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Ein Motorschiff fährt durch die Welt. Ein Narrenschiff ... - VISARTE Biel

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<strong>Ein</strong> <strong>Motorschiff</strong> fährt <strong>durch</strong> <strong>die</strong> <strong>Welt</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Narrenschiff</strong>. <strong>Ein</strong><br />

Geisterschiff. Manchmal ein Boot voller Schiffbrüchiger. Die<br />

Überlebenden stammen alle vom Volk der Pulp. Sie segeln unter der<br />

Piratenfahne, einem schwarzen Wimpel der Anarchie. Suchen Neuland im<br />

Meer des visuellen Horrors, der Konsumflut: `Saving the Bastian World`<br />

Wenn sich ein Jüngling M.S. BASTIAN nennt, braucht er den<br />

Künstlernamen als Schutzmarke, aber auch als Programm. Dahinter<br />

verbirgt sich Marcel Sollberger aus <strong>Biel</strong>, geboren 1963, weltweit<br />

gereist und weitläufig nicht nur in Cyberwelt des Comic. <strong>Ein</strong><br />

politisch und kunstmässig federleichter Kopf, überbordend von<br />

Imagination. <strong>Ein</strong> Künstler auf der Notfallstation des täglichen realen<br />

Wahns und des Wahnsinns, ein Bewohner der Obsessions-Community.<br />

Künstlertum als Selbsthilfe, Überlebensstrategie, nackte<br />

Notwendigkeit.<br />

Als ich Bastian vor Jahren auf einem Gesprächspodium erlebte, als<br />

bereits <strong>die</strong> Übernahme der schönen Kunstwelt <strong>durch</strong> <strong>die</strong><br />

spätkapitalistischen Kunstmarkt-Haie zur Debatte stand, was sich<br />

inzwischen naturgemäss akzeleriert hat nach den Naturgesetzen des<br />

Profittreibens, trat der Pulp-Meister als sehr seltenes, sich des<br />

Vorgans komplett bewusstes Exemplar der helvetischen Künstlerschar<br />

auf. Ich staunte. Mit einer blitzgescheiten und einer Art<br />

irrlichternden Wendigkeit deplazierte er <strong>die</strong> moralinsaure Analyse<br />

comicgerecht ins Pfefferland der blanken Ironie, in der alle Vorgänge<br />

in Kunstform, als künstliche, gestaltete Phänomene wie als reinste<br />

Selbstverständlichkeit abliefen. Bestenfalls blieb ein zynischer<br />

Kommentar übrig oder ein beifälliges Appläuschen, aber dass sich das<br />

ganze System schon ziemlich in Schieflage befand, kommentierte er aus<br />

naseweiser Distanz und mit spielerischer Souplesse. Ich war<br />

beeindruckt.<br />

Jahre später lernte ich in seinem immensen Bilder- und<br />

Skulpturenlager einen ganz anderen Sollberger kennen. Jetzt verstand<br />

ich das Pseudonym, <strong>die</strong> Schutzmarke. Er erzählte länger von seinem<br />

Vater, der tief in der Provinz afrikanische Stammes-Kunst sammelte,<br />

als Zweitjob eine Galerie führte, der als Abenteurer in Ruanda war<br />

und im Belgisch-Kongo, wie das damals hiess. Dass er als Bub mit<br />

afrikanischen Grabbeigaben spielte. Dass seine Mutter aus Freiburg im<br />

Breisgau stammte und sein älterer Bruder Beamter wurde. Er berichtete<br />

vom Schlaraffenland `Zaffaraya` in Bern, der kurzlebigen<br />

Alternativstadt, für welche <strong>die</strong> <strong>Biel</strong>er Jungspunde auf <strong>die</strong> Strasse<br />

gingen und natürlich `mit dem Gesetz` in Konflikt kamen, vom Graphik-<br />

Vorkurs und Urs Dickerhof, dem ersten Auftrag für <strong>die</strong> `Wochenzeitung`,<br />

Plakaten für <strong>die</strong> Rote Fabrik in Zürich, seiner <strong>Biel</strong>er `Polstergruppen-<br />

Galerie` dem ersten Aeschlimann-Stipendium von Los Angeles, Paris und<br />

New York und Hopper bis Max Ernst, Erich Mühsam und David Weiss, dem `Eisbrecher`


und `Strapazin` dem Kunsthaus Örlikon mit Martin Senn, Roli Fischbacher und Pipilotti<br />

Rist.<br />

Am meisten blieben in mir <strong>die</strong> afrikanische Kindheit in <strong>Biel</strong> und das<br />

Wunschland `Zaffaraya` hängen. Irgendwie verstärkte sich das Gefühl,<br />

hier sei der Pulp gross geworden. Das ganze Bastian-Universum,<br />

`Bastropolis`, <strong>die</strong> `Bastian-Bean`s` <strong>die</strong> ganze Überbevölkerung seiner<br />

Bastianwelt hätte hier ihren Ursprung, ihre unversiegbare Quelle. <strong>Ein</strong>e<br />

Narrations-Schnur aus der Kindheit. Gespenstergeschichten und Grotesken.<br />

Wohlgroth`sche Schlösser. Hilfesuchende Hände, Skelette, Gehängte,<br />

abgeschlagene Köpfe: <strong>Ein</strong> Selbstbildnis. Die permanente `Meuterei der<br />

Bounty` als Akt der Befreiung. Der Comic als Fortsetzungs-Märchen.<br />

Aber <strong>die</strong> Comic-Kunst ist auch <strong>die</strong> politische Speerspitze der<br />

zeitgenössischen Bilderproduktion, jedenfalls <strong>die</strong> breiteste, schnellste<br />

und vor allem schärfste. Nur <strong>die</strong> internationale Fumetto-Gemeinde stürzt<br />

sich noch in das reale Chaos, versucht sich zeichnend und textend im<br />

Wahnsinn der Warenproduktion, des `totalitären Konsumismus` (Tinguely)<br />

und des permanenten Me<strong>die</strong>n-Hypes zu behaupten. Sie sind <strong>die</strong> späten<br />

Verbündeten von Guy Debord und legen <strong>die</strong> Prophetien seiner<br />

`Gesellschaft des Spektakels` auch im Heute offen. Sie bilden <strong>die</strong><br />

wiedergeborene Phalanx der Situationistischen Internationale, in deren<br />

historischem Umfeld <strong>die</strong> `Bandes déssinées` erstmals in <strong>die</strong> `hohe` Kunst<br />

eintraten. Sie beackern das Schlachtfeld der Gegenwart und des utopische<br />

Neuland der Zukunft <strong>durch</strong> eine fortlaufende, permanente und überspitzte Collagierung.<br />

Bastians jüngster Albtraum stammt aus Tokyo. Mangas mit grossen<br />

schreckhaften Augen bevölkern <strong>die</strong> Strassen, deren Fliehkraft von der<br />

Werbung beschleunigt wird.<br />

Was für ein Gegensatz zur lieblichen <strong>Welt</strong> von Franz von Assisi, den<br />

der kleine Marcel mit zehn Jahren malend beerdigt hat.<br />

So tritt er heute mit Zeichnungen und Skulpturen, Bildergeschichten<br />

und Animationsfilmen, mit seinem insgesamten Erfindungsinventar und<br />

beschleunigt von Isabelle L. gegen eine <strong>Welt</strong>, deren Fugen nicht mehr<br />

mit Finanzspritzen zu kitten sind. In der `Bastian World` werden wir<br />

fröhlich überleben. Der soziale Darwinismus schreit nach Nonsens.<br />

Das `Floss der Medusa` (=Alinghi) treibt hilflos vor den Azoren -<br />

<strong>die</strong> Arche `M.S. Bastian` ist hoffnungsvoll überfüllt.<br />

Es leben <strong>die</strong> Kanar(i)en-Vögel!<br />

Guido Magnaguagno

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