in gleichem Maße entlastet. Entsprechend nimmt die mögliche<br />
Bremskraft am Vorderrad zu, während sie am Hinterrad abnimmt. Ohne näher auf die Theorie<br />
<strong>und</strong> Berechnung einzugehen, ist im Bild <strong>11</strong>.3 die auf die Radlast bezogene Bremskraft <strong>für</strong><br />
Vorder- <strong>und</strong> Hinterrad über der Bremsverzögerung aufgetragen.<br />
Bei gleicher Verzögerung <strong>für</strong> Vorder- <strong>und</strong> Hinterrad <strong>und</strong> einer angenommenen Haftgrenze bei<br />
trockener Straße von m = 1, wird entweder die mögliche Verzögerung am Vorderrad nicht ausgenutzt<br />
<strong>und</strong> damit wichtiger Bremsweg verschenkt, oder das Hinterrad überbremst. Es ist also<br />
aus physikalischen Gründen nicht möglich, am Hinterrad die gleiche Bremsverzögerung wie<br />
am Vorderrad aufzubringen. Jeder etwas erfahrene Motorradfahrer trägt dem Rechnung durch<br />
entsprechend gefühlvolles Betätigen der Hinterradbremse. Integralbremssysteme mit einer<br />
Koppelung beider Radkreise nehmen dem Fahrer die schwierige Dosierung der Hinterradbremse<br />
ab (Einzelheiten dazu am Ende des Kapitels <strong>11</strong>.2). Konstruktiv werden die Hinterradbremsen<br />
entsprechend der geringeren möglichen Bremsleistung schwächer ausgelegt. Steigt infolge<br />
einer Beladung die Hinterradlast, kann dort natürlich auch stärker gebremst werden.<br />
Im Normalfall beherrscht der geübte Motorradfahrer durchaus die unterschiedlich starke Betätigung<br />
von Vorder- <strong>und</strong> Hinterradbremse. Auch die Vollbremsung nahe der Reifenhaftgrenze<br />
bei trockener Straße gelingt meist mit einer der beiden <strong>Bremsen</strong>, das ist letztlich eine Frage<br />
von Konzentration, Gefühl, Erfahrung <strong>und</strong> Übung. Es stellt sich aber schon dabei die Frage,<br />
wie man im tatsächlichen Grenzbereich zuverlässig übt, wenn fast jede Überschreitung zum<br />
Sturz führt. Schwierig bis nahezu unmöglich ist es allerdings, mit beiden <strong>Bremsen</strong> gleichzeitig<br />
an der Blockiergrenze zu bremsen. Denn dazu müssen die Rückmeldungen von beiden Reifen<br />
registriert werden, <strong>und</strong> es muss unmittelbar eine feinfühlige Dosierung der Betätigungskräfte<br />
getrennt <strong>für</strong> beide <strong>Bremsen</strong> erfolgen. Und diese Bremskraftregulierung muss während der<br />
Bremsung permanent angepasst werden. Die notwendigen schnellen Abläufe <strong>und</strong> Reaktionsmuster<br />
sind außerordentlich komplex <strong>und</strong> überfordern die menschliche Fähigkeit zur Signalverarbeitung<br />
<strong>und</strong> Regulation. Es kann deshalb immer nur mit einer Bremse optimal an der Haftgrenze<br />
gebremst werden, sinnvollerweise mit der Vorderradbremse. Das Hinterrad bleibt dann<br />
entweder unterbremst, oder es wird überbremst. Die beim blockierenden Hinterrad auftretende<br />
Bild <strong>11</strong>.3 Reibwerte an Vorder- <strong>und</strong> Hinterrad über der Verzögerung
<strong>11</strong>.1 Gr<strong>und</strong>legende Gesetzmäßigkeiten bei der Bremsung 373<br />
Bild <strong>11</strong>.4 Bremsversuche mit <strong>und</strong> ohne ABS<br />
Instabilität ist in der Regel aber beherrschbar. Aus berechtigter Angst vor einem blockierendem<br />
Vorderrad <strong>und</strong> dem dann praktisch unvermeidlichen Sturz wird oft aber vorn auch weniger<br />
stark gebremst, als es möglich wäre.<br />
Vollends unmöglich wird die kontrollierte Betätigung zweier <strong>Bremsen</strong> im Panikfall bei einer<br />
plötzlichen Notbremsung, womöglich noch bei nasser Fahrbahn. Es ist nachgewiesen, dass ein<br />
Mensch gr<strong>und</strong>sätzlich nicht mehr imstande ist, die notwendigen Handlungen fehlerfrei zu vollziehen.<br />
Der „Regler Mensch“ ist hier bereits mit einer Bremse bis an seine Grenze gefordert<br />
bzw. überfordert [1.1]. In der Regel liegt die volle Konzentration des Fahrers auf der Vorderradbremse,<br />
um dort ein Überbremsen zu vermeiden. Aber nur sehr routinierten <strong>und</strong> konzentrierten<br />
Fahrern gelingt es in einer solchen Situation überhaupt, mit hinreichend hoher Verzögerung<br />
zu bremsen, von einer kontrollierten Bremsung an der Haftgrenze sind auch diese Fahrer weit<br />
entfernt.<br />
Die prinzipielle Unmöglichkeit einer optimalen Bremsung mit beiden Rädern kostet in Notsituationen<br />
wertvollen Bremsweg. Eine Überbremsung des Hinterrades bringt Unruhe ins<br />
Fahrwerk <strong>und</strong> vermindert die Fahrstabilität. Wenn während einer Vollbremsung ein plötzlicher<br />
Wechsel im Reibwert zwischen Reifen <strong>und</strong> Fahrbahn auftritt, ist auch der routinierteste Fahrer<br />
hilflos; ein Sturz kann dann nur noch mit Glück verhindert werden, Bild <strong>11</strong>.4.<br />
Vorrangig <strong>für</strong> diese Fälle wurden ABS-Systeme entwickelt. Aus diesem Blickwinkel erübrigen<br />
sich sämtliche Diskussionen über eine minimale Bremswegverlängerung durch die ABS-Regelung<br />
im Vergleich zu ungeregelten <strong>Bremsen</strong>. Denn derartige Vergleiche werden unter optimalen<br />
Fahrbahnbedingungen von professionellen Fahrern auf abgesperrten Strecken durchgeführt.<br />
Auf das reale Verkehrsgeschehen sind diese Vergleiche nicht übertragbar. Messungen unter<br />
realen Bedingungen auf der Straße zeigen, dass hier selbst Profis mit ABS ausnahmslos kürzere<br />
Bremswege erzielen als mit ungeregelten <strong>Bremsen</strong>. Auch über die Notsituation hinaus bietet<br />
ABS, wie wir noch sehen werden, einige Vorteile.
374<br />
<strong>11</strong> <strong>Regelungssysteme</strong> <strong>für</strong> <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong> <strong>Antriebsschlupf</strong><br />
<strong>11</strong>.2 Stabilitätsverlust beim <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>funktion des ABS<br />
Der Fahrstabilitätsverlust bei der Bremsung mit blockierenden Rädern ist Erfahrungstatsache<br />
<strong>und</strong> allgemein bekannt, weniger hingegen die genauen Ursachen, auf die daher kurz eingegangen<br />
werden soll. Das Motorrad wird stabilisiert durch die Kreiselkräfte der drehenden Räder<br />
(vgl. Kapitel 10) <strong>und</strong> die Seitenführungskräfte. Entscheidend <strong>für</strong> die Stabilität sind die Kräfte<br />
am Vorderrad. Sinkt die Raddrehzahl durch Überbremsung schlagartig bis zum Stillstand ab<br />
(Radblockade), brechen die stabilisierenden Kreiselkräfte zusammen <strong>und</strong> das Motorrad kippt<br />
um. Da zugleich die Seitenführungskraft gegen Null geht, knickt zugleich das Vorderrad ein<br />
<strong>und</strong> rutscht seitlich weg. Beide Vorgänge spielen sich in Sek<strong>und</strong>enbruchteilen ab, <strong>und</strong> überlagern<br />
sich, so dass es unweigerlich zum Sturz kommt. Nur bei extrem schneller Reaktion des<br />
Fahrers <strong>und</strong> günstigen Umständen (Vorderrad nicht eingelenkt, ebene Fahrbahn) kann durch<br />
sofortiges Loslassen der Bremse gegebenenfalls die Stabilität zurückgewonnen werden. Auf<br />
die Seitenführungskräfte soll nun näher eingegangen werden.<br />
Durch Reibung zwischen Reifen <strong>und</strong> Fahrbahn kann, wie im Bild <strong>11</strong>.1 schon dargestellt, nur<br />
eine bestimmte Kraft übertragen werden, deren Maximalwert vom größten erreichbaren Reibwert<br />
mmax (Kraftschlussbeiwert) zwischen Reifen <strong>und</strong> Fahrbahn <strong>und</strong> der auf das Rad wirkenden<br />
Gewichtskraft abhängt<br />
FReifen, max = mmax · G (<strong>11</strong>-5)<br />
Unter der vereinfachten Annahme, dass der Reibwert unabhängig von der Art der Krafteinwirkung<br />
ist (was bei genauer Betrachtung nicht so ganz stimmt), spielt die Richtung <strong>und</strong> Orientierung<br />
der Kraft praktisch keine Rolle. Die Summe aller Kräfte in der Reifenauf-standsfläche<br />
darf nicht größer werden, als die Maximalkraft nach Gl. (<strong>11</strong>-5), sonst kann der Reifen sie nicht<br />
mehr übertragen. Daraus ergibt sich, dass bei Übertragung großer Bremskräfte (Umfangskräfte)<br />
<strong>für</strong> die Seitenkraft (Radführungskraft) nur noch ein geringer Betrag übrig bleibt. Im<br />
Bild <strong>11</strong>.5 ist dieser Zusammenhang von Seitenkraft <strong>und</strong> Umfangskraft <strong>für</strong> einen angenommenen,<br />
konstanten Reibwert von m = 1 grafisch aufgetragen (Kamm’scher Kreis).<br />
Man erkennt sofort, dass bei maximaler Bremskraftausnutzung die Seitenkraft zu Null wird<br />
<strong>und</strong> damit der Reifen keine Seitenführung mehr aufbauen kann, so dass Stabilitätsverlust eintritt.<br />
Umgekehrt kann bei maximaler Seitenkraftausnutzung (maximale Schräglage) auch keine<br />
Bremskraft mehr übertragen werden. Analog zum <strong>Bremsen</strong> gelten die gleichen Zusammenhänge<br />
natürlich auch <strong>für</strong> den umgekehrten Fall des Antriebs (vgl. Abschnitt <strong>11</strong>.5).<br />
In der Realität liegen die Verhältnisse etwas günstiger. Solange das Rad noch rollt, baut auch<br />
das stark gebremste Rad noch genügend Seitenführungskraft <strong>für</strong> die Geradeausfahrt auf. Erst<br />
beim Übergang zum Blockieren fällt die Seitenführungskraft erheblich (bis auf nahe Null) ab,<br />
<strong>und</strong> es tritt Stabilitätsverlust ein. Aber sogar dem blockierenden Rad bleibt noch ein minimaler<br />
Rest an Seitenführung erhalten, die allerdings nicht mehr ausreicht, um größere Störeinflüsse<br />
auf die Geradeausfahrt aufzufangen. Sie verhindert lediglich beim exakt geradeaus gerichteten<br />
Rad die sofortige <strong>und</strong> völlige Instabilität. Um also die Seitenstabilität beim <strong>Bremsen</strong> aufrecht<br />
zu erhalten, darf nur soviel Bremskraft aufgebracht werden, dass ein Blockieren sicher verhindert<br />
wird, so dass genügend Kreiselkräfte wirken <strong>und</strong> gerade noch ausreichend Seitenkraft zur<br />
Stabilisierung übrig bleibt. Im Gegensatz zum Automobil muss beim Motorrad vorrangig das<br />
blockierende Vorderrad verhindert werden, da dieses fast allein die Stabilität <strong>und</strong> Seitenführung<br />
übernimmt. Ein blockiertes Hinterrad hingegen beeinträchtigt die Fahrstabilität nur wenig
<strong>11</strong>.2 Stabilitätsverlust beim <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>funktion des ABS 375<br />
Bild <strong>11</strong>.5<br />
Abhängigkeit von Seitenkraft<br />
<strong>und</strong> Umfangskraft bei<br />
konstantem Reibwert<br />
<strong>und</strong> kann relativ leicht beherrscht werden (beim Auto ist es umgekehrt). Trotzdem werden beim<br />
Motorrad-ABS von allen Herstellern gr<strong>und</strong>sätzlich immer der Bremsdruck von Vorderrad <strong>und</strong><br />
Hinterrad geregelt.<br />
Für ein genaueres Verständnis muss zunächst der Kraftschlussbeiwert näher betrachtet werden,<br />
denn dieser ändert sich beim Übergang vom rollenden zum rutschenden Rad. Wir führen dazu<br />
den Begriff des Reifenschlupfs ein, der auftretende Relativgeschwindigkeiten zwischen Reifen<br />
<strong>und</strong> Fahrbahn kennzeichnet. Antriebs- oder Bremskräfte können nämlich nur übertragen<br />
werden, wenn Schlupf herrscht, d.h. wenn die Abrollbewegung von einem leichten Durchrutschen<br />
des Rades überlagert wird. Der Gr<strong>und</strong> da<strong>für</strong> liegt in den Bindungskräften, die bei inniger<br />
Berührung zwischen den Molekülen des Reifengummis <strong>und</strong> der Fahrbahnoberfläche auftreten<br />
<strong>und</strong> die Reifenhaftung auf der Fahrbahnoberfläche letztlich ermöglichen.<br />
Ohne Schlupf ist eine Übertragung von Umfangskräften (Brems- <strong>und</strong> Antriebskräfte)<br />
nicht möglich, die Umfangskräfte selbst sind dabei Ursache des Schlupfes.<br />
Der Schlupf wird bestimmt, indem die zurückgelegte Wegstrecke auf der Fahrbahn mit dem<br />
abgerollten Radumfang verglichen wird. Beim Laufrad, das ohne Antriebs- <strong>und</strong> Bremskräfte<br />
rollt, ist der Schlupf Null; hier entspricht die zurückgelegte Wegstrecke genau dem abgerollten<br />
Reifenumfang. Wenn der abgerollte Weg am Rad (Reifenumfang) größer ist als die zurück-
376<br />
<strong>11</strong> <strong>Regelungssysteme</strong> <strong>für</strong> <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong> <strong>Antriebsschlupf</strong><br />
gelegte Wegstrecke auf der Fahrbahn, dreht das Rad durch (<strong>Antriebsschlupf</strong>). Ist er kleiner,<br />
beginnt das Rad zu blockieren <strong>und</strong> rutscht (Bremsschlupf). Definitionsgemäß ist der Schlupf<br />
beim vollständig durchdrehenden (Antrieb) bzw. blockierten (Bremsung) Rad gleich 1 oder<br />
100%. Bild <strong>11</strong>.6 zeigt aufgetragen über dem Schlupf beispielhaft den Kraftschlussverlauf<br />
(Reibwert) einer ausgewählten Fahrbahn-/Reifenkombination beim <strong>Bremsen</strong>. Mit eingezeichnet<br />
ist der prinzipielle Verlauf des Kraftschlusses <strong>für</strong> die Seitenkraft, die die Stabilisierung des<br />
Fahrzeugs bewirkt.<br />
Der maximale Kraftschluss (Kraftschlussgrenze bzw. Haftreibwert) stellt sich demnach erst bei<br />
einem gewissen Schlupf ein (der ja durch die Bremsung selbst erzeugt wird); danach nimmt der<br />
Kraftschluss bis hin zum Gleitreibwert <strong>für</strong> das blockierte Rad ab. Generell verringert sich der<br />
Kraftschluss mit steigender Geschwindigkeit; der Unterschied zwischen Schrittgeschwindigkeit<br />
<strong>und</strong> 150 km/h beträgt etwa 10%.<br />
Kraftschlussbeiwerte <strong>für</strong> verschiedene Fahrbahnoberflächen <strong>und</strong> -zustände zeigt Bild <strong>11</strong>.7. Gut<br />
erkennbar ist, dass auch bei Nässe auf Asphalt eine recht gute Griffigkeit aufweist, aber bei<br />
hohen Schlupfwerten dann sehr stark abfällt.<br />
Wie bereits erwähnt werden Seitenkräfte aufgebaut, solange sich das Rad noch dreht, d.h. die<br />
Spurhaltung bleibt dann gewährleistet. Primäre Aufgabe einer <strong>Bremsen</strong>regelung ist es demnach,<br />
den Radschlupf so zu begrenzen, dass in der Praxis ein Blockieren des Rades sicher verhindert<br />
wird. Darüber hinaus ist es wünschenswert, den Bremsschlupf in den engen Grenzen<br />
um das Reibwertmaximum zu regeln, um bestmögliche Bremswirkung zu erzielen. Das ist<br />
beim Motorrad deshalb wichtig, weil ein größerer Regelbereich entsprechend der dann wirksamen<br />
Reibwertschwankungen, ausgeprägte Bremsmomentschwankungen hervorruft. Diese<br />
wiederum bewirken Änderungen der dynamischen Radlastverlagerung <strong>und</strong> mindern die übertragbaren<br />
Bremskräfte am Vorderrad.<br />
Gr<strong>und</strong>prinzip aller ABS-Systeme (Radschlupf-Regelsysteme) ist die betätigungsunabhängige<br />
Bremsdruckbeeinflussung im Hydraulikkreis <strong>für</strong> die Radbremszylinder. Im Fall einer drohen-<br />
Bild <strong>11</strong>.6 Kraftschlussverlauf in Abhängigkeit vom Reifenschlupf (Prinzipdarstellung)
<strong>11</strong>.2 Stabilitätsverlust beim <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>funktion des ABS 377<br />
Bild <strong>11</strong>.7<br />
Kraftschlussbeiwerte <strong>für</strong> verschiedene Fahrbahnoberflächen<br />
<strong>und</strong> -zustände<br />
(durchgezogene Linie: Bremskraft,<br />
gestrichelte Linie: Seitenführungskraft)<br />
den Radblockierung wird der Bremsdruck abgesenkt, bis die Räder wieder rollen <strong>und</strong> danach<br />
durch ein geeignetes System bis zur erneuten Blockade wieder erhöht. Dieser Vorgang geschieht<br />
unabhängig von der Bremsbetätigung durch den Fahrer, der während der Regelung vom System<br />
abgekoppelt wird.<br />
Diese Zusammenhänge sind im Bild <strong>11</strong>.8 dargestellt. Bei der Bremsung mit relativ kontantem<br />
Bremsdruck vermindert sich die die Radumfangsgeschwindigkeit etwa linear (normale Bremsung).<br />
Die drohende Radblockade zeigt sich am beginnenden Steilabfall der Radumfangsgeschwindigkeit<br />
zum Zeitpunkt t1 . Dieser Drehzahleinbruch des Rades wird von Sensoren am<br />
Rad in einer kurzen Zeitspanne (Zeit t1 bis t2 )registriert <strong>und</strong> von einer Elektronik ausgewertet.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der Trägheiten sinkt zunächst die Radgeschwindigkeit weiter ab. Das ABS senkt<br />
jetzt sofort den Bremsdruck, wodurch das Rad wieder frei rollen kann. Im Verlauf der weiteren<br />
Bremsung wird der Bremsdruck wieder leicht erhöht. Wird abermals ein drohenede Radblockade<br />
erkannt, wiederholt sich der Regelvorgang.<br />
Bild <strong>11</strong>.8 Bremsdruck-Modulation bei Radblockade
378<br />
<strong>11</strong> <strong>Regelungssysteme</strong> <strong>für</strong> <strong>Bremsen</strong> <strong>und</strong> <strong>Antriebsschlupf</strong><br />
<strong>11</strong>.3 ABS-Komponenten <strong>und</strong> ausgeführte Seriensysteme<br />
Auf der Basis dieses Funktionsprinzips gab es bereits vor Jahrzehnten erste Ansätze <strong>für</strong> eine<br />
<strong>Bremsen</strong>regelung. Gearbeitet wurde damals an mechanisch-hydraulischen Systemen, die den<br />
Zusammenbruch der Fliehkraft als Erkennungssignal <strong>für</strong> einen drohenden Radstillstand ausnutzen<br />
sollten. Die Bremsdruckabsenkung erfolgte über mechanisch angesteuerte Ventile in der<br />
Bremshydraulik; der erneute Druckaufbau wurde mittels eines Pumpensystems <strong>für</strong> die Bremsflüssigkeit<br />
(LUCAS, GIRLING) bewerkstelligt. Solche Systeme schafften aber nicht den Durchbruch<br />
zur Serienreife. Der Weg zur Serie wurde mit elektronisch geregelten Hydrauliksystemen<br />
beschritten, wobei auf der Hydraulikseite zwei gr<strong>und</strong>sätzlich unterschiedliche Arbeitsprinzipien<br />
zur Anwendung kommen, das Plungersystem <strong>und</strong> das Ventilsystem. Auf beide Systeme<br />
<strong>und</strong> ihre Unterschiede soll im Folgenden eingegangen werden. BMW war beim Motorrad der<br />
ABS-Pionier <strong>und</strong> stellte 1988 sein ABS I vor, das nach dem Plungerprinzip arbeitete. Es wurde<br />
zusammen mit dem Bremshydraulikhersteller FAG entwickelt wurde, Bild <strong>11</strong>.9.<br />
Herzstück des gesamten Systems ist der elektro-hydraulischen Druckmodulator, der den Plunger<br />
(Regelkolben) enthält. Dieser wird von einem Linearmotor angetrieben <strong>und</strong> bewirkt durch Volumenänderung<br />
im Hydrauliksysstem eine Veränderung des Drucks im Bremssattel <strong>und</strong> damit<br />
eine Veränderung der Radbremskraft. Wenn die elektronischen Sensoren an den Rädern eine<br />
Blockierneigung feststellen, wird der Bremsdruck durch Zurückfahren der Kolben kontinuierlich<br />
soweit abgesenkt, bis die Räder wieder drehen können. Anschließend wird der Druck wieder<br />
aufgebaut, bis im Falle eines erneuten Blockierens eine neuerliche Druckabsenkung notwendig<br />
wird. Dieser Vorgang wiederholt sich, falls erforderlich, bis zu sieben Mal pro Sek<strong>und</strong>e.<br />
Bild <strong>11</strong>.9<br />
Funktionsschema des<br />
BMW ABS I