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den Schützensteig vom Stuiben zur Reintalangerhütte und Kletterer<br />
bevorzugen das Oberreintal – genau auf der gegenüberliegenden Talseite.<br />
Natürlich kletterten Werner und Theo überwiegend technisch<br />
und benutzten die wildesten Holzkeil- und Hakenkonstruktionen,<br />
die meisten selbst gebastelt. Die Wand ist so steil, dass nach der zweiten<br />
Seillänge nur noch mit großen Mühen abgeseilt werden kann.<br />
»Burschen, da solltet ihr mal antreten, die Tour müsst ihr frei probieren«,<br />
rief Werner begeistert und schlug mit der flachen Hand in den<br />
Biersee, dass die Gischt nur so spritzte. Ich hatte größte Mühen, den<br />
Erzählungen noch halbwegs zu folgen, die Bierflaschen tanzten vor<br />
meinen Augen und mir wurde schlecht. Doch Werner war nicht mehr<br />
zu bremsen: »Also wenn ihr die Tour rotpunkt packt, das wäre mir<br />
ein Fass Bier wert.« Der einzige, der darauf noch reagierte, war Jim.<br />
Langsam hob er seinen Kopf, verdrehte die Augen, grinste breit und<br />
stammelte noch ein »saustark Werner«, bevor sein Kopf auf die Tischplatte<br />
zurückdonnerte. Ich ging nach draußen und übergab mich.<br />
Am nächsten Tag hatte Werner mit seinem Werben mehr Glück.<br />
Immerhin: ein Fass Bier bedeutete wieder ein Fest, und das lediglich<br />
für die freie Begehung einer Technoroute. Überheblich, wie man in<br />
diesem Alter eben ist, sollte das Fass bereits wenige Wochen später<br />
auf einer Weihnachtsfeier angezapft werden. Und so stapften Werner,<br />
Uli und ich kurz vor Weihnachten von der Stuibenhütte hinüber auf<br />
die Blassen-Südseite. Es lag nur wenig Schnee und die Sonne hatte<br />
den Fels auf angenehme Freiklettertemperaturen erwärmt. Beeindruckend<br />
steht dieser mächtige Pfeiler über dem Reintal und wie stark<br />
er überhängt, erkannten wir erst am Einstieg. Keine Wolke war am<br />
Himmel zu entdecken, strahlendblau leuchtete der Himmel, kein<br />
Lufthauch war zu spüren. Es herrschte die Ruhe, die nur der Winter<br />
schenkt, der Schnee dämpfte die Geräusche und wir saßen im T-Shirt<br />
am Einstieg und blickten hinüber in das kalte, schattige Oberreintal.<br />
Es hätte ein wunderschöner Tag werden können, wenn nicht der Weg<br />
zum Fass über diesen Pfeiler geführt hätte. Es ist schon immer wieder<br />
erstaunlich, wie sich der verbale Hochleistungsklettersport im Wirts-<br />
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haus von der steinigen Realität unterscheidet.<br />
»Auf geht’s Jungs, jetzt bin ich mal gespannt«, feuerte Werner uns<br />
an. Diesen Elan bringt man auch nur auf, wenn man selbst nicht<br />
mitmachen muss, dachte ich mir, während ich mich mit Rocks und<br />
Friends nur so behängte. Rausgeputzt wie ein Weihnachtsbaum kurz<br />
vor der Bescherung torkelte ich die wenigen Schritte zum Einstieg<br />
hinüber. Die erste Zwischensicherung war ein vermoderter Holzkeil,<br />
die zweite ein Messerhaken, den ich von Hand herausziehen konnte,<br />
im dritten Haken saß ich bereits drin. »Nur mal abchecken«, rief ich<br />
Werner beruhigend hinunter. Während die Jungs unten im Tal das<br />
Fest vorbereiteten und das Fass Bier fest eingeplant hatten, wagte<br />
ich mich an meinem Gurkenhaken kaum zu bewegen. Mühsam und<br />
unendlich langsam rettete ich mich von Haken zu Haken, stets mit<br />
der festen Überzeugung, dass ich alle Sicherungen bei einem Sturz<br />
rausreißen und auf dem Boden aufschlagen würde. Werner konnte<br />
ich schon lange nicht mehr beruhigen, er hatte bereits am dritten<br />
Haken seine hohe Meinung von uns wilden Freikletterern geändert.<br />
Endlich erreichte ich den Standplatz und hoffte inständig, dass<br />
Werner endlich absteigen würde. Ich hätte sofort abgeseilt, sobald<br />
er außer Sichtweite gewesen wäre. Aber er blieb am Einstieg sitzen<br />
und beobachtete uns bis zur dritten Seillänge, der »Seillänge ohne<br />
Wiederkehr«. Dann packte er seinen Rucksack, wünschte uns noch<br />
viel Spaß und verschwand um eine Felsnase. Toll, dachten wir, jetzt<br />
müssen wir diese Hakenrasselei auch noch durchziehen. Das Fass war<br />
längst vergessen, jeglicher Gedanke ans Freiklettern sowieso. In der<br />
fünften Seillänge war es sogar soweit, dass wir jede freie Bewegung<br />
mit einem »Vorsicht free move« beim Sichernden ankündigten. Wir<br />
bewegten uns durch die Wand, als führten wir einen Elefanten durch<br />
einen Porzellanladen.<br />
Es war schon lange dunkel, als wir die Stuibenhütte erreichten. Sieglinde,<br />
die Hüttenwirtin, versorgte uns geschlagene Krieger mit Jägertee.<br />
Schon der dritte Becher legte einen beruhigenden Schleier über<br />
unsere Enttäuschung, der fünfte brachte die Erkenntnis, dass die Tour<br />
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