09.06.2014 Aufrufe

Die Entstehung menschlichen Verhaltens im Spannungsfeld von ...

Die Entstehung menschlichen Verhaltens im Spannungsfeld von ...

Die Entstehung menschlichen Verhaltens im Spannungsfeld von ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Die</strong> <strong>Entstehung</strong><br />

<strong>menschlichen</strong> <strong>Verhaltens</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Spannungsfeld</strong> <strong>von</strong><br />

Natur und Kultur<br />

Ein Essay <strong>von</strong> Stefan Reißmann<br />

geschrieben <strong>im</strong> Jahre 2000 AD<br />

Der britische Schriftsteller Rudyard Kipling erzählt in seinem<br />

„Dschungelbuch“, wie ein Säugling bzw. Kleinkind gewaltsam <strong>von</strong> seinen<br />

Eltern getrennt wird, in den Dschungel gelangt, wo es Wölfe adoptieren und<br />

aufziehen. Zu einem brauchbaren Mitglied der Wolfsgemeinschaft<br />

herangewachsen, kommt es aber wieder in Kontakt mit Menschen und ihrer<br />

Kultur, eine Begegnung, die ohne größere Schwierigkeiten meistert. Aber<br />

Kipling stattet sogar auch die Tiere mit so etwas wie Vernunft und Kultur aus.<br />

Bereits zweitausend Jahre zuvor hatte ein anderer Dichter den späteren Nabel<br />

der abendländischen Welt zum Folgeprodukt der – göttlich vermittelten -


STEFAN H. REISSMANN<br />

FEBRUAR 2000 AD<br />

Aufzucht zweier Knaben durch eine Wölfin erklärt. Und <strong>im</strong>mer wieder <strong>im</strong><br />

Verlauf der Jahrhunderte taucht dieses Motiv des unter Tieren oder<br />

anderweitig abseits aller <strong>menschlichen</strong> Kultur aufgewachsenen Menschen, der<br />

destotrotz nichts <strong>von</strong> seiner Menschlichkeit verliert, in zumindest der<br />

europäischen Literatur auf. Doch nicht nur in ihr, sondern auch in der Realität -<br />

oder dem was wir dafür zu halten pflegen – gebricht es an Beispielen nicht.<br />

Immer wieder tauchen Waldmenschen auf, der Sprache unmächtig, scheu, ohne<br />

Kenntnis humaner Sitten. <strong>Die</strong> meisten <strong>von</strong> ihnen starben trotz pädagogischer<br />

Bemühungen nach wenigen Monaten oder Jahren, ohne daß sie in die<br />

menschliche Gesellschaft auch nur annähernd integriert werden konnten.<br />

Ebenso gestorben sollen <strong>im</strong> Hochmittelalter Kinder sein, welche Kaiser<br />

Friedrich II. ihren Eltern entriß und soweit als möglich jeglicher<br />

Sozialkontakten abstinierte, um zu erfahren, welche Sprache sie zu sprechen<br />

begännen.<br />

Ist es möglich, aus diesen Beobachtungen etwas über die Grundlagen und<br />

Ursachen <strong>menschlichen</strong> <strong>Verhaltens</strong> abzuleiten? Sagen sie etwas darüber aus,<br />

inwiefern menschliches Verhalten biologisch oder kulturell bedingt ist?<br />

Zuückhaltend betrachtet, nicht unmittelbar. Aber an ihnen ist es vielleicht<br />

möglich, die Problematik der Fragestellung aufzuzeigen. Komplexere<br />

<strong>Verhaltens</strong>weisen beruhen sicherlich höchstens in Ausnahemefällen auf<br />

einfachen eine-Ursache-eine-Wirkung-Prozessen. Und sicherlich ist<br />

beispielsweise der Spracherwerb daran gebunden, daß Kommunikation<br />

stattfindet, daß also das nicht der Sprache mächtige Kind in einer Umgebung<br />

aufwächst, in der man sich in einer Sprache unterhält und es also die Sprache<br />

und ihre Wirkung erfahren kann. Gleichwohl besitzt es eine ihm angeborene<br />

Fähigkeit, die Sprache zu erfassen und sich anzueignen; und es besitzt<br />

2


STEFAN H. REISSMANN<br />

FEBRUAR 2000 AD<br />

mutmaßlich nicht nur das Vermögen sondern auch eine Neigung dazu. <strong>Die</strong><br />

Eltern müssen das Kind nicht zum Erlernen der Sprache zwingen – wiewohl sie<br />

sich anfänglich einer verkindlichten Abwandlung ihrer sonstigen<br />

Umgangssprache zu bedienen pflegen und in dieser gezielt mit dem Säugling<br />

kommunizieren. Einige Linguisten und Psychologen - wie Noam Chomsky -<br />

gehen sogar noch weiter und nehmen eine Art ‚Sprachinstinkt‘ oder<br />

‚Universalgrammatik‘ an, welche bereits best<strong>im</strong>mte grammatikalische<br />

Grundstrukturen bereitstellen, die dann ein äußerst rasches Erlernen der<br />

Sprache ermöglichen. Und trotzdem der Spracherwerb unverbrüchlich an eine<br />

soziale Umwelt gekoppelt und <strong>im</strong> speziellen, d.h. <strong>im</strong> konkreten Erlernen einer<br />

best<strong>im</strong>mten Sprache, ohne Zweifel kulturabhängig ist, ist es doch auch nicht<br />

abwegig, eine <strong>Entstehung</strong> unter den Bedingungen der natürlichen Selektion <strong>im</strong><br />

Sinne der neodarwinistisch-synthetischen Evolutionstheorie mit einer genetisch<br />

verankerten Grundlage anzunehmen. Denn es ist da<strong>von</strong> auszugehen, daß<br />

frühere Hominidenformen in Gruppen lebten und mithin auf Kommunikation<br />

angewiesen waren. Folglich war ihre Umwelt <strong>im</strong>mer auch eine soziale; die<br />

<strong>Entstehung</strong> <strong>von</strong> <strong>Verhaltens</strong>prädispositionen, aus denen nur vermittels sozialer<br />

Interaktionen durch diese in spezifischer Weise geformte <strong>Verhaltens</strong>weisen<br />

hervorgehen konnten, reichte aus, damit jene ausgelesen werden konnten, denn<br />

aufgrund der allenthalben vorhandenen Sozialität war die hinreichende<br />

Bedingung stets gegeben.<br />

Da der Mensch nun mal ein „ζοον πολιτικον“ ist, und selbst mehr oder minder<br />

alle Säugetiere Brutpflege betreiben und ihre Nachkommen auch nach der<br />

Geburt noch eine Weile betreuen und aufziehen, ist diese soziale Umwelt<br />

gewissermaßen <strong>im</strong> ‚Selektionswert‘ einer Erbanlage inbegriffen, sofern sie bei<br />

der Ausprägung des auf ihm beruhenden Merkmals eine Rolle spielt, und sie<br />

3


STEFAN H. REISSMANN<br />

FEBRUAR 2000 AD<br />

kann man sicherlich auch dem „extended phenotype“ zurechnen. Biologisch<br />

bedingt ist nicht gleich genetisch verankert, und daß ein best<strong>im</strong>mtes Merkmal<br />

intraspezifischen <strong>Verhaltens</strong> bei Säugetieren sich unter Entzug <strong>von</strong><br />

Sozialkontakten nicht ‚natürlich‘ entwickelt<br />

ist weniger ein Zeichen<br />

mangelnder biologischer Bedingtheit als Ausdruck ‚unnatürlicher‘<br />

Umweltbedingungen. Meines Erachtens <strong>im</strong>pliziert die Fragestellung auch eine<br />

falsche Frontlinie: „biologisch bedingt“ oder<br />

„evolutiv entstanden“ ist nicht gleichbedeutend mit „genetisch verankert“, und<br />

Kultur ist nur einer unter verschiedenen Umweltfaktoren. Im übrigen sind an<br />

der Ausbildung best<strong>im</strong>mter <strong>Verhaltens</strong>weisen fast <strong>im</strong>mer mittelbar oder<br />

unmittelbar sowohl genetische als auch Umweltfaktoren beteiligt; weder ein<br />

Gemälde noch eine Steinskulptur waren in ihren Ausgangsmaterialien<br />

angelegt, doch kann man aus einem Fels kein Gemälde noch aus Farbe und<br />

Leinwand bzw. Papier eine Statue machen.<br />

Rein genetisch bedingt sind wohl nur recht einfache reflexive oder instinktive<br />

<strong>Verhaltens</strong>elemente wie beispielsweise Mundsaugreflex oder gewisse m<strong>im</strong>ische<br />

Ausdrücke wie Lachen oder Weinen, welche auch bei taubblind geborenen<br />

Kindern beobachtet werden konnten, die sie nicht der Umwelt abgeschaut<br />

haben konnten. Doch selbst bei der Regelung ihrer Expression setzen<br />

Umweltfaktoren an, so kann man Lachen oder Weinen auch vortäuschen, zur<br />

Schau spielen, oder man kann die äußeren Anzeichen der eigenen Gefühle<br />

unterdrücken und ein ‚Pokerface‘ präsentieren.<br />

Ebenfalls eng <strong>von</strong> genetischen Faktoren abhängig sind vermutlich die<br />

Regungen des Gefühls, welche selber aber ja noch kein Verhalten oder gar<br />

Handeln darstellen, dieses aber auslösen können. <strong>Die</strong>s dürfte beispielsweise für<br />

best<strong>im</strong>mte sexuelle Präferenzen zutreffen, die wohl zum Teil sogar unbewußt<br />

4


STEFAN H. REISSMANN<br />

FEBRUAR 2000 AD<br />

geregelt werden wie hinsichtlich einer komplementären Austattung des<br />

Immunsystems und deren Rezeption, für Aggressivitätssteigerung infolge <strong>von</strong><br />

Provokationen, die starke emotionale Bindung <strong>von</strong> Müttern an ihr Kind oder<br />

auch eine Scheu gegenüber Fremden.<br />

Soziogenetisch entstanden sind sicher alle höheren Kulturleistungen, wiewohl<br />

sie wieder Beziehungen zu den basalen <strong>Verhaltens</strong>mustern knüpfen können. So<br />

haben sicherlich religiöse Rituale, Kunstgeschmack oder bevorzugte<br />

künstlerische Ausdrucksweisen, spezifische Ernährungsgewohnheiten wie die<br />

Bevorzugung best<strong>im</strong>mter Gewürze, die Staatsorganisation oder das<br />

Justizsystem neuzeitlicher Staaten, die politische Überzeugung, moralisches<br />

Handeln aufgrund philosophisch gerechtfertigter Ethiken, Regeln der Etikette<br />

oder generell alles bedachte, intentionale Handeln keine unmittelbare<br />

biologisch-genetische Grundlage. Erkenntlich wird eine mehr oder minder rein<br />

sozial bedingte <strong>Verhaltens</strong>weise vor allem, wenn sie nur in best<strong>im</strong>mten<br />

Kulturen auftaucht, innerhalb dieser aber recht einheitlich und bei weitgehend<br />

allen in Frage kommenden Individuen auftritt. Beispiele wären z.B. die<br />

Verschmähung <strong>von</strong> Schweinefleisch bei Musl<strong>im</strong>en oder die Bevorzugung des<br />

Schneidersitzes bei verschiedenen außereuropäischen Völkerschaften. Ebenso<br />

verschiedene Begrüßungsriten wie Handeschütteln, Nasereiben, Belgischer<br />

Kuß, Armausstrecken, Verneigen, Knicks, Kratzfuß, Umarmen, Zunicken etc.<br />

p.p.. Allerdings können auch diese wiederum offenbar genetisch verankerte<br />

Elemente integrieren, bspw. gilt der Augengruß als für alle <strong>menschlichen</strong><br />

Kulturen universell.<br />

Wie aus den Beispielen ersichtlich wird, können biogenetische Hypothesen in<br />

der Regel nur zur Erklärung sehr grundlegender, oft scheinbar trivialer<br />

Erscheinungen des <strong>menschlichen</strong> Lebens herangezogen werden.<br />

5


STEFAN H. REISSMANN<br />

FEBRUAR 2000 AD<br />

Humansoziobiologische Ansätze können gegenwärtig in der Regel nur dort<br />

fruchtbare Hypothesen liefern, wo es um <strong>Verhaltens</strong>phänomene geht, welche<br />

sowohl räumlich wie zeitlich in für menschliche Kulturen universell erscheinen.<br />

Denn bei diesen ist da<strong>von</strong> auszugehen, daß sie eine biologische und genetische<br />

Grundlage haben, welche sich in der biologischen Evolution herausgebildet hat<br />

und daher allen heute lebenden Menschen gemein sein dürfte. Damit steht<br />

indes aber auch fest, daß dies nur recht einfache und grundlegende<br />

<strong>Verhaltens</strong>weisen bzw. Merkmale handeln kann, welche auch vor<br />

zehntausenden oder gar Millionen Jahren bereits bei unseren Vorfahren<br />

auftraten. Deswegen können sie allerdings durchaus auch in unserer heutigen<br />

Alltagswelt <strong>von</strong> einschneidender Bedeutung sein, denke man zum Beispiel an<br />

die Frage der Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Kurzum, es geht vor<br />

allem um sogenannte anthropologische Konstanten.<br />

Als kulturell dagegen dürften solche Phänomene gelten, welche eben jene<br />

zeitliche und räumliche Konstanz und Universalität nicht zeigen. Allerdings<br />

gilt dies auch für etliche eindeutig genetisch bedingte Merkmale, wie zum<br />

Beispiel die Haut- oder Haarfarbe, was die Definition über dies Kriterium<br />

schwierig macht. Aber insgemein dürfte doch gelten, daß die meisten<br />

soziogenetischen Phänomene einem relativ raschen zeitlichen und räumlichen<br />

Wandel unterliegen, ziemlich komplex sind und starke, auch abrupte,<br />

Differenzen aufweisen können. Dennoch können sie durchaus auch eine – sehr<br />

mittelbare Grundlage haben, ‚an einer Leine hängen‘. Doch ist da<strong>von</strong><br />

auszugehen, daß sie Emergenzen darstellen, welche aus den<br />

zugrundeliegenden biologisch-genetischen Faktoren nicht ohne weiteres<br />

abgeleitet werden können und daher zumal der Zweckmäßigkeit auf einer<br />

höheren Ebene beschrieben werden müssen.<br />

6


STEFAN H. REISSMANN<br />

FEBRUAR 2000 AD<br />

Ein anderer wesentlicher Unterschied neben dem unterschiedlichen<br />

Komplexitätgrad ist, daß bei biogenetischen Erklärungen individuelle<br />

Entscheidungen als Ursache für die <strong>Entstehung</strong> der entsprechenden<br />

<strong>Verhaltens</strong>weise nicht in Frage kommen und eine Art freier Wille bestenfalls als<br />

Resultat evolutiver Prozesse und Antagonist der anderen Prädispoitionen<br />

denkbar ist, während bei soziogenetischen Erklärungen in der sozialevolutiven<br />

Entwicklung best<strong>im</strong>mter <strong>Verhaltens</strong>phänomene individuellen Entscheidungen<br />

oder Erfindungen durchaus ursächliche Bedeutung beigemessen werden muß<br />

und diese auch bei der Übernahme oder Ablehnung <strong>von</strong> Sitten o.ä. <strong>im</strong> Verlaufe<br />

der Individualentwicklung <strong>von</strong> Bedeutung sind.<br />

Damit hängt auch ein weiterer Aspekt zusammen: Biogenetische Erklärungen<br />

<strong>im</strong>plizieren, daß die entsprechenden <strong>Verhaltens</strong>weisen nur innerhalb<br />

festgelegter Bandbreiten, gemäß einer genetisch verankerten Reaktionsnorm<br />

geändert werden können, während soziogenetische Erklärungen in der Regel<br />

gerade die Veränderlichkeit thematisieren und die historische Bedingtheit der<br />

Phänomene betonen, und mithin auch dem Wandel und Utopien Raum lassen.<br />

<strong>Die</strong>ser Unterschied ist wohl auch derjenige, der in der Öffentlichkeit die<br />

Gemüter am meisten zu erhitzen pflog oder pflegt, obgleich er meines<br />

Erachtens so absolut gar nicht ist und etwas trügt.<br />

7

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!