langer Vokal
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Prof. Dr. Peter Gallmann Jena, Winter 2013/14<br />
Die Langvokale und ihre Äquivalente<br />
Gesprochene Sprache: Über den ganzen beobachtbaren Zeitraum der Entwicklung des Deutschen<br />
lassen sich Tendenzen ausmachen, Länge und Kürze der <strong>Vokal</strong>e von einem autonomen<br />
zu einem kontextabhängigen Merkmal zu machen. Für die geschriebene Sprache bedeutet<br />
dies, dass in der Schreibung auf die Kennzeichnung der <strong>Vokal</strong>länge verzichtet werden kann,<br />
wenn der Kontext hinreichend eindeutig ist. Zwei Faktoren lassen sich beobachten:<br />
<br />
<br />
die Silbenstruktur: offen vs. geschlossen (so bei Zweisilblern; bei Einsilblern: einzelner<br />
vs. mehrere Konsonanten im Silbenauslaut). Tendenz:<br />
offene Silbe ↔ <strong>langer</strong> <strong>Vokal</strong> || geschlossene Silbe ↔ kurzer <strong>Vokal</strong><br />
die Stärke von Obstruenten, einigermaßen varietätenneutral formulierbar als Fortis vs.<br />
Lenis (ein Oberbegriff für Oppositionen wie stimmhaft/stimmlos, aber auch neutral/aspiriert,<br />
einfach/geminiert und dergleichen). Tendenz:<br />
Lenis ↔ <strong>langer</strong> <strong>Vokal</strong> || Fortis ↔ kurzer <strong>Vokal</strong><br />
Diese beiden Faktoren haben sich auch gegenseitig beeinflusst. So dürfte aus der Sprachgeschichte<br />
der Wandel »Dehnung vor Lenis in offener Silbe« bekannt sein. Er trat in zweisilbigen<br />
Wörtern auf, zum Beispiel:<br />
(1) a. Räder, Faden, Besen, Gläser, sieben, oben, Wagen; nehmen, fahren, stehlen<br />
b. Außerdem vor einfachem [t]: treten, Bote<br />
Im Mitteldeutschen wurde die Dehnung auch auf einsilbige Wortformen desselben Paradigmas<br />
ausgedehnt (ausgenommen 2./3. Person bestimmter starker Verben). Der Wandel hat eine<br />
Art Stammprinzip der gesprochenen Sprache als Grundlage. (Das Stimmprinzip ist kein<br />
Alleinstellungsmerkmal der geschriebenen Sprache, es wird dort nur tendenziell etwas höher<br />
gewichtet.)<br />
(2) a. Rad, Stab, Glas; du fährst, er stiehlt<br />
b. Aber bei einigen hochfrequenten Verbformen: du nimmst, er tritt …<br />
Im Niederdeutschen hielt sich teilweise die Kürze in einsilbigen Formen; Glas reimt sich dort<br />
mit Fass, Trab mit schlapp, Tag mit Dach. Aus systemlinguistischer Sicht handelt es sich um<br />
einen Merkwürdigkeit, dass im nominalen Bereich nur gerade bei einem einzigen Lexem ein<br />
Wechsel von Kürze und Länge nach niederdeutscher Art zum Standard geworden ist (nicht<br />
ganz strikt). Es liegt also eine standardsprachliche Inkonsistenz vor:<br />
(3) ‹Stadt› [ʃtat] – ‹Städte› ['ʃtɛ:tə], als Nebenform aber auch ['ʃtɛtə]<br />
Umgekehrt besteht im Mitteldeutschen die Tendenz, nach Langvokal und Diphthong zu lenisieren,<br />
so dass beispielsweise beweisen und werweißen in Bezug auf den s-Laut gleich gesprochen<br />
werden (vgl. entsprechende Schreibfehler bei Google, Ende Oktober 2006: 42.000<br />
Belege für beweißen, 1260 für werweisen; außerdem 31.700 Belege für Art und Weiße oder<br />
Art und Weisse). Siehe auch das Papier zur Verdoppelung der Konsonantenbuchstaben und<br />
die Papiere zur s-Schreibung.<br />
Lassen wir alles Regionale. Auch in der Standardsprache lässt sich die <strong>Vokal</strong>quantität aus<br />
dem lautlichen Kontext weitgehend vorhersagen. Dies gilt auch, wenn man von der geschriebenen<br />
Standardsprache ausgeht: Aus der Schreibung lässt sich die <strong>Vokal</strong>quantität der gesprochenen<br />
Sprache weitestgehend rekonstruieren. Dazu tragen auch die Regeln für die Verdoppelung<br />
der Konsontenbuchstaben bei.
Die Langvokale und ihre Äquivalente 2<br />
Langvokale: Regeln, Unterregeln und Einzelfestlegungen<br />
Wörter deutscher Herkunft<br />
Grundregel: Ein Langvokal der gesprochenen Sprache wird durch einen einfachen <strong>Vokal</strong>buchstaben<br />
wiedergegeben: leben, trösten, Hof, Fluch, hupen, träge, rot, wo, wer<br />
Bei den folgenden Unterregeln rangieren diejenigen für [i:] vor den übrigen.<br />
Unterregel 1: Für [i:] steht ‹ie›: sieben, liegen, dienen, ziemlich, Tier, Knie, sie, nie …<br />
Abweichende Einzelfestlegungen: selten, aber teilweise Grundwortschatz<br />
und Homonymie:<br />
– Nur Pronomen mit ‹ih› (geschlossene Liste): ihm, ihn, ihnen, ihr, ihre …<br />
– Einzelfälle mit ‹ieh› (geschlossene Liste): Vieh, fliehen, ziehen, wiehern<br />
– Mit einfachem ‹i› (geschlossene Liste): mir, dir, wir<br />
– Mit einfachem ‹i› (offene Liste): Biber, Lid, wider …<br />
Unterunterregel 1.1, Stammprinzip: ‹eh›, ‹eih› → ‹ieh›: sieht, lieh, empfiehlt …<br />
Unterregel 2: Silbentrennendes ‹h› im Stamm von Nomen, Verb, Adjektiv: Mühe, Reh,<br />
gehen, ruhen, nah, froh …<br />
Abweichende Einzelfestlegungen:<br />
– Unerwartet ohne ‹h› (sehr selten): Böe, säen<br />
– Unerwartet ohne ‹h›, stattdessen Verdoppelung (selten): See, Klee<br />
– Unerwartet mit ‹h› bei [aɪ]: Reihe, Weiher, verzeihen …<br />
Unechte Unterregel 3: Langvokal vor einfachem Sonorant im Stamm von Nomen, Verb,<br />
Adjektiv → Dehnungs-‹h› in etwa 50 Prozent der in Frage kommenden Fälle; alles Einzelfestlegungen:<br />
– Nach Grundregel (zahlreich): Tal, Span, Düne; spüren; bequem …<br />
– Mit Dehnungs-‹h› (zahlreich): Zahl, Zahn, Bühne; fühlen; zahm …<br />
– Mit Verdoppelung (selten): Saal, Heer, Meer, Paar, Moor …<br />
– Unerwartet mit ‹h›, obwohl nicht Nomen, Verb, Adj. (selten): mehr, sehr, ohne<br />
– Unerwartet mit ‹h›, obwohl kein Sonorant folgt (selten): Draht, Fehde<br />
– Unerwartet mit ‹h›, obwohl Konsonantengruppe folgt (selten): ahnden, fahnden<br />
Restgruppe 4: andere Einzelfestlegungen mit Verdoppelung des <strong>Vokal</strong>buchstabens (geschlossene<br />
Liste, einigermaßen überblickbare Anzahl): Waage, Staat, Beet, Moos …<br />
Fremdwörter<br />
Regel plus Unterregel: keine Dehnungsbezeichnung außer bei -ie, -ier, -ieren und -ee:<br />
Titel, Thema, Maschine, universal, Tabu, Klo …<br />
Fantasie, Kassier, stagnieren …; Allee, Komitee, Püree …<br />
Abweichende Einzelfestlegungen bei englischen und französischen Fremdwörtern:<br />
Beat, Leader, Toast, Juice …; Faible, Pâte, Niveau …<br />
Vampir, Souvenir, Abbé, Soirée …
Die Langvokale und ihre Äquivalente 3<br />
Kommentar<br />
Das Zusammenwirken von Regeln und Unterregeln kann oft mit dem Spezifizitätsprinzip<br />
erfasst werden: Spezifische Regeln rangieren vor unspezifischen. Beispiel: Eine Regel,<br />
die Langvokale im Allgemeinen betritt, ist weniger spezifisch als eine, die nur gerade<br />
[i:] betrifft. Bei der Schreibung eines Wortes wie [tsi:l] ist daher nicht die unspezifische<br />
Regel (→ ‹Zil›), sondern die spezifische (→ ‹Ziel›) zu wählen. Einzelfestlegungen sind<br />
besonders spezifische Regeln (»singuläre Regeln«) und rangieren daher ganz hoch.<br />
Aus dem Regelkasten lässt sich ableiten: keine Dehnungsbezeichnung vor Obstruenten<br />
(Plosiven, Frikativen):<br />
(4) a. Steg, fragen, träge, genug; Hof, rot …<br />
b. Ausnahmen (Exoten): Fehde, Draht; → (15), (16)<br />
<br />
Stummes ‹h› (Oberbegriff): Silbentrennendes h ↔ Dehnungs-h<br />
(5) a. Silbentrennend, regelhaft: stehen, drohen, bejahen, Truhe, nah, froh …<br />
b. Dehnung, Einzelfälle: Stahl, Huhn, fühlen, zahm …<br />
Das silbentrennende ‹h› kommt bei der Trennung auf die untere Zeile (→ also offenbar<br />
keine funktionale Einheit mit dem <strong>Vokal</strong>):<br />
(6) dre-hen, nä-her, gedei-hen<br />
Beide Arten von stummem ‹h› sind sensitiv auf Wortart und Wortstruktur (nur Stämme<br />
von Nomen, Verben, Adjektiven). Daher ohne ‹h›:<br />
(7) a. ja, da, wo, zu ↔ nah, froh, Kuh<br />
b. her, vor, denen ↔ hehr, dehnen<br />
c. Schicksal, seltsam, kostbar; uralt ↔ Bahre, Uhr<br />
(8) Ausnahmen zu (7 b), vgl. auch (15): mehr, sehr, ohne, (währen →) während<br />
Funktionswörter wie Präpositionen und Pronomen weisen überhaupt oft »Sparschreibungen«<br />
auf; siehe auch Papier zur Konsonantenverdoppelung.<br />
Dehnungs-‹h›: Mit Unterregeln oder besser Unterfaustregeln lässt sich eine etwas höhere<br />
Trefferquote erzielen. Zum Beispiel:<br />
Wörter, die mit sch- beginnen, haben kein Dehnungs-h:<br />
(9) a. schön, Scham, Schal, Schere, schwer<br />
b. Aber silbentrennendes h: Schuh, geschehen<br />
Zu bedenken: großer Lernaufwand, geringer Nutzen und fragliche Nachhaltigkeit.<br />
<br />
Diphthonge haben kein silbentrennendes ‹h›:<br />
(10) a. bauen, schauen; Bauer, Klaue …; seit 1996 auch: rau<br />
b. freuen; neu, scheu; Heu …<br />
c. schreien, speien, prophezeien; frei, Geier, Schleier …<br />
Aber Abweichungen bei [aɪ]; siehe auch oben, Regel 2:<br />
(11) leihen, verzeihen, gedeihen, weihen; Reihe, Weiher …
Die Langvokale und ihre Äquivalente 4<br />
Es gibt zwei Gründe für das Auftreten von ‹ieh›: einerseits regelhaft nach dem Stammprinzip,<br />
andererseits vier Einzelfestlegungen:<br />
(12) a. sehen → du siehst; gedeihen → es gedieh; stehlen → er stiehlt<br />
b. Vieh, wiehern, ziehen, fliehen<br />
Zu den Formen nach dem Stammprinzip: Die Ausgangsformen selbst sind unterschiedlich<br />
regelhaft! Siehe → (5), (11).<br />
Verdoppelung von <strong>Vokal</strong>buchstaben erscheinen in drei Kontexten (alles Einzelfestlegungen,<br />
also irregulär):<br />
(13) a. Statt silbentrennendem ‹h›: See, Klee, Armee …<br />
b. Vor einfachem Sonorant: Haar, Paar, Teer, Speer, Beere, Moor; Saal, Seele,<br />
scheel, krakeelen; zusätzlich nach Homonymieprinzip: Meer, Heer, leer<br />
c. Ganz irregulär, teilweise Homonymieprinzip: Beet, Reede, Saat, Staat, Waage,<br />
Boot, Moos<br />
<br />
Keine Verdoppelung bei Umlauten – auch gegen das Stammprinzip (im Regelkasten nicht<br />
aufgeführt):<br />
(14) Paar → Pärchen; Saal → Sälchen; Boot → Bötchen<br />
Offene und geschlossene Listen unterscheiden; bei den geschlossenen Listen insbesondere<br />
diejenigen mit überblickbar wenigen Elementen beachten, zum Beispiel:<br />
(15) a. mir, dir, wir<br />
b. ihr, ihm, ihn, ihnen<br />
c. mehr, sehr, ohne, während<br />
d. Draht, Fehde; → (16)<br />
e. ahnden, fahnden (auch Ausnahmen in der Aussprache)<br />
Lehrkräfte: Zentrum und Peripherie unterscheiden. Keine Zeit für Exoten verschwenden;<br />
entsprechende Fehler niedrig gewichten (oder gar nicht anrechnen).<br />
(16) Fehde, verfemt, Fiber, Ihle …<br />
Zum Zentrum gehören insbesondere Funktionswörter; → (7).<br />
<br />
Unterscheidung von Wörtern deutscher und fremder Herkunft ist ohne Hintergrundwissen<br />
zuweilen schwierig (Wandel vom Fremd- zum Lehnwort):<br />
(17) a. Wiese vs. Krise<br />
b. Schiene vs. Maschine<br />
b. verzeihen vs. prophezeien<br />
Fachliteratur<br />
Zum Zusammenhang von <strong>Vokal</strong>quantität und Silbenstruktur:<br />
Seiler, Guido / Würth, Katrin (2012): Monosyllabic Lengthening in German and its relation<br />
to the syllable vs. word language typology. In: Reina, Javier Caro / Szczepaniak,<br />
Renata (eds.): Phonological Typology of Syllable and Word Languages in Theory and<br />
Practice. Berlin / New York: De Gruyter (Linguae et litterae).