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Prof. Dr. Oliver Thews, Halle (Saale)

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Wartezeit versus Losverfahren<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Oliver</strong> <strong>Thews</strong><br />

Julius-Bernstein-Institut für Physiologie, Martin-Luther-Universität<br />

<strong>Halle</strong>-Wittenberg<br />

Sehr geehrte Herren Vorsitzende,<br />

meine Damen und Herren!<br />

Ich möchte mit Ihnen eine Alternative, d.h. eine Veränderung des deutschen<br />

Studienzulassungssystems diskutieren. Deutschland hat ein sehr fein ausgearbeitetes<br />

Kapazitätssystem. Eigentlich kann man aus juristischer Sicht vor seiner<br />

Veränderung, selbst wenn es sich nur um kleine oder kleinste Teile handeln<br />

würde, nur warnen, denn jede Veränderung würde Tür und Tor für neue Klagen<br />

öffnen.<br />

Dennoch möchte ich Ihnen ein verändertes Zulassungsverfahren vorschlagen,<br />

welches sich aus den veränderten Bewerberzahlen der vergangenen Jahre herleitet.<br />

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das Grundgesetz der Bundesrepublik<br />

Deutschland, das in Artikel 12 (1) festlegt: „Alle Deutschen haben das<br />

Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung<br />

kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.“<br />

Diesem Grundrecht müssen wir folgen. Auf der anderen Seite haben wir eingeschränkte<br />

Ressourcen, und in beliebten Studienfächern wie der Humanmedizin<br />

ist Artikel 12 des Grundgesetzes nicht umsetzbar.<br />

Daher musste zunächst geklärt werden, ob überhaupt eine Beschränkung der<br />

Zulassung verfassungskonform sei. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits<br />

1


1972 in seinem Urteil zum Numerus Clausus entschieden: „Absolute Zulassungsbeschränkungen<br />

für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung sind<br />

nur verfassungsmäßig … wenn die Auswahl und Verteilung der Bewerber nach<br />

sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen<br />

Bewerber … erfolgen.“ (BVerfGE 33, 303 - Numerus clausus I (1972)) Mit dem<br />

Nachsatz wurde geregelt, dass eine Zulassung allein nach Leistungskriterien<br />

nicht gesetzeskonform wäre, und es wurde seinerzeit die Einführung der Wartezeit<br />

als leistungsunabhängiges Zulassungskriterium beschlossen.<br />

Die Vergabe der Studienplätze folgt bestimmten Regeln (Abb. 1), wobei der<br />

größte Teil der Studienplätze nach Leistung vergeben wird.<br />

20% Abiturnote (ZVS)<br />

Vorabquote für<br />

- nicht EU-Ausländer<br />

-Härtefälle<br />

- Zweitstudienbewerber<br />

- Sanitätsoffiziere der<br />

Bundeswehr<br />

20% Wartezeit<br />

60% Auswahl<br />

durch die Hochschule<br />

(AdH)<br />

Abb. 1: Vergabe von Studienplätzen in Deutschland<br />

In meinem Referat soll es nur um die 20 % der über die Wartezeitregelung zu<br />

vergebenden Studienplätze gehen.<br />

Die Bewerbersituation zwingt dazu, über eine Veränderung der Wartezeitregelung<br />

nachzudenken. Die Bewerberzahlen sind in Deutschland in den letzten<br />

2


zehn Jahren kontinuierlich angestiegen, dagegen ist die Zahl der Studienplätze<br />

weitgehend konstant geblieben (Abb. 2).<br />

40.000<br />

Bewerber<br />

Studienplätze<br />

4,8 : 1<br />

30.000<br />

20.000<br />

2,4 : 1<br />

10.000<br />

0<br />

WiSe 2000/01<br />

WiSe 2001/02<br />

WiSe 2002/03<br />

WiSe 2003/04<br />

WiSe 2004/05<br />

WiSe 2005/06<br />

WiSe 2006/07<br />

WiSe 2007/08<br />

WiSe 2008/09<br />

WiSe 2009/10<br />

WiSe 2010/11<br />

WiSe 2011/12<br />

WiSe 2012/13<br />

Abb. 2: Entwicklung der Bewerberzahlen für das Medizinstudium in Deutschland seit 2000,<br />

nur Wintersemester<br />

Das Bewerberverhältnis pro Studienplatz ist in diesem Zeitraum von 2,4:1 auf<br />

4,8:1 angestiegen. Damit wurde und wird der Anteil der abgelehnten Bewerber<br />

immer größer. Im gleichen Zeitraum wurde aber auch die Zahl derer, die sich<br />

über die Wartezeit auf einen Medizinstudienplatz bewarben, auch immer größer<br />

und das spiegelt sich in der Anzahl der für das Erhalten eines Studienplatzes<br />

notwendigen Wartesemester wider (Abb. 3). Heute wartet ein Bewerber<br />

zwischen 11 und 12 Semester auf einen Medizinstudienplatz.<br />

3


Abb. 3: Entwicklung der Wartezeit seit 2000, nur Bewerbungen im Wintersemester<br />

Die besondere Situation, die sich aus sechs bis sieben Jahren Wartezeit ergibt,<br />

hat Konsequenzen für den Bewerber, denn der zeitliche Abstand zwischen dem<br />

schulischen Lernen und den hohen Lernanforderungen im Medizinstudium<br />

erschwert das Lernen von Fakten. Diese Bewerber haben durch ihr höheres Alter<br />

veränderte persönliche Lebensumstände (z.B. eigene Kinder, mehr Nebentätigkeiten<br />

wegen geringerer finanzieller Unterstützung, höhere Ansprüche an<br />

den Lebensstandard nach der Berufstätigkeit).<br />

Damit ergeben sich Studienprobleme der über die Wartezeit zugelassenen Studierenden<br />

(Verzögerung im Studienablauf, Studienabbruch), es kann zu einer<br />

unerwünschten sozialen Selektion kommen, und die Dauer der Berufstätigkeit<br />

wird um die Wartezeit verringert.<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit einem Urteil (BVerfGE 43, 291 -<br />

Numerus clausus II (1977)) dazu geäußert, dass eine unzumutbar lange Warte-<br />

4


zeit nicht zu akzeptieren sei, wenn der Bewerber "bis zu sieben Jahren auf eine<br />

Zulassung zum Studium seiner Wahl warten muss". Daraus lässt sich auch ableiten,<br />

dass eine Wartezeit nicht länger dauern dürfe als das Studium selbst.<br />

Diese Dauer haben wir aber in der Medizin längst überschritten, und es stellt<br />

sich zunehmend die Frage nach der juristischen Zulässigkeit dieser Wartezeitregelung.<br />

Erste sehr kritische Äußerungen der Verwaltungsgerichte dazu liegen<br />

bereits vor.<br />

Es wurden schon Alternativen vorgeschlagen, um die Wartezeiten zu verkürzen.<br />

Eine diskutierte Lösung war die Erhöhung der Wartezeitquote, d.h. mehr als<br />

20 % der Studienplätze auf Kosten des Auswahlanteiles der Hochschulen<br />

(AdH) bzw. auf Kosten der Abiturbestenquote. Andere, zumindest kurzfristige<br />

Lösungen wären strengere Regeln für die Anrechnung von Wartesemestern,<br />

andere Zählverfahren. Aber – alle diese Vorschläge ändern nichts am Grundproblem.<br />

Sie verlagern das Problem, werden aber die Zahl der Nichtzugelassenen<br />

bei weiter steigenden Bewerberzahlen nicht vermindern können.<br />

Unser Vorschlag ziehlt daher auf einen anderen Umgang mit der Wartezeitquote<br />

durch die Einführung eines Losverfahrens. Über die Frage nach einem<br />

Anspruch auf einen Medizinstudienplatz hat sich das Bundesverfassungsgericht<br />

in seinem o.g. Urteil aus dem Jahre 1977 ebenfalls geäußert (BVerfGE 43, 291 -<br />

Numerus clausus II (1977)), indem es feststellte „In harten Numerus-clausus-<br />

Fächern, in denen eine Überzahl an Bewerbern um verhältnismäßig wenig Studienplätze<br />

konkurrieren, konnte er aber von Anfang an nicht so verstanden<br />

werden, als müsse eine Zulassung zum Studium garantiert werden. … Schon<br />

begrifflich schließt die Einräumung von Chancen das Risiko des Fehlschlages<br />

ein. … Hier kommt … zunächst einmal ein sogenanntes leistungsgesteuertes<br />

Losverfahren in Betracht, bei dem die Zulassungschancen mit der Schulnote<br />

steigen.“<br />

In Anlehnung an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lautet unser Vorschlag<br />

für einen Ersatz der Wartezeitregelung, dass die 20 % der Studienplätze,<br />

5


die über die Wartezeitquote vergeben werden, künftig durch ein gewichtetes<br />

Losverfahren (Wichtung über die Abiturnote) vergeben werden, wobei es nur<br />

eine beschränkte Anzahl von Teilnahmen an diesem Losverfahren geben darf.<br />

Um eine Chancenverteilung auch für Bewerber mit schlechteren Abiturnoten<br />

abzuschätzen, wobei Chance nicht mit einer Studienplatzgarantie verwechselt<br />

werden darf, haben wir eine Modellrechnung angestellt.<br />

Für diese Modellrechnung, bei der 20 % der Studienplätze über ein gewichtetes<br />

Los vergeben werden, haben wir festgelegt, dass jeder Bewerber je dreimal für<br />

Wintersemester und Sommersemester am Losverfahren teilnehmen kann (z. B.<br />

über maximal vier Jahre nach Abitur). Die Gewichtung erfolgt über die Abiturnote<br />

in vier Klassen:<br />

Klasse 1 1,0 - 1,7<br />

Klasse 2 1,8 - 2,5<br />

Klasse 3 2,6 - 3,3<br />

Klasse 4 3,4 - 4,0<br />

Die Chancen hängen beeinflussbar von der Wichtung der Notenklassen ab.<br />

Nicht beeinflussbar sind dagegen die Anzahl der Bewerber und der Anteil der<br />

Wiederbewerber.<br />

Für eine einigermaßen valide Schätzung haben wir uns auf das Datenmaterial<br />

der letzten Jahre gestützt und die Notenverteilung der Studienbewerber angesehen<br />

(Abb. 4). Wie erwartet, liegt das Gros der Bewerber im mittleren Bereich.<br />

6


Bewerber WiSe 2011/12:<br />

44.022<br />

Abb. 4: Verteilung der Abiturnoten bei 44.022 Studienbewerbern für das Wintersemester<br />

2011/12, Datenquelle: Stiftung für Hochschulzulassung<br />

Wir müssen weiter beachten, dass sich nur die Wiederbewerber in dieser Aufstellung<br />

befinden dürfen, denn die Abiturbesten sind bereits zum Studium zugelassen<br />

worden. Damit verändert sich die Notenverteilung (Abb. 5).<br />

(31.420)<br />

(12.602)<br />

Abb. 5: Notenverteilung von Erst- und Wiederbewerbern im Wintersemester 2011/12, Datenquelle:<br />

Stiftung für Hochschulzulassung<br />

7


Mit den Annahmen für die Simulation, d.h. gleiche Bewerberzahlen der letzten<br />

drei Jahre (seit Wintersemester 2009/10), Notenverteilung der Bewerber wie in<br />

den letzten drei Jahren unverändert, ca. 25 bis 30 % der Bewerber zum Wintersemester<br />

sind Wiederholungsbewerber aus den letzten Jahren und der weiteren<br />

aus den vorhandenen Daten abgeleiteten Zahl von 40 % der abgelehnten Bewerber,<br />

die sich erneut bewerben werden, haben wir in die Modellrechnung<br />

eingeführt, dass sich zum Sommersemester alle im Wintersemester abgelehnten<br />

Bewerber erneut bewerben.<br />

Die Chancen für einen Studienplatz ändern sich in Abhängigkeit von der<br />

Wichtung der Notenklassen (Abb. 6).<br />

Abb. 6: Einfluss der Notenwichtung auf die Loschancen<br />

Hierbei wird deutlich, dass sowohl das lineare Modell (2. Beispiel von links) als<br />

auch das exponentielle Modell (ganz rechtes Beispiel) besonders schlechte<br />

Chancen für die Bewerber mit schlechten Abiturleistungen mit sich bringen,<br />

8


wohingegen das Modell 9 : 6 : 4 : 3 etwa den Ergebnissen in den Niederlanden<br />

entspricht und auch von uns favorisiert wurde.<br />

Die Zahl derer, die sich wieder bewerben, nimmt natürlich Einfluss auf die<br />

Chancen aller Teilnehmer an diesem Verfahren (Abb. 7).<br />

Abb. 7: Auswirkung auf die Loschancen bei einer Wichtung 9 : 6 : 4 : 3 nach Anteil der Bewerber,<br />

die sich nach Ablehnung wieder bewerben<br />

Unser Modell als Vorschlag für einen Ersatz der Wartezeitquote, bei dem eine<br />

dreimalige Teilnahme an einem gewichteten Losverfahren (je dreimal Wintersemester+Sommersemester)<br />

innerhalb von vier Jahren nach dem Abitur und<br />

eine Gewichtung der Abiturnote 9 : 6 : 4 : 3 nach dem niederländischen System<br />

angenommen wurde, kam zu dem Ergebnis, dass eine<br />

Abiturnote 1,0 - 1,7 eine Chance = 26,0 %<br />

Abiturnote 1,8 - 2,5 eine Chance = 18,0 %<br />

Abiturnote 2,6 - 3,3 eine Chance = 12,3 %<br />

Abiturnote 3,4 - 4,0 eine Chance = 9,3 %<br />

in einem gewichteten Losverfahren hätte.<br />

9


Unser vorgeschlagenes Verfahren hätte eine Reihe von Vorteilen gegenüber der<br />

heutigen Wartezeitregelung, denn die verfassungsrechtlich bedenkliche, überlange<br />

Wartezeit wird reduziert und es erhält die Zulassungschancen für alle<br />

hochschulreifen Bewerber, womit die Forderung nach Chancenoffenheit erfüllt<br />

wäre. Unser Verfahren wäre mit wenig Aufwand umsetzbar.<br />

Die Leistungsmotivation bleibt für den Bewerber erhalten, er erfährt eine zeitnahe<br />

Entscheidung. Die Zeit zwischen Schulabschluss und Studium bleibt überschaubar,<br />

wir würden jüngere Absolventen und damit eine längere Berufstätigkeitsphase<br />

erhalten. Die Zahl der Studienabbrüche oder –verzögerungen würde<br />

wahrscheinlich abnehmen.<br />

Eine Reihe von Nachteilen darf jedoch nicht verschwiegen werden. Die Lebenschancen<br />

und besondere Berufspositionen hängen (zum Teil) vom Zufall ab. Ein<br />

weiterer Aspekt ist hier nicht weiter berücksichtigt worden, doch es kann weiterhin<br />

zu Berufsausbildungsabbrüchen zugunsten des Studiums kommen.<br />

Offene Fragen bedürfen noch einer Klärung. Die Wichtung der Abiturnote ist<br />

zu diskutieren und damit zu entscheiden, ob eine Wichtung 9 : 6 : 4 : 3 konsensfähig<br />

ist. Weiter ist zu überlegen, ob eine Chance von 9,3 % „ausreichend“<br />

für einen Bewerber mit schlechtem Abitur ist. Diese Frage richtet sich<br />

auch an die Juristen. Mehr technischer Art sind die Fragen, ob eventuell eine<br />

Neustrukturierung des Verteilungsablaufs das Verfahren erleichtern würde,<br />

wenn das AdH-Verfahren vor einem Losverfahren stattfinden könnte.<br />

Für die Umsetzung unseres Vorschlages müsste allerdings der Staatsvertrag geändert<br />

werden.<br />

So gut unsere Überlegungen durch Modellrechnungen auch gestützt sind, will<br />

ich dennoch mit einem Fazit des Bundesverfassungsgerichts zum Numerus<br />

Clausus enden: „Aber auch die Überlegungen zu den anderen Möglichkeiten<br />

bestätigen erneut, daß jedes Auswahlsystem unbefriedigend ist und daß selbst<br />

10


aufwendige Verbesserungen eines solchen Systems an diesem Dilemma nichts<br />

Prinzipielles ändern…“ (BVerfGE 43, 291)<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!<br />

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