Armin Wolf - Picus Verlag
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<strong>Armin</strong> <strong>Wolf</strong><br />
Wozu brauchen<br />
wir noch Journalisten?<br />
Herausgegeben von<br />
Hannes Haas<br />
Theodor-Herzl-Vorlesung<br />
<strong>Picus</strong> <strong>Verlag</strong> Wien
Inhalt<br />
Hannes Haas<br />
Das Publikum braucht Aufklärung, aber die<br />
Aufklärung braucht auch Publikum.<br />
Anmerkungen zum Interviewer,<br />
Nachrichtenmoderator und Politikwissenschafter<br />
<strong>Armin</strong> <strong>Wolf</strong><br />
Vorwort................................................................................ 9<br />
Drei Vorlesungen zur Poetik des Journalismus<br />
(April/Mai 2012)<br />
»Wenn die Nachricht so wichtig ist, wird sie<br />
mich finden«<br />
Wie sich die Mediennutzung verändert – und was<br />
Journalistinnen und Journalisten daraus lernen<br />
können und müssen .......................................................... 25<br />
Wozu brauchen wir noch Journalistinnen und<br />
Journalisten?<br />
Was können professionelle Medien, was Blogger,<br />
Wikileaks und Wikipedia (noch?) nicht können? ............. 55<br />
»Das war nicht meine Frage«<br />
Warum Politiker-Interviews noch immer sinnvoll<br />
sind – auch wenn es nicht immer so aussieht ................... 93<br />
Aus der Werkstatt<br />
Über E-Journalismus, U-Journalismus und<br />
K-Journalismus.<br />
Festrede für die Absolventinnen und Absolventen der<br />
FH Journalismus in Wien ............................................... 121
Vom Gleichgewicht ist nur mehr der Schrecken<br />
geblieben.<br />
Dankesrede bei der Verleihung des<br />
Robert-Hochner-Preises 2006.......................................... 131<br />
Falscher Zynismus.<br />
Warum Anton Pelinka mit seinem Beitrag in der<br />
»Zeit« zur ORF-Debatte irrt – und ich lieber naiv<br />
bleibe. Eine Erwiderung .................................................. 137
»Wenn die Nachricht so wichtig ist, wird sie<br />
mich finden«<br />
Wie sich die Mediennutzung verändert – und was<br />
Journalistinnen und Journalisten daraus lernen<br />
können und müssen<br />
Ich muss Ihnen gestehen, der Titel dieser Veranstaltung<br />
hat mich ursprünglich erschreckt. Es sind Vorlesungen<br />
zur »Poetik des Journalismus«. Darüber, so<br />
hatte ich das Gefühl, kann ich Ihnen wenig erzählen.<br />
Denn das, was ich beruflich tue und wofür ich bezahlt<br />
werde, hat mit Poesie sehr wenig zu tun. Erst<br />
recht nicht unter den Produktionsbedingungen von<br />
Journalismus im 21. Jahrhundert und schon gar nicht<br />
im tagesaktuellen Fernsehjournalismus. Das ist doch<br />
eher Massenproduktion als Handwerk oder Kunst, geschweige<br />
denn Poesie.<br />
Aber wie ich dann gelernt habe, geht es gar nicht um<br />
Poesie. Sondern um Poetik im ursprünglichen Wortsinn:<br />
um das »Studium des zu machenden Werkes«,<br />
also um eine Art Werkstattbericht. Und solche Werkstattberichte<br />
möchte ich Ihnen in diesen drei Vorlesungen<br />
aus drei verschiedenen Blickwinkeln anbieten.<br />
Journalismus ist eine Dienstleistung. Im Idealfall<br />
eine Dienstleistung für die Gesellschaft, die es den<br />
Bürgern ermöglicht, qualifizierter am demokratischen<br />
Diskurs eines Gemeinwesens teilzunehmen – wenn<br />
wir einmal voraussetzen, dass so etwas wie demokratischer<br />
Diskurs zumindest ein Mindestmaß an Information<br />
bedingt.<br />
In jedem Fall ist Journalismus aber eine Dienstleis-<br />
25
tung für sein Publikum. Deshalb sollten Journalistinnen<br />
und Journalisten etwas über ihre Seher, Hörer und<br />
Leser wissen. Deren Umgang mit Journalismus und<br />
mit Medien allgemein hat sich selten in der Geschichte<br />
so rasch und so dramatisch verändert wie in den letzten<br />
Jahren. Um dieses Thema wird es in dieser ersten<br />
Vorlesung gehen.<br />
Die veränderte Mediennutzung hat aber auch wesentliche<br />
Konsequenzen für die Herstellung von Journalismus.<br />
Fast zwei Jahrhunderte nach der Etablierung von<br />
Journalismus als Profession steht wieder infrage, ob das<br />
überhaupt noch eine Profession ist. Die digitale Revolution<br />
gibt schließlich jedem, der lesen, schreiben und einen<br />
Computer bedienen kann, die Chance, mit einem Blog<br />
ein potenzielles Millionenpublikum zu erreichen, weltweit<br />
Videos in HD-Qualität wie ein professioneller TV-<br />
Sender zu veröffentlichen oder aus seinem Wohnzimmer<br />
eine Radiostation zu betreiben. Wozu brauchen wir da<br />
noch professionelle Journalistinnen und Journalisten? –<br />
Das wird das Thema der zweiten Vorlesung sein.<br />
Und nachdem wir geklärt haben, wo unsere Werkstätten<br />
überhaupt stehen, wer sie noch braucht und<br />
wie sich die Welt um sie herum verändert hat, liefert<br />
die dritte Vorlesung dann so etwas wie einen Bericht<br />
von meiner »Werkbank« im ZiB2-Studio, auf der in den<br />
letzten zehn Jahren viele Hundert Fernsehinterviews<br />
entstanden sind.<br />
Heute geht es aber um die Frage, wie sich die Nutzung<br />
von Medien verändert hat und ich möchte mit<br />
einer Zahl beginnen; mit einer Zahl, die sehr viel mit<br />
Ihnen zu tun hat. Nicht unbedingt mit jedem von Ihnen<br />
persönlich, sondern mit Ihnen als Generation, wenn Sie<br />
– wie die meisten Studierenden – unter dreißig sind:<br />
die Zahl lautet 563.<br />
So viele Minuten verbringen Menschen Ihrer Ge-<br />
26
neration – im Alter zwischen vierzehn und neunundzwanzig<br />
– an jedem einzelnen Tag mit dem Konsum<br />
von Medien. Die Zahl stammt aus Deutschland, aber<br />
das Medienverhalten in Deutschland ist dem in Österreich<br />
sehr ähnlich. Sie stammt aus einer Studie, aus<br />
der wir noch einiges mehr hören werden. Seit 1964 geben<br />
ARD und ZDF regelmäßig diese sogenannte Studie<br />
»Massenkommunikation« in Auftrag. 1 Das ist eine<br />
sehr große, sehr zuverlässige Untersuchung, und da<br />
sie immer wieder mit den gleichen oder sehr ähnlichen<br />
Fragestellungen durchgeführt wird, lassen sich daraus<br />
sehr gut Entwicklungen über die Mediennutzung der<br />
letzten fünf Jahrzehnte ablesen.<br />
In der aktuellsten Studie von 2010 kann man nun<br />
nachlesen, wie Ihre täglichen 563 Minuten Medienkonsum<br />
zusammenkommen. Sie verbringen im Schnitt vier<br />
Minuten mit Zeitschriften, acht Minuten mit Videos<br />
oder DVDs, zehn Minuten mit Tageszeitungen, dreißig<br />
Minuten mit Büchern – Frauen übrigens sehr viel<br />
mehr als Männer –, achtzig Minuten mit Tonträgern<br />
diverser Art, also mit CDs, MP3s, Schallplatten und so<br />
weiter. Immerhin 136 Minuten, also über zwei Stunden<br />
täglich, hören Sie Radio. Noch mehr Zeit, nämlich<br />
144 Minuten, sind Sie im Internet. Und Sie verbringen<br />
noch immer 151 Minuten täglich mit Fernsehen. Das<br />
bezahlt mein Gehalt – vielen Dank also dafür! Insgesamt<br />
sind das 563 Minuten, also neun Stunden und<br />
dreiundzwanzig Minuten jeden Tag.<br />
1 Der jüngste Berichtsband ist erschienen unter: Reitze/Ridder<br />
(Hg.): Massenkommunikation VIII. Eine Langzeitstudie<br />
zur Mediennutzung und Medienbewertung 1964–2010,<br />
Frankfurt a. M. 2011. Eine 37-seitige Zusammenfassung<br />
durch die Autoren mit zahlreichen informativen Diagrammen<br />
steht unter dem Titel »Massenkommunikation 2010«<br />
online: http://is.gd/lTD8Gm<br />
27
Wann studieren Sie eigentlich? Sehr häufig zum Beispiel<br />
während das Radio oder Ihr MP3-Player laufen.<br />
Oder Sie recherchieren online etwas für die Uni, während<br />
der Fernseher an ist. Diese enormen neuneinhalb<br />
Stunden Medien pro Tag kommen also auch durch Parallelnutzung<br />
zustande.<br />
Nun gibt es die Studie seit 1964, und damals hat<br />
der gesamte Medienkonsum pro Tag nur drei Stunden<br />
und achtundzwanzig Minuten ausgemacht, etwa<br />
ein Drittel von heute. Diese Zahl ist seither von Befragung<br />
zu Befragung angestiegen und erreichte ihren<br />
Höhepunkt im Jahr 2005: neun Stunden fünfundfünfzig<br />
Minuten täglich bei den 14- bis 29-Jährigen. Erst in<br />
den letzten Jahren ist sie nicht mehr weiter gestiegen,<br />
sondern sogar um eine halbe Stunde zurückgegangen.<br />
Ich halte das für eine sehr signifikante Entwicklung,<br />
die übrigens ganz genauso eingetreten ist, wenn<br />
man die Gesamtbevölkerung betrachtet und nicht nur<br />
die Jungen: In der deutschen Bevölkerung im Alter<br />
vierzehn plus betrug der tägliche Medienkonsum im<br />
Jahr 2010 neun Stunden und dreiundvierzig Minuten,<br />
nach einem Höhepunkt von ganz genau zehn Stunden<br />
2005. 2<br />
Es scheint so, als wären nicht mehr als ungefähr<br />
zehn Stunden drin. Sie haben ja tatsächlich auch noch<br />
etwas anderes zu tun, außer sich mit Medien zu beschäftigen:<br />
studieren, arbeiten, schlafen, essen, was<br />
auch immer. Und Ihr Tag hat auch heute – so wie 1964<br />
– nur vierundzwanzig Stunden, die sich nicht weiter<br />
dehnen lassen. Aber das Medienangebot wird trotzdem<br />
noch größer und größer.<br />
Wie ist es zu dieser Ausweitung gekommen? Dafür<br />
leihe ich mir ein Konzept aus dem sehr lesenswerten<br />
2 Vgl. Massenkommunikation 2010: 11ff.<br />
28
Buch »Post-Broadcast Democracy« von Markus Prior. 3<br />
Er nennt es den Wandel von einem Low-Choice- zu<br />
einem High-Choice-Media-Environment. Und dieser<br />
Wandel ist in den letzten fünfzig Jahren in drei großen<br />
Schritten passiert: Zuerst in den fünfziger und sechziger<br />
Jahren mit der Einführung des Fernsehens. In Österreich<br />
war 1955 Sendestart, und innerhalb von zwanzig Jahren<br />
war die Versorgung mit Fernsehgeräten praktisch flächendeckend.<br />
Damals gab es in Österreich zwei öffentlich-rechtliche<br />
Kanäle, in Deutschland ebenfalls und die<br />
USA hatten die drei großen Networks. Fernsehfrequenzen<br />
waren knapp und streng reguliert – bis Mitte der<br />
achtziger Jahre. Die Zulassung von Cable TV in den USA<br />
und von Privatfernsehen in Europa war dann der zweite<br />
große Schritt. Plötzlich gab es in Österreich nicht mehr<br />
nur zwei Kanäle, sondern ein halbes Dutzend. Heute<br />
sind es in einem durchschnittlichen Haushalt rund<br />
hundert, davon mehr als siebzig deutschsprachige. Nur<br />
mehr acht Prozent der österreichischen Bevölkerung haben<br />
weder Kabel- noch Satellitenanschluss, aber auch sie<br />
können mittlerweile mehr als zwei Sender empfangen. 4<br />
Und schließlich der dritte Riesenschritt ab Mitte der<br />
neunziger Jahre: die Ausbreitung des Internets und der<br />
digitalen Medien. Insgesamt sehen wir hier also innerhalb<br />
weniger Jahrzehnte eine nie da gewesene Explosion<br />
des Angebots.<br />
Falls Sie Publizistik studieren, haben Sie wahrscheinlich<br />
den Namen <strong>Wolf</strong>gang Riepl schon mal gehört. Er<br />
hat 1913 seine Dissertation geschrieben und dort eine<br />
These formuliert, die seither als das »Riepl’sche Gesetz«<br />
3 Prior, Markus: Post-Broadcast Democracy. How Media<br />
Choice Increases Inequality in Political Involvement and<br />
Polarizes Elections, Cambridge 2007<br />
4 Für detaillierte Angaben – vgl. http://mediaresearch.orf.at<br />
29
erühmt geworden ist. Es sei, schreibt Riepl da etwas<br />
umständlich, ein »Grundsatz der Entwicklung des<br />
Nachrichtenwesens, dass die einfachsten Mittel, Formen<br />
und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert<br />
und brauchbar gefunden worden sind, auch von<br />
den vollkommensten und höchst entwickelten niemals<br />
wieder gänzlich und dauernd verdrängt, sondern sich<br />
neben diesen erhalten, nur dass sie genötigt werden<br />
können, andere Aufgaben und Verwendungsgebiete<br />
aufzusuchen.« 5 Kürzer und verständlicher formuliert:<br />
Etablierte Medien werden durch neue Medien nicht<br />
ersetzt, sie sterben also nicht aus, sondern bekommen<br />
nur andere Funktionen. Als Beleg dafür wird oft genannt,<br />
dass das Radio die Zeitung nicht verdrängt hat,<br />
dass das Kino das Theater nicht umgebracht hat, oder<br />
dass es trotz des Fernsehens das Kino noch gibt.<br />
Aus irgendeinem Grund hält sich dieses Riepl’sche<br />
Gesetz nun seit knapp hundert Jahren als eine Art Naturgesetz<br />
der Medienentwicklung, obwohl es empirisch<br />
nachweisbar falsch ist. Würde es stimmen, dann würden<br />
uns auf der Straße noch immer Herren mit Fahnen<br />
und Schriftrollen begegnen, die mit lauter Stimme<br />
herrschaftliche Edikte verkünden. Vor einigen Jahrhunderten<br />
waren Herolde tatsächlich eine sehr verbreitete<br />
Form der Nachrichtenübermittlung. Heute gibt es sie<br />
nur mehr auf Mittelalter-Festspielen, was aber schwerlich<br />
als »andere Aufgaben und Verwendungsgebiete«<br />
im Riepl’schen Sinne durchgeht, denke ich. In Afrika<br />
wiederum waren sogenannte »sprechende Trommeln«<br />
lange eine übliche Form der Nachrichtenübertragung. 6<br />
5 Riepl, <strong>Wolf</strong>gang: Das Nachrichtenwesen des Altertums<br />
mit besonderer Rücksicht auf die Römer, Leipzig 1913: 5<br />
6 Vgl. Gleick, James: Die Information. Geschichte – Theorie<br />
– Flut, München 2011: 21ff.<br />
30
Sie wurden mittlerweile allerdings durch Radio und<br />
Handy ersetzt. Auch Telegrafenbüros gibt es in Europa<br />
und Nordamerika nicht mehr. Dabei war die Telegrafie<br />
im 19. Jahrhundert eine zentrale mediale Infrastruktur.<br />
Trotzdem können Sie seit einigen Jahren, auch wenn Sie<br />
wollten, kein Telegramm mehr verschicken.<br />
Als ich 1988 in der Außenpolitik-Redaktion des<br />
ORF-Radios im Wiener Funkhaus zu arbeiten begonnen<br />
habe, gab es einen sogenannten Telex-Raum. Der<br />
lag – weil es dort ziemlich laut war – ganz am Ende<br />
des Ganges. Im Telex-Raum standen sechs oder sieben<br />
Fernschreiber mit dicken Papierrollen, aus denen<br />
nonstop die Meldungen der Nachrichtenagenturen ratterten.<br />
Es gab einen APA-Fernschreiber, einen eigenen<br />
für das sogenannte »zweite APA-Netz« mit den Presseaussendungen,<br />
wir hatten die Deutsche Presseagentur<br />
DPA, Reuters, Associated Press (AP) und Agence<br />
France-Presse (AFP). Im Laufe eines Tages tickerten<br />
aus jedem Fernschreiber viele Meter an Meldungen<br />
heraus und der Redakteur, der zum Telex-Dienst eingeteilt<br />
war, musste alle ein, zwei Stunden hinübermarschieren,<br />
die einzelnen Meldungen abreißen und<br />
je nach Thema in Fächer ablegen. Das war, wie Sie sich<br />
vorstellen können, kein sehr beliebter Dienst. Und es<br />
gibt ihn auch schon viele Jahre nicht mehr. Die Agenturmeldungen<br />
hat heute jeder Redakteur auf seinem<br />
Computerbildschirm. Das Telex ist – Riepl hin oder<br />
her – ausgestorben. Die Schreibmaschinen, auf denen<br />
wir die Agenturberichte zu Radiomeldungen umgeschrieben<br />
haben, sind längst verschrottet.<br />
Die Bedeutung und die Nutzung von Medien verändern<br />
sich also stark. Manche verschwinden völlig<br />
wie das Telegramm, manche wechseln ihre Funktion<br />
wie das Flugblatt, manche bleiben über sehr lange Zeit<br />
erstaunlich populär wie das Buch.<br />
31
Ich möchte mit Ihnen heute darüber reden, was<br />
in den letzten dreißig Jahren passiert ist – inwiefern<br />
sich Ihr Medienverhalten von dem Ihrer Eltern oder<br />
Großeltern unterscheidet. Mich interessiert das auch<br />
deswegen, weil wir Nachrichten-Menschen – gerade<br />
im Fernsehen – ein wirkliches Problem mit Ihrer Generation<br />
haben. Sie schauen uns nicht zu.<br />
Das ist kein österreichisches Phänomen, sondern<br />
das ist in allen entwickelten Mediengesellschaften so.<br />
Besonders deutlich sieht man es in den USA, wo das<br />
Fernsehen und die Fernsehnachrichten erfunden wurden.<br />
1980 hatten die Evening News der drei großen<br />
Networks ABC, CBS und NBC zusammen jeden Abend<br />
rund fünfundfünfzig Millionen Zuschauer. 2011, also<br />
drei Jahrzehnte später, waren es gerade noch zweiundzwanzig<br />
Millionen. 7 Das ist ein Rückgang von knapp<br />
sechzig Prozent. Was aber noch erschreckender ist: In<br />
derselben Zeit ist die amerikanische Bevölkerung um<br />
rund achtzig Millionen gewachsen. Das heißt, es gäbe<br />
achtzig Millionen potenzielle zusätzliche Seher, stattdessen<br />
gingen mehr als dreißig Millionen verloren.<br />
Und noch etwas ist passiert: Diese Zuseher werden<br />
immer älter. Allein in den letzten fünf Jahren sind sie<br />
im Schnitt um zweieinhalb Jahre älter geworden. In<br />
den USA ist der durchschnittliche Seher von Network<br />
Evening News heute 62,3 Jahre alt. Der durchschnittliche<br />
US-Amerikaner ist knapp 37. Und diese Kluft zeigt<br />
sich nicht nur in Amerika.<br />
Wenn wir uns die vier wichtigsten Nachrichtensendungen<br />
in Deutschland ansehen, also jene von ARD,<br />
32<br />
7 Vgl. Guskin/Rosenstiel: Network News – The Pace of<br />
Change Accelerates, in: The State of the News Media 2012.<br />
An Annual Report on American Journalism – online: http://<br />
is.gd/6gAKcE
ZDF, RTL und SAT1, dann sind dort im Schnitt 87 Prozent<br />
der Zuseher älter als 40 und nur mehr 13 Prozent<br />
unter 40. Das ist je nach Sender unterschiedlich,<br />
aber selbst bei den jüngsten Nachrichten – jenen von<br />
SAT1, die man nur mehr mit viel gutem Willen noch<br />
»Nachrichten« nennen kann – ist nur ein Viertel des<br />
Publikums unter 40. Bei ZDF-heute, einer wirklich exzellenten<br />
Nachrichtensendung täglich um neunzehn<br />
Uhr, sind sogar 96 Prozent der Zuseher über 40, nur 4<br />
Prozent sind jünger. 8<br />
Warum ist das so? Im ORF machen wir sehr regelmäßig<br />
Umfragen bei unseren Zusehern, welche Art<br />
von Fernsehsendungen sie interessiert. Eine Kategorie,<br />
die da abgefragt wird, lautet »ausführliche Nachrichten«<br />
– interessiert Sie das sehr, eher, eher nicht oder<br />
gar nicht? Die Altersverteilung ist absolut faszinierend.<br />
Das Interesse steigt nämlich völlig linear mit dem Alter.<br />
Mit jedem Altersjahrzehnt geht es hinauf: In der<br />
Altersgruppe 12 bis 19 sagen gerade mal 8 Prozent, sie<br />
interessieren sich sehr für ausführliche Nachrichten.<br />
Das steigt auf 20 Prozent im Alter von 20 bis 29, auf 33<br />
Prozent bei 30 bis 39 und so weiter, ganz konstant, bis<br />
hin zu 75 Prozent bei den über 60-Jährigen. Kein Faktor<br />
bestimmt das Nachrichteninteresse so sehr wie das<br />
Alter, nicht einmal das Bildungsniveau.<br />
Das bezieht sich aber keineswegs nur auf Fernsehnachrichten,<br />
sondern genauso auf Tageszeitungen.<br />
Das deutsche Allensbach-Institut stellt seit über dreißig<br />
Jahren in Studien regelmäßig die Frage: »Haben<br />
Sie gestern eine Tageszeitung gelesen?« 1980 haben<br />
das enorme 84 Prozent der über 30-Jährigen bejaht.<br />
8 Vgl. <strong>Wolf</strong>, <strong>Armin</strong>: »News kind of comes to me …« Young<br />
Audiences, Mass Media, and Political Information, Berlin<br />
2010: 65 – online: http://is.gd/VFiqAS<br />
33
Bei den 14- bis 29-Jährigen waren es deutlich weniger,<br />
nämlich 72 Prozent. Im Lauf der folgenden drei Jahrzehnte<br />
ist aber nicht nur die Tageszeitungslektüre in<br />
Deutschland insgesamt massiv zurückgegangen – die<br />
Kluft zwischen über 30-Jährigen (2008: 70 Prozent) und<br />
Jüngeren (41 Prozent) ist geradezu dramatisch gewachsen,<br />
von 12 auf fast 30 Prozentpunkte, und sie wächst<br />
ständig weiter. 9<br />
Ihre Generation liest also sehr viel weniger Zeitung<br />
und sieht sehr viel weniger TV-Nachrichten als die Älteren.<br />
Nun ist die große Hoffnung in den Chefetagen<br />
von <strong>Verlag</strong>en und Fernsehstationen, dass Sie schon<br />
noch damit anfangen werden, wenn Sie selber um die<br />
dreißig sind, wenn Sie Familien haben und mehr zu<br />
Hause bleiben. Das Problem ist aber: Sie werden das<br />
nicht tun. Und das ist heute schon klar, auch wenn<br />
es erstaunlich viele Medienmacher nicht wahrhaben<br />
wollen.<br />
Auch das weiß ich aus einer Studie des Allensbach-<br />
Instituts. Dort hat man etwas sehr Spannendes gemacht.<br />
Die Meinungsforscher haben sich im Abstand<br />
von jeweils etwa einem Jahrzehnt das Medienverhalten<br />
verschiedener Alterskohorten angesehen. Wenn wir<br />
zum Beispiel die Teenager von 1989 nehmen, also die<br />
damals 12- bis 19-Jährigen: Von denen haben damals<br />
49 Prozent angegeben, sie würden regelmäßig eine Tageszeitung<br />
lesen. Im Jahr 2000 waren die Teenager von<br />
1989 ein gutes Jahrzehnt älter und zwischen 20 und 29<br />
Jahre alt. Haben sie mehr Tageszeitung gelesen? Nein,<br />
sogar ein bisschen weniger, nämlich 45 Prozent. Noch<br />
mal acht Jahre später waren die allermeisten zwischen<br />
34<br />
9 Vgl. Köcher, Renate: Neue Nutzungsmuster – neuer Medienmix?<br />
42. Mainzer Tage der Fernsehkritik. Mainz,<br />
23.3.2009: 15 – online: http://is.gd/d94Zz7
30 und 39. Mehr gelesen? Nein: 46 Prozent. Ihr Tageszeitungskonsum<br />
ist also über 20 Jahre praktisch konstant<br />
geblieben.<br />
Wie ist das mit der nächstälteren Altersgruppe, mit<br />
den 20- bis 29-Jährigen von 1989? Sie starten mit 57 Prozent<br />
und stehen knapp 20 Jahre später bei 54 Prozent.<br />
Sie sind also wesentlich älter, lesen aber nicht häufiger<br />
Tageszeitung. Genau das Gleiche gilt für die nächste<br />
Altersgruppe und für die nächste. Sie alle lesen, wenn<br />
sie 20 Jahre älter sind, genauso oft Tageszeitung wie<br />
früher als Junge. Sie sollten sich die Grafik zu dieser<br />
Studie online anschauen, das ist ein sehr eindrucksvolles<br />
– und ziemlich deprimierendes – Bild. 10<br />
Es sieht also so aus, als ob sich unser Nachrichtenverhalten<br />
im Alter zwischen 20 und 30 ausprägt. In dieser<br />
Phase lernen wir gewisse Nachrichtenrituale, die<br />
wir nicht mehr grundsätzlich ändern. Natürlich haben<br />
auch Ihre Eltern oder möglicherweise Ihre Großeltern<br />
mittlerweile einen Computer und schauen ins Internet,<br />
aber das Nachrichtenverhalten, das diese Generationen<br />
mit Mitte zwanzig gelernt haben, sah im Wesentlichen<br />
so aus: in der Früh die Tageszeitung und abends<br />
die Nachrichten im Fernsehen. Und das hat sich nicht<br />
mehr dramatisch geändert.<br />
Und genauso wenig wird sich Ihr Nachrichtenverhalten,<br />
das Sie sich zwischen zwanzig und dreißig<br />
angewöhnen, dramatisch ändern. Für uns, die wir<br />
davon leben, Fernsehsendungen zu produzieren oder<br />
Tageszeitungen zu machen, ist das keine gute Nachricht.<br />
Denn die Jüngeren unter Ihnen lesen schon heute<br />
vergleichsweise selten eine Tageszeitung. Laut der<br />
Allensbach-Studie waren es im Jahr 2008 gerade mal 29<br />
Prozent der 20- bis 29-Jährigen. Und wenn diese Grup-<br />
10 a. a. O.: 20<br />
35
pe – in ferner Zukunft – mal Mitte 40 ist, wird sie nicht<br />
öfter zu einer Zeitung greifen als heute.<br />
36