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Download pdf - Museum für Moderne Kunst

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des Regionalen und Religiösen in einem zunehmend interkulturellen Kontext sowie das Verhältnis von<br />

Tradition und <strong>Moderne</strong> haben mich bei meinen Überlegungen zum deutschen Beitrag <strong>für</strong> die Biennale<br />

in Venedig 2013 geleitet.<br />

Parallel zu diesen Überlegungen haben die Außenministerien Frankreichs und Deutschlands<br />

vorgeschlagen, die Pavillons der beiden Länder zu tauschen. Diese Idee ist in den letzten Jahren<br />

immer wieder diskutiert worden. Das 50-jährige Jubiläum des Élysée-Vertrags, der 1963 als Freundschaftsvertrag<br />

zwischen Deutschland und Frankreich geschlossen wurde, gab einen besonderen<br />

Anlass, bei der diesjährigen Biennale dieses Vorhaben tatsächlich in die Tat umzusetzen. In<br />

konstruktiven Gesprächen mit Christine Macel, der Kuratorin des französischen Beitrags, und allen<br />

beteiligten Künstlerinnen und Künstlern – neben Ai Weiwei, Romuald Karmakar, Santu Mofokeng und<br />

Dayanita Singh auch Anri Sala, der in diesem Jahr Frankreich repräsentiert – haben wir diese<br />

Anregung diskutiert und beschlossen, dem Vorschlag der Politik zuzustimmen. Damit wollten wir auf<br />

der Ebene der <strong>Kunst</strong> mit ihren Mitteln zum Ausdruck bringen, dass wir als Kuratoren und Künstler die<br />

Idee einer gemeinsamen europäischen Kultur innerhalb des umfassenden Bezugssystems einer<br />

globalen kulturellen Gemeinschaft <strong>für</strong> eine selbstverständliche Arbeitsgrundlage halten.<br />

Nach seiner Rückkehr aus den USA (wo er sich von 1981 bis 1993 aufgehalten hatte) nach Peking<br />

begann Ai Weiwei, sich mit den künstlerischen und kulturellen Traditionen seines Landes zu<br />

befassen – eine Beschäftigung, die bis dahin seit der Kulturrevolution unmöglich gewesen war. Er fing<br />

an, Antiquitäten zu studieren, zu sammeln und schließlich in seine in der Zwischenzeit stark<br />

konzeptionell gewordene Arbeit zu integrieren. Dabei reflektierte Ai Weiwei nicht nur die Mechanismen<br />

des internationalen <strong>Kunst</strong>- und Antiquitätenmarkts und den damit verbundenen Ausverkauf kultureller<br />

Werte und historischen Wissens, sondern auch den Zusammenprall alter und neuer Wertvorstellungen<br />

in der sich rasant modernisierenden chinesischen Gesellschaft. Für seine Installation <strong>für</strong><br />

den deutschen Auftritt im Französischen Pavillon hat Ai Weiwei in allen Teilen Chinas 886 dreibeinige<br />

Holzhocker zusammengetragen. Der dreibeinige Hocker ist heute in China eine Antiquität. Nach einer<br />

einheitlichen Methode gefertigt, wurde er über Jahrhunderte aus allen Teilen Chinas und in allen<br />

Bereichen der Gesellschaft verwendet. Jede Familie hatte mindestens einen Hocker, der <strong>für</strong> alle<br />

möglichen häuslichen Zwecke benutzt und über Generationen vererbt wurde. Doch seit der<br />

Kulturrevolution ab 1966 und im Zuge der Modernisierung des Landes wurde er immer seltener<br />

hergestellt. Aluminium und Plastik haben Holz als Herstellungsmaterial ersetzt. Aus 886 Exemplaren<br />

dieses stereotypen und zugleich hochindividuellen Hockers hat Ai Weiwei mithilfe der inzwischen rar<br />

gewordenen Fertigkeiten traditioneller Handwerker eine rhizomatisch raumgreifende Struktur<br />

geschaffen, die in ihrem wilden Wachstum an die wuchernden Organismen der Megacitiys dieser Welt<br />

erinnert. Der einzelne Hocker als Teil einer umfassenden skulpturalen Struktur kann als Metapher <strong>für</strong><br />

das Individuum und sein Verhältnis zu einem übergeordneten, überbordenden System in einer sich<br />

explosionsartig entwickelnden postmodernen Welt gelesen werden. In dieser Ausstellung steht er<br />

außerdem exemplarisch <strong>für</strong> die Inhalte der Werke von Romuald Karmakar, Santu Mofokeng und<br />

Dayanita Singh, die auf jeweils spezifische Weise unterschiedliche Sichtweisen darauf präsentieren,<br />

wie biografische, kulturelle oder politische Identität mit übergreifenden, transnationalen Verhältnissen<br />

zusammenhängt. <br />

Romuald Karmakar, der sich in seinen Dokumentar- und Spielfilmen ebenso wie in seinen<br />

konzeptionellen Filmen seit drei Jahrzehnten mit Mechanismen von Gewalt und Massenphänomenen<br />

insbesondere aus der Täterperspektive beschäftigt und dabei konsequent seinen Fokus auf die<br />

deutsche Geschichte gerichtet hat, zeigt im Französischen Pavillon als Teil des deutschen Beitrags<br />

den Dokumentarfilm 8. Mai von 2005/2013, in dem er die große NPD-Demonstration anlässlich des<br />

60-jährigen Kriegsendes auf dem Alexanderplatz in Berlin am 8. Mai 2005 dokumentiert. Außerdem<br />

präsentiert er den Film Hamburger Lektionen aus dem Jahr 2006, in dem der Theater- und<br />

Filmschauspieler Manfred Zapatka vor neutralem Hintergrund und auf emotionsfreie Weise die<br />

deutsche Übersetzung zweier Predigten des aus Marokko stammenden, salafistischen Imams<br />

Mohammed Fazazi vorträgt, die dieser im Januar 2000 in der al-Quds-Moschee in Hamburg gehalten<br />

hatte – jenem muslimischen Gemeindezentrum, in dem auch die Terroristen verkehrten, die an den<br />

Anschlägen am 11. September 2001 beteiligt waren. Des Weiteren sind einige seiner in den letzten<br />

Jahren entstandenen Kurzfilme zu sehen, die er <strong>für</strong> sein persönliches Filmarchiv auf YouTube und<br />

Vimeo gedreht und bislang nur dort veröffentlicht hat. Ein Teil dieser Filme sind Tierfilme und im<br />

Berliner Zoo gedreht. Die in Käfigen und Gehegen gehaltenen Wildtiere können ähnlich wie die<br />

Hocker von Ai Weiwei als allgemeingültige Metaphern <strong>für</strong> ein von äußeren Vorgaben konditioniertes<br />

Dasein innerhalb eines gesellschaftlichen Systems betrachtet werden. Doch in den Hamburger<br />

Lektionen, die Karmakar als „eine deutsche Geschichte“ bezeichnet, wird ebenso wie bei der<br />

Dokumentation der NPD-Demonstration in Berlin, die auch Ausdruck eines international agierenden<br />

Netzwerks von Neonazis war, an ganz konkreten Beispielen klar, dass sich ideologische Identitäten<br />

heute über Ländergrenzen hinweg entwickeln und die klassischen nationalen Zuschreibungen hier<br />

nicht mehr greifen.

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