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Im Bereich der Medizin dürfte es nur wenige Begriffe ... - pharma4u

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Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

NATÜRLICH NATUR?<br />

KRITISCHE ANMERKUNGEN<br />

ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

<strong>Im</strong> <strong>Bereich</strong> <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> <strong>dürfte</strong> <strong>es</strong> <strong>nur</strong> <strong>wenige</strong> <strong>Begriffe</strong> geben, die gleichermaßen<br />

so umstritten und bekannt sind wie di<strong>es</strong> für das Wort »Naturheilkunde«<br />

zutrifft. Das belegen zahlreiche einschlägige Publikationen ebenso<br />

wie zum Beispiel <strong>der</strong> unter Wissenschaftlern immer wie<strong>der</strong> ausbrechende<br />

Streit um Wert bzw. Unwert <strong>der</strong> Homöopathie. Über aller wissenschaftlichen<br />

und fachlichen Diskussion dürfen wir jedoch nicht den Bedeutungsinhalt<br />

verg<strong>es</strong>sen, den »Naturheilkunde« im Bewusstsein <strong>der</strong> breiten Öffentlichkeit<br />

b<strong>es</strong>itzt und <strong>der</strong> sich in zahlreichen populären G<strong>es</strong>undheitsratgebern und den<br />

Anschauungen vieler »alternativer« Heilmethoden wi<strong>der</strong>spiegelt.<br />

Di<strong>es</strong>er letztgenannte Punkt soll im Zentrum <strong>der</strong> nachfolgenden kritischen<br />

Ausführungen stehen, die sich mit Aspekten <strong>der</strong> medikamentösen<br />

Naturheilkunde aus Sicht <strong>der</strong> täglichen Apothekenpraxis befassen. Daraus<br />

folgt logischerweise, dass hier nicht wissenschaftliche Untersuchungen einzelner<br />

Verfahren darg<strong>es</strong>tellt, son<strong>der</strong>n anhand typischer Beispiele weit verbreitete<br />

Vorstellungen ang<strong>es</strong>prochen werden, die direkt o<strong>der</strong> indirekt mit jenem<br />

Komplex zusammenhängen, den die meisten Laien als »Naturheilkunde«,<br />

»Alternativmedizin«, »sanfte <strong>Medizin</strong>«, »Ganzheitsmedizin« o<strong>der</strong> mit<br />

ähnlichen <strong>Begriffe</strong>n bezeichnen.<br />

VIER GRUNDVORAUSSETZUNGEN<br />

Dabei wird <strong>es</strong> sich nicht verhin<strong>der</strong>n lassen, dass wir uns immer wie<strong>der</strong> thematisch<br />

in <strong>Bereich</strong>en bewegen, <strong>der</strong>en Wissenschaftlichkeit und Seriosität<br />

sehr kritisch betrachtet werden muss. Zudem nähern wir uns in einigen Fällen<br />

dem Emotionen sehr gut zugänglichen Grenzgebiet zwischen Wissen,<br />

Glauben und Wünschen. D<strong>es</strong>halb sind zur Vermeidung von Missverständnissen<br />

vier grundsätzliche Vorbemerkungen nötig, <strong>der</strong>en Akzeptanz für eine<br />

sinnvolle Diskussion als Standortb<strong>es</strong>timmung vorausg<strong>es</strong>etzt werden muss:<br />

1. Je<strong>der</strong> hat selbstverständlich das unbenommene Recht, zu glauben, was er<br />

glauben möchte. Er hat aber nicht das intellektuelle Recht, seine Glau-<br />

• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

benssätze unbewi<strong>es</strong>en als allgemeingültig o<strong>der</strong> als wissenschaftlich begründet<br />

darzustellen.<br />

2. Eine Anschauung, die den Anspruch <strong>der</strong> Allgemeingültigkeit o<strong>der</strong> Wissenschaftlichkeit<br />

erhebt, muss sich mit den allgemein anerkannten Regeln<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft und <strong>der</strong> Logik m<strong>es</strong>sen lassen, solange sie nicht <strong>der</strong>en<br />

Fehlerhaftigkeit nachweist.<br />

3. B<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Biologie und <strong>Medizin</strong> kann aus Einzelfällen in <strong>der</strong> Regel<br />

kein allgemeingültiger Schluss gezogen werden.<br />

4. Die Zahl <strong>der</strong> Anhänger einer Anschauung sagt nichts über die Richtigkeit<br />

o<strong>der</strong> Unrichtigkeit di<strong>es</strong>er Anschauung aus. Demokratische Mehrheitsentscheidungen<br />

sind auf die Beurteilung von Naturg<strong>es</strong>etzen nicht übertragbar<br />

und medieng<strong>es</strong>tützte Meinungsbeeinflussung darf sich nicht auf sie<br />

auswirken.<br />

Lei<strong>der</strong> gibt <strong>es</strong> zumind<strong>es</strong>t aber noch eine weitere Quelle für Missverständnisse,<br />

denn die kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit »<strong>der</strong>« Naturheilkunde<br />

stößt sehr oft auf ein grundsätzlich<strong>es</strong> Problem: das Fehlen einer verbindlichen<br />

und allgemein – bei Gegnern wie Befürwortern – akzeptierten Definition,<br />

mit <strong>der</strong>en Hilfe eine objektive Zuordnung <strong>der</strong> einzelnen, im Ansatz<br />

oftmals grundverschiedenen Therapieverfahren möglich würde. Genau genommen<br />

lässt sich <strong>der</strong> Begriff, so wie er von <strong>der</strong> breiten Masse momentan<br />

verstanden und von den Medien häufig propagiert wird, <strong>nur</strong> negativ definieren,<br />

etwa mit <strong>der</strong> Formulierung:<br />

Unter Naturheilkunde versteht man alle Therapieverfahren, die sich<br />

selbst nicht <strong>der</strong> sogenannten »Schulmedizin« zurechnen o<strong>der</strong> von di<strong>es</strong>er abgelehnt<br />

werden.<br />

Eine solche Aussage, denn von Definition können wir hier nicht ernsthaft<br />

sprechen, geht jedoch nicht über die banale Formulierung ein<strong>es</strong> vagen<br />

Ist-Zustand<strong>es</strong> hinaus, bietet an<strong>der</strong>erseits aber gerade obskuren Außenseiterverfahren<br />

die Möglichkeit, sich werbewirksam selbst <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

hoch g<strong>es</strong>chätzten Naturheilkunde zuzurechnen.<br />

An<strong>der</strong>erseits helfen Definitionen, wie wir sie in den klassischen Wörterbüchern<br />

und Lexika <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> finden zur Klärung <strong>der</strong> hier inter<strong>es</strong>sierenden<br />

Fragen auch nicht sehr viel weiter. Sie beziehen sich zumeist allein auf<br />

das Ansprechen und Nutzen natürlicher Reize und spannen damit das Auswahlkriterium<br />

<strong>der</strong>art weit, dass praktisch alle therapeutischen Verfahren<br />

hierunter zu zählen wären, denn an irgendeiner Stelle jeden physiologischen<br />

Ablaufs spielen Reizwirkungen zwangsläufig eine Rolle.


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

»NATURHEILKUNDE« – EINE FRAGE DES STANDORTES<br />

Je nach dem Blickwinkel werden <strong>der</strong> Naturheilkunde im Alltag also Verfahren<br />

zugeordnet, die sich methodisch und im theoretischen Ansatz sehr stark<br />

unterscheiden können. Dabei zeigt sich auch, dass bei <strong>der</strong> Einschätzung di<strong>es</strong>er<br />

Zuordnung zwischen Laien und Fachleuten häufig prinzipielle Verständnisunterschiede<br />

b<strong>es</strong>tehen.<br />

Sieht <strong>der</strong> unvoreingenommene <strong>Medizin</strong>er in <strong>der</strong> Naturheilkunde eine<br />

durchaus vielg<strong>es</strong>taltige Therapierichtung, die durch Ansprechen natürlicher<br />

Reize ihre Heilerfolge zu erzielen sucht, so wird <strong>der</strong> Laie zumeist die Behandlung<br />

mit natürlichen Mitteln – was immer er im Einzelfall darunter<br />

verstehen mag – als typisch<strong>es</strong> Merkmal vermuten.<br />

Dabei umschreibt <strong>der</strong> Begriff »natürlich« in beiden Formulierungen nicht<br />

den gleichen Sachverhalt. »Natürliche Reize« meint körpereigene Reize im<br />

Sinne <strong>der</strong> hippokratischen »physis«, <strong>der</strong>en Anregung o<strong>der</strong> Manipulation<br />

durchaus auch mit nicht von <strong>der</strong> Natur unmittelbar vorgegebenen Stoffen<br />

o<strong>der</strong> Mitteln erfolgen kann, wie di<strong>es</strong> zum Beispiel bei <strong>der</strong> Neuraltherapie<br />

mit dem Einsatz von Procain <strong>der</strong> Fall ist. »Natürliche Mittel« hingegen soll<br />

<strong>der</strong>en Ursprung aus den vom Menschen unabhängigen und weit<strong>es</strong>tgehend<br />

unbeeinflussten Naturgegebenheiten kennzeichnen.<br />

Bewusst o<strong>der</strong> unbewusst kommt dabei aber ein historisch entstanden<strong>es</strong>,<br />

sehr komplex<strong>es</strong> Naturbild zum Tragen, das auch durch starke weltanschaulich-irrationale<br />

Anteile gekennzeichnet ist, für die Rothschuh den Begriff<br />

»Naturismus« vorschlug. Je nachdem, ob in <strong>der</strong> umgebenden G<strong>es</strong>ellschaft<br />

gegenüber den angewandten Naturwissenschaften und <strong>der</strong> Technik Euphorie,<br />

Gleichgültigkeit o<strong>der</strong> Ablehnung b<strong>es</strong>teht, wird sich die meinungsb<strong>es</strong>timmende<br />

Naturvorstellung und ihre Einschätzung unterscheiden und<br />

wandeln.<br />

Deutlich zeigt sich di<strong>es</strong> momentan in einer Phase spürbarer Skepsis und<br />

durchaus verständlicher Verunsicherung auf den genannten Gebieten – als<br />

Stichworte seien <strong>nur</strong> Tschernobyl und AIDS angeführt –, in <strong>der</strong> weit verbreiteten,<br />

ebenso kompromisslosen wie falschen Beurteilung von Arzneimitteln,<br />

die unbeirrbar davon ausgeht, dass all<strong>es</strong> »Natürliche« g<strong>es</strong>und sei,<br />

während all<strong>es</strong> »Synthetische« – zumeist gleichg<strong>es</strong>etzt mit »chemisch« – giftig<br />

sein müsse. Je<strong>der</strong> Offizinapotheker hat hier für den Arzneimittelbereich<br />

genügend Beispiele selbst erlebt und musste vielleicht im Kundeng<strong>es</strong>präch<br />

auch schon f<strong>es</strong>tstellen, dass nicht einmal <strong>der</strong> dezente Hinweis auf die vielleicht<br />

doch nicht so wohltuende Heilkraft d<strong>es</strong> »ach so natürlichen und dazu<br />

auch noch grünen Knollenblätterpilz<strong>es</strong>« di<strong>es</strong>e naive Anschauung erschüttern<br />

kann.<br />

Eine ebenso unsinnige Polarisierung finden wir in dem vermeintlichen<br />

Gegensatzpaar »Naturheilkunde – Schulmedizin« wie<strong>der</strong>. Der Begriff <strong>der</strong><br />

sogenannten »Schulmedizin« wurde in den 80er-Jahren d<strong>es</strong> vergangenen<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts von streitbaren Anhängern außerschulischer medizinischer<br />

Verfahren in polemischer Absicht sehr g<strong>es</strong>chickt gebildet und hielt sich seit-<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

her als griffig<strong>es</strong> Schlagwort. Er übersieht aber, dass gerade die hippokratische<br />

<strong>Medizin</strong>, aus <strong>der</strong> sich die g<strong>es</strong>choltene spätere »Schulmedizin« entwickelte,<br />

reinste »Naturheilkunde« war.<br />

Di<strong>es</strong>e wird vom Laien heute in erster Linie gleichg<strong>es</strong>etzt mit <strong>der</strong> gefühlsmäßig<br />

auf die Teeanwendung reduzierten »Pflanzenheilkunde«, teilweise<br />

noch mit <strong>der</strong> durch den Namen Sebastian Kneipps repräsentierten, gut bekannten<br />

Hydrotherapie. Je nach augenblicklicher Mode können daneben<br />

allerdings noch eine ganze Reihe exotischer an<strong>der</strong>er Verfahren mehr o<strong>der</strong><br />

<strong>wenige</strong>r lang anhaltend<strong>es</strong> Inter<strong>es</strong>se finden.<br />

Häufig wird als typisch für die »Naturheilkunde« auch die Homöopathie<br />

genannt, wobei <strong>der</strong>en grundlegende Prinzipien, b<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Simile-Gedanke<br />

und die Wahl <strong>der</strong> Potenz-Stufe, bei Laien jedoch fast immer unbekannt<br />

sind o<strong>der</strong> zumind<strong>es</strong>t falsch eing<strong>es</strong>chätzt werden. »Homöopathie«<br />

wird vielmehr zumeist als Synonym für »Pflanzenheilkunde« missverstanden<br />

und darüber hinaus die zum Verständnis und b<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s zur Selbstmedikation<br />

nötige Unterscheidung zwischen allopathischer und homöopathischer<br />

Therapie mit allen ihren sich daraus ergebenden Folgerungen nicht vollzogen.<br />

Hier zeigt sich deutlich ein bemerkenswerter und wohl auch symptomatischer<br />

Vorgang, dass das oft weitgehende Vertrauen <strong>der</strong> Laien in b<strong>es</strong>timmte<br />

Heilverfahren bei genauer Betrachtung auf einem durch Unkenntnis<br />

hervorgerufenen Missverständnis beruht.<br />

Solche Irrtümer lassen sich sehr g<strong>es</strong>chickt för<strong>der</strong>n und durch den bewussten<br />

Einsatz emotionaler Versatzstücke umsatzsteigernd steuern. Die Bereitschaft<br />

zur kompromisslosen Ablehnung <strong>der</strong> sogenannten »Schulmedizin«<br />

und die pauschale Verdammung all<strong>es</strong> »Chemischen« wurden bereits ang<strong>es</strong>prochen.<br />

Die damit zusammenhängende Wirkung <strong>der</strong> Vorsilbe »Bio-«<br />

kann je<strong>der</strong> im Reformhaus und auf Wochenmärkten – nicht <strong>nur</strong> am Preis –<br />

selbst beobachten.<br />

Hinzu kommt die mediengerechte Vermarktung von Personen, denen<br />

nicht selten allein wegen ihrer Bekanntheit o<strong>der</strong> einschlägiger Filmrollen<br />

von <strong>der</strong> »Schwarzwaldklinik« bis zum »Bergdoktor« reale Kompetenz zug<strong>es</strong>chrieben<br />

und offenbar tatsächlich auch zugetraut wird, was zumind<strong>es</strong>t die<br />

Auflagenzahlen damit in Zusammenhang stehen<strong>der</strong> und sich als medizinische<br />

Ratgeber darstellen<strong>der</strong> Bücher vermuten lassen.<br />

GESCHICHTE ALS SCHEIN-ARGUMENT<br />

Parallel dazu hat sich während <strong>der</strong> letzten zwei Jahrzehnte noch ein weiterer<br />

Trend deutlich herausgebildet: die romantisierende Sehnsucht nach <strong>der</strong> vermeintlich<br />

guten alten Zeit. Man wird eine solche Haltung wohl <strong>nur</strong> als<br />

emotionale Flucht aus <strong>der</strong> als bedrohlich und selbstzerstörerisch empfundenen<br />

Gegenwart verstehen können, die r<strong>es</strong>ignierend in <strong>der</strong> <strong>nur</strong> unzureichend<br />

bekannten Vergangenheit eine utopische Alternative sucht und wunschgemäß<br />

findet.


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

Während heute vermutlich niemand mehr die hygienischen Ratschläge<br />

d<strong>es</strong> ausgehenden Mittelalters ernsthaft empfehlen o<strong>der</strong> sich freiwillig einer<br />

auch noch so romantischen Operation nach dem Standard <strong>der</strong> Barockzeit<br />

unterziehen wird, scheint <strong>der</strong> Laie überraschen<strong>der</strong>weise für das Gebiet <strong>der</strong><br />

Arzneimittel die Wahrscheinlichkeit einer Wissensoptimierung während <strong>der</strong><br />

seither verstrichenen Jahrhun<strong>der</strong>te als wenig wahrscheinlich anzusehen. Der<br />

objektiv überholte Wissensstand vergangener Epochen erzielt sogar wegen<br />

seiner langen Tradition noch ehrfürchtige Anerkennung, während mo<strong>der</strong>ne<br />

Erkenntnisse nicht selten argwöhnisch und pauschal in Frage g<strong>es</strong>tellt werden.<br />

Was man noch vor <strong>wenige</strong>n Jahren abwertend als »verstaubt« bezeichnet<br />

hätte, gilt nun häufig auf einmal als von »ehrwürdiger Patina« überzogen,<br />

durch die längst überholt geglaubte Vorstellungen aus <strong>der</strong> Mottenkiste<br />

<strong>der</strong> Wissenschaften unversehens wie<strong>der</strong> salonfähig werden.<br />

Ein typisch<strong>es</strong> Beispiel hierfür findet sich im B<strong>es</strong>tseller <strong>der</strong> G<strong>es</strong>undheitsratgeber,<br />

Maria Trebens »G<strong>es</strong>undheit aus <strong>der</strong> Apotheke Gott<strong>es</strong>«.<br />

Sie empfiehlt bei nachlassen<strong>der</strong> Sehkraft und sonstigen unspezifischen<br />

Sehschwierigkeiten, Schöllkrautsaft in die Augen zu träufeln und berichtet<br />

von guten Erfolgen mit di<strong>es</strong>er Methode. Der mit solchen Problemen behaftete<br />

Patient wird sicherlich einem <strong>der</strong>artigen Rat gerne folgen, zumal ihm<br />

die Anwendung ein<strong>es</strong> pflanzlichen Milchsaft<strong>es</strong> im Allgemeinen nicht gefährlich<br />

scheinen wird.<br />

Der <strong>Medizin</strong>er und Apotheker wird sich dafür inter<strong>es</strong>sieren, ob di<strong>es</strong>e<br />

Aussage richtig ist und, falls di<strong>es</strong> zutreffen sollte, warum eine solche Wirkung<br />

auftritt. Hier setzen aber die Probleme ein! In <strong>der</strong> nicht knappen wissenschaftlichen<br />

Literatur über das Schöllkraut findet sich kein Hinweis auf<br />

die gerade ang<strong>es</strong>prochene heilsame Wirkung. Ganz im Gegenteil weiß man,<br />

dass das in <strong>der</strong> Pflanze enthaltene Alkaloid Sanguinarin den Augeninnendruck<br />

erhöhen kann und d<strong>es</strong>halb bei Star-Erkrankungen absolut kontraindiziert<br />

ist. Wie kommt <strong>es</strong> nun aber dennoch zu <strong>der</strong> zitierten Aussage?<br />

Die Erklärung hierfür ist bisher <strong>nur</strong> historisch zu erbringen: Der im Jahre<br />

79 n. Chr. beim V<strong>es</strong>uvausbruch ums Leben gekommene Plinius – obwohl<br />

ursprünglich Offizier einer <strong>der</strong> einflussreichsten naturkundlichen Autoren<br />

<strong>der</strong> Antike – b<strong>es</strong>chreibt in seiner »Naturalis historia« neben zahlreichen an<strong>der</strong>en<br />

Pflanzen auch das Schöllkraut. Wie fast stets, so trug er auch hier alle<br />

Nachrichten zusammen, <strong>der</strong>er er habhaft werden konnte. So erwähnt er<br />

zum Beispiel bei <strong>der</strong> etymologischen Erklärung d<strong>es</strong> Namens »Chelidonium«<br />

– das griechische »chelidon« bedeutet »Schwalbe« – auch die Meinung mancher<br />

seiner Gewährsleute, <strong>der</strong> Name käme daher, dass Schwalben den<br />

Milchsaft di<strong>es</strong>er Pflanze ihren blind g<strong>es</strong>chlüpften Jungen in die Augen träufelten<br />

und di<strong>es</strong>e erst dadurch sehend würden. Und an einer an<strong>der</strong>en Stelle<br />

erwähnt er überdi<strong>es</strong> noch das Gerücht, dass eine solche Behandlungsmethode<br />

sogar bei ausg<strong>es</strong>tochenen Augen die Sehkraft wie<strong>der</strong>bringen würde.<br />

Di<strong>es</strong>e wahrlich spektakuläre Erzählung erregte immer wie<strong>der</strong> das Inter<strong>es</strong>se<br />

späterer unkritischer Kompilatoren. D<strong>es</strong>halb findet sich die davon leichtfertig<br />

hergeleitete, vermeintlich positive Wirkung auf die Sehkraft seither in<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

praktisch allen mittelalterlichen Kräuterbüchern wie<strong>der</strong>holt, <strong>der</strong>en stark<br />

meinungsbildende Aussagen zum größten Teil äußerst autoritätsgläubig auf<br />

die »alten Meister« <strong>der</strong> Antike zurückgehen. Und da eben di<strong>es</strong>e höchst populären,<br />

meist bebil<strong>der</strong>ten Kräuterbücher in den Familien wegen ihr<strong>es</strong> materiellen<br />

Wert<strong>es</strong> und ihrer praktischen Verwendungsmöglichkeit als »Doktorbuch«<br />

meist über mehrere Generationen aufbewahrt wurden, hat sich ihr<br />

Inhalt in vielen Fällen in <strong>der</strong> volkstümlichen Heilkunde und <strong>der</strong> so genannten<br />

»Hausväter-Literatur« nie<strong>der</strong>g<strong>es</strong>chlagen. So b<strong>es</strong>aßen solche Werke auch<br />

noch lange Zeit, nachdem sie von <strong>der</strong> Schulmedizin, aus <strong>der</strong> sie ja ursprünglich<br />

hervorgingen, bereits als überholt betrachtet wurden, meinungsbildende<br />

Wirkung bei Laien, zumal hier noch ein emotionaler Effekt zum<br />

Tragen kam: Dem Buch, nach dem von den eigenen Vorfahren schon kuriert<br />

wurde, vertraute man verständlicherweise fast vorbehaltlos.<br />

Dennoch sollte man bei aller notwendigen Kritik nicht übersehen, dass<br />

natürlich durch die lange Zeit <strong>der</strong> volksmedizinischen Anwendung b<strong>es</strong>timmter<br />

Heilpflanzen ein großer Erfahrungsschatz ang<strong>es</strong>ammelt wurde,<br />

<strong>der</strong> – sollte er im täglichen Leben wirklich b<strong>es</strong>tehen – sich bei weitem nicht<br />

<strong>nur</strong> aus unsinnigen Behauptungen zusammensetzen konnte.<br />

PHYTOTHERAPIE UND PFLANZENHEILKUNDE<br />

Betrachten wir d<strong>es</strong>halb die ang<strong>es</strong>prochene Pflanzenheilkunde als eine <strong>der</strong><br />

wichtigsten Therapieformen <strong>der</strong> Naturheilkunde etwas näher.<br />

Hierzu müssen wir unterscheiden zwischen <strong>der</strong> Phytotherapie, <strong>der</strong>en Vertreter<br />

seit geraumer Zeit daran arbeiten, die Kenntnis über die Einsatzmöglichkeiten<br />

und Wirkungen <strong>der</strong> Arzneipflanzen mit wissenschaftlichen Methoden<br />

zu untersuchen und die so gewonnenen Ergebnisse als Grundlage<br />

weiterer g<strong>es</strong>icherter Anwendung darzustellen, und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong><br />

volkstümlichen Pflanzenheilkunde, <strong>der</strong>en Praktiken in erster Linie historisch-empirisch<br />

begründet sind und nicht selten noch irrationale Anschauungen<br />

weiterschleppen, ohne zumeist <strong>der</strong>en Berechtigung o<strong>der</strong> Ursprung<br />

beurteilen zu können, g<strong>es</strong>chweige denn kritisch Sinnvoll-Nützlich<strong>es</strong> von inhaltslos<br />

Tradiertem zu trennen.<br />

D<strong>es</strong>halb muss eine kritische Bewertung neben <strong>der</strong> Beantwortung naturwissenschaftlicher<br />

Fragen auch eine terminologische Beurteilung enthalten,<br />

denn Unsicherheiten bei den Krankheitsbezeichnungen und bei manchen<br />

Drogennamen machen deutlich, wie vorsichtig und fachkundig eine<br />

Deutung vorgenommen werden muss. B<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s <strong>der</strong> im Spätmittelalter<br />

vielgebrauchte medizinische Terminus »Krebs« muss quasi »differentialdiagnostisch«<br />

aus dem textlichen G<strong>es</strong>amtzusammenhang heraus beurteilt<br />

werden. Aus <strong>der</strong> Wortgleichheit automatisch auf eine Bedeutungsgleichheit<br />

mit dem mo<strong>der</strong>nen Begriff zu schließen, ist kein<strong>es</strong>falls erlaubt, wie<br />

wir noch an einem weiteren Beispiel aus <strong>der</strong> Schrift Maria Trebens sehen<br />

werden.


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Ebenso trägt die häufig sehr umfangreiche »Indikationslyrik« <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

kein<strong>es</strong>wegs zu größerer Klarheit bei, zumal ihre Aussagen nicht unbedingt<br />

und ausschließlich als Schil<strong>der</strong>ung realer medizinischer Erfahrungen<br />

ang<strong>es</strong>ehen werden dürfen. Die oftmals untrennbare Verknüpfung von<br />

praktischer Heilkunde und philosophisch begründeter Vorstellung muss bei<br />

allen Texten zumind<strong>es</strong>t bis zum Anfang d<strong>es</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts in Betracht gezogen<br />

werden. Humoralpathologische Anschauungen auf <strong>der</strong> Basis unvollständiger<br />

o<strong>der</strong> irriger anatomischer und physiologischer Vorstellungen spielen<br />

ebenso eine sehr b<strong>es</strong>timmende Rolle wie die spekulative und teilweise<br />

spektakuläre Signaturenlehre, von <strong>der</strong> man sich durch Analogiedenken zum<br />

Beispiel Aufschluss über die gottb<strong>es</strong>timmte Indikation einer Heilpflanze erhoffte.<br />

Es erscheint dabei bemerkenswert, dass sich gerade die grundlegende Annahme<br />

<strong>der</strong> Signaturenlehre, nämlich das Wirken einer das g<strong>es</strong>amte Universum<br />

durchziehenden magischen Verwandtschaft zwischen allen Erscheinungen<br />

und Dingen, in verschiedenen »holistischen« Anschauungen <strong>der</strong> »New<br />

Age«-Gegenwart wie<strong>der</strong> findet. Ebenso sollte nicht unerwähnt bleiben, dass<br />

sich b<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> anthroposophischen <strong>Medizin</strong> deutliche Relikte di<strong>es</strong>er<br />

ebenso anschaulichen wie falschen Vorstellung finden.<br />

Wie können aber historische Aussagen dann heute überhaupt noch sinnvoll<br />

verwertet werden?<br />

Nicht im Sinne einer statistischen Auswertung von Merkmalsnennungen<br />

in <strong>der</strong> Literatur, auch wenn sich nach vielfältigen G<strong>es</strong>ichtspunkten Tabellen<br />

konstruieren lassen; son<strong>der</strong>n durch vergleichende Textkritik als Nachweis<br />

<strong>der</strong> Originalität, <strong>der</strong> tatsächlichen Verbreitung und Häufigkeit von Erfahrungsaussagen!<br />

Es muss berücksichtigt werden, dass zu allen Zeiten das Plagiieren<br />

o<strong>der</strong> offene Aufnehmen renommierter Texte bei Autoren üblicher<br />

und weit verbreiteter Brauch war, wodurch zwar die Verbreitung einer Aussage,<br />

kein<strong>es</strong>wegs aber <strong>der</strong>en Wahrheitsgehalt steigt.<br />

Viele medizinische Texte <strong>der</strong> Materia medica d<strong>es</strong> Spätmittelalters und <strong>der</strong><br />

frühen Neuzeit stellen <strong>nur</strong> leicht bearbeitete Neufassungen o<strong>der</strong> Kompilationen<br />

früherer, zumeist auf antike Vorlagen zurückgehen<strong>der</strong> Werke dar. Die<br />

»Buchgelehrsamkeit« und die »Buchgläubigkeit« – übrigens beileibe kein<br />

Problem <strong>nur</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit – führten häufig dazu, dass gerade im 16.<br />

und 17. Jahrhun<strong>der</strong>t eigene, über das tradierte antike Wissen hinausgehende<br />

o<strong>der</strong> gar ihm wi<strong>der</strong>sprechende Erfahrungen <strong>nur</strong> sehr langsam Eingang in die<br />

Literatur fanden. Als unantastbare Gewährsmänner, <strong>der</strong>en wissenschaftlicher<br />

Ruf durch die Jahrhun<strong>der</strong>te ung<strong>es</strong>chmälert blieb, erscheinen bei solchen<br />

Textanalysen immer wie<strong>der</strong> Dioskurid<strong>es</strong> und Plinius und b<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s bei Letzterem<br />

steht – wie am Beispiel d<strong>es</strong> Schöllkrauts bereits belegt – <strong>der</strong> scholastisch<br />

anmutende Drang nach Vollständigkeit eindeutig über <strong>der</strong> wünschenswerten<br />

und notwendigen Kritikfähigkeit bzw. Kritikbereitschaft.<br />

Das bloße Abzählen <strong>der</strong> Erwähnung ein<strong>es</strong> b<strong>es</strong>timmten Merkmals in <strong>der</strong><br />

Literatur führt hier also zu falschen Ergebnissen. Vielmehr muss vorrangig<br />

die Abhängigkeit o<strong>der</strong> Eigenständigkeit ein<strong>es</strong> Autors und seiner Aussage kri-<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

tisch untersucht werden und erst das Ergebnis di<strong>es</strong>er Überprüfung kann<br />

Eingang in die Wertung finden.<br />

Selbstverständlich darf dabei aber auch die Frage nach unerwünschten<br />

o<strong>der</strong> gar schädlichen Nebenwirkungen nicht außer Acht gelassen werden. Da<br />

zahlreiche Heilpflanzen <strong>der</strong> Ethnomedizin jedoch bereits seit langer Zeit angewendet<br />

werden, spielt die Empirie auch hierbei eine wichtige Rolle. B<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s<br />

wegen <strong>der</strong> in vielen Fällen noch ungenügenden chemischen Kenntnisse<br />

über Art und Zusammensetzung <strong>der</strong> Inhaltsstoffe einzelner Drogen muss all<strong>es</strong><br />

Sinnvolle und Mögliche unternommen werden, um die Gefährdung<br />

durch unerkannte Nebenwirkungen o<strong>der</strong> Interaktionen möglichst gering zu<br />

halten. Hier kann die oft betonte »Erfahrung von Jahrhun<strong>der</strong>ten« manchmal<br />

weiterhelfen, wenn die Quellen deutlich machen, dass ein b<strong>es</strong>timmt<strong>es</strong> Mittel,<br />

d<strong>es</strong>sen Identität f<strong>es</strong>tsteht, über lange Zeit verwendet wurde, ohne dass Klagen<br />

über offensichtlich dadurch ausgelöste B<strong>es</strong>chwerden laut wurden. Allerdings<br />

darf bei einer <strong>der</strong>artigen historisch begründeten Argumentation nicht übersehen<br />

werden, dass <strong>der</strong> Kausalzusammenhang von schädigendem Mittel und<br />

Schädigung für den Menschen <strong>der</strong> Vergangenheit erkennbar sein musste. Erhöhungen<br />

d<strong>es</strong> Blutdrucks zum Beispiel wären ebenso wenig f<strong>es</strong>tstellbar gew<strong>es</strong>en<br />

wie Verän<strong>der</strong>ungen d<strong>es</strong> Blutbild<strong>es</strong> o<strong>der</strong> eventuelle Spätschäden.<br />

Gerade das empirische Wissen <strong>der</strong> volkstümlichen <strong>Medizin</strong> hat <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Phytotherapie aber wichtige Hinweise und Anregungen gegeben, die<br />

sich bei <strong>der</strong> kritischen Untersuchung überraschend oft als begründet und<br />

hilfreich herausstellten.<br />

So inter<strong>es</strong>sierten sich Wissenschaftler auf <strong>der</strong> Suche nach neuartigen Wirkstoffen<br />

in den letzten Jahrzehnten vermehrt für ethnomedizinische Systeme<br />

<strong>der</strong> unterschiedlichsten Völker. In vielen Fällen konnten hierbei Substanzen<br />

gefunden werden, <strong>der</strong>en therapeutische Anwendung erfolgreich in die mo<strong>der</strong>ne<br />

<strong>Medizin</strong> übernommen wurde. Die Rauwolfia, <strong>der</strong>en Inhaltsstoffe für<br />

blutdrucksenkende Medikamente ebenso eing<strong>es</strong>etzt wurden wie für Psychopharmaka,<br />

gehört in di<strong>es</strong>en Zusammenhang, aber zum Beispiel auch <strong>der</strong> indische<br />

und mexikanische Baldrian, für den ein deutlich höherer Valepotriatgehalt<br />

nachgewi<strong>es</strong>en werden konnte als für die bei uns einheimische Valeriana<br />

officinalis. Sowohl in Indien als auch in Mexiko wurden di<strong>es</strong>e Arzneipflanzen<br />

jeweils bereits seit langem als Beruhigungsmittel sinnvoll eing<strong>es</strong>etzt.<br />

Insofern bedient sich also gerade die mo<strong>der</strong>ne Phytotherapie auch historischer<br />

Quellen, ohne dabei allerdings die unbedingt notwendige Quellenkritik<br />

zu verg<strong>es</strong>sen. Ob di<strong>es</strong> immer auch für populäre Publikationen gilt, lassen<br />

jedoch oftmals schon <strong>der</strong>en Titelformulierungen bezweifeln:<br />

• G<strong>es</strong>undheit aus dem Kräutergarten. Bewährte Rezepte aus alten Klosterapotheken<br />

zur Selbstbehandlung<br />

• Geheimnisse <strong>der</strong> Klostermedizin<br />

• Von den wun<strong>der</strong>baren Heilwirkungen d<strong>es</strong> Kohlblatt<strong>es</strong><br />

Dazu ein wörtlich<strong>es</strong> Zitat aus <strong>der</strong> Verlagsanzeige: »… Die Römer kannten<br />

während sechs Jahrhun<strong>der</strong>ten kein an<strong>der</strong><strong>es</strong> Heilmittel als den Kohl.«<br />

• Großmutters Hausapotheke. Was früher half, das hilft auch heute


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

Die Titel populärer medizinischer Ratgeber lassen aber noch einen weiteren<br />

Trend erkennen, <strong>der</strong> offensichtlich sehr gut ankommt: die Nachbarschaft<br />

zum Geheimnisvollen, Religiösen und dem Esoterischen:<br />

• Die Apotheke Gott<strong>es</strong><br />

• G<strong>es</strong>undheit aus <strong>der</strong> Apotheke Gott<strong>es</strong><br />

• Heilkräuter aus dem Garten Gott<strong>es</strong>. Guter Rat aus meiner Kräuterbibel<br />

• So heilt Gott<br />

• Die geheimen Heilrezepte d<strong>es</strong> Nostradamus<br />

• Geheimnisse und Heilkräfte <strong>der</strong> Pflanzen<br />

• Heilen mit <strong>der</strong> Weisheit <strong>der</strong> Natur<br />

• Blumen die durch die Seele heilen<br />

• Die magische Welt <strong>der</strong> Pflanzen<br />

• Wun<strong>der</strong>welt <strong>der</strong> Heilpflanzen<br />

• Mysterien <strong>der</strong> Heilkunde<br />

• Schw<strong>es</strong>ter Bernardin<strong>es</strong> große Naturapotheke<br />

MARIA TREBEN<br />

UND DIE »GESUNDHEIT AUS DER APOTHEKE GOTTES«<br />

Betrachten wir nun aber den bereits erwähnten Marktführer di<strong>es</strong>er Literaturgattung<br />

etwas genauer: Maria Trebens Schrift »G<strong>es</strong>undheit aus <strong>der</strong> Apotheke<br />

Gott<strong>es</strong>«, die mittlerweile bereits in <strong>der</strong> 80. Auflage mit weit über acht<br />

Millionen abg<strong>es</strong>etzten Exemplaren vorliegt und <strong>der</strong>en Inhalt sich häufig in<br />

Form von Fragen bzw. Wünschen in den Apotheken bemerkbar macht.<br />

Die in viele Sprachen übersetzte Schrift unterscheidet sich von den meisten<br />

sonstigen <strong>der</strong>artigen Veröffentlichungen grundlegend dadurch, dass<br />

Maria Treben nicht in erster Linie ein mehr o<strong>der</strong> <strong>wenige</strong>r willkürlich<strong>es</strong><br />

Kompilat aus bereits vorliegenden Texten erstellt, son<strong>der</strong>n hauptsächlich<br />

über eigene Erlebnisse und als »Erfahrung« gewertete Begebenheiten, meist<br />

in Form fragmentarischer Einzelfälle, berichtet.<br />

Die Art ihrer Darstellung, die häufig den zurückgelegten Erkenntnisweg<br />

naiv aber gerade d<strong>es</strong>halb für den Laien Vertrauen erweckend b<strong>es</strong>chreibt,<br />

macht eine objektive kritische Beurteilung d<strong>es</strong> g<strong>es</strong>amten Buch<strong>es</strong> schwer,<br />

denn persönliche Aussagen di<strong>es</strong>er Art können durchaus als subjektiv wahr<br />

gewertet werden. Das sagt aber kein<strong>es</strong>falls etwas über ihre objektive Richtigkeit<br />

und vor allem gar nichts über ihre Allgemeingültigkeit aus. Zudem<br />

spielt die christliche Gläubigkeit <strong>der</strong> Verfasserin in <strong>der</strong> Argumentation eine<br />

große Rolle, die sich naturgemäß wissenschaftlichen Beurteilungsmaßstäben<br />

entzieht.<br />

Es soll gerade an di<strong>es</strong>er Stelle <strong>der</strong> Kritik aber auch nicht verschwiegen<br />

werden, dass sich unter den zahlreichen Ratschlägen Maria Trebens eine<br />

Reihe durchaus sinnvoller und auch schon vor <strong>der</strong> Ära Treben bewährter<br />

Anwendungen findet, die Kritik sich also nicht pauschal gegen sämtliche<br />

Aussagen richten kann. Eine Tatsache, die die objektive Trennung von Sinn-<br />

33<br />

• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN


34<br />

vollem und gefährlich Wertlosem erschwert und die Glaubwürdigkeit <strong>der</strong><br />

Verfasserin bei vielen ihrer L<strong>es</strong>er unterstreicht.<br />

SCHWEDENBITTER – EIN PARADEBEISPIEL<br />

Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

Das Herzstück <strong>der</strong> Schrift sind »Schwedenbitter« und »Schwedenkräuter«,<br />

laxierende Amara, <strong>der</strong>en Anwendung sich im Kern bis in die Antike zurückverfolgen<br />

lässt und <strong>der</strong>en Rezepturen unter zahlreichen Bezeichnungen<br />

während <strong>der</strong> letzten sechs Jahrhun<strong>der</strong>te in den Rezeptarien und Pharmakopöen<br />

verzeichnet sind, also durchaus als B<strong>es</strong>tandteil <strong>der</strong> früheren jeweiligen<br />

»Schulmedizin« ang<strong>es</strong>ehen werden müssen.<br />

So beruft sich auch Maria Treben auf den schwedischen Arzt Dr. Urban<br />

Hjärne (1641–1724), <strong>der</strong> di<strong>es</strong><strong>es</strong> Mittel propagierte und auch selbst anwendete.<br />

Einen langen Katalog <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>baren Heilwirkungen druckt sie<br />

gleich unter <strong>der</strong> Bezeichnung »Alte Handschrift« mit ab, ohne die dort gemachten<br />

Aussagen auch <strong>nur</strong> im mind<strong>es</strong>ten in Frage zu stellen, bzw. die Herkunft<br />

di<strong>es</strong>er Quelle offenzulegen.<br />

Darüber hinaus bleibt <strong>es</strong> ein<strong>es</strong> <strong>der</strong> Geheimnisse <strong>der</strong> selbsternannten Apothekenhelferin<br />

Gott<strong>es</strong>, auf welche Zusammensetzung <strong>der</strong> Schwedenkräuter<br />

sich die umfangreichen Angaben <strong>der</strong> bereits erwähnten »Alten Handschrift«<br />

eigentlich beziehen, denn in <strong>der</strong> ersten Auflage von Frau Trebens Schrift erscheinen<br />

dazu auf S. 62 ohne nähere Angaben zwei unterschiedliche Vorschriften<br />

mit 19 bzw. 10 verschiedenen B<strong>es</strong>tandteilen. In späteren Auflagen<br />

findet sich <strong>der</strong> Hinweis, dass Frau Treben ihre Heilerfolge mit dem »kleinen«<br />

Schwedenbitter erzielt habe und die Aufnahme <strong>der</strong> »großen« Rezeptur<br />

damals ohne ihr Wissen g<strong>es</strong>chah. Pikant daran ist <strong>nur</strong> die offensichtliche<br />

Tatsache, dass sich die gepri<strong>es</strong>ene »große und wun<strong>der</strong>bare Heilkraft di<strong>es</strong>er<br />

Kräuterzusammensetzung« (Originalzitat Treben) ursprünglich ganz eindeutig<br />

auf die an<strong>der</strong>e, jetzt jedoch abgelehnte Rezeptur bezog.<br />

Unabhängig davon, für welche <strong>der</strong> beiden Rezepturvorschriften die Angaben<br />

nun ursprünglich gelten sollten und woher <strong>der</strong> zitierte Text wirklich<br />

stammt, zeigt aber di<strong>es</strong><strong>es</strong> Beispiel deutlich ein prinzipiell<strong>es</strong> Problem <strong>der</strong> kritiklosen<br />

Übernahme historischer Aussagen auf:<br />

Venezianischer Theriak war ursprünglich aufgrund seiner Hochschätzung<br />

als giftwidrig<strong>es</strong> Allheilmittel einer <strong>der</strong> wichtigsten B<strong>es</strong>tandteile <strong>der</strong><br />

Schwedenmischung. Davon zeugen zum Beispiel die zitierten Hinweise auf<br />

die angebliche Wirksamkeit <strong>der</strong> Schwedenkräuter bei Tollwut und P<strong>es</strong>t.<br />

Nun war <strong>es</strong> für Frau Treben zwar leicht, die Rezeptur d<strong>es</strong> Schwedenbitter<br />

abzuschreiben und seine Anwendung zu empfehlen, <strong>nur</strong>, das, was wir heute<br />

unter dem zur Herstellung benötigten »Theriak« verstehen und in <strong>der</strong><br />

Apotheke zur Verfügung haben – die Vorschrift d<strong>es</strong> EB 6 – ist in keiner<br />

Weise auch <strong>nur</strong> annähernd identisch mit jener Rezeptur, die man zu Zeiten<br />

Dr. Hjärn<strong>es</strong> noch darunter verstand. Allein das Fehlen d<strong>es</strong> Opiums<br />

macht di<strong>es</strong> sofort deutlich.


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

Der heute obsolete Theriak verdankte seine Entstehung <strong>der</strong> Furcht ein<strong>es</strong><br />

kleinasiatischen Herrschers, d<strong>es</strong> Königs Mithridat<strong>es</strong> Eupator von Pontus, einem<br />

Giftanschlag zum Opfer zu fallen. D<strong>es</strong>halb gab er seinem Leibarzt den<br />

Auftrag, ein »Antidot« zu entwickeln, das ihn gegen alle Gifte, auch das <strong>der</strong><br />

dort häufig vorkommenden Vipern, schützen könne. Di<strong>es</strong>e Tiere hatten<br />

schon lange Aufsehen erregt, weil auf <strong>der</strong> einen Seite ein einziger Biss genügte,<br />

um einen erwachsenen Menschen zu töten, weil aber auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite die Schlange selbst an ihrem Gift nicht zugrunde ging. Man nahm<br />

d<strong>es</strong>halb an, dass das Reptil in seinem Körper ein »giftwidrig<strong>es</strong> Prinzip« b<strong>es</strong>itze,<br />

das <strong>es</strong> zuverlässig schütze. Di<strong>es</strong><strong>es</strong> gleichsam immunisierende Prinzip<br />

wollte man sich nun dadurch nutzbar machen, dass man das Fleisch solcher<br />

Vipern neben zahlreichen an<strong>der</strong>en Inhaltsstoffen zum B<strong>es</strong>tandteil einer<br />

kompliziert zusammeng<strong>es</strong>etzten Arznei machte, die nach Überarbeitung<br />

durch den Leibarzt d<strong>es</strong> Kaisers Nero – einer in Fragen <strong>der</strong> Giftbeibringung<br />

sicherlich ausgewi<strong>es</strong>enen Kapazität – ihren Sieg<strong>es</strong>zug bis in das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

hinein antrat. Erst mit dem Aufkommen wissenschaftlich-kritischer<br />

Beurteilungsmaßstäbe geriet <strong>der</strong> klassische Theriak im Laufe d<strong>es</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

ins Abseits. <strong>Im</strong> DAB 1 findet er sich zwar noch unter <strong>der</strong> alten Bezeichnung,<br />

die Zusammensetzung wurde jedoch grundlegend geän<strong>der</strong>t: aus<br />

den bis zu 150 verschiedenen B<strong>es</strong>tandteilen wurden magere zwölf und die<br />

Schlange wurde ganz unspektakulär durch die Schlangenwurzel ersetzt.<br />

Maria Treben demonstriert hier klar, wie sinnlos <strong>es</strong> sein kann, sich lediglich<br />

an <strong>der</strong> Bezeichnung von Drogen und Arzneimitteln zu orientieren, statt<br />

sicherzustellen, dass die inhaltliche Identität gleichbezeichneter Stoffe auch<br />

tatsächlich gegeben ist. Ein kurzer Blick in alte Arzneibücher o<strong>der</strong> die<br />

Nachfrage in einer <strong>nur</strong> halbwegs informierten Apotheke hätten di<strong>es</strong> deutlich<br />

machen können, wobei Frau Treben im letzteren Fall freundlicherweise<br />

auch gleich hätte mitteilen können, was sie unter »Diotöm« verstanden haben<br />

möchte, Diptamwurzel o<strong>der</strong> Ki<strong>es</strong>elgur (Diatomeen-Erde).<br />

Aber nun zu einer an<strong>der</strong>en Anschauung, die ebenfalls in <strong>der</strong> Apothekenpraxis<br />

begegnen kann und ähnliche Probleme in sich birgt: zur so genannten<br />

»Hildegard-<strong>Medizin</strong>«.<br />

MEDIZINISCHER RAT BEI HILDEGARD VON BINGEN?<br />

In den auf den Außenstehenden manchmal sehr verwun<strong>der</strong>lich wirkenden<br />

Anschauungen <strong>der</strong> seit etwa 50 Jahren von Hertzka und Strehlow propagierten<br />

Hildegard-<strong>Medizin</strong> verbinden sich Bruchstücke mittelalterlicher medizinischer<br />

Anschauungen mit christlich motivierten Grundsätzen <strong>der</strong> Lebensführung.<br />

Das B<strong>es</strong>treben ist eine umfassende Sicht d<strong>es</strong> Menschen, die – zweifellos<br />

berechtigt – davon ausgeht, dass <strong>es</strong> sich bei Krankheiten nicht <strong>nur</strong> um<br />

schematisch ablaufende chemisch-physikalische Reaktionen handelt, die allein<br />

durch ebensolche Manipulationen beeinflussbar sind, son<strong>der</strong>n durchaus<br />

auch durch die Psyche – die Hildegard-<strong>Medizin</strong> verwendet hier lieber den<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

Begriff <strong>der</strong> Seele – positiv beeinflusst werden können. Eine Vorstellung, die<br />

auf weiten Strecken <strong>der</strong> »psychosomatischen <strong>Medizin</strong>« verwandt ist.<br />

Steht jedoch bei <strong>der</strong> Psychosomatik in geeigneten Fällen die Betrachtung<br />

<strong>der</strong> Psyche zumeist gleichberechtigt o<strong>der</strong> ergänzend neben jener körperlicher<br />

Funktionen, so bekommt in <strong>der</strong> Hildegard-<strong>Medizin</strong> <strong>der</strong> christlich-seelische<br />

Aspekt eindeutig die Oberhand gegenüber medizinischen Erwägungen<br />

aus dem <strong>Bereich</strong> <strong>der</strong> Physiologie und Pharmakologie. B<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s verblüffend<br />

und nicht nachvollziehbar ist <strong>der</strong> freiwillige Verzicht auf diagnoseunterstützende<br />

Maßnahmen und exakte Diagnos<strong>es</strong>tellung.<br />

Grundlage d<strong>es</strong> sich selbst wissenschaftlich darstellenden Systems sind<br />

spätere Kopien einiger von <strong>der</strong> Heiligen nie<strong>der</strong>g<strong>es</strong>chriebenen Texte. Auch<br />

wenn sie darin an einigen Stellen über das allgemein verbreitete Fachwissen<br />

ihrer Zeit hinausgeht – wobei allerdings nicht verg<strong>es</strong>sen werden darf, dass<br />

unsere Kenntnis d<strong>es</strong> damaligen Wissens in Abhängigkeit von <strong>der</strong> zufälligen<br />

Erhaltung und Entdeckung <strong>der</strong> entsprechenden Quellen wohl ebenfalls<br />

<strong>nur</strong> sehr zufällig und bruchstückhaft ist –, bleiben ihre medizinischen Vorstellungen<br />

natürlich den damaligen Anschauungen verpflichtet und enthalten<br />

zwangsläufig auch <strong>der</strong>en zahlreiche Fehler. Das schmälert kein<strong>es</strong>wegs<br />

die Leistungen Hildegards, aber selbst die Tatsache <strong>der</strong> päpstlichen Approbation<br />

ihrer Visionen – die übrigens nicht für die medizinischen Schriften<br />

geltend gemacht werden darf – kann naturwissenschaftlich und medizinisch<br />

nicht als Beweis für <strong>der</strong>en Richtigkeit und Allgemeingültigkeit angeführt<br />

werden, den man von einem ernsthaften medizinischen System erwarten<br />

muss.<br />

Auch bei gutwilliger Betrachtung wirken zahlreiche Deutungsversuche<br />

und Schlussfolgerungen, wie sie zum Beispiel im »Handbuch <strong>der</strong> Hildegard-<strong>Medizin</strong>«<br />

gezogen werden, peinlich und all<strong>es</strong> an<strong>der</strong>e als überzeugend.<br />

Warum müssen Dr. Hertzka, immerhin <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hildegard-<strong>Medizin</strong>,<br />

und Dr. Strehlow so krampfhaft versuchen, die bildhaft-vagen B<strong>es</strong>chreibungen<br />

Hildegards mit Erkenntnissen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Medizin</strong> zu parallelisieren?<br />

Ist <strong>es</strong> vertretbar, die durch die Bemerkung »Hildegard<br />

schreibt« als Originalzitat gekennzeichneten Textstellen <strong>der</strong>artig frei zu<br />

übersetzen, dass mit <strong>Begriffe</strong>n wie »Zelle« (a.a.O., S. 244), »Zellkern« (caro,<br />

a.a.O., S. 245) o<strong>der</strong> »Virus«(verm<strong>es</strong>, pediculi; a.a.O., S. 244, 264), die<br />

für die Zeit Hildegards und bis in das 19. bzw. 20. Jahrhun<strong>der</strong>t hinein anachronistisch<br />

sind, die beweiskräftige Übereinstimmung mit <strong>der</strong> Terminologie<br />

und damit wohl auch den vertrauten Grundgedanken <strong>der</strong> heutigen <strong>Medizin</strong><br />

suggeriert wird?<br />

Natürlich sind sich die Vertreter <strong>der</strong> Hildegard-<strong>Medizin</strong> d<strong>es</strong> Unverständniss<strong>es</strong><br />

und <strong>der</strong> zahlreichen Anfeindungen Außenstehen<strong>der</strong> bewusst und reagieren<br />

darauf. Auch in <strong>der</strong> genannten Veröffentlichung wird die Verteidigung<br />

vorgetragen, die wir etwas näher betrachten wollen, weil ihre Argumentationsweise<br />

sinngemäß auf den erhobenen Berechtigungsanspruch vieler<br />

Außenseitermethoden zutrifft. So schreiben die Autoren im Kapitel<br />

»Brustkrebs«:


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

»Die wissenschaftliche Anerkennung <strong>der</strong> Hildegard-Heilkunde ist für die<br />

Wirksamkeit di<strong>es</strong>er Heilmittel nicht nötig, denn <strong>der</strong> gläubige Hildegard-<br />

Freund weiß, dass di<strong>es</strong>e Heilkunde auf <strong>der</strong> höchsten Stufe <strong>der</strong> Erkenntnis<br />

aus <strong>der</strong> Weisheit Gott<strong>es</strong> kommt, die keiner menschlichen Rechtfertigung<br />

bedarf.« (a.a.O., S. 266f.)<br />

Ganz unbemerkt verwandelt sich in di<strong>es</strong>em apodiktischen Satz das<br />

»Glauben« d<strong>es</strong> Hildegard-Freund<strong>es</strong> in ein »Wissen« und die Fortsetzung<br />

kämpft gegen selbsterfundene Feinde, denn dass die göttliche Weisheit keiner<br />

menschlichen Rechtfertigung bedarf, ist in <strong>der</strong> christlichen Vorstellung<br />

unb<strong>es</strong>tritten. Dennoch bedürfen aber zumind<strong>es</strong>t die durchaus menschlichen<br />

Schlussfolgerungen <strong>der</strong> Hildegard-<strong>Medizin</strong>er d<strong>es</strong> wissenschaftlichen Beweis<strong>es</strong>,<br />

zumal sie sich sehr gerne – wie bereits erwähnt – bei <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen wissenschaftlichen<br />

<strong>Medizin</strong> anbie<strong>der</strong>n. Die unsaubere Trennung von »Glauben«<br />

und »Wissen« ist ideal dazu geeignet, neue scheinbare Tatsachen zu<br />

schaffen, die ihrerseits wie<strong>der</strong> zum pseudowissenschaftlichen Beweis <strong>der</strong><br />

Richtigkeit an<strong>der</strong>er Punkte herangezogen werden können. Ein perpetuum<br />

mobile <strong>der</strong> Logik!<br />

»Dennoch wurden bereits über einhun<strong>der</strong>t pflanzliche Drogen aufgrund<br />

von Monographien, an denen wir uns selbst aktiv beteiligen, vom Bund<strong>es</strong>g<strong>es</strong>undheitsamt<br />

als wirksam und unbedenklich anerkannt, unter an<strong>der</strong>em<br />

Galgant, Rainfarn, O<strong>der</strong>mennig.« (a.a.O., S. 267)<br />

In di<strong>es</strong>em Satz wird wie<strong>der</strong> versucht, durch die Einbeziehung einer Instanz,<br />

die schon aufgrund ihrer rechtlichen Position ganz gewiss nicht als<br />

Außenseiterin bezeichnet werden kann, die bereits erwähnte Verbindung<br />

zur »offiziellen« <strong>Medizin</strong> herzustellen. Und das g<strong>es</strong>chieht mit unlauteren<br />

Mitteln, denn Galgant, Rainfarn und O<strong>der</strong>mennig sind ganz gewiss keine<br />

typischen Drogen <strong>der</strong> Hildegard-<strong>Medizin</strong> und auch nicht durch sie erst<br />

bekannt gemacht worden. Hier sollten dann doch b<strong>es</strong>ser Wasserlinse,<br />

Geierschnabelpulver und Aalgalle stehen, für die allerdings mein<strong>es</strong> Wissens<br />

bei den zuständigen offiziellen staatlichen Stellen bisher keine Monographien<br />

erstellt wurden. Ebenso erscheint <strong>es</strong> relativ unwahrscheinlich,<br />

dass die Behandlung <strong>der</strong> Epilepsie mit Achat, die d<strong>es</strong> Lungenabsz<strong>es</strong>s<strong>es</strong> mit<br />

Alantwein und die Verwendung roher Edelkastanien bei Herzklappenentzündung<br />

(Beispiele nach Wiedemann, a.a.O., S. 90) in <strong>der</strong> allernächsten<br />

Zeit die Zustimmung <strong>der</strong> Berliner Behörde bzw. ihrer Nachfolgerin erhalten<br />

wird.<br />

L<strong>es</strong>en wir weiter:<br />

»Die Forschung nach dem wissenschaftlichen [sic!] exakten Beweis <strong>der</strong><br />

Wirksamkeit ist lei<strong>der</strong> für viele Menschen heute nötig, weil die Wissenschaft<br />

zur Pseudoreligion geworden ist.« (a.a.O., S. 267)<br />

Auch hier werden die Tatsachen auf den Kopf g<strong>es</strong>tellt! Der wissenschaftlich-exakte<br />

Beweis – fügen wir hinzu: soweit möglich – ist eben d<strong>es</strong>halb<br />

nötig, damit die Pseudoreligion nicht zur vermeintlichen Wissenschaft wird!<br />

Am Beispiel <strong>der</strong> Hildegard-<strong>Medizin</strong> wird deutlich, wie leicht »Wissen«<br />

und »Glauben« vermengt werden kann und welche Auswirkungen di<strong>es</strong> auf<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

die Logik b<strong>es</strong>itzt. Hier wandelt sich die medizinische Grundlage von <strong>der</strong><br />

»Er-kenntnis« zum »Be-kenntnis« und verlässt damit den Boden <strong>der</strong> Objektivierbarkeit,<br />

Reproduzierbarkeit und Allgemeingültigkeit. Gerade die sind<br />

aber in <strong>der</strong> Apotheke für die seriöse Beratung von Patienten unverzichtbar,<br />

soll nicht prinzipiell je<strong>der</strong> denkbaren Scharlatanerie Tür und Tor geöffnet<br />

werden, was im Extremfall auch unter dem rechtlichen Aspekt einklagbarer<br />

Schadensersatzfor<strong>der</strong>ungen zu sehen ist.<br />

Außerdem wäre den Hildegard-<strong>Medizin</strong>ern vorzuwerfen, dass sie glauben,<br />

Bruchstücke ein<strong>es</strong> mittelalterlichen medizinischen Systems weitgehend<br />

problemlos in die Situation unserer Gegenwart übertragen zu können. Gerade<br />

damit verletzen sie aber den selbstg<strong>es</strong>etzten ganzheitlichen Anspruch,<br />

<strong>der</strong> sonst so nachhaltig betont wird. Die in <strong>der</strong> aktuellen mittelalterlichen<br />

Situation und ihren fehlenden Alternativen sicherlich erzielten Erfolge <strong>der</strong><br />

auch von Hildegard nie<strong>der</strong>g<strong>es</strong>chriebenen medizinischen Anwendungen erfor<strong>der</strong>ten<br />

zu ihrer Neuerweckung aber neben dem Verzicht auf alle objektiven<br />

Fortschritte <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> als Kernstück den mittelalterlichen Menschen<br />

in seiner realen und geistigen Umwelt! Di<strong>es</strong> ist aber eine For<strong>der</strong>ung, die innerhalb<br />

unserer G<strong>es</strong>ellschaft, wenn überhaupt, wohl <strong>nur</strong> extrem selten verwirklicht<br />

werden könnte. Dass dennoch viele Ratschläge im Sinne einer<br />

Ordnungstherapie und zur För<strong>der</strong>ung mentaler Ausgeglichenheit sinnvoll<br />

sind, ist jedoch noch lange kein ausreichend<strong>es</strong> Kriterium, um in <strong>der</strong> Hildegard-<strong>Medizin</strong><br />

ein vollwertig<strong>es</strong> Alternativsystem zur mo<strong>der</strong>nen <strong>Medizin</strong> zu<br />

sehen.<br />

SEIT ZWEI JAHRHUNDERTEN UMSTRITTEN: DIE HOMÖOPATHIE<br />

Wir können unser Thema natürlich nicht abschließen, ohne wenigstens<br />

kurz auch über die bereits eingangs erwähnte Homöopathie zu sprechen.<br />

Sie hat sich auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Hahnemannschen Vorgaben in den fast<br />

200 Jahren ihrer praktischen Anwendung zum g<strong>es</strong>chlossensten medizinischen<br />

System außerhalb <strong>der</strong> »Schulmedizin« entwickelt. Unverän<strong>der</strong>t blieb<br />

allerdings durch all die Jahre ihre meinungspolarisierende Wirkung, die gerade<br />

in jüngster Zeit durch die so genannte »Marburger Erklärung« und die<br />

sich daran anschließenden kontroversen Äußerungen wie<strong>der</strong> deutlich zum<br />

Ausdruck kam.<br />

Ohne hier auf die g<strong>es</strong>amte Problematik eingehen zu können und ohne<br />

selbst streitbarer Anhänger <strong>der</strong> Homöopathie zu sein, soll allerdings wenigstens<br />

angemerkt werden, dass eine von namhaften Naturwissenschaftlern<br />

und <strong>Medizin</strong>ern unterstützte Erklärung sorgfältiger ausgearbeitet sein könnte<br />

und sich vor allem klar dazu äußern müsste, wovon sie überhaupt spricht,<br />

denn »die Homöopathie« gibt <strong>es</strong> nicht. Wenn man sich – aus naturwissenschaftlicher<br />

Sicht durchaus nachvollziehbar – an <strong>der</strong> Verwendung von<br />

Hochpotenzen bzw. <strong>der</strong> Behauptung stößt, damit Heilerfolge erzielen zu<br />

können, sollte man di<strong>es</strong> klar zum Ausdruck bringen und nicht in einem


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

blinden Rundumschlag all<strong>es</strong>, was unter <strong>der</strong> Bezeichnung »Homöopathie«<br />

läuft, verdammen. Die Anwendung einer D3 mit jener einer D200 gleichzusetzen<br />

zeugt – mein<strong>es</strong> Erachtens – nicht von unvoreingenommenem und<br />

<strong>der</strong> Sache dienendem, naturwissenschaftlich exaktem Umgang mit den Vorgaben.<br />

Di<strong>es</strong> gilt in <strong>der</strong> Praxis – wenn selbstverständlich auch mit an<strong>der</strong>en Wissensvoraussetzungen<br />

– für die meisten <strong>der</strong> sich mit homöopathischen Mitteln<br />

selbstbehandelnden Laien. Der gerade in <strong>der</strong> Homöopathie stark ausgeprägte<br />

individuelle Charakter <strong>der</strong> Therapie mit <strong>der</strong> hierzu notwendigen ausführlichen<br />

Anamn<strong>es</strong>e wird im Allgemeinen nicht zur Kenntnis genommen und<br />

seine Akzeptanz selbst nach entsprechendem Hinweis abgelehnt: »Geben Sie<br />

mir dann halt irgendein Mittel gegen Schnupfen – aber homöopathisch!«.<br />

Dass di<strong>es</strong>er Wunsch im Sinne <strong>der</strong> klassischen Hahnemannschen Homöopathie<br />

strenggenommen so nicht erfüllbar ist, muss hier nicht angemerkt werden.<br />

Als Praxislösung bieten sich in solchen Fällen zwar die Komplexmittel<br />

an, ob di<strong>es</strong>e Entfernung von <strong>der</strong> anspruchsvollen Einzelmittel-Homöopathie<br />

jedoch <strong>der</strong> Sache dient, sei dahing<strong>es</strong>tellt. Nicht zuletzt sind <strong>es</strong> aber gerade solche<br />

Schrotschuss-Mittel, die manchen Heilpraktikern die Last <strong>der</strong> sie sonst<br />

vielleicht überfor<strong>der</strong>nden o<strong>der</strong> aufhaltenden exakten Mittelwahl abnehmen.<br />

Aber bleiben wir noch bei den Menschen, die Verfahren <strong>der</strong> Naturheilkunde<br />

anwenden, denn auch hier liegen gravierende Probleme. Zwar gibt <strong>es</strong><br />

selbstverständlich auch Anwen<strong>der</strong>, die sich in das von ihnen bevorzugte Verfahren<br />

eingearbeitet haben und d<strong>es</strong>sen Regeln gewissenhaft befolgen, die<br />

Mehrzahl ist jedoch nicht zu den ernsthaften Anwen<strong>der</strong>n zu zählen. Zumeist<br />

wird man mehr o<strong>der</strong> <strong>wenige</strong>r zufällig auf die Möglichkeit einer naturheilkundlichen<br />

o<strong>der</strong> »alternativen« Behandlung aufmerksam – b<strong>es</strong>ser sollte<br />

man vielleicht sagen »neugierig« – und setzt blindlings große Hoffnung in<br />

eine solche Therapie. Dabei verlangt man zum Beispiel bei <strong>der</strong> Behandlung<br />

einer mittelschweren Erkältung zumeist unterschwellig, dass das entsprechende<br />

homöopathische Mittel mind<strong>es</strong>tens ebenso schnell und ebenso gut<br />

wirkt wie ein stark<strong>es</strong> Antibiotikum, aber natürlich nicht d<strong>es</strong>sen vermeintlich<br />

gefährliche Nebenwirkungen b<strong>es</strong>itzt. Zusätzlich ist die Bereitschaft zu aktiv<br />

unterstützen<strong>der</strong>, g<strong>es</strong>undheitsför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Mitarbeit und b<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s zur Befolgung<br />

komforteinschränken<strong>der</strong> Therapie-Maßnahmen allerdings sehr gering.<br />

Es dominiert die teilweise grot<strong>es</strong>ke Anspruchshaltung ein<strong>es</strong> Konsumenten,<br />

als ob <strong>es</strong> ein Recht auf problemlose Wie<strong>der</strong>erlangung o<strong>der</strong> Aufrechterhaltung<br />

<strong>der</strong> G<strong>es</strong>undheit ohne eigen<strong>es</strong> Zutun gäbe, das automatisch mit <strong>der</strong><br />

Zahlung d<strong>es</strong> sowi<strong>es</strong>o prinzipiell als zu hoch empfundenen Arzneimittelpreis<strong>es</strong><br />

erworben wird.<br />

Gerade in solchen Fällen ist <strong>es</strong> eine wichtige Aufgabe d<strong>es</strong> Apothekers, den<br />

Patienten angem<strong>es</strong>sen fundiert und objektiv zu beraten, ihm die Möglichkeiten,<br />

die Wahrscheinlichkeiten und die Grenzen tatsächlicher und vermeintlicher<br />

Naturheilkunde verständlich aufzuzeigen. Lei<strong>der</strong> führt in nicht<br />

<strong>wenige</strong>n Fällen ein solcher Versuch letztendlich dazu, dass <strong>der</strong> Patient das<br />

Gefühl bekommt, ihm solle aus irgendwelchen Gründen das Gewünschte<br />

39<br />

• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN


Arzneimittel <strong>der</strong> komplementären <strong>Medizin</strong>, REICHLING, MÜLLER-JAHNCKE, BORCHARDT (HRSG.), © 2001 Govi-Verlag , Eschborn<br />

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• NATÜRLICH NATUR? – KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU »ALTERNATIVEN« HEILVERFAHREN<br />

vorenthalten werden. Den Hinweisen auf die Unwahrscheinlichkeit ein<strong>es</strong><br />

Wirkungseintritts wird mit unreflektierten kolportierten Berichten über erzielte<br />

Heilungen begegnet. Und schließlich provoziert ein solcher Vorgang<br />

als trotzig<strong>es</strong> Gegenargument und finalen Rettungsschluss nicht selten sinngemäß<br />

den altbekannten Spruch: »Wer heilt, hat Recht!«<br />

Di<strong>es</strong>em Totschlagargument ist lei<strong>der</strong> <strong>nur</strong> sehr schwer allgemein verständlich<br />

beizukommen. Zumeist wird dem Laien überhaupt nicht klar, dass <strong>der</strong><br />

Satz die Logik d<strong>es</strong> russischen Roulett<strong>es</strong> beinhaltet, weil er die unter Umständen<br />

nicht unbedeutenden Auswirkungen <strong>der</strong> negativen Möglichkeit gar<br />

nicht berücksichtigt. Eigentlich <strong>dürfte</strong> er nicht lauten »Wer heilt, hat<br />

Recht«, son<strong>der</strong>n müsste sinngemäß entwe<strong>der</strong> rückblickend für den Einzelfall<br />

formuliert werden »Wer geheilt hat, hat offenbar in di<strong>es</strong>em Fall nichts<br />

Unrecht<strong>es</strong> getan«, bzw. verallgemeinert »Wenn jemand regelmäßig belegte<br />

gute Heilungserfolge hat, dann erscheint sein Handeln berechtigt«.<br />

In di<strong>es</strong>em Fall wird sich jedoch auch die wissenschaftliche <strong>Medizin</strong> und<br />

gegebenenfalls die pharmazeutische Industrie solchen Verfahren, wenn sie<br />

einen Fortschritt darstellen, nicht verschließen können und wollen. Die bereits<br />

bisher erfolgte Übernahme einer Reihe naturheilkundlicher Verfahren<br />

in die sogenannte »Schulmedizin« belegt di<strong>es</strong> ebenso deutlich wie das steigende<br />

Inter<strong>es</strong>se <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong>studenten an Fragen <strong>der</strong> Naturheilkunde, b<strong>es</strong>on<strong>der</strong>s<br />

<strong>der</strong> Phytotherapie. <strong>Im</strong> gegenwärtigen Augenblick ist <strong>es</strong> aufgrund<br />

<strong>der</strong> stattfindenden und geplanten politischen Eingriffe wohl nicht möglich,<br />

die Zukunft seriöser Naturheilverfahren zu prognostizieren und bisherige<br />

Erfahrungen mit solchen Lenkungsversuchen lassen lei<strong>der</strong> nicht sehr viel<br />

Gut<strong>es</strong> erwarten. Umso wichtiger ist <strong>es</strong>, jene Verfahren zu stärken und gegen<br />

ungerechtfertigte Angriffe obskurer Außenseitermethoden zu verteidigen,<br />

die, wie zum Beispiel die Phytotherapie, aufgrund ihr<strong>es</strong> großen und gut dokumentierten<br />

Erfahrungsschatz<strong>es</strong> gepaart mit mo<strong>der</strong>nen wissenschaftlichen<br />

Untersuchungen ihren Wert unter Beweis g<strong>es</strong>tellt haben.<br />

Hierzu sind insb<strong>es</strong>on<strong>der</strong>e die Apotheker und Apothekerinnen in ihrer<br />

Funktion als sachkundige Berater und leicht erreichbare Ansprechpartner<br />

gefor<strong>der</strong>t. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und ihrer praktischen<br />

Erfahrung, aber auch wegen <strong>der</strong> zahllosen direkten Kontaktmöglichkeiten<br />

mit den Menschen, können sie b<strong>es</strong>ser als jede an<strong>der</strong>e Berufsgruppe<br />

o<strong>der</strong> Institution sachlich und zugleich wirksam auch über Fragen <strong>der</strong> Naturheilkunde<br />

und alternativer Verfahren informieren. Sie tragen dazu bei,<br />

dass wirklich Wertvoll<strong>es</strong> nutzbar bleibt und aussichtslose Spekulationen klar<br />

als solche erkannt werden können, denn das ist bisher außerhalb <strong>der</strong> Apotheke<br />

kein<strong>es</strong>falls selbstverständlich, o<strong>der</strong> sollten wir b<strong>es</strong>ser sagen »natürlich«?

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