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Predigt zum 200. Geburtstag von Ferdinand Nägele Pfarrer Ernst ...

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<strong>Predigt</strong> <strong>zum</strong> <strong>200.</strong> <strong>Geburtstag</strong> <strong>von</strong> <strong>Ferdinand</strong> <strong>Nägele</strong><br />

<strong>Pfarrer</strong> <strong>Ernst</strong> Börkircher<br />

25. Mai 2008, Stadtkirche Murrhardt<br />

Liebe Gemeinde,<br />

wir denken heute in diesem Gottesdienst an einen<br />

bedeutenden Mann Murrhardts: An den Ehrenbürger<br />

<strong>Ferdinand</strong> <strong>Nägele</strong>.<br />

Für ihn ist der heutige <strong>Predigt</strong>ext aus dem 5. Buch Mose 6,<br />

Verse 4.5 wie geschaffen: „Höre, Israel, der Herr ist unser<br />

Gott, - der Herr allein. Und du sollst den Herrn deinen Gott<br />

lieb haben <strong>von</strong> ganzem Herzen, <strong>von</strong> ganzer Seele und mit<br />

all deiner Kraft.“<br />

Man könnte das Leben <strong>von</strong> <strong>Ferdinand</strong> <strong>Nägele</strong> durchaus <strong>von</strong><br />

diesem zentralen Bekenntnis des Volkes Israel her<br />

verstehen: Gott allein ist der Herrscher über unser, über<br />

mein Leben und sonst niemand. Kein Mensch hat das Recht<br />

sich an<strong>zum</strong>aßen, einen anderen beherrschen zu wollen.<br />

Verpflichtet ist der Mensch allein Gott.<br />

Im Bekenntnis Israels: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott,<br />

- der Herr allein“ liegt die Freiheit begründet <strong>von</strong> allen<br />

weltlichen Gesetzen und Normen.<br />

Martin Luther hat dieses alte Bekenntnis Israels auf seine<br />

Weise fortgeführt und im ersten Leitsatz seiner Schrift:<br />

„Von der Freiheit eines Christenmenschen“ so formuliert:<br />

1<br />

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und<br />

niemanden untertan.“ Ich bin mir relativ sicher, dass <strong>Nägele</strong><br />

diesen Satz kannte.-<br />

<strong>Nägele</strong>s Leben war eine fortwährende Auseinandersetzung<br />

um dieses Bekenntnis zur Freiheit. Für ein christliches<br />

Leben ist es zentral, die Freiheit zu verteidigen, um ein<br />

selbständiges Leben, gegründet in der Liebe Gottes, führen<br />

zu können. Für die Freiheit und die Liebe hat ein Christ<br />

alles zu geben, sogar sein Leben. Bonhoeffer schrieb an<br />

einer Stelle: „Wer die Freiheit aufgibt, gibt sein Christsein<br />

auf.“<br />

Von diesem Ringen <strong>Nägele</strong>s um Freiheit will ich erzählen.<br />

Mir standen zur Lebensgeschichte <strong>Nägele</strong>s ein Vortrag <strong>von</strong><br />

Professor Bernhard Mann und ein Archivausdruck <strong>von</strong><br />

Stadtarchivar Christian Brücker aus Backnang zur<br />

Verfügung.<br />

Beide Schriftstücke erlauben nur einen ersten Eindruck <strong>von</strong><br />

der beeindruckenden Persönlichkeit <strong>Nägele</strong>s. Nach diesem<br />

ersten Kennenlernen <strong>Nägele</strong>s dachte ich unmittelbar:<br />

Jedes politische Gremium Murrhardts, in erster Linie der<br />

Stadtrat und auch der evang. Kirchengemeinderat, müsste<br />

immer wieder neu sich mit diesem Ringen <strong>Nägele</strong>s um<br />

Freiheit befassen und mit der Geschichte in die er<br />

eingebettet war.<br />

Denn Freiheit hat man nie als sicheres Pfand. Die Freiheit<br />

muss in jeder Generation neu erstritten, verteidigt und<br />

gefestigt werden. <strong>Nägele</strong> ist dafür ein Vorbild.


In ihm lebte der Wert des freiheitlichen Menschen, der<br />

keine Gewalt über sich duldet, die sich nicht an den<br />

Menschenrechten orientiert: An Freiheit, Gleichheit und<br />

Nächstenliebe. <strong>Nägele</strong>s hohes Ziel war eine demokratische<br />

Verfassung für Deutschland, die sich den Menschenrechten<br />

verpflichtet weiß.<br />

Was wir heute als selbstverständlich in einem<br />

demokratischen Land an Grundrechten erachten, war zu<br />

Zeiten <strong>Nägele</strong>s zuhöchst umkämpft. Schwierige soziale und<br />

politische Umstände führten um das Jahr 1848 überall in<br />

Europa zu Volkserhebungen, auch in Deutschland. Der Adel<br />

konnte eine Versammlung der demokratischen Kräfte in<br />

Deutschland nicht mehr verhindern.<br />

Als Mitglied der Nationalversammlung der Paulskirche in<br />

Frankfurt 1848 war <strong>Nägele</strong> mit dabei als <strong>zum</strong> ersten Mal<br />

Grundrechte für das Deutsche Volk formuliert wurden: z.B.<br />

Freizügigkeit innerhalb Deutschlands, Unverletzlichkeit der<br />

Person und Wohnung, Pressefreiheit,<br />

Versammlungsfreiheit, Freiheit der Wissenschaft und der<br />

Lehre, Abschaffung der Todesstrafe, Abschaffung der<br />

Standesvorrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz, der<br />

Zugang zu öffentlichen Ämtern für alle Bürger, die<br />

Abschaffung der landesfürstlichen Heere und stattdessen die<br />

Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mit Gelöbnis auf<br />

die Verfassung.<br />

<strong>Nägele</strong> war als einziger Handwerksmeister bei dieser<br />

denkwürdigen Versammlung dabei. In direkter Wahl wurde<br />

er im Wahlkreis7, der Backnang, Weinsberg und Teile des<br />

2<br />

Marbacher Amts umfasste, <strong>zum</strong> Delegierten nach Frankfurt<br />

gewählt. <strong>Nägele</strong> wurde als, Zitat:„bewährter Freund des<br />

Volkes, als tüchtiger Handwerker, als scharfer Kämpfer in<br />

Wort und Schrift, als echt freiheitlich denkender deutscher<br />

Mann, als richtiger 48er Demokrat“ nach Frankfurt<br />

abgesandt.<br />

Die Hoffnungen, die mit dieser Nationalversammlung, die<br />

<strong>von</strong> 31. März 1848 bis Mai 1849 tagte, verbunden waren,<br />

wurden enttäuscht. Am Ende siegte wieder einmal, aufgrund<br />

verschiedener politischer Umstände, die Reaktion des<br />

Adels.<br />

Ein Umstand des Scheiterns war sicherlich, dass dem Adel<br />

ganz deutlich war: Sollte diese Nationalversammlung ihre<br />

Ergebnisse durchsetzen, dann ist es endgültig mit adliger<br />

Vorherrschaft vorbei. <strong>Nägele</strong> selbst hatte mit nur 18<br />

Abgeordneten einem Antrag auf Abschaffung des Adels<br />

zugestimmt.<br />

Ein weiterer Umstand war, dass das Bürgertum sich vor den<br />

sogenannten niederen Klassen der Bevölkerung und deren<br />

Ansprüchen fürchtete, also schlicht nicht teilen wollte;<br />

schließlich, dass kein wichtiger Territorialfürst sich an die<br />

Spitze dieser Freiheits- und Sozialbewegung stellte. Die<br />

alten Machtprivilegien wurden wortwörtlich bis aufs Messer<br />

verteidigt. Und schließlich lehnte der Preußenkönig die <strong>von</strong><br />

der Versammlung angebotene Kaiserkrone über<br />

Deutschland ab.<br />

Hätte König Wilhelm IV <strong>von</strong> Preußen die angebotene<br />

Kaiserkrone 1849 angenommen, hätte die Demokratie in


Deutschland eine reelle Chance gehabt. Vielleicht wäre<br />

sogar Europa, der Welt, zwei Weltkriege erspart geblieben,<br />

hätten die demokratischen Bewegungen, die damals in ganz<br />

Europa um nationale Verfassungen kämpften, gesiegt.<br />

Eine oppositionelle Schriftstellerin schrieb damals nach<br />

dem Scheitern der Paulskirche:<br />

„Eine wirkliche Aussöhnung zwischen unserem<br />

mittelalterlich-monarchischen König und der Idee der<br />

Volksfreiheit ist so unmöglich wie die Herstellung einer<br />

innerlich zerstörten Ehe. Ein Volk soll aber kein<br />

Scheindasein führen.“<br />

Genau das war auch die Auffassung <strong>von</strong> <strong>Ferdinand</strong> <strong>Nägele</strong>.<br />

<strong>Nägele</strong> stimmte sogar gegen die Mehrheit der Paulskirche,<br />

die den Preußenkönig als Kaiser vorschlugen. Er wollte<br />

endgültig eine demokratische Führung unter einem<br />

gewählten Reichspräsidenten. <strong>Nägele</strong> wollte mit dem<br />

Scheindasein des Volkes brechen, das <strong>von</strong> den adligen<br />

Machtinteressen vorgeführt und missbraucht wurde.<br />

Das Volk, schrieb er im Murrtalboten, „ist nicht Sache,<br />

nicht Mittel, sondern es sey Selbstzweck und ich glaube,<br />

dass es berechtigt und dass es wert sei, glücklich zu sein.“<br />

Nationalsinn und Gemeingeist, das ist mit Freiheit die beste<br />

Bürgschaft für die Sicherung der Arbeit, für Hebung der<br />

Industrie wie der Landwirtschaft.“<br />

Ein Volk ist also nicht einfach Verfügungsmasse <strong>von</strong><br />

Mächtigen, um deren Reichtum, Macht und Vorteile zu<br />

mehren, sondern ein Volk muss selbst das Recht haben,<br />

seinen Kurs zu bestimmen, - das war <strong>Nägele</strong>s Auffassung.<br />

3<br />

<strong>Nägele</strong>s Ziele kennzeichnen ihn als einen aus dem Volk:<br />

Sicherung der Arbeit, Hebung der Industrie und der<br />

Landwirtschaft. Er wusste, welche Folgen Arbeitslosigkeit<br />

hat. Nationalsinn hat bei <strong>Nägele</strong> nichts mit Nationalismus<br />

zu tun, sondern mit Freiheit: Der Begriff der Nation meint<br />

bei <strong>Nägele</strong>: Das Volk, die Nation selbst muss nun Subjekt<br />

der eigenen Geschichte sein, die Nation ist der Souverän,<br />

nicht Könige und Kaiser.<br />

Der adlige Widerstand, den <strong>Nägele</strong> bekämpfte, dachte<br />

anders und diese Reaktion sollte überleben, sie führte<br />

schließlich in den ersten wie in den zweiten Weltkrieg.<br />

Der König <strong>von</strong> Hannover schrieb damals an den <strong>zum</strong> Kaiser<br />

vorgeschlagenen Friedrich Wilhelm IV folgende Zeilen:<br />

„Glaube mir, das Benehmen <strong>von</strong> General Windischgrätz in<br />

Wien (nämlich bei der Niederschlagung des<br />

österreichischen demokratischen Aufstands mit<br />

Massenhinrichtungen) ist das einzige Mittel, Österreich zu<br />

retten, und nach meiner Ansicht die Erschießung <strong>von</strong> Robert<br />

Blum, (ein Bündnisgenosse <strong>von</strong> <strong>Nägele</strong>), und vieler anderer,<br />

besonders der Kanaillen <strong>von</strong> Studenten, werden größten<br />

Effekt haben.“<br />

Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV seinerseits schrieb<br />

an einen Freund sinngemäß: „Die Abgeordneten der<br />

Paulskirche mit ihrem Angebot, Kaiser der deutschen<br />

Nation zu sein, wollen mich an das Hundehalsband der<br />

Volkssouveränität fesseln. Diese haben aber in Wahrheit<br />

überhaupt nichts anzubieten, wenn es etwas zu verhandeln


gibt, dann nur unter dem Adel. Gegen Demokraten helfen<br />

nur Soldaten.“<br />

Das Scheitern der Paulskirche kann durchaus als nationale<br />

Tragödie bezeichnet werden. Demokratisch gesinnte<br />

Menschen wie <strong>Ferdinand</strong> <strong>Nägele</strong> kamen nicht <strong>zum</strong> Zug, sie<br />

hatten wieder keine Chance, die Gesellschaft nachhaltig<br />

mitzugestalten, die demokratische Bewegung wurde nahezu<br />

zerschlagen.<br />

Schon 1815 mit dem Wiener Kongress erlitten<br />

demokratische und soziale Bestrebungen eine Niederlage,<br />

1848 erneut. Deutschland wurde durchgehend bis 1918<br />

autoritär geführt. Von diesem autoritären System hat es sich<br />

bis 1945 nicht erholt. Von Paula Bonhoeffer, der Mutter<br />

Dietrich Bonhoeffers ist der Satz überliefert: „In<br />

Deutschland werden den jungen Menschen zweimal das<br />

Rückgrat gebrochen: Einmal in der Schule und <strong>zum</strong> zweiten<br />

Mal beim Militär.“ Sie hat deshalb, solange es ging alle ihre<br />

Kinder privat unterrichtet. Der Blutzoll dieser<br />

demokratischen Familie und Verwandtschaft Bonhoeffers<br />

und vieler anderer Demokraten war wiederum groß.<br />

Und heute?<br />

Ich sags offen – ich traue dem Frieden nicht in dem wir<br />

heute leben, so gerne ich es tun würde. Mir fehlen viel zu<br />

viel Menschen im Geiste <strong>Nägele</strong>s. Sie können ja auch nicht<br />

unter uns sein – viele <strong>von</strong> ihnen überlebten schlicht nicht.<br />

Die Freiheit, Menschenrechte und die soziale Frage ist heute<br />

genauso ein bedrängendstes Problem nur – auf die ganze<br />

Welt bezogen. Heute regieren uns nicht mehr Könige und<br />

4<br />

Kaiser, dafür aber kapitalgewaltige Konzerne und Banken.<br />

Wie groß ist deren Interesse an Menschenrechten, an<br />

Freiheit, an Wohlfahrt für alle Bürger, an einer intakten<br />

Schöpfung? Hunger auf der Welt und soziales Elend müsste<br />

es nicht geben. Auch der Überbevölkerung wäre zu steuern.<br />

Man hat schlicht kein Interesse daran, dies alles zu ändern.<br />

Wir brauchen die <strong>Nägele</strong>s dringend, in der Politik und auch<br />

in der Kirche. Wie gerne hätte ich ihn einmal in einer<br />

Kirchengemeinderatssitzung erlebt, diesen brillanten,<br />

bodenständigen Menschen, der 29 Jahre lang<br />

Kirchenpfleger seiner Gemeinde war.<br />

Die Stadt Murrhardt kann eigentlich gar nicht anders, als<br />

noch sehr viel mehr über ihren Ehrenbürger in Erfahrung zu<br />

bringen. Sie ist geradezu verpflichtet diesem aufrichtigen<br />

Demokraten ein didaktisch einwandfrei aufbereitetes<br />

Zimmer in der vhs oder sonst wo einzurichten in dem<br />

Schüler und Konfirmanden seinen Lebensweg lebensnah im<br />

Kontext der Geschichte studieren können. Dies wäre ein<br />

Beitrag für praktische Friedenserziehung und praktische<br />

Einführung in eine demokratische Erziehung.<br />

Was <strong>Nägele</strong> lebte, ist ein urpraktisches Christentum.<br />

Der Mensch ist nie ein Mittel, sondern immer ein freies<br />

Subjekt, das allein seinem Schöpfer untersteht, und als<br />

solches zu achten. Dieser Schöpfer will nur eines: dass seine<br />

Geschöpfe ein Leben miteinander gestalten, das dem<br />

kostbarsten, das unser Leben auszeichnet entspricht:


Wir sind fühlende Wesen, einfühlsame Wesen. Dem hat<br />

jeder Mensch und ein Gemeinwesen Rechnung zu tragen.<br />

Das Kostbarste, das wir Menschen in uns tragen, ist das<br />

Gefühl der Liebe. Dieses Mitfühlende hat ein Gemeinwesen<br />

zu fördern, weil es ohne Mitfühlen kein soziales<br />

Miteinander gibt.<br />

<strong>Nägele</strong> war ein einfühlender Mann, er war ein tiefer,<br />

mitfühlender Menschenfreund. Er hat sein Murrhardt und<br />

seine Umgebung in seinen Anliegen und Sorgen vertreten.<br />

Er sagte: „Ich bin ein Mann aus dem Volk: ich hoffe mit<br />

ihm, fürchte mit ihm, leide und freue mich mit ihm.“<br />

<strong>Nägele</strong> lebte das Urgebot unseres Glaubens:<br />

„Du sollst den Herrn deinen Gott allein lieben, <strong>von</strong> ganzem<br />

Herzen und <strong>von</strong> ganzer Seele und <strong>von</strong> ganzem Gemüt. Dies<br />

ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem<br />

gleich: du sollst deinen Nächsten Mitmenschen lieben, wie<br />

dich selbst.“<br />

Murrhardt darf danken für diesen außergewöhnlichen Mann.<br />

Amen.<br />

5

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