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SPEZIAL<br />
Beweglichkeit<br />
erhalten –<br />
wiederherstellen<br />
ORTHOPÄDIE<br />
Patienten erhalten immer mehr<br />
Gelenkprothesen – unter anderem<br />
weil wir länger leben.<br />
SCHMERZDIAGNOSE<br />
Um die Ursachen von Schmerzen<br />
zu finden, müssen viele Spezialisten<br />
zusammenarbeiten.<br />
WINTERSPORT<br />
Neue Sportarten und neue<br />
Ausrüstungen verändern das<br />
Verletzungsmuster.
INHALT<br />
Beweglichkeit<br />
erhalten – wiederherstellen<br />
4 INTERDISZIPLINÄRE SCHMERZABKLÄRUNG<br />
Dem Schmerz auf der Spur<br />
7 R HEUMATISCHE ERKRANKUNGEN<br />
Rheuma ist keine Diagnose<br />
8 SCHMERZEN AM ARBEITSPLATZ<br />
Damit der Bürostuhl nicht zur Folterbank wird<br />
10 IMPINGEMENT<br />
Wenn es klemmt im Gelenk<br />
12 GELENKPROTHESEN<br />
Zehntausende von Prothesen jedes Jahr<br />
16 SPORTVERLETZUNGEN<br />
Neue Risiken: Wintersport im Wandel<br />
19 ARTHROSE<br />
Erkennen, bevor es zu spät ist<br />
20 KNORPELSCHADEN<br />
Knorpelregeneration bringt Beweglichkeit<br />
zurück<br />
23 K NOCHENERSATZ<br />
Knochenharter Ersatzjob<br />
24 FORSCHUNG UND WERKPLATZ<br />
Medizintechnik, eine Schweizer Tradition<br />
26 LANGZEITVERHALTEN<br />
Die Lebensdauer von Prothesen ist begrenzt<br />
27 ETHIK<br />
«‹Zu alt› gibt es nicht»<br />
28 SCHLÜSSELLOCH-CHIRURGIE<br />
Dank Minikamera mittendrin statt nur dabei<br />
30 INTRAOPERATIVES MONITORING<br />
Bei Rückenoperationen Risiken minimieren<br />
34 SPORTMEDIZIN<br />
Für Sportler und Normalos<br />
36 REHA<br />
- Rehabilitation flexibel gestalten<br />
- Muskeltraining unter Strom<br />
38 GESUNDHEITSÖKONOMIE<br />
- «Warum sind diese Eingriffe so teuer?»<br />
- Betreuen statt verwalten<br />
40 NEWS UND IMPRESSUM<br />
42 PORTRAIT<br />
Chirurgen aus Familientradition<br />
Editorial<br />
Mehr Orthopädie<br />
braucht das Land<br />
Ein Schweizer hat im Jahr 1780 die weltweit erste orthopädische Klinik<br />
eröffnet: Der Arzt Jean-André Venel legte in Orbe VD den<br />
Grundstein zu einer langen Tradition in unserem Land. Heute sind<br />
in der Schweiz knapp 500 Orthopäden tätig – darunter gut 20 Frauen.<br />
Der Begriff «Orthopädie» stammt aus dem Griechischen und bedeutet<br />
«etwas geradeziehen». Darum verwundert es nicht, dass das Logo der Orthopädie<br />
ein krummes Bäumchen zeigt, das an einem Pfosten geradegezogen<br />
wird. Tatsächlich wurden bis etwa um 1900<br />
hauptsächlich Kinder behandelt, die durch angeborene<br />
Störungen, wie Klumpfüsse, oder<br />
durch die Folgen von Kinderlähmung und Tuberkulose<br />
«verkrüppelt» waren. «Krüppel» galt<br />
damals übrigens als absolut korrekter Begriff.<br />
Die Behandlung erfolgte mit korrigierenden<br />
Schienen, Apparaten und Massschuhen – unterstützt<br />
durch Heilgymnastik.<br />
Erst im 20. Jahrhundert wurden Operationen<br />
an Knochen und Gelenken möglich, nachdem<br />
die Röntgenstrahlen und die Bakterien<br />
entdeckt sowie die Techniken der Narkose und<br />
der Hygiene entwickelt worden waren. Damit wurde die Orthopädie zu einem<br />
chirurgischen Fach: Nach dem 2. Weltkrieg kamen die operativen Behandlungen<br />
von Knochenbrüchen auf, ab 1960 die Kunstgelenke und ab<br />
den 1970er-Jahren die Gelenksspiegelungen.<br />
Heute sind bei uns Tuberkulose und Kinderlähmung dank Antibiotika<br />
und Impfungen praktisch verschwunden. Dafür steigt die Zahl der Gelenksabnützungen<br />
und Erkrankungen der Wirbelsäule. Verantwortlich dafür<br />
sind das Älterwerden der Bevölkerung und die Zunahme der Übergewichtigen.<br />
Zudem führt mehr Freizeit zu mehr Sportverletzungen.<br />
Dadurch haben in den vergangenen 10 Jahren orthopädische Behandlungen<br />
um gut 70 Prozent zugenommen, sodass heute fast ein Drittel aller<br />
Patienten in Schweizer Spitälern wegen Erkrankungen des Bewegungsapparates<br />
dort liegt. 2008 wurden rund 17 000 künstliche Hüft- und 11 000<br />
Kniegelenke eingesetzt. Tendenz steigend: bei den Hüften jedes Jahr um<br />
etwa 1 Prozent, bei den Kniegelenken sind es gar 5 Prozent. Mit dieser<br />
Zunahme und den längeren Nutzungszeiten der Implantate werden auch<br />
immer mehr Zweitoperationen nötig.<br />
Um dies zu bewältigen, braucht es künftig mehr Fachärzte. Der fachliche<br />
Nachwuchs ist jedoch nicht garantiert: Denn verbleibt die Ausbildung<br />
im bisherigen Rahmen und wird der Praxisstopp weiterhin aufrechterhalten,<br />
wird das Land bis ins Jahr 2020 rund ein Drittel Orthopäden zu wenig<br />
haben. Oder anders ausgedrückt: In 10 Jahren werden 10 000 schmerzgeplagte<br />
Menschen nicht mehr behandelt werden können. Ein Umdenken<br />
in der Gesundheitspolitik ist dringend nötig.<br />
Dr. Josef E. Brandenberg<br />
Ehem. Präsident der Schweiz. Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 3
Interdisziplinäre Schmerzabklärung<br />
Dem Schmerz<br />
auf der Spur<br />
Fast jeder Schweizer leidet mindestens<br />
einmal im Leben an Rückenschmerzen.<br />
Doch keine Beschwerde ist wie die<br />
andere. Eine pauschale Anleitung zur<br />
Abklärung der Ursachen gibt es daher<br />
nicht. Darum arbeiten in einem<br />
Schmerzzentrum verschiedene<br />
Spezialisten Hand in Hand.<br />
Von Fee Anabelle Riebeling<br />
Wenn der Rücken schmerzt, wünschen<br />
sich Betroffene schnelle Abhilfe. Doch<br />
Vorsicht vor übereilten Diagnosen<br />
und Therapien: Sie können sogar das Gegenteil<br />
bewirken und den Patienten noch kränker machen.<br />
Eine seriöse Abklärung erfordert Geduld,<br />
denn die Beschwerden können verschiedenste Ursachen<br />
haben.<br />
Jeder Rückenschmerz muss ernst genommen<br />
werden. Denn mitunter können die Beschwerden eine<br />
Ursache haben, die unbedingt geklärt werden muss, da<br />
sie ein Anzeichen für eine ernste Erkrankung sein können,<br />
beispielsweise einen Tumor. Ausserdem: «Je länger<br />
der Schmerz dauert, desto schwieriger ist es, die Ursache auszumachen»,<br />
sagt Bogdan Radanov, Leitender Arzt am<br />
Schmerzzentrum der Schulthess Klinik Zürich. Die Wirbelsäule<br />
ist ein komplexes System und ständiger Belastung ausgesetzt:<br />
Der untere Teil, die Lenden, trägt den Grossteil des<br />
Oberkörpergewichts, der obere, die Halswirbelsäule, ist für<br />
viele Bewegungen zuständig. Das macht beide anfällig.<br />
Klingt ein akuter Rückenschmerz nicht nach einer Woche<br />
ab, rät der Experte dazu, zunächst den Hausarzt aufzusuchen.<br />
Dieser kennt den allgemeinen Gesundheitszustand<br />
Forsetzung Seite 6<br />
Foto: iStock/ Jacek Chebraszewski, GESgrafik: Ralph Knobelspiess<br />
4 | | SPEZIAL | | Orthopädie Beweglickeit
GESPRÄCH<br />
Die erste Phase der<br />
Schmerzabklärung ist die<br />
wichtigste: Hält der Rückenschmerz<br />
mehr als<br />
eine Woche an, sollten<br />
Betroffene den Hausarzt<br />
aufsuchen, da ein unbehandelter<br />
Schmerz chronisch<br />
werden kann. Mittels<br />
einer umfassenden<br />
Anamnese erfasst der Arzt – soweit nicht von früheren Besuchen<br />
bekannt – die gesundheitliche Vorgeschichte und<br />
stellt zur Entwicklung sowie der Qualität der Beschwerden<br />
Überlegungen an: Wann treten sie auf? Wo schmerzt<br />
es? Was begünstigt sie? Ist aufgrund dieses Gesprächs<br />
noch keine Diagnose möglich, sollte der Hausarzt den<br />
akuten Schmerz frühzeitig mit Medikamenten lindern und<br />
die Weichen für weitere Abklärungen stellen.<br />
PHYSIOTHERAPIE<br />
Physiotherapien können<br />
das Leiden passiv mittels<br />
Massage oder aktiv mit<br />
Übungen lindern. Zudem<br />
sind Therapeuten auch<br />
in der funktionellen Diagnostik<br />
geübt. Das heisst,<br />
sie wissen, welche Glieder<br />
und Gelenke welche<br />
Bewegungen ausführen<br />
und in welcher Form Schmerz ausstrahlen kann. Bringen<br />
auch diese Untersuchungen die Ursache für den Schmerz<br />
nicht an den Tag, wird die Zeit bis zum definitiven Befund<br />
häufig mit passiven Behandlungen überbrückt. Das tut<br />
zwar gut, bringt aber auf Dauer nicht viel. Die Patienten<br />
müssen selber arbeiten. Das heisst: auf die Haltung achten<br />
und die Muskulatur mittels Training kräftigen.<br />
Um die Ursachen<br />
von Schmerzen<br />
gründlich abzuklären,<br />
arbeiten<br />
viele Spezialisten<br />
zusammen<br />
KLINISCHE<br />
ABKLÄRUNG<br />
Das eingehende Gespräch<br />
sollte durch eine klinische<br />
Untersuchung ergänzt werden,<br />
welche ebenfalls vom<br />
Hausarzt, aber auch von einem<br />
<strong>spezial</strong>isierten Physiotherapeuten<br />
durchgeführt<br />
werden kann. Beide prüfen,<br />
wie der Körper auf bestimmte Reize reagiert. Ob er problemlos<br />
die Anforderungen erfüllt, welche ihm beispielsweise<br />
bei Reflex-, Kraft- oder Sensibilitätsuntersuchungen<br />
gestellt werden. Oder ob sich dabei die Beschwerden<br />
verstärken. Je nach Ergebnis der klinischen Untersuchung<br />
kann der Patient im Anschluss daran mit einer adäquaten<br />
Therapie beginnen oder muss sich weiteren Untersuchungen<br />
unterziehen.<br />
RADIOLOGIE<br />
Dem Radiologen stehen<br />
verschiedene bildgebende<br />
Verfahren zur Verfügung,<br />
um Rückenschmerzen auf<br />
den Grund zu gehen. Oft<br />
reicht gewöhnliches Röntgen.<br />
Damit lassen sich die<br />
Knochenstruktur und die<br />
Gelenke erfassen.<br />
Die Magnetresonanztomografie<br />
(MRI) hingegen deckt Veränderungen an den weichen<br />
Geweben auf. Sie zeigt zum Beispiel, ob die Bandscheiben<br />
dehydriert sind oder die Nerven unter Druck und<br />
somit die Ursache des Schmerzes sind.<br />
NEUROLOGIE<br />
Lässt die Abklärung durch<br />
den Hausarzt oder der<br />
MRI-Befund des Radiologen<br />
vermuten, dass die<br />
Nervenwurzeln für den<br />
Rückenschmerz verantwortlich<br />
sind, übernimmt<br />
der Neurologe: Um den<br />
Verdacht zu bestätigen,<br />
macht er eine neurologische<br />
Untersuchung und misst die Nervenleitgeschwindigkeit.<br />
Liegt ein «radikulärer Schmerz» vor, kann dieser so<br />
identifiziert werden, da es zu Gefühlsstörungen, Muskelschwächen<br />
oder abgeschwächten Reflexen kommt.<br />
Beweglichkeit Orthopädie | | SPEZIAL | | 5
des Patienten und kann aufgrund dieses Vorwissens<br />
erste richtungweisende Schlüsse ziehen. Danach untersucht<br />
er den Patienten entweder selbst, verschreibt ihm<br />
eine Therapie oder leitet ihn an einen Spezialisten<br />
weiter.<br />
Doch: «Nicht immer ist die Ursache der Rückenschmerzen<br />
auf Anhieb erkennbar – und manchmal ist<br />
sie es auch nach vielen Untersuchungen nicht», sagt<br />
Martin Schnyder, Arzt in der Praxis<br />
für Interventionelle Schmerztherapie<br />
bei der Merian Iselin Klinik<br />
in Basel. Rund 80 Prozent der<br />
Rückenschmerzen sind unspezifischer<br />
Natur. Sie entwickeln sich<br />
beispielsweise aufgrund einer falschen<br />
Bewegung, Fehlbelastung<br />
Prof. Bogdan<br />
Radanov,<br />
Leitender Arzt am<br />
Schmerzzentrum<br />
der Schulthess<br />
Klinik in Zürich.<br />
Dr. Martin<br />
Schnyder,<br />
Praxis für<br />
Interventionelle<br />
Schmerztherapie,<br />
Belegarzt an der<br />
Merian Iselin<br />
Klinik in Basel.<br />
oder sogar durch starkes Husten<br />
während einer Erkältung. Solche<br />
Rückenschmerzen sollten nach<br />
maximal sechs Wochen – unterstützt<br />
durch Medikamente, Physiotherapie<br />
und Übungen für den<br />
Muskelaufbau – verschwunden<br />
sein. So lange warten meistens<br />
auch Hausärzte mit ihrer Überweisung<br />
an den Spezialisten. Dies<br />
ist für den Patienten manchmal<br />
nur schwer nachvollziehbar – für<br />
Schnyder ist es «das einzig<br />
Richtige».<br />
Lediglich in 20 Prozent aller<br />
Fälle mit Rückenschmerzen lässt<br />
sich die Ursache eindeutig feststellen.<br />
Aber auch hier brauchen<br />
die Betroffenen Geduld und müssen<br />
ihren behandelnden Ärzten –<br />
ob Allgemeinmediziner oder Spezialist<br />
– vertrauen, denn eine sorgfältige<br />
Abklärung braucht<br />
aufgrund der vielen Ursachen, die<br />
Rückenschmerz haben kann, Zeit:<br />
Denn viele verschiedene Spezialisten<br />
müssen Zusammenhänge überprüfen, Diagnosen<br />
fällen und das weitere Vorgehen koordinieren.<br />
«Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist bei der<br />
Schmerzabklärung von grosser Bedeutung», sagt Martin<br />
Schnyder. Auch Bogdan Radanov schätzt das Netz<br />
an Disziplinen in seinem Schmerzzentrum: Bei Unsicherheiten<br />
kann er immer mit einem <strong>spezial</strong>isierten<br />
Kollegen Rücksprache halten.<br />
Beide Schmerzexperten raten Patientinnen und<br />
Patienten davon ab, auf eigene Faust immer neue<br />
Spezialisten zu konsultieren. Radanov bringt es auf den<br />
Punkt: «Eine Nadel im Heuhaufen zu suchen, wo keine<br />
ist, frustriert den Patienten nur zusätzlich und verstärkt<br />
das Leid.»<br />
RHEUMATOLOGIE<br />
Wird der Rückenschmerz<br />
auch über Nacht nicht besser<br />
und erwachen Betroffene<br />
aufgrund des Schmerzes<br />
lange vor dem Klingeln<br />
des Weckers oder hält die<br />
Morgensteifigkeit mehr als<br />
eine halbe Stunde an, sollte<br />
der Rheumatologe aufgesucht<br />
werden. Dieser kann<br />
mittels weiterer Abklärungsschritte Ursachen wie Arthrose,<br />
Arthritis oder den Morbus Bechterew identifizieren<br />
und behandeln.<br />
INTERVENTION<br />
Interventionelle Schmerztherapeuten<br />
können therapieren,<br />
aber auch diagnostizieren:<br />
Besteht der Verdacht,<br />
dass der Schmerz<br />
durch die Reizung der Nervenwurzeln<br />
herrührt, wird<br />
in einem weiteren Schritt<br />
geklärt, welche Wurzel die<br />
Beschwerden auslöst. Mittels<br />
Lokalanästhesie kann der Mediziner nacheinander<br />
einzelne Nerven vorübergehend blockieren und prüfen,<br />
wann der Schmerz verschwindet. Ist die Schmerzursache<br />
identifiziert, können entsprechende therapeutische Massnahmen<br />
ergriffen werden.<br />
PSYCHOLOGIE UND<br />
PSYCHIATRIE<br />
Alles, was wir erleben, hinterlässt<br />
Spuren – emotional,<br />
aber auch körperlich.<br />
Denn das vegetative Nervensystem<br />
und Teile des<br />
Abwehrsystems sind eng<br />
mit der Muskulatur verbunden.<br />
Somit können auch<br />
psychische Entwicklungsstörungen, negative Erfahrungen<br />
und Stresssituationen zu körperlichen Schmerzen führen<br />
oder solche verstärken. In dieser Situation stehen Methoden<br />
der psychologischen Medizin zur Verfügung: Man<br />
kann – beispielsweise durch den gezielten Einsatz von<br />
Medikamenten oder geistige sowie körperliche Übungen<br />
– der Ursache auf den Grund gehen, die Lebenssituation<br />
verbessern und somit auch die Schmerzen lindern.<br />
6 | SPEZIAL | Beweglickeit
Rheumatische Erkrankungen<br />
Rheuma ist keine Diagnose<br />
Unter ein und demselben<br />
Namen werden viele<br />
verschiedene Krankheiten<br />
zusammengefasst. Einige<br />
davon können auch junge<br />
Menschen treffen.<br />
Von Simon Degelo<br />
Ich glaube, ich bekomme Rheuma, das<br />
muss am Alter liegen» – ein Satz, den<br />
man oft zu hören bekommt. Anders<br />
klingt es, wenn man die Ärztin fragt:<br />
«Rheuma ist keine Diagnose», sagt Inès<br />
Kramers-de Quervain von der Schulthess<br />
Klinik. Die Chefärztin für Rheumatologie<br />
spricht lieber von «rheumatischen Erkrankungen»<br />
und räumt gleichzeitig ein,<br />
dass dies ein weiter Begriff sei. Darunter<br />
fällt alles, was am Bewegungsapparat<br />
wehtun kann: von Arthrose über Rückenschmerzen<br />
bis zur Gicht und entzündlichen<br />
Gelenkserkrankungen. Mehrere<br />
hundert Krankheiten werden dazu gezählt.<br />
Sie lassen sich grob in drei Gruppen<br />
einteilen: entzündliche, degenerative rheumatische<br />
Erkrankungen sowie Stoffwechselerkrankungen<br />
mit Auswirkungen auf<br />
den Bewegungsapparat.<br />
Entzündliche Erkrankungen Sie werden<br />
durch eine fehlgeleitete Abwehrreaktion<br />
verursacht: Das Immunsystem hält<br />
eigene Zellen für gefährliche Krankheitserreger<br />
und greift sie an. Die Folgen sind<br />
– je nachdem, welche Gewebe betroffen<br />
sind – ganz unterschiedliche Erkrankungen.<br />
Zum Beispiel sind bei der rheumatoiden<br />
Arthritis die Knorpel und Knochen<br />
der Gelenke angegriffen, beim sogenannten<br />
Lupus (Fachsprache: Lupus erythematodes)<br />
das Bindegewebe, und das entzündliche<br />
Weichteilrheuma betrifft Muskeln<br />
und Sehnen. Für alle diese<br />
Erkrankungen gilt: Es sind keine Alterserscheinungen<br />
– im Gegenteil, sie können<br />
auch bei Kindern ausbrechen.<br />
Degenerative Erkrankungen Dazu<br />
gehören vor allem übermässige Abnutzungen<br />
der Gelenke, die sogenannten Arthrosen.<br />
Sie entstehen entweder primär<br />
ohne erkennbare Ursache oder sekundär<br />
als Folge einer mechanischen Störung im<br />
Gelenk.<br />
Stoffwechselerkrankungen Das häufigste<br />
Beispiel ist hier die Gicht. Dabei<br />
führt die Ablagerung von Harnsäurekristallen<br />
in den Gelenken zu akuten Entzündungsreaktionen,<br />
die typischerweise in<br />
Schüben auftreten.<br />
Doch nicht immer ist die Erklärung so<br />
eindeutig: Rückenschmerzen, als eine der<br />
häufigsten rheumatischen Beschwerden,<br />
können viele verschiedene Ursachen haben:<br />
von einer Verspannung über einen<br />
Bandscheibenvorfall bis zu einer Erkrankung<br />
innerer Organe, die auf den Rücken<br />
ausstrahlt. Und bei manchen Krankheiten<br />
«SCHLEIM AUS DEM GEHIRN»<br />
Der Begriff «Rheuma» kommt vom griechischen Wort «rheos», das so viel<br />
heisst wie fliessen. Erstmals verwendete ihn Guillaume de Baillou, der<br />
Leibarzt von Heinrich IV. Er erklärte sich die Beschwerden damit, dass<br />
kalter Schleim vom Gehirn in die Glieder fliesse.<br />
tappt selbst die Wissenschaft noch im<br />
Dunkeln. So sind zum Beispiel die Ursachen<br />
der sogenannten Fibromyalgie unbekannt.<br />
Sie äussert sich durch Schmerzen<br />
im Bereich der Muskelansätze.<br />
Weil es sich bei<br />
«Rheuma» um so<br />
viele Erkrankungen<br />
mit ähnlichen Symptomen<br />
handelt, ist<br />
die Diagnose oft<br />
schwierig. «Es gilt,<br />
viele Puzzlesteine<br />
zusammenzufügen»,<br />
sagt Rheumatologin<br />
Kramers. de Quervain,<br />
Dr. Inès Kramers-<br />
Erste Hinweise gibt Chefärztin<br />
Rheumatologie<br />
das Erkrankungsbild.<br />
Fällt der Ver-<br />
in Zürich<br />
Schulthess Klinik<br />
dacht auf eine<br />
Autoimmunerkrankung,<br />
können Untersuchungen des Blutes<br />
oder der Gelenkflüssigkeit weiterhelfen.<br />
Eine erhöhte Zahl von weissen Blutkörperchen<br />
ist ein deutliches Zeichen für Entzündungen.<br />
Sind die Gelenke betroffen, kommen<br />
bildgebende Verfahren zum Einsatz:<br />
Röntgenbilder bringen Veränderungen an<br />
den Knochen zum Vorschein, Ultraschall<br />
macht eine erhöhte Durchblutung der<br />
Gelenke sichtbar, was auf Entzündungsreaktionen<br />
hinweist. Erst die Kombination<br />
verschiedener Untersuchungsmethoden<br />
bringt ans Licht, was genau hinter den<br />
gemeinhin als «Rheuma» bezeichneten<br />
Beschwerden steckt.<br />
GESGrafik: Ralph Knobelspiess<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 7
Schmerzen am Arbeitsplatz<br />
Damit der Bürostuhl ni<br />
Ob am Bürotisch oder auf der Baustelle, viele Menschen<br />
leiden bei der Arbeit an Schmerzen. Diese lassen sich oft<br />
leicht erklären und einfach vermeiden.<br />
Tennisellbogen<br />
Symptome: Drückender Schmerz auf der<br />
Aussenseite des Ellbogens, kann sich bis<br />
zum Handgelenk ziehen. Verstärkt sich<br />
bei Belastung.<br />
Ursache: Eine Entzündung an den Ansätzen<br />
der Streckmuskeln im Unterarm.<br />
Diese wird hervorgerufen durch eine<br />
Über- oder Fehlbelastung des Handgelenks,<br />
beispielsweise beim Tennisspiel.<br />
Abhilfe: Bei Sport und körperlicher Arbeit<br />
einseitige Belastungen vermeiden<br />
oder mit entsprechendem Training vorbereiten.<br />
Im Büro ist die richtige Haltung<br />
besonders wichtig: Den Bürostuhl so einstellen,<br />
dass die Arme locker auf dem<br />
Tisch liegen und die Ellbogen einen Winkel<br />
von etwas über 90 Grad beschreiben.<br />
Sehnenscheidenentzündung<br />
Symptome: Stechender oder ziehender<br />
Schmerz, der sich auf der Unterseite des<br />
Handgelenks armaufwärts zieht.<br />
Ursache: Die Sehnenscheiden umhüllen<br />
die Sehnen dort, wo sie über Gelenke laufen,<br />
um die Reibung zu reduzieren. Durch<br />
Überbelastung können sie sich, besonders<br />
am Handgelenk, leicht entzünden.<br />
Gefährlich sind wiederkehrende Bewegungen,<br />
sei es mit einer PC-Maus oder<br />
mit einem Werkzeug.<br />
Abhilfe: Oft lassen sich monotone Bewegungen<br />
im Beruf nicht vermeiden. Deshalb<br />
sollten sie in möglichst natürlicher<br />
Haltung ausgeübt werden. Am Schreibtisch<br />
ist zum Beispiel darauf zu achten,<br />
dass die Tastatur gerade vor einem steht<br />
und möglichst flach gebaut ist. Auch ergonomische<br />
Bürogeräte beziehungsweise<br />
Werkzeuge helfen, die Belastung zu<br />
reduzieren.<br />
Schlechte Durchblutung<br />
Symptome: Müdigkeit und kalte oder<br />
einschlafende Füsse. Kann auch andere<br />
Leiden, wie Gelenkbeschwerden,<br />
begünstigen.<br />
Ursache: Nicht nur Muskeln und Organe<br />
sind auf eine gute Blutversorgung angewiesen,<br />
auch Nerven und Gelenke müssen<br />
mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt<br />
werden. Bei der Büroarbeit ist die Durchblutung<br />
oft mangelhaft: Durch das lange<br />
Stillsitzen wird der Puls reduziert und der<br />
Druck auf das Hinterteil behindert den<br />
Blutfluss in die Beine zusätzlich.<br />
Abhilfe: Bewegung kurbelt den Kreislauf<br />
wieder an. Dabei reicht es schon, kurz<br />
aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen.<br />
Das lässt sich gut in den Arbeitsalltag<br />
integrieren, beispielsweise beim Gang<br />
zum Kopiergerät oder indem man nach<br />
der Mittagspause die Treppe statt den Lift<br />
benutzt.<br />
Rückenschmerzen<br />
Symptome: Schmerzen im Rücken, vor<br />
allem Lendenbereich, Nacken und Schultergürtel<br />
sind betroffen.<br />
Ursache: Rückenschmerzen können verschiedene<br />
Ursachen haben, meistens trägt<br />
langes Sitzen wesentlich zu den Beschwerden<br />
bei. Selbst bei Bandscheibenvorfällen<br />
hängt es massgeblich von der Haltung<br />
und dem Trainingszustand des Rückens<br />
ab, ob sie zu Beschwerden führen.<br />
Abhilfe: Ein guter Stuhl mit beweglicher<br />
Rückenlehne stützt den Rücken und gibt<br />
ihm gleichzeitig die Freiheit, sich zu bewegen.<br />
So wird er ständig leicht trainiert.<br />
8 | SPEZIAL | Beweglichkeit
cht zur Folterbank wird<br />
Der typische Bürobuckel, welchen viele<br />
am Schreibtisch einnehmen, gilt es zu<br />
vermeiden. Dazu sollte der Bildschirm so<br />
eingestellt werden, dass sich die obere<br />
Kante leicht unterhalb der Augenhöhe<br />
befindet. Wer viel am Laptop arbeitet, benutzt<br />
besser einen externen Bildschirm<br />
«Langes Sitzen führt oft<br />
dazu, dass sich Beschwerden<br />
verstärken.»<br />
Raymond Denzler,<br />
Stv. Leiter der Abteilung Physiotherapie<br />
der Schulthess Klinik in Zürich<br />
oder einen Aufbau, welcher das Gerät auf<br />
die richtige Höhe bringt.<br />
Bandscheibenvorfall<br />
Symptome: Rückenschmerzen, können<br />
in Arme oder Beine ausstrahlen und dort<br />
ein Taubheitsgefühl hervorrufen.<br />
Ursache: Heben mit gebeugtem Rücken<br />
führt zu ungleichmässiger Belastung der<br />
Bandscheiben. Resultat: Bandscheibenvorfall<br />
– die Hülle der Bandscheibe reisst<br />
ein und das Bandscheibenmaterial drückt<br />
auf die Nerven, welche dem Rückenwirbel<br />
entspringen.<br />
Abhilfe: Schwere Gegenstände nur mit<br />
geradem Rücken heben. So verteilt sich<br />
der Druck gleichmässig auf die ganze Fläche<br />
der einzelnen Bandscheiben, und<br />
diese werden geschont. Starke Drehbewegungen<br />
des Rückens unter Belastung sollten<br />
ebenfalls vermieden werden, denn<br />
auch sie strapazieren die Bandscheiben<br />
übermässig.<br />
Knieschmerzen<br />
Symptome: Knieschmerzen, treten oft<br />
und vor allem bei Bewegung<br />
oder Belastung<br />
des Gelenks auf.<br />
Ursache: Das Knie ist<br />
ein sehr komplexes Gelenk,<br />
entsprechend vielfältig<br />
können die Ursachen<br />
für Knieprobleme<br />
sein. Neben Unfällen und<br />
Abnutzungserscheinungen kann auch<br />
falsche Belastung eine Rolle spielen.<br />
Abhilfe: Starke Drehbewegungen und<br />
seitliche Belastung sind Gift für das Knie;<br />
wie ein Scharnier ist es für Beuge- und<br />
Streckbewegungen ausgelegt. Zur Vermeidung<br />
gefährlicher Belastungen ist auf<br />
soliden Untergrund zu achten und langes<br />
Traversieren am Hang möglichst zu<br />
vermeiden.<br />
Taube Finger<br />
Symptome: Taubheit und Kribbeln in<br />
Fingern oder Armen.<br />
Ursache: Auch wenn die Symptome<br />
in den Händen auftauchen, kann die<br />
Ursache ganz woanderes liegen: Die<br />
Nervenstränge, welche zu den Händen<br />
führen, treten im Genick aus der Wirbelsäule.<br />
Wird dieses über längere Zeit<br />
gedehnt, können die Nerven eingeklemmt<br />
und blockiert werden, sodass<br />
die Empfindung vorübergehend<br />
gestört ist.<br />
Abhilfe: Wer mit krummem Rücken<br />
dasitzt, kann auch den Hals<br />
nicht gerade halten. Um geradeaus<br />
zu blicken, wird das Genick<br />
stark gedehnt. Ein gerader Rücken<br />
hilft also auch da.<br />
Illustration: iStock/A-Digit<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 9
Impingement<br />
Wenn es klemmt im Gelenk<br />
Dass wir unsere Gelenke nicht beliebig weit verdrehen können,<br />
ist normal. Doch bei einigen klemmen sie oder stossen an einen<br />
Anschlag – und das kann Schmerzen verursachen. Das so<br />
genannte Impingement ist häufig ein Problem für Sportler –<br />
aber nicht nur.<br />
Von Beat Glogger<br />
Plötzlich beim Anziehen des Pullovers<br />
ein stechender Schmerz in der<br />
Schulter oder beim Übereinanderschlagen<br />
der Beine ein Zwick in der Leistengegend.<br />
Die Gelenke klemmen. Medizinisch<br />
gesprochen kommt es zu einem<br />
sogenannten Impingement. Der Begriff<br />
leitet sich aus dem Englischen ab und bedeutet<br />
so viel wie «Zusammenstoss».<br />
Die Ursachen dafür können vielfältig<br />
sein. Entweder passen die Gelenkteile<br />
von Natur aus nicht optimal aufeinander,<br />
oder sie haben sich im Laufe der Jahre<br />
durch übermässige oder falsche Beanspruchung<br />
verändert.<br />
Oft werden Impingements auch bei<br />
Sportlern diagnostiziert. «Nicht weil es<br />
eine Folge des Sports wäre», sagt Andreas<br />
Gösele, Sportarzt an der Crossklinik in<br />
Basel. «Sondern weil Sportler ihre Gelenke<br />
extremer drehen und so erst die<br />
Einschränkung bemerken.»<br />
Zum Klemmer kann es in vielen Gelenken<br />
kommen: Im Ellbogen, Handgelenk,<br />
Knie und im oberen Sprunggelenk.<br />
Am häufigsten jedoch tritt das Impingement<br />
an Schultern und Hüften auf.<br />
Beim Hüft-Impingement stösst der<br />
Oberschenkelhals am Rand der Gelenkpfanne<br />
an. Entweder weil die Gelenkpfanne<br />
im Verhältnis zum Gelenkkopf zu<br />
tief ist oder weil ein kleiner Höcker am<br />
Oberschenkelhals eine weitere Bewegung<br />
verhindert.<br />
Bei beiden Formen treten Beschwerden<br />
meistens erst im Alter zwischen 30<br />
und 50 Jahren auf, manchmal aber schon<br />
bei 18-Jährigen: zum Beispiel drückende,<br />
dumpfe Schmerzen bei langem Sitzen<br />
oder stechender Hüftschmerz beim Auf-<br />
10 | SPEZIAL |Beweglichkeit<br />
stehen, In-die-Hocke-Gehen oder bei<br />
Drehbewegungen. Langfristig kann das<br />
fatale Folgen haben. Denn das dauernde<br />
Anstossen des Oberschenkelhalses an der<br />
Pfanne schädigt den Gelenksknorpel,<br />
und aufgrund der dauernden Reizung<br />
kann sich zusätzliches Knochenmaterial<br />
bilden – was das Problem verstärkt. Ein<br />
Teufelskreis, der unbehandelt in einer<br />
Arthrose enden kann.<br />
In welchem Alter sich die ersten Symptome<br />
zeigen, hängt wesentlich von der<br />
Belastung ab. Bei Sportlern können die<br />
Schmerzen schon im Jugendalter ausbrechen.<br />
«Wenn es richtig schmerzt, ist es<br />
meist schon etwas spät», sagt Jörg Schulenburg,<br />
Orthopäde und Sportmediziner<br />
an der Merian Iselin Klinik in Basel. Darum<br />
ist es wichtig, bei den ersten Anzeichen<br />
ärztlichen Rat einzuholen. Und die<br />
Erfolgsaussichten einer Therapie sind<br />
umso grösser, je früher sie beginnt.<br />
Das Impingement der Hüfte lässt sich<br />
nur durch eine Operation beheben. Ist<br />
der vorstehende Knochenteil am Oberschenkelhals<br />
das Problem, wird dieser abgeschliffen.<br />
Ist die Gelenkpfanne zu tief,<br />
werden deren Ränder gekürzt. Wenn<br />
auch der Knorpelring, der die<br />
Gelenkpfanne am Rand abschliesst,<br />
beschädigt ist, kann<br />
dieser genäht werden. Ist der<br />
Defekt aber zu gross, muss<br />
dieser Knorpelring eventuell<br />
entfernt werden.<br />
Solche Korrekturen wurden<br />
bis vor einigen Jahren ausschliesslich<br />
in einer offenen<br />
Operation ausgeführt. Das ist<br />
jedoch aufwändig, da das Hüftgelenk<br />
sehr tief unter verschiedenen<br />
Muskeln verborgen liegt.<br />
Dr. Jörg Schulenburg,<br />
Orthopäde<br />
u. Sportmediziner,<br />
Gemeinschaftspraxis<br />
Schützenmatt,<br />
Belegarzt an<br />
der Merian Iselin<br />
Klinik in Basel<br />
Um es zu erreichen muss, der Operateur<br />
am Hüfthöcker ein Knochenstück durchsägen,<br />
an dem viele Muskeln befestigt<br />
sind. Danach kann das Gelenk gefahrlos<br />
ausgerenkt werden, um die notwendigen<br />
Operationsschritte durchzuführen. Der<br />
Hüfthöcker wird am Schluss wieder<br />
verschraubt.<br />
In jüngerer Zeit setzt sich nun auch für<br />
Operationen im Hüftgelenk immer mehr<br />
die Arthroskopie durch (siehe auch Seite<br />
28). Bis zu 90 Prozent der Hüft-Impingements<br />
werden heute mit dieser weniger invasiven<br />
Methode operiert, wie der Orthopäde<br />
Schulenburg sagt. Die Methode hat<br />
den entscheidenden Vorteil, dass der Patient<br />
schneller wieder auf den Beinen ist.<br />
Das Impingement an der<br />
Schulter macht sich schmerzlich<br />
bemerkbar, wenn der Arm<br />
nach vorne oder oben bewegt<br />
wird. In dieser Stellung kommt<br />
der Oberarmknochen dem<br />
Schulterdach am nächsten, wobei<br />
die Sehnen der sogenannten<br />
Rotatorenmanschette zwischen<br />
dem Oberarmkopf und<br />
dem Schulterdach eingeklemmt<br />
werden können. Für<br />
das Einklemmen verantwortlich<br />
sind die in diesem Bereich
FRÜH-<br />
ERKENNUNG<br />
Bei Hockeyspielern macht sich das<br />
Hüft-Impingement schon im Jugendalter<br />
bemerkbar. Dank Früherkennung<br />
wird bei den Kloten Flyers<br />
das Problem schnell erkannt und<br />
behoben.<br />
Von Simon Degelo<br />
Hüfte<br />
Beim Impingement<br />
an der Hüfte<br />
stösst der Oberschenkelhals<br />
an<br />
den Rand der Gelenkpfanne<br />
des<br />
Beckenknochens,<br />
oder ein Höcker<br />
am Oberschenkelhals<br />
verhindert<br />
das vollständige<br />
Eindrehen.<br />
engen Platzverhältnisse, wie Marcel Isay,<br />
Schulter<strong>spezial</strong>ist von der Praxisgemeinschaft<br />
Clarahof in Basel, erklärt.<br />
Auch am gesunden Skelett ist der<br />
Platz hier knapp: Die Rotatorenmanschette<br />
besteht aus vier Sehnen. Darüber<br />
befindet sich auch noch ein Schleimbeutel,<br />
der die Reibung zwischen Sehnen und<br />
Knochen reduzieren soll. Verschiedene<br />
Faktoren können nun dazu führen, dass<br />
es hier noch enger wird und somit zum<br />
Impingement kommt:<br />
Schleimbeutelentzündung Dies ist eine<br />
der häufigsten Ursachen für ein Schulter-<br />
Impingement. Der Schleimbeutel entzündet<br />
sich, wenn er ständig gereizt wird,<br />
beispielweise bei längerem Arbeiten über<br />
Kopf. Durch die Entzündung<br />
schwillt der Schleimbeutel an<br />
und drückt auf die Sehne.<br />
Ablagerung von Knochenmaterial<br />
Als Reaktion des Körpers<br />
auf Abnutzungserscheinungen<br />
kann am Schulterdach Knochenmaterial<br />
abgelagert werden.<br />
Dieses drückt dann auf die<br />
Rotatorenmanschette, was<br />
schmerzt.<br />
Unausgeglichenes Training<br />
Besteht ein Ungleichgewicht<br />
der Schultermuskulatur, kann<br />
Dr. Marcel Isay,<br />
Schulter<strong>spezial</strong>ist,<br />
Praxisgemeinschaft<br />
Clarahof,<br />
Belegarzt an<br />
der Merian Iselin<br />
Klinik in Basel<br />
GESGrafik: Ralph Knobelspiess<br />
Schulter<br />
Beim Impingement<br />
an der Schulter ist<br />
der Platz zwischen<br />
Schulterdach und<br />
Oberarmkopf zu<br />
eng. Als Folge werden<br />
Sehnen, Muskeln<br />
und der<br />
Schleimbeutel<br />
schmerzhaft<br />
eingeklemmt.<br />
der Oberarmkopf nach oben drücken,<br />
wobei die Sehne und der Schleimbeutel<br />
eingeklemmt werden.<br />
Meistens ist zur Behebung eines<br />
Schulter-Impingements keine Operation<br />
nötig. Die Entzündungen des Schleimbeutels<br />
werden medikamentös und mit<br />
Physiotherapie behandelt. Wenn orale<br />
Entzündungshemmer nicht helfen, so<br />
spritzt der Arzt Kortison direkt in den<br />
Schleimbeutel.<br />
Hat ungleiches Muskeltraining das<br />
Impingement verursacht, muss der Patient<br />
die Muskeln, die den Oberarmkopf<br />
nach unten ziehen, trainieren. Dadurch<br />
senkt sich die Gelenkkugel leicht ab, und<br />
es bleibt mehr Platz für die Rotatorenmanschette.<br />
Diese Massnahmen helfen<br />
in den meisten Fällen, um ein<br />
Impingement zu heilen. «Nur<br />
bei etwa einem Drittel der Patienten<br />
müssen wir operieren»,<br />
sagt Marcel Isay.<br />
Dabei schleift man ein kleines<br />
Stück vom Schulterdach ab<br />
und entfernt den entzündeten<br />
Schleimbeutel. Auch dies ein<br />
Eingriff, der in der Regel mit<br />
einer Gelenkspiegelung durchgeführt<br />
werden kann.<br />
Die Konkurrenz ist gross: Wer im Eishockey<br />
vorne dabei sein will, muss<br />
immer härter trainieren und immer<br />
früher damit beginnen – und fördert<br />
damit die Entstehung eines Impingements.<br />
Früher wurde dieses oft<br />
erst entdeckt, nachdem es sich bereits<br />
zu einer Arthrose entwickelt<br />
hatte. Der Teamarzt der Kloten Flyers,<br />
Ueli Brunner, will dem entgegentreten:<br />
«Wir testen schon unsere<br />
Nachwuchsspieler routinemässig<br />
auf eine Veranlagung für Impingement.»<br />
Dies geschieht mit einem<br />
einfachen Test der Beweglichkeit in<br />
der Hüfte. Ist diese eingeschränkt, informiert<br />
der Arzt den Spieler und<br />
kontrolliert das Gelenk regelmässig.<br />
Eine Operation wird erst dann notwendig,<br />
wenn Knorpelverletzungen<br />
bemerkbar sind. Die Entscheidung,<br />
ob operiert wird, hänge von den Zukunftsplänen<br />
des Spielers ab, sagt<br />
Brunner: «Wenn jemand eine Profikarriere<br />
anstrebt, operieren wir<br />
möglichst früh. So profitiert der<br />
Spieler am meisten<br />
und muss<br />
nicht befürchten,<br />
dass eine<br />
Arthrose seiner<br />
Karriere<br />
ein<br />
vorzeitiges<br />
Ende<br />
setzt.»<br />
Foto: Remo Max Schindler<br />
Hat schon<br />
zwei Hüftoperationen<br />
hinter sich:<br />
Kloten-Flyers-<br />
Captain Victor<br />
Stancescu<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 11
Gelenkprothesen<br />
Zehntausende von<br />
Prothesen jedes Jahr<br />
Künstliche Gelenke werden heute oft minimal-invasiv eingesetzt. Das heisst,<br />
Chirurgen versuchen dabei, möglichst viel vom gesunden Knochen zu erhalten und<br />
Weichteile zu schonen. Dank Teilprothesen und modularen Kunstgelenken sind<br />
auch Revisionen einfacher geworden.<br />
Von Samuel Schlaefli<br />
Die Schmerzen kommen meist<br />
schleichend und verstärken sich,<br />
bis alltägliche Bewegungen<br />
plötzlich zur Qual werden. Eine Arthrose,<br />
im Volksmund Knorpelabnützung<br />
genannt, tritt oft ohne erkennbare Ursachen<br />
auf. Oder sie ist die Folge eines Gelenkschadens<br />
nach einem Unfall, Sport<br />
mit Fehlbelastungen, Rheuma sowie<br />
Übergewicht. Bringen nichtinvasive Therapien,<br />
wie Physiotherapie, Salbenverbände,<br />
entlastende Bewegungshilfen oder<br />
schmerzlindernde Medikamente, keine<br />
Besserung, schlägt der Arzt als letzte Option<br />
einen Gelenkersatz vor. Operationen<br />
für den Einsatz von künstlichen Hüft-,<br />
Knie-, Sprung- und Schultergelenken<br />
sind heute Standard.<br />
Mit 12 000 bis 15 000 Operationen<br />
pro Jahr ist das künstliche Hüftgelenk in<br />
der Schweiz die mit Abstand am häufigsten<br />
eingesetzte Gelenkprothese. Entsprechend<br />
gut sind die Resultate: «19 von 20<br />
Patienten mit künstlichen Hüftgelenken<br />
sind nach zehn Jahren weitgehend beschwerdefrei<br />
– die Patientenzufriedenheit<br />
ist sehr hoch», sagt Roland Mendelin,<br />
Spezialist für Hüftprothesen an der<br />
Merian Iselin Klinik in Basel. Dieser Erfolg<br />
geht unter anderem auf minimal-invasive<br />
Operationsmethoden zurück. «Je<br />
mehr Weichteile, darunter vor allem<br />
Dr. Roland Mendelin,<br />
Spezialist für<br />
Hüftprothesen,<br />
Crossklinik, Belegarzt<br />
an der Merian<br />
Iselin Klinik in<br />
Basel<br />
Dr. Pascal Rippstein,<br />
Chefarzt des<br />
Zentrums für Fusschirurgie<br />
an der<br />
Schulthess Klinik<br />
in Zürich<br />
Dr. Christoph<br />
Holenstein, Spezialarzt<br />
für Kniechirurgie,<br />
Praxisgemeinschaft<br />
Clarahof,<br />
Belegarzt an der<br />
Merian Iselin Klinik<br />
in Basel<br />
Dr. Fabrizio Moro,<br />
Leitender Arzt<br />
Orthopädie Obere<br />
Extremitäten an<br />
der Schulthess<br />
Klinik in Zürich<br />
Muskeln und Sehnenansätze, während<br />
der Operation geschont werden, desto<br />
schneller sind die Patienten wieder auf<br />
den Beinen», sagt Mendelin. Er nutzt deshalb<br />
zum Einsetzen der Prothese den<br />
«Hueter-Zugang», ein Schnitt von sechs<br />
bis neun Zentimeter Länge seitlich unterhalb<br />
des Leistenbandes. Im Zusammenhang<br />
mit solch minimal-invasiven Methoden<br />
setzen Chirurgen zunehmend<br />
Prothesen mit kurzen Schäften ein. Diese<br />
werden nicht mehr wie früher im Oberschenkelknochen<br />
einzementiert, sondern<br />
im Knochen verkeilt. Dieses sogenannte<br />
Pressfit-System, das auch bei Schulterund<br />
Knieprothesen zum Einsatz kommt,<br />
ist zwar bei der Operation etwas aufwändiger,<br />
führt nach Ansicht vieler Chirurgen<br />
aber zu besseren Resultaten. Noch<br />
fehlen jedoch Langzeitstudien.<br />
Prothesen für Knie-, Sprung- und<br />
Schultergelenk profitieren von den Pionierleistungen<br />
und langjährigen Erfahrungen<br />
bei der Hüfte. Trotzdem ist jedes<br />
Gelenk eine Wissenschaft für sich. Knieprothesen<br />
zum Beispiel bestehen heute<br />
aus drei Teilen: einer Ober- und Unterschenkelkomponente<br />
aus einer Metalllegierung<br />
sowie einem Polyethylen-Stossdämpfer<br />
dazwischen. «Wichtig beim<br />
Einsetzen der Prothese ist, dass das Bein<br />
nach der Operation wieder gerade ist,<br />
ganz durchgestreckt werden kann und die<br />
Bänder gut ausbalanciert funktionieren»,<br />
erklärt Christoph Holenstein, Spezialarzt<br />
für Kniechirurgie der Praxisgemeinschaft<br />
Clarahof in Basel. Bislang haben jedoch<br />
nur 20 Prozent der Patienten nach der<br />
Operation kein Fremdkörpergefühl mehr;<br />
GESGrafik: Ralph Knobelspiess<br />
12 | SPEZIAL | Beweglickeit
Schultergelenk<br />
Hüftgelenk<br />
Kniegelenk<br />
Sprunggelenk<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 13
ei der Hüfte sind es beinahe 100 Prozent.<br />
Trotzdem können auch Knieprothesenträger<br />
in den meisten Fällen wieder Sport<br />
treiben und sind in ihren Alltagsaktivitäten<br />
nicht eingeschränkt.<br />
Eine Neuigkeit sind Knieprothesen<br />
speziell für Frauen. Sie wurden aufgrund<br />
einer anatomischen Studie aus dem Jahr<br />
2006 entwickelt und nehmen besondere<br />
Rücksicht auf die spezifische Anatomie<br />
des Oberschenkels bei Frauen.<br />
Früher war für das Einsetzen einer<br />
Prothese oft noch das Alter des Patienten<br />
ein entscheidender Faktor. «Heute ist niemand<br />
mehr zu jung oder zu alt für einen<br />
Gelenksersatz», hält Holenstein fest. «Entscheidend<br />
ist allein die Diagnose und vor<br />
allem der Leidensdruck beim Patienten.»<br />
Auch bei künstlichen Sprunggelenken<br />
gibt es keine Alterslimite. Früher verschraubte<br />
man von Arthrose befallene<br />
Fussgelenkknochen in der Regel miteinander.<br />
Eine solche «Versteifung» liefert<br />
bis heute gute Ergebnisse. Der Patient<br />
bleibt mobil und kann meist wieder massvoll<br />
Sport treiben. Ein Risiko bleibt jedoch:<br />
eine langfristige Folgearthrose<br />
durch Überbelastung der anderen Fussgelenke<br />
– speziell bei jungen Patienten.<br />
Pascal Rippstein, Chefarzt des Zentrums<br />
für Fusschirurgie an der Schulthess Klinik<br />
in Zürich, zieht deshalb eine Prothese<br />
der Versteifung wenn möglich vor. Auch<br />
wenn Prothesen ebenfalls ihre Tücken<br />
haben: Durch die Polyethylen-Gleitfläche<br />
zwischen den Metallteilen – der Prothesenaufbau<br />
entspricht demjenigen beim<br />
Knie – entstehen Abriebe. Diese können<br />
Reaktionen auslösen, die zur Lockerung<br />
der Prothese führen. Darunter die Bildung<br />
von Zysten, winzigen Löchern im<br />
Knochen, welche die Verankerung der<br />
Prothese gefährden. Junge Prothesepatienten<br />
werden deshalb regelmässig<br />
geröntgt. Wenn nötig, werden die Löcher<br />
mit künstlichem Knochen gefüllt und die<br />
abgeriebene Gleitfläche ersetzt.<br />
Auch in hohem Alter bietet ein künstliches<br />
Sprunggelenk gegenüber einer Versteifung<br />
Vorteile, ist Rippstein überzeugt.<br />
Insbesondere wenn ein Patient nicht<br />
mehr recht an Stöcken gehen kann oder<br />
die Instruktionen des Arztes zur Entlastung<br />
nicht versteht. «Das bewegliche<br />
künstliche Gelenk gibt bei zu früher Belastung<br />
nach, während eine Versteifung<br />
Nur so viel ersetzen wie nötig: Teilprothese<br />
für das Knie<br />
Wenn möglich<br />
erste Wahl<br />
In rund 25 Prozent der Kniearthrosen<br />
ist die Knorpelabnützung auf einen<br />
bestimmten Gelenkanteil beschränkt.<br />
In solchen Fällen ist eine<br />
Knie-Teilprothese möglich, bei welcher<br />
nur der abgenutzte Knochenteil<br />
ersetzt wird. Die Resultate dieser<br />
minimal-invasiven Methode sind<br />
hinsichtlich Schmerzen, Rehabilitation<br />
und Funktion meist exzellent.<br />
Zudem ist eine allfällige Umwandlung<br />
von einer Teil- auf eine Totalprothese<br />
wesentlich einfacher als der<br />
aufwändige Wechsel von einer Totalauf<br />
eine Revisionsprothese.<br />
ein starres, bruchgefährdetes System ist»,<br />
erklärt Rippstein.<br />
Während sich Hüft-, Knie- und<br />
Sprunggelenk-Prothesen in der Schweiz<br />
als Therapie für schwerwiegende Arthrosen<br />
durchgesetzt haben, ist die Schultergelenk-Prothese<br />
für viele noch immer<br />
eine Kuriosität. Zu Unrecht, findet<br />
Fabrizio Moro, Leitender Arzt an der<br />
Schulthess Klinik in Zürich, denn auch<br />
Schulterprothesen seien für Spezialisten<br />
mittlerweile eine Standardoperation mit<br />
rund 90 Prozent zufriedenen Patienten.<br />
Chirurgen wählen bei der Schulter zwischen<br />
zwei unterschiedlichen Prothese-<br />
Bauarten: der anatomischen Totalprothese<br />
oder der umgekehrten (inversen)<br />
Schulterprothese. Entscheidend bei der<br />
Wahl ist der Zustand der Rotatorenmanschette.<br />
Diese besteht aus vier Sehnen, die<br />
den Gelenkkopf des Oberarms umhüllen.<br />
Ist diese Manschette intakt, so wird der<br />
kranke Knorpel des Oberarmkopfes –<br />
ähnlich wie beim Hüftgelenk – entfernt<br />
und durch einen Metallkopf ersetzt. Der<br />
geschädigte Knorpel der Schulterpfanne<br />
wird gleichzeitig mit einem Kunststoff-<br />
Implantat ersetzt.<br />
«Umgekehrte» Prothesen<br />
für ein zweite Chance<br />
Fehlt die Rotatorenmanschette, meist<br />
aufgrund von abnützungsbedingten Rissen,<br />
so wird eine inverse Schulterprothese<br />
eingesetzt. Dazu wird das Schultergelenk<br />
quasi umgedreht: Aus Pfanne wird Kopf<br />
und umgekehrt. Mit Hilfe anderer Muskeln<br />
wird dadurch ein Teil der Schulterbeweglichkeit<br />
wieder hergestellt. Die inverse<br />
Prothese bietet aber noch einen weiteren<br />
Vorteil: «Bei Problemen mit der<br />
Totalprothese, zum Beispiel bei sekundärem<br />
Verschleiss der Rotatorenmanschette,<br />
haben wir mit der inversen Prothese<br />
eine zweite Chance», erklärt Moro.<br />
Damit ein solches «Umrüsten» von anatomischer<br />
zu inverser Prothese ohne aufwändige<br />
Operation möglich ist, haben<br />
Ärzte an der Schulthess Klinik zusammen<br />
mit der Industrie ein modulares System<br />
entwickelt. Derselbe Metallstiel, der für<br />
eine Totalprothese im Oberarmknochen<br />
verankert wird, kann später auch für eine<br />
inverse Prothese genutzt werden.<br />
Neu in der Schulterprothetik sind<br />
Kurzschaftprothesen. Wie bei einer Totalprothese<br />
wird der Kopf des Oberarmknochens<br />
zwar entfernt. Durch eine<br />
nicht-invasive Schaftverankerung bleibt<br />
aber viel vom ursprünglichen Knochen<br />
erhalten. Das ist im Fall einer späteren<br />
Revision vor allem bei jungen Patienten<br />
von Vorteil. «Noch fehlen zwar Langzeitstudien<br />
für Kurzschaftprothesen,<br />
aber das Prinzip ist bestechend», sagt<br />
Moro.<br />
14 | SPEZIAL | Beweglickeit
Sportverletzungen<br />
Neue Risiken: Wintersp<br />
Jeden Winter kommt es auf Schweizer Pisten zu Tausenden<br />
von Unfällen. Wintersport ist und bleibt ein<br />
Vergnügen mit Gefahren. Die Verletzungen haben sich<br />
durch Neuerungen bei der Ausrüstung gewandelt.<br />
Von Simon Degelo<br />
In den letzten Jahrzehnten hat sich das<br />
Bild auf den Skipisten stark verändert:<br />
Wer kann sich noch an die Zeit erinnern,<br />
wo nur Skifahrer auf schmalen Latten<br />
über die Pisten sausten? Ende der<br />
80er-Jahre tauchten die ersten Snowboarder<br />
auf, und heute sind auch die Carver<br />
mit den stark taillierten Ski eine Selbst-<br />
verständlichkeit geworden. Plötzlich<br />
scheinen die Wintersportler auch risikobewusster<br />
geworden zu sein: Viele tragen<br />
einen Helm. Die grellen unförmigen Dinger<br />
– früher nur von Kindern unter elterlichem<br />
Zwang aufgesetzt – haben sich in<br />
letzter Zeit zu einem modischen Accessoire<br />
gemausert.<br />
Was sich nicht geändert hat: Skifahren<br />
und Snowboarden gehören zu den Sportarten,<br />
bei denen die meisten Unfälle passieren.<br />
Jährlich endet nach der Statistik der<br />
Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU)<br />
für rund 68 000 Schneesportler der Skitag<br />
im Spital oder beim Arzt. Davon müssen<br />
3000 während mindestens einer Woche<br />
stationär behandelt werden.<br />
Und hier zeigt sich, nicht nur die Bilder<br />
auf den Pisten haben sich verändert,<br />
sondern auch die Röntgenbilder in den<br />
Spitälern. «Bei Snowboardern sehen wir<br />
Verletzungen, die es bei Skifahrern nicht<br />
gibt», sagt Kerstin Warnke, Ärztin für<br />
Sportmedizin an der Schulthess Klinik<br />
in Zürich. Typisch sind Verstauchungen<br />
und Zerrungen am Fuss, besonders am<br />
oberen Sprunggelenk, welche beim Skifahren<br />
nicht vorkommen. Dies liegt an<br />
den Softboots, den weichen Schuhen, die<br />
16 | SPEZIAL | Beweglichkeit
Unterschiedliche<br />
Ausrüstungen<br />
Snowboarder verletzen vorallem<br />
die oberen Extremitäten.<br />
Bei Skifahrern ist das Knie der<br />
verletzungsanfälligste<br />
Körperteil.<br />
ort im Wandel<br />
Fotos: iStock/Michele Galli<br />
meist zum Snowboarden getragen werden.<br />
Sie bieten den Füssen weniger Schutz<br />
als Skischuhe. Allgemein ist die Verletzungsgefahr<br />
bei Snowboardern deutlich<br />
erhöht: Pro Stunde auf der Piste ereignen<br />
sich beim Boarden eineinhalb Mal so<br />
viele Unfälle wie beim Skifahren. Neben<br />
den Füssen sind vor allem Schultern,<br />
Kopf und Handgelenke gefährdet (siehe<br />
Tabelle Seite 18).<br />
Im Gegensatz zu den Snowboardern<br />
sind es bei Skifahrern in erster Linie Knieverletzungen,<br />
die dem Schneespass ein<br />
vorzeitiges Ende setzen. Allerdings haben<br />
an diesem Gelenk die Verletzungen dank<br />
neuem Sportmaterial abgenommen. «Bei<br />
der breiten Masse reduzieren Carvingski<br />
die Gefahr von Knieverletzungen deutlich»,<br />
sagt Othmar Brügger, der an der<br />
BfU die Risiken von Wintersport erforscht.<br />
Da stärker tailliert und etwas kürzer<br />
gebaut, sind Carvingski einfacher zu<br />
steuern, und es kommt seltener zu Stürzen.<br />
Allerdings kann es bei waghalsigen<br />
Könnern gerade wegen der starken Taillierung<br />
zu Unfällen kommen: Die hohen<br />
Geschwindigkeiten und die engen Radien<br />
führen zu extremen Kniebelastungen, sodass<br />
beim Carven ein Verletzungsmechanismus<br />
auftritt, der vorher praktisch unbekannt<br />
war: Das Kreuzband reisst, ohne<br />
dass man gestürzt wäre. Dasselbe Verletzungsmuster<br />
ist auch von Skirennfahrern<br />
bekannt.<br />
In Anbetracht der Gefahren erstaunt<br />
es nicht, dass sich immer mehr Wintersportler<br />
mit der entsprechenden Schutzausrüstung<br />
wappnen. Nach den Erhebungen<br />
der BfU tragen heute fünf Mal<br />
mehr Menschen einen Helm auf der Piste<br />
als noch im Jahr 2002. Rund 76 Prozent<br />
waren es in der letzten Saison. Bei den unter<br />
18-Jährigen liegt die Helmtragquote<br />
sogar bei 95 Prozent. Enttäuschend jedoch:<br />
Der Effekt in der Unfallstatistik ist<br />
gleich null, der Anteil an Kopfverletzungen<br />
hat in den letzten Jahren nicht abgenommen.<br />
Sind Helme also nutzlos? Brügger<br />
hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt:<br />
«Die Schutzwirkung von<br />
Helmen wurde durch verschiedene Studien<br />
eindeutig belegt – daran kann es<br />
nicht liegen. Vielmehr vermuten wir, dass<br />
andere Faktoren eine Rolle spielen, zum<br />
Beispiel die zunehmende Beliebtheit von<br />
Halfpipes und Schanzen.» Die Reduktion<br />
der Verletzungen wird also durch wag-<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 17
halsigere Sprünge wieder aufgehoben.<br />
Ausserdem hat sich nach Brügger das<br />
Verhalten bei Kopfverletzungen verändert:<br />
«Die Leute gehen heute vermehrt<br />
auch bei leichten Hirnerschütterungen zu<br />
einem Arzt. Gerade vor solchen schützt<br />
ein Helm nicht sehr gut.» Somit treiben<br />
diese eher leichten Fälle die Zahlen in die<br />
Höhe. Denn in der Statistik wird nur die<br />
Anzahl der Arztbesuche erfasst und nicht<br />
der Schweregrad der Verletzung.<br />
Doch nicht alle Teile der Schutzausrüstung<br />
werden gleich intensiv genutzt:<br />
Bei den Protektoren fürs Handgelenk ist<br />
«Je weicher der Schuh, desto<br />
grösser das Risiko für Verletzungen<br />
im Fussbereich»<br />
Dr. Kerstin Warnke,<br />
Chefärztin Sportmedizin, Schulthess Klinik in Zürich<br />
die Tragequote in den letzten vier Jahren<br />
sogar kontinuierlich zurückgegangen.<br />
Dies, obwohl Verletzungen an Handgelenken<br />
und Händen bei Snowboardern zu<br />
den häufigsten Verletzungen gehören<br />
und komplizierte Operationen nach sich<br />
ziehen können.<br />
Die Sportmedizinerin Warnke sagt:<br />
«Durch das Tragen von Handgelenkschonern<br />
nimmt zwar die Häufigkeit der<br />
Verletzungen nicht unbedingt ab, aber<br />
deren Schwere.» Sie ist überzeugt, dass<br />
der Handgelenkschutz sehr viel bringen<br />
würde. Denn ein verstauchtes Handgelenk<br />
ist viel einfacher zu behandeln als ein<br />
gebrochenes.<br />
Handgelenk Beim Handgelenk handelt<br />
es sich eigentlich um ein Ensemble von<br />
mehreren Gelenken. Ihnen verleihen<br />
zahlreiche Bänder, Sehnen und Knochen<br />
ihre Beweglichkeit. Am häufigsten sind<br />
Stürze auf die Hände bei Snowboardern,<br />
insbesondere bei Anfängern.<br />
Das Resultat sind Verstauchungen,<br />
Zerrungen oder Brüche. Oft ist es schwierig,<br />
das Problem zu erkennen: So ist zum<br />
Beispiel ein Bruch des Kahnbeins – einer<br />
der Knochen im Handgelenk – nicht sehr<br />
schmerzhaft und bleibt oft unentdeckt.<br />
Wird er nicht behandelt, so heilt er nicht<br />
richtig zusammen, die Spätfolge kann Ar-<br />
throse sein. Es empfiehlt sich daher, nach<br />
einem Sturz aufs Handgelenk im Zweifelsfall<br />
einen Arzt aufzusuchen, auch<br />
wenn sich die Schmerzen in Grenzen halten.<br />
Denn ein gebrochenes Kahnbein<br />
lässt sich durch eine einfache Operation<br />
wieder herstellen.<br />
Fussgelenk Im Fuss ist es meist das<br />
obere Sprunggelenk, welches verletzt<br />
wird – eine typische Snowboardverletzung.<br />
Während beim Skifahren die<br />
harten Schuhe den Fuss stabilisieren,<br />
schützen ihn Softboots nur unzureichend.<br />
Neben Verstauchungen kommt es häufig<br />
zu Brüchen. Gefährdet ist vor allem der<br />
Talusknochen, der das Waden- und das<br />
Schienbein des Unterschenkels mit dem<br />
Fuss verbindet. Ist er gebrochen, so muss<br />
ein Gips her. Bei einem Trümmerbruch<br />
oder wenn die Knochenstücke stark verschoben<br />
sind, wird gar eine Operation<br />
nötig.<br />
Kopf Kopfverletzungen – allen voran<br />
Hirnerschütterungen – gehören zu den<br />
häufigsten Verletzungen im Wintersport.<br />
Das Risiko ist beim Snowboarden deutlich<br />
höher als beim Skifahren. Helme bieten<br />
zwar einen guten Schutz gegen<br />
schwere Verletzungen wie Schädelbrüche,<br />
aber Hirnerschütterungen können<br />
sie nicht immer verhindern. Entgegen der<br />
landläufigen Meinung kann auch eine<br />
Hirnerschütterung, die nicht zur Bewusstlosigkeit<br />
führt, schwerwiegende<br />
Folgen haben. Wenn das Unfallopfer<br />
starke Kopfschmerzen verspürt oder an<br />
Gedächtnisstörungen leidet, sollte es<br />
überwacht und zu einem Arzt gebracht<br />
werden. Obwohl eine Hirnerschütterung<br />
ausser mit Bettruhe nicht direkt behandelt<br />
werden kann, ist es wichtig, dass<br />
etwaige Zusatzverletzungen, wie Gehirnblutungen,<br />
von einem Spezialisten abgeklärt<br />
werden.<br />
Knie Knieverletzungen treffen vor allem<br />
Skifahrer. Snowboarder sind weniger betroffen,<br />
da das Snowboard die Füsse verbindet<br />
und ein Verdrehen der Knie einschränkt.<br />
Bei Verdrehungsbewegungen<br />
sind Kreuzbänder und Menisken meist<br />
die schwächsten Glieder. Ist das vordere<br />
Kreuzband nur angerissen, so kann es<br />
meist durch Physiotherapie behandelt<br />
werden. Ist es aber vollständig gerissen,<br />
so ist eine Operation nötig, um die volle<br />
Stabilität des Knies wieder herzustellen.<br />
Dabei wird das gerissene Band durch ein<br />
Stück Sehne ersetzt, das dem Patienten an<br />
anderer Stelle entnommen wird. Ist ein<br />
Meniskus beschädigt, so muss er genäht<br />
oder teilweise entfernt werden.<br />
Schulter Zahlreiche Gelenke, Sehnen<br />
und Bänder sind nötig, um Oberarm,<br />
Schulterblatt, Schlüsselbein und Brustkorb<br />
miteinander zu verbinden und die<br />
Beweglichkeit der Schulter zu ermöglichen.<br />
Entsprechend vielfältig sind die<br />
Verletzungen, die man sich bei einem<br />
Sturz auf Schultern oder Arme zuziehen<br />
kann. Bei Schulterverletzungen ist eine<br />
sorgfältige Diagnose besonders wichtig,<br />
da es oft schwierig ist, zu bestimmen, wo<br />
die Ursache der Beschwerden liegt. Das<br />
Spektrum der Therapien ist breit: Sie reichen<br />
vom Einkugeln eines ausgerenkten<br />
Schultergelenks über die Ruhigstellung<br />
mittels eines Verbandes bis zur operativen<br />
Befestigung einer abgebrochenen<br />
Gelenkkugel.<br />
VERLETZUNGEN<br />
Pro 100 Verletzte in den<br />
Wintersaisons 2002 bis 2010<br />
Ski<br />
Snowboard<br />
Kopf/Hals 14 16<br />
Rumpf/Wirbelsäule 11 17<br />
Schulter/Oberarm 17 21<br />
Ellbogen/Vorderarm 3 13<br />
Handgelenk/Hand 3 13<br />
Hüfte/Oberschenkel 6 4<br />
Knie 35 10<br />
Unterschenkel/<br />
Sprunggelenk/Fuss 17 12<br />
18 | SPEZIAL | Beweglichkeit
Arthrose<br />
Erkennen, bevor es zu spät ist<br />
Noch immer gibt es<br />
kein Medikament, das<br />
Arthrose heilt. Doch je<br />
früher die Schädigung der<br />
Gelenkknorpel erkannt<br />
wird, desto eher lässt<br />
sich ihr Verlauf positiv<br />
beeinflussen.<br />
Von Simon Degelo<br />
Manche Patienten kommen erst<br />
in die Behandlung, wenn sie<br />
kaum mehr gehen können»,<br />
sagt Reinhard Elke, Facharzt für orthopädische<br />
Chirurgie an der Merian Iselin Klinik<br />
in Basel. Zu spät behandelt, bleibt oft<br />
nur noch ein Mittel gegen Arthrose: die<br />
Gelenkprothese. Werden die Krankheit<br />
und ihre Ursache jedoch früh genug erkannt,<br />
so gibt es verschiedene Möglichkeiten,<br />
den Verlauf zu verlangsamen, die<br />
Symptome zu lindern und in manchen<br />
Fällen die Beschwerden sogar ganz zum<br />
Verschwinden zu bringen.<br />
Plötzlich schmerzen alltägliche Bewegungen<br />
wie Treppen steigen oder Schuhe<br />
binden, während sich sonst kaum Schmerzen<br />
bemerkbar machen – dies ist oft<br />
ein erstes Anzeichen für eine Arthrose.<br />
«Nur ein aktiv genutzter<br />
Knorpel ist ein gesunder<br />
Knorpel»<br />
Jedoch tritt Arthrose in den meisten Fällen<br />
nicht einfach spontan auf, sondern<br />
hat eine Ursache, die zum Teil schon sehr<br />
lange vorher erkennbar gewesen wäre.<br />
Die häufigsten sind:<br />
Genetische Faktoren spielen in vielen<br />
Das Kniegelenk ist zusammen mit dem<br />
Hüft- und Sprunggelenk am häufigsten<br />
von Arthrose (im Kreis) betroffen.<br />
Prof. Reinhard Elke,<br />
Facharzt für orthopädische Chirurgie,<br />
OrthoMerian, Belegarzt an der Merian Iselin Klinik in Basel<br />
Fällen bei der Entstehung der Krankheit<br />
mit. Diese erkennen von familiäre Veranlagungen<br />
Betroffene oft früh, wie Arthrose<strong>spezial</strong>ist<br />
Elke sagt: «Wenn in einer Familie<br />
mehrere Fälle von Arthrose aufgetreten<br />
sind, kommen die Angehörigen<br />
und fragen, was sie vorbeugend tun<br />
können.»<br />
Störungen in der Geometrie der Gelenke<br />
können zu einer lokalen Überbelastung<br />
des Knorpels führen und so Arthrose verursachen:<br />
zum Beispiel O- und X-Beine.<br />
Eine immer öfter erkannte Ursache für<br />
GESGrafik: Ralph Knobelspiess<br />
Arthrose ist das sogenannte Hüft-Impingement.<br />
Damit ist eine Kollision zwischen<br />
dem Oberschenkelhals und dem<br />
Rand der Hüftgelenkpfanne gemeint, die<br />
ihren Grund oft in Wachstumsstörungen<br />
hat. Weiter können auch schlecht verheilte<br />
Knochenbrüche zu Arthrose<br />
führen.<br />
Krankheiten, welche die Gelenke direkt<br />
angreifen, sind ebenfalls Auslöser von<br />
Arthrose. Die bekanntesten Beispiele sind<br />
die Gicht und rheumatoide Arthritis.<br />
Bei der Behandlung von Arthrose<br />
steht die Behebung der Ursachen im Vordergrund<br />
– sofern dies überhaupt möglich<br />
ist. So lassen sich zum Beispiel Fehlstellungen<br />
operativ oder mittels Physiotherapie<br />
beheben. Gegen der Arthrose<br />
vorausgehende Krankheiten wie Arthritis<br />
helfen Immunsuppressiva; bei Gicht<br />
kommen Urikosurika zum Einsatz, welche<br />
die Ausscheidung von Harnsäure<br />
fördern.<br />
Jedoch sind die Möglichkeiten der<br />
Pharmazie, die Arthrose selbst zu bekämpfen,<br />
begrenzt: Trotz intensiver Forschung<br />
fehlt es noch immer an einem<br />
wirksamen Knorpelmedikament. Das<br />
Versprechen gewisser Medikamente, sie<br />
würden den Knorpel erhalten oder sogar<br />
wieder aufbauen, kann bei genauerer wissenschaftlicher<br />
Betrachtung leider nicht<br />
gehalten werden.<br />
Deshalb beschränken sich medikamentöse<br />
Therapien darauf, den Schmerz<br />
zu bekämpfen und die Entzündungsreaktionen<br />
zu hemmen, die mit der Zerstörung<br />
des Knorpels einhergehen. Dazu<br />
dienen sogenannte nichtsteroidale Antirheumatika,<br />
zu denen auch alltägliche<br />
Schmerzmittel wie «Aspirin» und «Voltaren»<br />
gehören. Sie können die Arthrose<br />
zwar nicht heilen, aber sie lindern die<br />
Symptome und helfen, das Einsetzen einer<br />
Prothese hinauszuzögern.<br />
Was Arthrosepatienten auf keinen<br />
Fall tun sollten: aufhören, sich körperlich<br />
zu betätigen. Denn Knorpel bleibt nur gesund,<br />
wenn er bewegt wird. Dabei sind<br />
allerdings gelenkschonende Sportarten<br />
wie Radfahren, Schwimmen oder Wandern<br />
zu bevorzugen. Sporttreiben hat<br />
überdies einen Zusatznutzen: Es hilft, Gewicht<br />
zu reduzieren und damit die<br />
Gelenke zu entlasten.<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 19
Knorpelschaden<br />
Knorpelregeneration bringt<br />
Der aufrechte Gang wäre ohne hoch <strong>spezial</strong>isierte Knorpelpolster in den Gelenken<br />
gar nicht möglich. Damit auch Patienten mit einem Knorpelschaden wieder<br />
schmerzlos gehen können, haben die Mediziner verschiedene Methoden entwickelt.<br />
Loch im Knorpel<br />
Bei einem KFOR-<br />
Einsatz zog sich<br />
ein 21-jähriger<br />
Soldat einen<br />
schweren Knorpelschaden<br />
am<br />
Knie zu. Das losgelöste<br />
Knorpelstück<br />
blockierte<br />
das Gelenk.<br />
Bei der Operation<br />
zur Knorpelreparatur<br />
muss dieses<br />
lose Stück entfernt<br />
werden, da<br />
es nicht mehr<br />
anwachsen kann.<br />
Foto: Schulthessklinik<br />
Von Simon Degelo<br />
Beim Thema Knorpel denken die meisten Leute<br />
an Ohrmuscheln – oder vielleicht an Knorpelfische.<br />
Doch Knorpel ist viel mehr als ein primitiver<br />
Vorläufer des Knochens. «Es handelt sich dabei<br />
um eines der höchst<strong>spezial</strong>isierten Gewebe im<br />
menschlichen Körper», sagt Matthias Steinwachs,<br />
Chefarzt für Orthobiologie und Knorpelregeneration<br />
an der Schulthess Klinik in Zürich. Ohne die Knorpelpolster<br />
in den Gelenken wäre uns das Gehen gar<br />
nicht möglich, denn sie sorgen dafür, dass sich die Gelenkflächen<br />
praktisch widerstandslos aufeinander<br />
verschieben können. Dank der Knorpel ist die Reibung<br />
in den Gelenken um ein Vielfaches kleiner als<br />
die zwischen zwei Eiswürfeln. Zudem sorgt der Knorpel<br />
für eine gleichmässige Verteilung der Last auf die<br />
Gelenkfläche und hilft, die Stösse zu dämpfen, welche<br />
bei jedem Schritt auf die Gelenke wirken.<br />
Diese Vielseitigkeit verdankt der Knorpel seinem<br />
speziellen Aufbau. Er besteht zu gut zwei Dritteln aus<br />
Wasser – zusammengehalten von Eiweissfasern, die<br />
für Festigkeit und Belastbarkeit sorgen. An der Oberfläche<br />
sind die Fasern horizontal ausgerichtet und<br />
bilden eine äusserst strapazierfähige Schicht, darunter<br />
verlaufen sie vertikal und schaffen eine feste Verbindung<br />
mit dem Knochen.<br />
Wie gut der Knorpel seine Funktion erfüllt, wird<br />
den meisten Menschen erst schmerzlich bewusst,<br />
wenn er es nicht mehr tut. Einmal beschädigt, kann<br />
er sich – anders als die Haut zum Beispiel – nicht von<br />
alleine regenerieren. «Nicht einmal ein glatter Schnitt<br />
mit einem Skalpell könnte zusammenwachsen», sagt<br />
der Knorpel<strong>spezial</strong>ist Matthias Steinwachs.<br />
Das Knorpelgewebe wird während des Wachstums<br />
durch sogenannte Knorpelzellen aufgebaut.<br />
Beim erwachsenen Menschen sind diese Zellen aber<br />
derart dicht von den Fasern umgeben, dass sie sich<br />
20 | SPEZIAL | Beweglickeit
Beweglichkeit zurück<br />
nicht mehr teilen können, wodurch der Knorpel die<br />
Fähigkeit verliert, sich zu regenerieren. Doch die Mediziner<br />
helfen der Natur auf die Sprünge. Heute gibt<br />
es verschiedene Methoden, um Knorpelschäden zu<br />
heilen und den Patienten ihre Beweglichkeit<br />
zurückzugeben.<br />
Mikrofrakturierung Hierbei macht man sich zunutze,<br />
dass auch bei erwachsenen Menschen im Knochenmark<br />
sogenannte Stammzellen zu finden sind.<br />
Diese haben die Fähigkeit, sich zu verschiedenen<br />
Zelltypen zu entwickeln – so auch zu Knorpelzellen.<br />
Nur finden die Stammzellen aus dem Knochenmark<br />
natürlicherweise nicht den Weg dorthin, wo sie gebraucht<br />
würden: zum defekten Knorpel.<br />
«Die Regeneration und<br />
Verpflanzung von Knorpel könnte<br />
in Zukunft Arthrose heilen»<br />
Prof. Matthias Steinwachs,<br />
Chefarzt für Orthobiologie und Knorpelregeneration<br />
an der Schulthess Klinik in Zürich<br />
Deshalb stösst der Chirurg bei der Mikrofrakturierung<br />
mit einer speziellen Ahle kleine Löcher in<br />
den Knochen. So können die Stammzellen austreten<br />
und neues Knorpelgewebe bilden. Allerdings hat dieser<br />
Sekundärknorpel nicht die perfekte Qualität des<br />
ursprünglichen Gelenkknorpels. Er besteht aus ungeordneten<br />
Fasern und ist deshalb auch nicht so stabil<br />
wie das Original.<br />
Zudem funktioniert eine normale Mikrofrakturierung<br />
nur bei kleinen Knorpelschäden. Ist der Defekt<br />
zu gross, werden die Stammzellen von der Gelenkflüssigkeit<br />
weggespült, bevor sie sich zu Knorpelzellen<br />
entwickeln können.<br />
Um dieses Problem zu lösen, bedeckt der Chirurg<br />
die defekte Stelle nach der Mikrofrakturierung<br />
mit einer speziellen Membran, welche die Nährstoffe<br />
passieren lässt, aber die neuen Knorpelzellen an ihrem<br />
Ort fixiert. Nach der Knorpelregeneration baut<br />
sich die Membran im Körper ab.<br />
Transplantation von Knorpelzylindern Bei<br />
dieser Methode verpflanzt der Chirurg Knorpelstücke<br />
mitsamt dem Knochen. Hierzu fräst er zuerst<br />
kleine Zylinder aus einer Stelle im Gelenk, die nicht<br />
stark belastet ist. Diese Stücke werden dann an der<br />
schadhaften Stelle eingefügt. Danach verwächst der<br />
knöcherne Teil mit dem umgebenden Knochen und<br />
hält den mitverpflanzten Knorpel an der gewünschten<br />
Stelle. Nachteil: Das Knorpelmaterial fehlt da, wo<br />
es entnommen wurde. Bei 20 Prozent der Patienten<br />
kommt es deshalb zu Beschwerden.<br />
Transplantation von Knorpelzellen Bei der<br />
Transplantation von Knorpelzellen entnimmt der Chirurg<br />
dem Gelenk ein kleines Stück Knorpel. Mit einem<br />
speziellen Verfahren wird das Knorpelgerüst aufgelöst<br />
und die nunmehr freien Zellen in eine Kulturschale mit<br />
Nährlösung gegeben, wo sie sich vermehren.<br />
Bei einer zweiten Operation pflanzt der Chirurg<br />
die Zellen in die zerstörte Knorpelstelle ein und deckt<br />
sie mit einer Membran ab, damit sie nicht entweichen.<br />
Die Zellen bilden neues Gewebe, welches in<br />
Struktur und Belastbarkeit dem gesunden Knorpel<br />
ähnelt.<br />
«Das Ei des Kolumbus für die Knorpelregeneration<br />
ist noch nicht gefunden», sagt Matthias Steinwachs.<br />
Jede der Methoden hat ihre Vor- und Nachteile;<br />
welche die beste ist, hängt von der Art des Schadens<br />
ab. Bei kleinen Verletzungen ist die<br />
Mikrofrakturierung die Methode der Wahl: Sie kann<br />
in einer einfachen Operation arthroskopisch durchgeführt<br />
werden, ohne dass das Gelenk freigelegt werden<br />
muss. Wenn nicht nur der Knorpel, sondern<br />
auch das Knochenmaterial beschädigt ist, so bietet<br />
die Transplantation von Knorpelzylindern die höchsten<br />
Erfolgsaussichten. Und bei grossflächigen Schäden<br />
ist die Transplantation von Knorpelzellen die<br />
beste Methode, da sie den stabilsten Knorpel verspricht.<br />
Sie ist allerdings auch die teuerste. Deshalb<br />
wird sie in der Schweiz bisher selten eingesetzt –<br />
PIONIER-<br />
GEIST<br />
Am Anfang war<br />
der Leim. Das<br />
Schweizer Familienunternehmen<br />
«Geistlich» begann<br />
1851 Klebstoffe<br />
aus Knochen<br />
und Häuten<br />
herzustellen. Dieselben<br />
Rohstoffe<br />
nutzte der Betrieb<br />
später auch zur<br />
Produktion von<br />
Dünger und Gelatine.<br />
Die langjährigen<br />
Erfahrungen<br />
und die<br />
Nähe zum Knochen<br />
bewog Peter<br />
Geistlich vor<br />
rund dreissig<br />
Jahren dazu, Produkte<br />
für die Regeneration<br />
von<br />
Knochengewebe<br />
zu entwickeln.<br />
Das Unternehmen<br />
lancierte<br />
wenige Jahre<br />
später die ersten<br />
Knochenersatzmaterialien,<br />
welche<br />
bis heute<br />
weltweit im Dental-<br />
und Orthopädiebereich<br />
eingesetzt<br />
werden.<br />
Die neuste Innovation<br />
ist eine<br />
natürliche Membran<br />
für die<br />
Behandlung von<br />
Knorpelschäden.<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 21
Krankenkassen bezahlen die Operation<br />
nicht, mit Verweis auf die hohen Kosten.<br />
Dies greife aber zu kurz, sagt Theodor<br />
Weber vom Bundesamt für Gesundheit.<br />
«Wissenschaftliche Studien zeigen, dass<br />
mit dieser Methode das Einsetzen einer<br />
Prothese vermieden werden kann.» Unter<br />
dem Strich würde man also mit der<br />
teureren Methode doch Geld sparen.<br />
Vielleicht können in Zukunft auch<br />
Knorpelstammzellen transplantiert werden,<br />
ohne dass vorher eine teure Operation<br />
zu deren Entnahme nötig ist. Jedenfalls<br />
sind momentan verschiedene neue<br />
Methoden, die genau das versprechen, in<br />
der Entwicklung. Bei einer war Matthias<br />
Steinwachs massgeblich beteiligt: Dabei<br />
werden statt Knorpelzellen Stammzellen<br />
implantiert, die der Chirurg während der<br />
Operation aus dem Knochenmark entnimmt<br />
und direkt einpflanzt, ohne sie<br />
vorher zu vermehren. Im Tierversuch<br />
funktioniert das, nun wird die Methode<br />
versuchsweise bei Menschen angewendet.<br />
Ein weiterer neuer Ansatz besteht darin,<br />
Knorpelzellen von Spendern im Labor<br />
zu einem ganzen Knorpelstück auszuformen.<br />
Dieses könnte der Chirurg<br />
zuschneiden und dem Patienten<br />
einpflanzen.<br />
Nicht jeder Schaden reparierbar<br />
Was trotz grossem Potenzial allen<br />
Techniken gemeinsam ist: Sie können<br />
nur Knorpelverletzungen von begrenztem<br />
Ausmass heilen und nur, wenn der<br />
Rest des Gelenks noch gesund ist. Jedoch<br />
entstehen die meisten Gelenkprobleme<br />
durch Arthrose, bei welcher der Knorpel<br />
über eine grosse Fläche verschlissen ist.<br />
In diesen Fällen helfen bisher nur Gelenkprothesen.<br />
Diese ist aber teuer und<br />
die Operation aufwändig. Zudem haben<br />
Prothesen eine begrenzte Lebensdauer,<br />
danach müssen sie ersetzt werden, was<br />
aber nicht beliebig oft möglich ist.<br />
Durch die höhere Lebenserwartung<br />
wird in Zukunft die Zahl der Arthrosefälle<br />
noch weiter ansteigen. «Das sind immense<br />
Kosten, die auf unser Gesundheitswesen<br />
zukommen», sagt Matthias Steinwachs.<br />
Wenn es in Zukunft also möglich wäre,<br />
Arthrose durch die Reparatur des Knorpels<br />
zu heilen, bliebe nicht nur den Patienten<br />
viel Leid, sondern auch dem Gesundheitssystem<br />
hohe Kosten erspart.<br />
«Knorpelschäden können alle treffen»<br />
Bert Mandelbaum gilt als einer der<br />
führenden Knorpel<strong>spezial</strong>isten weltweit.<br />
Er ist orthopädischer Chirurg in<br />
der Santa Monica Orthopaedic and<br />
Sports Medicine Group in Los Angeles.<br />
Zudem betreut er das US-Fussballnationalteam<br />
als medizinischer Leiter<br />
und erforscht neue Methoden zur Reparatur<br />
von Knorpelschäden.<br />
Dr. Mandelbaum, zu Ihren Patienten<br />
gehören viele Athleten. Was ist speziell<br />
bei der Behandlung von Knorpelschäden<br />
bei Sportlern?<br />
Bert Mandelbaum: Die Herausforderung<br />
besteht aus weit mehr, als einfach<br />
einen Schaden zu reparieren. Die<br />
Athleten sollen auch schnell wieder<br />
spielen und das Gelenk voll belasten<br />
können.<br />
Nimmt die Häufigkeit von Knorpelschäden<br />
zu?<br />
Ja, einerseits betätigen sich immer<br />
mehr Leute sportlich, damit kommt es<br />
auch zu mehr Verletzungen. Andererseits<br />
gibt es wegen der höheren Lebenserwartung<br />
auch mehr Arthrosen.<br />
Wer ist der typische Patient, der einen<br />
Knorpelschaden erleidet?<br />
Junge oder Alte, Sportler oder Bürolisten,<br />
alle können betroffen sein. Meistens<br />
entsteht die Verletzung aber durch<br />
einen Sturz oder eine übermässige<br />
Belastung.<br />
Kann man Knorpelschäden vorbeugen?<br />
Ja, Vorbeugen ist wichtig! Dank Präventionsprogrammen<br />
wie dem Fifa11+<br />
konnten die Knorpelschäden im Spitzensport<br />
markant reduziert werden.<br />
Dabei geht es vor allem darum, vor<br />
sportlicher Betätigung gut einzuwärmen<br />
und die Muskeln zu stärken, welche<br />
die Gelenke stabilisieren.<br />
Wann ist der beste Moment, einen<br />
Knorpelschaden zu behandeln?<br />
Je früher, desto besser. Am besten<br />
operiert man, bevor starke Beschwerden<br />
und Bewegungseinschränkungen<br />
auftreten.<br />
In welchen Fällen ist es sinnvoll, Knorpel<br />
zu reparieren, und wann muss eine<br />
Gelenkprothese her?<br />
Eine Reparatur kommt nur bei solchen<br />
Patienten in Frage, bei denen sich noch<br />
keine Arthrose entwickelt hat. Ausserdem<br />
können nur Flächen von maximal<br />
10 bis 15 Quadratzentimetern wiederhergestellt<br />
werden.<br />
Welche Rolle spielen Bänder und die<br />
Menisken? Sie sind wichtig, um den<br />
Knorpel vor Verletzungen zu schützen.<br />
Nur wenn sie intakt sind und<br />
auch die Ausrichtung des Gelenks<br />
stimmt, kann eine Knorpelreparatur<br />
dauerhafte Besserung bringen.<br />
Weshalb wird Knorpelzelltransplantation<br />
nicht routinemässig angewendet?<br />
Die Knorpelzelltransplantation ist ein<br />
schwieriges Verfahren. Sie erfordert<br />
zwei Operationen, ist teuer und kann<br />
nicht von jedem Chirurgen durchgeführt<br />
werden. Deshalb schrecken viele<br />
noch davor zurück, obwohl fundierte<br />
medizinische Studien der Methode<br />
gute Wirksamkeit attestieren.<br />
Wie sieht die Zukunft der Knorpel-<br />
reparatur aus?<br />
Die Knorpelzelltransplantation wird<br />
sich durchsetzen, dazu werden die zukünftigen<br />
Verbesserungen der Methode<br />
sowie der kombinierte Einsatz<br />
mit Stützmaterialien beitragen. Es gibt<br />
aber auch andere neue Methoden, die<br />
vielversprechend sind.<br />
22 | SPEZIAL | Beweglickeit
Foto: René Ruis<br />
Dr. Frank<br />
Kleinstück<br />
verwendet Ersatzknochen,<br />
um bei<br />
der Versteifung<br />
einer Wirbelsäule<br />
die Implantate zu<br />
stabilisieren.<br />
Knochenersatz<br />
Knochenharter Ersatzjob<br />
Bei Lücken im Knochen nach<br />
einem komplizierten Bruch,<br />
zur Stabilisierung der Implantate<br />
nach Wirbelversteifungen,<br />
aber auch nach der<br />
Entfernung von Tumoren<br />
nahe am Skelett braucht<br />
es Knochenersatzmaterial,<br />
um die Lücken zu füllen.<br />
Es stammt aus drei verschiedenen<br />
Quellen.<br />
Von Silvan Heuberger<br />
Eigenknochen Die beste Methode ist<br />
auch die naheliegenste: die Transplantation<br />
von Eigenknochen. Diese bietet die<br />
idealsten Voraussetzungen für das Zusammenwachsen<br />
des Knochens. Woher<br />
der Chirurg das Knochengewebe nimmt,<br />
hängt davon ab, wie gross die zu füllende<br />
Lücke ist. Bei kleinen Mengen wird – falls<br />
möglich – das Transplantat in der Nähe<br />
der Verletzung entnommen und gleich<br />
eingesetzt, sodass nur eine Operation nötig<br />
ist. Wird jedoch eine grössere Menge<br />
benötigt, entnimmt man den Knochen<br />
dem Beckenkamm. «Diese Verfahren<br />
sind jedoch nicht unproblematisch», sagt<br />
Frank Kleinstück, Leitender Arzt am<br />
Wirbelsäulenzentrum der Schulthess Klinik<br />
in Zürich. «Nicht selten klagen Patienten<br />
danach über Schmerzen an der Entnahmestelle.<br />
Am besten wäre deshalb, wir<br />
kämen völlig ohne Eigenknochen aus.»<br />
Fremdknochen Ganz ohne Spende von<br />
Eigenknochen geht es, wenn fremdes<br />
Knochenmaterial verwendet wird. Dieses<br />
eignet sich besonders zur Auffüllung von<br />
grossen Defekten. Die fremden Knochenstücke<br />
werden diversen chemischen Ver-<br />
fahren unterzogen, wodurch sie ähnlich<br />
gute Voraussetzungen wie Eigenknochen<br />
bieten können. Doch Frank Kleinstück<br />
sieht auch die Problematik dieser Methode:<br />
«Neben den ethischen Bedenken<br />
bleibt auch immer ein minimales Restrisiko<br />
einer Übertragung von Herpes- oder<br />
HI-Viren sowie anderen Krankheiten.»<br />
Künstlicher Ersatz Eine Alternative bietet<br />
ein Mineral namens Hydroxylapatit,<br />
welches natürlicherweise rund 40 Prozent<br />
des menschlichen Knochens ausmacht. Es<br />
stellt dem gebrochenen Knochen ein natürliches<br />
Gerüst zur Verfügung, in das er<br />
einwachsen kann. Hydroxylapatit wird<br />
künstlich hergestellt und ist beispielsweise<br />
als Paste oder Granulat erhältlich. Häufig<br />
wird das Mineral in Kombination mit Eigenknochen<br />
verwendet. «Ein Material, das<br />
ohne Eigenknochen auskommt, aber dieselben<br />
Eigenschaften aufweist, gibt es leider<br />
noch nicht», sagt Frank Kleinstück.<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 23
Forschung und Werkplatz<br />
Medizintechnik, eine Sch<br />
Die Schweiz ist zusammen mit Irland der<br />
Spitzenreiter: In keinem anderen europäischen<br />
Land gibt es eine vergleichbar hohe Dichte an<br />
medizinaltechnischen Unternehmen.<br />
Von Matthias Scholer<br />
Für Hugo Mathys steht fest: «In der<br />
Medizinaltechnik hat die Schweiz<br />
die Nase weit vorne.» Und Mathys<br />
weiss, wovon er spricht. Schliesslich produziert<br />
das gleichnamige Familienunternehmen<br />
seit Jahrzehnten Produkte für<br />
den Gelenkersatz. Doch das war nicht immer<br />
so.<br />
Ursprünglich verarbeitete der Solothurner<br />
Betrieb rostfreien Stahl und<br />
baute Spezialmaschinen. Als dann in den<br />
1960er-Jahren der Berner Orthopäde<br />
Maurice E. Müller einen Hersteller für<br />
die von ihm entwickelte Hüftprothese<br />
suchte, bot Hugo Mathys’ Vater sein<br />
Fachwissen und seinen Betrieb für deren<br />
Fertigung an. So wandelte sich der Handwerksbetrieb<br />
innert Kürze zu einem auf<br />
Gelenksprothesen <strong>spezial</strong>isierten Unternehmen.<br />
Viele weitere Firmen, die ihre<br />
Wurzeln in der Uhrenindustrie oder<br />
Feinmechanik haben, folgten dem Beispiel<br />
und richteten ihre Geschäftsfelder<br />
auf die neuen Bedürfnisse der Mediziner<br />
aus.<br />
Einige dieser Medtech-Firmen expandierten<br />
im Zuge der Globalisierung ins<br />
Ausland, und zahlreiche Weltkonzerne<br />
wählten die Schweiz als Produktions- und<br />
Forschungsstandort. Doch was bringt einen<br />
ausländischen Konzern dazu, ausgerechnet<br />
in der teuren Schweiz zu produzieren?<br />
«Der Hauptgrund ist die einmalige<br />
Fertigungskompetenz entlang der<br />
ganzen Zuliefererkette und das für die<br />
Schweiz typische Streben nach höchster<br />
Qualität», erklärt Peter Biedermann.<br />
Er ist Geschäftsführer der Netzwerkorganisation<br />
«Medical Cluster», welche zusammen<br />
mit dem Bund und weiteren<br />
Branchenorganisationen den Werk- und<br />
Forschungsplatz Schweiz fördert. Doch<br />
VOM STAHLBLOCK ZUR PROTHESE<br />
Trotz modernster<br />
Technik braucht es<br />
in der Endfertigung<br />
eines künstlichen<br />
Gelenkersatzes noch<br />
viel Handarbeit.<br />
Nachdem die<br />
Hüftprothesen in<br />
der Schmitte ihre<br />
grobe Form erhalten<br />
haben, beginnt in den<br />
Werkhallen der Firma<br />
Mathys die Feinarbeit.<br />
Bis die Implantate<br />
sauber verpackt an<br />
die Spitäler geliefert<br />
werden, durchlaufen<br />
sie noch viele Hände.<br />
Der Weg vom Rohling<br />
bis zur fertigen<br />
Hüftprothese dauert<br />
rund 15 Arbeitstage.<br />
Fotos: Heiner H. Schmitt<br />
Nur Metalle von bester Qualität<br />
Mit Laser vermisst ein Roboter das Implantat<br />
Der Kopfteil der Prothese wird gedreht<br />
Die Grösse des Kopfteils muss haargenau stimmen<br />
24 | SPEZIAL | Beweglickeit
weizer Tradition<br />
Schweizer Medtech-<br />
Branche in Zahlen<br />
Anzahl Unternehmen ca. 750<br />
Anzahl Angestellte ca. 48 000<br />
Anteil KMU 95 %<br />
Jahresumsatz ca. 23 Mia CHF<br />
Anteil an BIP 2 %<br />
Anteil an Gesamtexport 5 %<br />
nicht nur die Fachkompetenz seitens der<br />
Industrie, auch das Bildungsangebot sei<br />
ein grosser Pluspunkt. «Unsere Hochschulsituation<br />
ist im internationalen Vergleich<br />
äusserst attraktiv. Einerseits existiert<br />
eine breite Palette praxisorientierter<br />
Aus- und Weiterbildungsprogramme.<br />
Andererseits werden Forschungsprojekte<br />
im medizintechnischen Bereich gezielt<br />
unterstützt», erklärt Biedermann. So initiierte<br />
beispielsweise vor wenigen Jahren<br />
die Universität Bern in Zusammenarbeit<br />
mit dem Inselspital und anderen Forschungsinstitutionen<br />
einen Masterkurs<br />
in Biomedical Engineering. Diese Nähe<br />
zur Forschung ist essenziell für die Branche,<br />
um neue Ideen möglichst rasch in<br />
Innovationen umzusetzen.<br />
Doch die komfortable Position der<br />
Schweiz ist nicht in Stein gemeisselt. Viele<br />
neue, schnell wachsende Märkte buhlen<br />
um die Gunst der Firmen. «Dass eine<br />
Firma dorthin geht, wo neue Märkte<br />
locken, ist verständlich. Für die Schweiz<br />
wäre es jedoch schlimm, wenn die Unternehmen<br />
auf Grund kurzfristigen Profitdenkens<br />
nicht nur die Produktion sondern<br />
auch die Entwicklungsabteilungen<br />
ins Ausland verlagern würden», skizziert<br />
Biedermann ein mögliches Schreckensszenario.<br />
Damit dieses nicht eintritt, wird<br />
der Werkplatz Schweiz aktiv gepflegt.<br />
Dazu gehört neben der aktiven Vernetzung<br />
der Industrie auch die Förderung<br />
des Exports. «Ein Mitarbeiter in den USA<br />
und einer in China helfen Schweizer<br />
KMU vor Ort, in diesen wichtigen Zielmärkten<br />
Fuss zu fassen», so Biedermann.<br />
Der gemeinsame Nenner aller Massnahmen:<br />
Die Vorzüge des Standorts Schweiz<br />
erhalten, ohne der Globalisierung im<br />
Weg zu stehen.<br />
Die Oberfläche wird beim Strahlen aufgeraut<br />
Das Implantat erhält den letzten Schliff<br />
Strenge Endkontrolle vor Sterilisation<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 25
Langzeitverhalten<br />
Die Lebensdauer von<br />
Prothesen ist begrenzt<br />
Kein Implantat hält ewig. In<br />
den meisten Fällen funktionieren<br />
Prothesen zwar viele<br />
Jahre lang problemlos, doch<br />
irgendwann müssen auch sie<br />
ersetzt werden. Um die Lebensdauer<br />
der einzelnen Produkte<br />
besser abschätzen zu<br />
können, ist eine landesweite<br />
Datensammlung geplant.<br />
Austausch der<br />
Prothese<br />
Der Prothesenschaft<br />
links hat<br />
sich von Knochen<br />
gelöst,<br />
erkennbar am<br />
dunklen Hohlraum<br />
(roter<br />
Pfeil).<br />
Von Matthias Scholer<br />
«Bei Problemen mit einem Implantat<br />
funktioniert ein Register<br />
auch als Frühwarnsystem»<br />
Dr. Christoph Röder,<br />
Stv. Leiter MEM Forschungszentrum der Universität Bern<br />
In der Schweiz werden jährlich rund<br />
20 000 künstliche Hüftgelenke und<br />
16 000 Kniegelenke implantiert. Tendenz<br />
steigend. Im Vorfeld einer Operation<br />
möchten die Patienten verständlicherweise<br />
wissen, wie lange ein künstlicher<br />
Gelenksersatz hält. «Diese Frage lässt sich<br />
nicht mit einer allgemeingültigen Zahl<br />
beantworten», erklärt Prof. Reinhard<br />
Elke. Der Orthopäde setzt als Belegarzt an<br />
der Merian Iselin Klinik jährlich weit<br />
über Hundert künstliche Hüft- und Kniegelenke<br />
ein. «Bei jedem Patienten spielen<br />
verschiedene Faktoren eine Rolle, die für<br />
das Langzeitverhalten der Prothese entscheidend<br />
sind», sagt der Spezialist. So<br />
spielt neben dem implantierten Produkt<br />
auch die Knochenqualität, die Beanspruchung<br />
des Gelenkes, die Operationstechnik<br />
und nicht zuletzt auch die Handfer-<br />
tigkeit des Chirurgen eine Rolle. «Damit<br />
wir das Langzeitverhalten der einzelnen<br />
Produkte und Operationstechniken miteinander<br />
vergleichen können, brauchen<br />
wir eine standardisierte und schweizweite<br />
Datenerhebung», erklärt Elke. Zwar<br />
durchläuft jedes Implantat vor der Zulassung<br />
klinische Tests und wird auch in den<br />
Jahren danach mit Studien begleitet, aber<br />
diese beschränken sich meist auf kleine<br />
Zahlen von Patienten und einzelne Kliniken.<br />
Für eine flächendeckende Datensammlung<br />
fehlten bis anhin der politische<br />
Wille und das Geld. Das hat sich nun<br />
laut Elke geändert: «Wir haben einen<br />
Konsens gefunden, und die Finanzierung<br />
ist geregelt. Einem nationalen Implantatregister<br />
steht somit nichts mehr im<br />
Weg.»<br />
Bereits steht fest, wie die Daten erhoben<br />
werden sollen: Die Chirurgen übermitteln<br />
die Informationen an eine neutrale<br />
Stelle, das schweizerische Implantatregister<br />
Siris, das als eigenständige<br />
Stiftung organisiert ist. Wissenschaftlich<br />
ausgewertet werden die Daten durch das<br />
MEM Forschungszentrum der Universität<br />
Bern. In einer ersten Phase sollen<br />
neben den demografischen Patientendaten<br />
der Grund für den Eingriff, sowie der<br />
Zeitpunkt der Implantation wie auch<br />
jener eines allfälligen Ersatzes erfasst<br />
werden. Für Christoph Röder, den stellvertretenden<br />
Leiter des Forschungszentrums,<br />
ist dies zumindest ein guter Anfang:<br />
«Dieser Minimaldatensatz erlaubt<br />
bereits erste qualitative und ökonomische<br />
Vergleiche zwischen herkömmlichen<br />
und neuen Produkten.» Die Daten<br />
tragen aber auch zur Sicherheit der Patienten<br />
bei. Denn unerwartete Häufungen<br />
von Problemen mit einem bestimmten<br />
Produkt lassen sich damit rasch<br />
erkennen.<br />
Doch dies ist vielleicht nur der Anfang.<br />
«Mit einer Anpassung der Datensätze<br />
liessen sich künftig auch Aussagen<br />
über die Qualität einer Operation, der<br />
Klinik und damit auch der einzelnen<br />
Ärzte machen», blickt Röder in die Zukunft.<br />
Ob so viel Transparenz allerdings<br />
bei allen beteiligten Parteien auf die nötige<br />
Akzeptanz stösst, ist noch offen.<br />
26 | SPEZIAL | Beweglickeit
Fotos: Heiner H. Schmitt<br />
Dr. Hans Jenny,<br />
Facharzt für<br />
Orthopädie, Praxisgemeinschaft<br />
Clarahof,<br />
Belegarzt an der Merian<br />
Iselin Klinik in Basel.<br />
Eine obere Altersgrenze<br />
für ein künstliches<br />
Hüft- oder<br />
Kniegelenk existiert<br />
nicht, meint der Orthopäde<br />
Hans Jenny.<br />
Er konzentriert sich<br />
seit 30 Jahren auf<br />
Eingriffe für künstliche<br />
Hüft- und<br />
Kniegelenke.<br />
Ethik<br />
«‹Zu alt› gibt es nicht»<br />
Dr. Jenny, wie alt ist der älteste Patient,<br />
dem Sie ein künstliches Gelenk eingesetzt<br />
haben?<br />
Es war eine Patientin, die zum Zeitpunkt<br />
des Eingriffs 96 Jahre alt war. Ich operierte<br />
ihr im Abstand von einer Woche<br />
beide Kniegelenke. Mit den «neuen»<br />
Kniegelenken wurrde sie 103 Jahre alt!<br />
Operieren Sie häufig Hochbetagte?<br />
Diese Patientin war sicher ein Extremfall,<br />
aber Personen um 90, die sich für ein<br />
künstliches Gelenk entscheiden, sind<br />
nicht allzu selten. Ich selbst operiere pro<br />
Jahr 5 bis 6 Patienten in diesem Alter.<br />
Gibt es für einen Gelenkersatz eine<br />
obere Altersgrenze?<br />
Die Aussage «Sie sind zu alt für ein künstliches<br />
Gelenk» ist aus meiner Sicht genauso<br />
falsch wie zu behaupten, jemand sei<br />
«zu jung» dafür. Entscheidend sind zwei<br />
Faktoren: Erstens, ob jemand imstande<br />
ist, zu verstehen, was beim Eingriff physisch<br />
und psychisch passiert: dass man die<br />
Mobilität wiederherstellen, Schmerzen<br />
eindämmen, Medikamente reduzieren,<br />
der Einsamkeit vorbeugen will. Und zweitens,<br />
ob dieser Mensch profitiert im Sinne<br />
der Lebensqualität. Man muss immer den<br />
Einzelfall beurteilen. Und ganz wichtig:<br />
Finanzielle Aspekte dürfen kein Grund<br />
sein, einer betagten Person ein künstliches<br />
Gelenk zu verwehren.<br />
Damit auch 75-Jährige noch einen Marathon<br />
laufen?<br />
Natürlich nicht. Mit 75 dem Körper Leistungen<br />
abzuverlangen, als wäre man<br />
Mitte 20, ist Raubbau und volkswirtschaftlicher<br />
Unsinn. Vielmehr geht es<br />
um die Mobilität und Lebensqualität, die<br />
für diesen Lebensabschnitt vernünftig<br />
und sinnvoll sind – dass man zum Beispiel<br />
in der Frauenriege, im Männerturnen<br />
oder der Walking-Gruppe aktiv bleiben<br />
kann. Auf diese Lebensqualität haben<br />
ältere Menschen ein Recht.<br />
Wie riskant ist ein solcher Eingriff für<br />
ältere Patienten?<br />
Die Risiken sind gering und gut kalkulierbar.<br />
Heute operieren wir in Teilnarkose<br />
gewebeschonend und praktisch ohne ins<br />
Gewicht fallenden Blutverlust. Auch in<br />
der Nachsorge, also Pflege und Physiotherapie,<br />
hat sich gegenüber früher enorm<br />
viel getan. Dasselbe gilt natürlich auch für<br />
das Implantationsmaterial: Zwischen<br />
dem heutigen Standard und den Prothesen<br />
von früher liegen Welten.<br />
In welchem Fall raten Sie von einer<br />
Operation ab?<br />
Wenn ein Mensch geistig nicht mehr in<br />
der Lage ist, Sinn und Zweck des Eingriffs<br />
zu erkennen. So ist aus meiner Sicht zum<br />
Beispiel bei einem Alzheimerpatienten<br />
selbst eine fortgeschrittene Gelenkarth-<br />
rose keine Indikation für einen Gelenkersatz.<br />
Ausser es sprechen pflegerische<br />
Gründe dafür, zum Beispiel, wenn das<br />
Umlagern im Bett für einen solchen Patienten<br />
sehr schmerzhaft ist. Das kommt<br />
jedoch sehr selten vor.<br />
Besteht nicht die Gefahr, dass man betagten<br />
Patienten qualitativ mindere<br />
Implantate einsetzt?<br />
Hierzulande gibt es keine minderwertigen<br />
Implantate. Bei einem hochbetagten<br />
Patienten könnte es eventuell angesichts<br />
seines Alters gerechtfertigt sein, aus Kostengründen<br />
eine Prothese mit etwas kürzerer<br />
Lebensdauer zu implantieren. Dies<br />
aber nur unter der Prämisse, auch bei diesem<br />
Patienten medizinisch das Optimum<br />
zu erfüllen.<br />
Die Menschen werden immer älter,<br />
entsprechend wird die Nachfrage nach<br />
Gelenkersatz-Operationen steigen.<br />
Wer soll das bezahlen?<br />
Wir, die Gesellschaft als Kollektiv, werden<br />
das bezahlen. Natürlich kostet das<br />
Schweizer Gesundheitswesen sehr viel,<br />
auch der Gelenkersatz ist teuer. Aber verglichen<br />
mit anderen Ländern bekommen<br />
wir viel dafür zurück. Die gewonnene<br />
Lebensqualität ist unbezahlbar.<br />
Interview: Irène Dietschi<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 27
Schlüsselloch-Chirurgie<br />
Dank Minikamera mit<br />
Wenn bei Problemen mit den Gelenken nur noch eine<br />
Operation hilft, setzen Ärzte immer seltener zum grossen<br />
Schnitt an: Stattdessen dringen sie durch kleinste<br />
Öffnungen. Die minimal-invasiven Methoden sind<br />
schonender für den Patienten, stellen den Operateur<br />
aber vor besondere Herausforderungen.<br />
Von Fee Anabelle Riebeling<br />
Ursprünglich wurde die sogenannte<br />
Arthroskopie dazu entwickelt,<br />
um das Kniegelenk zu<br />
untersuchen, ohne eine grosse Wunde zu<br />
öffnen. Doch ab den 1960er-Jahren erkannte<br />
man den Wert der Methode auch<br />
für chirurgische Eingriffe. Heute gilt die<br />
minimal-invasive Operationstechnik als<br />
Standardverfahren für Knie- und Schultergelenke.<br />
Selbst Probleme in kleinen<br />
Gelenken wie die des Ellbogens oder der<br />
Hand sowie schwer zugänglicher wie die<br />
der Hüfte lassen sich so angehen. Zudem<br />
sind bereits erste Ansätze vorhanden,<br />
auch den Hallux valgus, den Schiefstand<br />
der grossen Zehe, mit Korrekturen durchs<br />
«Schlüsselloch» zu beheben.<br />
Die Vorteile für den Patienten liegen<br />
auf der Hand. Nach dem minimal-invasiven<br />
Eingriff verläuft der Heilungsprozess<br />
mit wesentlich weniger Komplikationen,<br />
und er hinterlässt kaum sichtbare<br />
Narben. Denn statt wie bei herkömmlichen<br />
Operationen die Gelenke offenzulegen,<br />
führt der Arzt bei der Arthroskopie<br />
speziell feine Instrumente durch kleine<br />
Schnitte ein und schont so Muskeln, Bänder<br />
und die Gelenkkapsel. «Die Patienten<br />
brauchen deutlich weniger Medikamente,<br />
haben weniger mit Nachwirkungen zu<br />
kämpfen und können dadurch früher<br />
nach Hause», sagt Matthias Flury, Leitender<br />
Arzt Orthopädie Obere Extremitäten<br />
an der Schulthess Klinik in Zürich. Statt<br />
wie früher nach fünf Tagen würden die<br />
meisten Schulterpatienten heute bereits<br />
nach maximal zwei Tagen entlassen. Der<br />
Experte schätzt die schonende Methode<br />
noch für einen weiteren Aspekt: «Durch<br />
die Arthroskopie sind völlig neue Diagnosen<br />
möglich.» So könne man die<br />
Gelenke nun auch in der Bewegung untersuchen<br />
und dynamische Probleme<br />
erkennen. Dies sei beispielsweise bei sogenannten<br />
Überkopfsportlern – Volleyball-,<br />
Handball- oder Tennisspielern<br />
– von Vorteil, da es bei ihnen während<br />
des Aufschlags zu Sehnenverletzungen<br />
kommen kann, die im Magnetresonanztomografen<br />
(MRI) nur schwer zu erkennen<br />
sind.<br />
Schonend, aber anspruchsvoll<br />
Für Michael Leunig ist die Arthroskopie<br />
Fluch und Segen zugleich. Als Chefarzt<br />
Hüftchirurgie an der Schulthess Klinik<br />
hat er es mit einem besonders kniffeligen<br />
Gelenk zu tun: Bevor er mit<br />
Minikamera und Instrumenten überhaupt<br />
erst in den Raum zwischen Hüftkopf<br />
und -pfanne dringen kann, muss das<br />
Gelenk mit Kraft auseinandergezogen<br />
werden. Das stellt für den Operateur eine<br />
besondere Herausforderung dar, denn er<br />
muss sorgfältig arbeiten, gleichzeitig aber<br />
auch schnell. «Brauche ich zu lange, kön-<br />
INS GELENK HINEIN<br />
Der Begriff Arthroskopie stammt aus dem<br />
Griechischen und bedeutet «Gelenkspiegelung»<br />
(Arthros = Gelenk, skopein =<br />
schauen). Als Begründer der Methode gilt<br />
der Aarauer Eugen Bircher. Als chirurgischer<br />
Chefarzt am Kantonsspital Aarau<br />
interessierte er sich besonders für Verletzungen<br />
im Kniegelenk. 1921 führte er die<br />
erste Spiegelung des Kniegelenks durch –<br />
mit einem Gerät zur Spiegelung des Bauchraums.<br />
Heute ist die Methode für Operationen an<br />
verschiedenen Gelenken gebräuchlich,<br />
28 | SPEZIAL | Beweglickeit
tendrin statt nur dabei<br />
SCHAUEN<br />
zum Beispiel an der Hüfte (Bild oben).<br />
Dazu werden nur wenige Millimeter<br />
grosse Hautschnitte gemacht, durch die<br />
der Arzt eine Stabkamera (Endoskop) direkt<br />
in das Gelenk einführt. Hinzu kommen<br />
– je nach Eingriff – ein bis fünf ebenfalls<br />
nur millimetergrosse Instrumente. Da es<br />
sehr eng ist im Operationsgebiet, wird das<br />
Gelenk mit Kochsalzlösung gedehnt. Diese<br />
ermöglicht nicht nur den Blick auf den Ort<br />
des Geschehens, sondern erlaubt es auch,<br />
losgelöste Knochensplitter oder Knorpelstückchen<br />
und Blut herauszuspülen.<br />
nen beispielsweise am Ischias-Nerv<br />
Druckstellen entstehen und die Beine<br />
einschlafen», so Leunig. Das unangenehme<br />
Gefühl könne auch Wochen nach<br />
dem Eingriff noch anhalten. Deswegen<br />
müssen die operierenden Ärzte «ihr Gelenk<br />
in- und auswendig kennen», wie er<br />
sagt. Hier lauert seiner Ansicht nach auch<br />
die grösste Gefahr: Die Verlockung bestehe,<br />
dass ein Operateur auch ohne ausreichende<br />
Erfahrung auf Druck der Patienten<br />
eine Arthroskopie durchführe.<br />
«Die Methode ist zwar schonend, aber<br />
wenn man etwas falsch macht, kann sie<br />
auch maximal schädlich sein.» So könnten<br />
beispielsweise Knorpel verletzt werden,<br />
die sich nicht aus eigener Kraft regenerieren<br />
und im schlimmsten Fall aufwändige<br />
Folgeoperationen nach sich<br />
ziehen.<br />
Viel Übung erforderlich<br />
Das Hauptproblem für den Operateur<br />
ist die Entkopplung von Blick- und Arbeitsfeld.<br />
Bei einem offenen Eingriff sieht<br />
er direkt die Bewegungen der Instrumente<br />
im Gelenk. Anders bei der Arthroskopie:<br />
Hier überwacht er alles nur über<br />
einen Monitor. Das bedeutet, er muss<br />
vom zweidimensionalen Bild auf ein dreidimensionales<br />
Operationsgebiet abstrahieren<br />
können. Das erfordert ein grosses<br />
räumliches Vorstellungsvermögen, sagt<br />
Matthias Flury.<br />
Und das erfordert viel Übung. So operiert<br />
etwa Stefan Preiss, Chefarzt Untere<br />
Extremitäten an der Schulthess Klinik in<br />
Zürich, pro Jahr rund 500 Knie. Deswegen<br />
aber von «Fliessbandarbeit» sprechen will<br />
er nicht: «Übung macht den Meister.»<br />
Darum raten die Experten, sich bei<br />
der Entscheidung für oder gegen einen<br />
minimal-invasiven Eingriff nicht nur<br />
nach den Risiken, sondern auch nach<br />
der Erfahrung des Chirurgen zu erkundigen.<br />
«Mein Auge sitzt<br />
im Prinzip direkt im<br />
Gelenk. Näher dran<br />
geht nicht»<br />
Dr. Matthias Flury,<br />
Leitender Arzt Orthopädie Obere<br />
Extremitäten an der Schulthess Klinik<br />
in Zürich<br />
«Obwohl Arthroskopie<br />
schonend ist,<br />
ist sie nicht mit einem<br />
Boxenstopp in<br />
der Formel 1 zu<br />
vergleichen»<br />
PD Dr. Michael Leunig,<br />
Chefarzt Hüftchirurgie an der<br />
Schulthess Klinik in Zürich<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 29
Intraoperatives Monitoring<br />
Bei Rückenoperationen<br />
Risiken minimieren<br />
Chirurgische Eingriffe an der Wirbelsäule wecken viele Ängste. Nicht ohne<br />
Grund, denn Verletzungen der Nervenbahnen können Lähmungen zur Folge<br />
haben. Dieses Risiko lässt sich aber minimieren.<br />
Von Martina Huber<br />
Die Wirbelsäule trägt nicht nur<br />
Kopf und Oberkörper. Vielmehr<br />
bildet der Hohlraum in den 24<br />
Hals-, Brust- und Lendenwirbeln einen<br />
schützenden Kanal, in dessen Innern das<br />
Rückenmark verläuft. Tausende sensorischer<br />
Nervenfasern verlaufen hier, um mit<br />
elektrischen Impulsen Sinneseindrücke<br />
vom ganzen Körper zur Verarbeitung ins<br />
Gehirn zurückzutragen. Und hier verläuft<br />
auch die sogenannte Pyramidenbahn:<br />
Sie umfasst die motorischen Nervenfasern,<br />
welche mit elektrischen Impulsen<br />
vom Gehirn das Bewegen der Muskeln<br />
ermöglichen. Wird sie durchtrennt, ist die<br />
betroffene Person querschnittgelähmt.<br />
Und selbst kleinste Verletzungen der Nervenbahnen<br />
können Lähmungen, Schmerzen<br />
oder den Verlust von Sinneswahrnehmungen<br />
zur Folge haben.<br />
Dass viele Leute Angst davor haben,<br />
sich an der Wirbelsäule operieren zu lassen,<br />
ist also verständlich. Und nicht ganz<br />
unbegründet: «Bei einer Rückenoperation<br />
besteht immer ein gewisses Risiko –<br />
wie bei jeder Behandlung, die eine grosse<br />
Wirkung hat», erklärt Martin Sutter,<br />
Neurologe an der Schulthess Klinik in<br />
Zürich. Das Risiko lässt sich aber minimieren.<br />
Der erste Schritt zur sicheren Rücken-OP<br />
ist eine sorgfältige Diagnose:<br />
Dazu befragen Chirurg und Neurologe<br />
den Patienten zu Symptomen und Krankengeschichte<br />
und unterziehen ihn dann<br />
verschiedenen Untersuchungen, um herauszufinden,<br />
wo genau das Problem liegt<br />
und ob eine Operation es lösen könnte.<br />
Spürt der Patient beispielsweise seinen<br />
kleinen Zeh nicht mehr, könnte irgendwo<br />
im Bein oder Rücken ein Nerv eingeklemmt<br />
sein. Aber auch Zuckerkrankheit<br />
kommt dafür als Ursache in Frage – in<br />
diesem Fall wäre eine Rückenoperation<br />
vollkommen überflüssig.<br />
Ist tatsächlich ein Nerv im Rücken<br />
eingeklemmt, können bildgebende Verfahren<br />
zeigen, weshalb: Ob eine Bandscheibe<br />
in den Wirbelkanal drückt, ob<br />
sich ein Tumor im Rückenmark ausbrei-<br />
30 | SPEZIAL | Beweglickeit
Der Neurologe<br />
überwacht während einer<br />
Rückenoperation permanent<br />
die Nervenfunktionen<br />
des Patienten.<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 31
tet – oder ob sich der Zwischenwirbelspalt<br />
im Bereich der Lendenwirbelsäule<br />
verengt hat, wie dies im Alter häufig vorkommt.<br />
Erst wenn die Ursache des Leidens<br />
genau lokalisiert ist, können die Mediziner<br />
abschätzen, welches Risiko der<br />
Patient eingeht, wenn er sich operieren<br />
lässt – oder wenn er dies nicht tut. Entfernt<br />
man beispielsweise einen Tumor im<br />
Rückenmark, besteht ein erhebliches Risiko,<br />
dass nach der Operation Gefühlsstörungen<br />
oder Lähmungen zurückbleiben.<br />
Aber wenn man nichts unternimmt, kann<br />
es zu noch schwerwiegenderen Ausfällen<br />
kommen, wenn der Krebs sich weiter ausbreitet.<br />
«Der Arzt muss mit dem Patienten<br />
unbedingt offen über alle möglichen<br />
Risiken sprechen», sagt Martin Sutter.<br />
«Nur ein gut informierter Patient kann<br />
wirklich entscheiden, ob er operiert werden<br />
will oder nicht.»<br />
Routine als Sicherheitsfaktor<br />
Entscheidet sich der Patient für einen<br />
Eingriff, sollte ein routinierter, <strong>spezial</strong>isierter<br />
Chirurg ans Werk – auch das vermindert<br />
das Risiko. Die Zeiten, in denen<br />
ein Chirurg alles operierte, sind laut Sutter<br />
längst vorbei: «Das ist heute nicht<br />
mehr zu verantworten.» So gebe es etwa<br />
in seiner Klinik Leute, die nur Füsse operieren,<br />
andere seien <strong>spezial</strong>isiert auf<br />
Hände, Ellenbogen – oder eben auf den<br />
Rücken.<br />
Wichtig ist auch: Der Chirurg arbeitet<br />
nicht allein, sondern immer im Team<br />
und unterstützt durch neuste Medizinal-<br />
Technik. Bei einfachen Eingriffen wie<br />
etwa einer Bandscheiben-Operation lässt<br />
sich das Risiko einer Komplikation mit<br />
sorgfältiger Diagnose und routiniertem<br />
Chirurgen auf unter 0,2 Prozent senken<br />
– und weil da nicht direkt am Rückenmark<br />
operiert wird, kommt es auch im<br />
schlimmsten Fall nicht zu einer Querschnittlähmung,<br />
sondern höchstens zur<br />
Verletzung eines einzelnen Nervs, was<br />
beispielsweise zu einer Fussheber-Schwäche<br />
führen kann.<br />
Bei komplizierteren Eingriffen am<br />
oder nahe beim Rückenmark kommt zusätzlich<br />
das sogenannte intraoperative<br />
«Ohne kontinuierliche<br />
Messung der<br />
Nervenfunktion ist<br />
Operieren wie ein<br />
Blindflug.»<br />
Dr. Martin Sutter,<br />
Neurologe an der<br />
Schulthess Klinik in Zürich<br />
Monitoring (IOM) zum Einsatz, um das<br />
Risiko zu minimieren. An der Schulthess<br />
Klinik übernimmt dies der Neurologe<br />
Martin Sutter. Während des Eingriffs<br />
überwacht er ständig an einem Monitor,<br />
ob die Nerven des Rückenmarks noch<br />
funktionieren, ob also keine Lähmungen<br />
auftreten. Dazu sendet ein Gerät am Kopf<br />
des Patienten einen elektrischen Reiz in<br />
die motorische Nervenbahn. Dieser Impuls<br />
wandert der Nervenfaser entlang –<br />
und unterhalb der Stelle, wo operiert<br />
wird, messen Elektroden fortwährend, ob<br />
und in welcher Stärke das Signal dort<br />
noch ankommt. Wird es schwächer,<br />
nimmt der Neurologe sofort Rücksprache<br />
mit dem Chirurgen – und der kann entsprechend<br />
reagieren, bevor ein bleibender<br />
Schaden entsteht.<br />
Grenzen ausloten mit IOM<br />
Diese Methode des intraoperativen Monitorings<br />
ist noch relativ jung. Zwar werden<br />
Nervenmessungen schon seit den<br />
1920er-Jahren durchgeführt. Aber sie waren<br />
zunächst nur bei wachen Patienten<br />
möglich und konnten somit nur für Voruntersuchungen<br />
genutzt werden. Um die<br />
Technologie auch während Rückenoperationen<br />
einzusetzen, mussten erst<br />
spezielle Nervenstimulatoren und Narkosemittel<br />
gefunden werden: Diese sorgen<br />
dafür, dass der Patient schläft, keine<br />
Schmerzen hat und sich nicht bewegt –<br />
und die motorischen Nervenstränge dennoch<br />
messbare elektrische Impulse weitergeben<br />
können. Dieses IOM hielt erst<br />
vor rund 10 Jahren Einzug in die Operationssäle.<br />
«Vorher war Operieren fast wie<br />
ein Blindflug», erinnert sich Sutter. Erst<br />
nach dem Eingriff habe sich gezeigt, ob<br />
während des Operierens Nerven verletzt<br />
worden seien. Um dennoch schon während<br />
des Eingriffs eine gewisse Kontrolle<br />
zu haben, habe man Patienten mit geöffnetem<br />
Rücken aufgeweckt, um zu kontrollieren,<br />
ob sie die Zehen noch selbständig<br />
bewegen konnten. Und besonders<br />
heikle Operationen habe man meist gar<br />
nicht erst durchgeführt: So habe man beispielsweise<br />
Rückenmarktumore in der<br />
Regel nicht entfernt – und wenn doch, sei<br />
der Patient danach häufig querschnittgelähmt<br />
gewesen.<br />
Verbesserung der Qualität<br />
Die Überwachung der Nervenfunktionen<br />
senkt also nicht nur die Risiken bei Operationen.<br />
Vielmehr verbessert sie auch die<br />
Qualität der Eingriffe: «Dank des IOM<br />
kann der Chirurg fortwährend das Risiko<br />
kalkulieren – und so bis an die Grenzen<br />
gehen», sagt Sutter. Oft wisse der Chirurg<br />
nämlich am Anfang einer OP noch nicht<br />
genau, wie weit er gehen könne.<br />
Nicht nur Leute mit Rückenmarktumor<br />
profitieren von der Verbesserung.<br />
Insbesondere Skoliose-Patienten kann<br />
heute viel besser geholfen werden. Deren<br />
massive Verkrümmungen der Wirbelsäule<br />
operiert man meist schon im Kindesalter.<br />
Laut Sutter hat man die Wirbelsäule<br />
der Betroffenen bis in die 1980er-<br />
Jahre vielfach nur ein bisschen gestreckt<br />
– und dann den immer noch krummen<br />
Rücken mit einer Metallstange versteift.<br />
Denn ohne IOM ist ein starkes Eingreifen<br />
riskant: Wird die Wirbelsäule zu stark<br />
gedehnt, können dadurch Nervenbahnen<br />
gezerrt oder eingeklemmt werden – was<br />
unter Umständen bleibende Lähmungen<br />
oder Sinnesstörungen zur Folge hat. Deshalb<br />
setzt sich IOM bei komplizierten<br />
Eingriffen immer mehr als Standard<br />
durch.<br />
32 | SPEZIAL | Beweglickeit
Sportmedizin<br />
Für Sportler<br />
und Normalos<br />
Die Swiss Olympic Medical Center betreiben sportmedizinische<br />
Forschung, betreuen Spitzenathleten und<br />
bieten auch diverse Dienstleistungen für Hobbysportler.<br />
Von Beat Glogger<br />
Die wohl fittesten Patienten in der<br />
Zürcher Schulthess Klinik gehen<br />
in den Praxisräumen von Kerstin<br />
Warnke ein und aus: Ruderer, Volleyballerinnen,<br />
Segler, Tennisspielerinnen,<br />
Kanuten, Kunstturner, Eishockeyspieler,<br />
Snowboarder. Allesamt Top-Athleten aus<br />
Schweizer Sportverbänden, bei denen die<br />
Chefärztin für Sportmedizin auch als Verbandsärztin<br />
fungiert. Ähnliche Klientel<br />
auch in der Crossklinik am Merian Iselin<br />
in Basel: Hier reichen sich vor allem Wintersportler<br />
die Klinke. Der hiesige Chefarzt<br />
für Sportmedizin, Andreas Gösele,<br />
betreut die Schweizer Bob-Nationalmannschaft.<br />
Seit über 15 Jahren auch das<br />
Schweizer Leichtathletikkader und ein<br />
kürzlich neu gegründetes Rad-Team,<br />
dem der mehrfache Weltmeister und<br />
Olympiasieger Fabian Cancellara angehört.<br />
Die Schulthess Klinik und die Crossklinik<br />
gehören zu einem Netzwerk von<br />
insgesamt zwölf Schweizer Kliniken, die<br />
als «Swiss Olympic Medical Center» zertifiziert<br />
sind. Das Label vergibt Swiss<br />
Olympic – die Dachorganisation der<br />
Schweizer Sportverbände – an Kliniken,<br />
die gewisse Qualitätskriterien erfüllen.<br />
Unter anderem ist Bedingung, dass sportphysiologische<br />
Leistungstests angeboten<br />
werden und die leitenden Ärzte in einem<br />
Schweizer Sportverband als Verbandsärzte<br />
tätig sind und deren Athleten an<br />
Wettkämpfen betreuen. «Die Betreuung<br />
der Teams und die Zusammenarbeit mit<br />
Foto: René Ruis<br />
den Trainern erlaubt es uns, stetig<br />
präventive und leistungsdiagnostische<br />
Untersuchungsmethoden weiterzuentwickeln»,<br />
sagt Andreas Gösele, der in jungen<br />
Jahren selbst ein angefressener<br />
Sprinter war. Dabei komme der Prävention<br />
von Sportverletzungen und -schäden<br />
eine zentrale Bedeutung zu.<br />
Doch die Tätigkeit der Sportmediziner<br />
erschöpft sich nicht in der Betreuung<br />
von Top-Athleten, sagt Kerstin Warnke,<br />
die im Sommer 2012 als leitende Olympiaärztin<br />
die Schweizer Delegation an die<br />
Sommerspiele nach London begleiten<br />
wird. Die Erkenntnisse an Spitzensportlern<br />
komme auch ganz «normalen» Pati-<br />
Neue Diagn<br />
Foto: Heiner H. Schmitt<br />
Dr. Andreas Gösele bei einer isokinetischen Kraftmessung mit Bob-Champion Beat Hefti.<br />
Das sogenannte Kompartment-<br />
Syndrom wurde zunächst bei<br />
Sportlern nach intensivem<br />
Training diagnostiziert.<br />
Jetzt zeigt sich, dass auch<br />
andere darunter leiden<br />
können: all jene, die lange<br />
auf den Beinen sind.<br />
34 | SPEZIAL | Beweglickeit
Dr. Kerstin Warnke<br />
überwacht das<br />
Leistungs-EKG bei<br />
einer Frau, die wieder<br />
mit Sport beginnen<br />
möchte.<br />
enten zugute: Freizeitsportlern, Kindern<br />
oder älteren Menschen.<br />
Ein typisches Beispiel ist das sogenannte<br />
Impingement des Hüftgelenks<br />
(siehe auch Seite 10). «Das Hüftimpingement<br />
ist eine relativ neue Diagnose. Wir<br />
reden erst seit Ende der 90er-Jahre davon.<br />
Oft wird es bei Sportlern gefunden», sagt<br />
Warnke. «Nicht weil sie besonders betroffen<br />
wären, sondern weil bei ihnen aufgrund<br />
der grösseren Belastung der Gelenke<br />
gewisse Anomalien am Skelett früher<br />
zu Beschwerden führen.» Auch die<br />
Ausrüstung spielt eine Rolle: zum Beispiel<br />
Fussballschuhe, die sich mit den<br />
Stollen im Rasen festkrallen und so Rotationsbewegungen<br />
einschränken – was<br />
wiederum zu einer stärkeren Belastung<br />
der Gelenke führt.<br />
Gösele betont den Wert der Sportmedizin<br />
für die Allgemeinheit. «Weil man aus<br />
Reihenuntersuchungen mit Sportlern viel<br />
über das Impingement gelernt hat, kommt<br />
man heute bei Nichtsportlern, die an unerklärlichen<br />
Hüftschmerzen leiden, zu<br />
derselben Diagnose. Früherkennung kann<br />
helfen, schwerere Hüftarthrosen zu verhindern.»<br />
Heute versteht der 49-Jährige<br />
auch, warum er damals als jugendlicher<br />
Sprinter in der Hüfte weniger beweglich<br />
war als die Kollegen. «Kürzlich hat eine<br />
MRI-Untersuchung gezeigt, dass ich selbst<br />
ein Hüft-Impingement habe. Jetzt kann<br />
ich präventiv der Arthrose entgegen<br />
wirken.»<br />
Neben Forschung für Sportler und<br />
Nichtsportler erbringt ein Swiss Olympic<br />
Medical Center auch verschiedene Dienstleistungen<br />
für Hobbysportler. Hier können<br />
sie ihren Trainingsstand überprüfen<br />
lassen. Ein leistungsdiagnostischer Test<br />
kostet um die 250 Franken. Geprüft werden<br />
Kraft, Ausdauer, Sauerstoffaufnahmefähigkeit<br />
und weitere Parameter. Die Kosten<br />
dafür übernehmen die Krankenkassen<br />
allerdings nicht. Einzig, wer in einer Untersuchung<br />
die Herztätigkeit mittels Leistungs-EKG<br />
prüfen lässt, kann die Kosten<br />
dafür der Kasse übertragen, sofern er im<br />
Vorfeld unter Beschwerden gelitten hat.<br />
Zu empfehlen ist eine Leistungsdiagnostik<br />
für Personen, die nach längerer<br />
Sportabstinenz wieder mit einem Training<br />
beginnen wollen. Oder auch Spätberufenen,<br />
die es noch einmal wissen wollen<br />
und sich ein Ziel gesteckt haben. Erst<br />
recht, wer sich zum Fünfzigsten den<br />
New-York-Marathon geschenkt hat. Damit<br />
der Lauf durch den Big Apple auch<br />
wirklich zum Genuss wird.<br />
ose hilft auch Nichtsportlern<br />
Der Muskel<strong>spezial</strong>ist Andreas Gösele<br />
behandelt viele Läufer, die<br />
sich über unerklärliche Schmerzen<br />
in den Waden beklagen. Typischerweise<br />
verschwinden die Schmerzen bei<br />
einer Trainingspause, umkehren dann<br />
bei Wiederaufnahme des Trainings aber<br />
sofort wieder zurück. Ähnliches berichteten<br />
auch Motocrossfahrer und Kletterer<br />
über Schmerzen im Unterarm. Heute<br />
weiss man, dass diese Athleten am sogenannten<br />
Kompartment-Syndrom leiden.<br />
Die Schmerzen haben ihren Grund in zu<br />
engen Muskelhüllen – in der Fachsprache<br />
Faszien. Dafür verantwortlich ist meist<br />
eine zu enge Faszie oder eine zu schnelle<br />
Vergrösserung des Muskelquerschnitts<br />
durch intensives Training. Die Faszien,<br />
welche die Muskelgruppen umgeben,<br />
sind dann im Vergleich zum Muskelvolumen<br />
zu eng. Dies führt bei Beanspruchung<br />
der entsprechenden Muskelgruppe<br />
zu einem erhöhten Druck und damit zu<br />
Schmerzen.<br />
Dank dieser Erkenntnis schicken nun<br />
plötzlich auch Gefäss<strong>spezial</strong>isten Patienten<br />
zum Sportarzt. Zum Beispiel Servierpersonal,<br />
das an Wadenschmerzen leidet,<br />
aber weder Krampfadern noch andere ersichtliche<br />
Ursachen dafür zeigt.<br />
Verengte Muskelfaszien lassen sich mit<br />
einer eigens dafür entwickelten Operationstechnik<br />
minimal-invasiv erweitern.<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 35
Reha<br />
Foto:iStock/trialll<br />
Rehabilitation flexibel gesta<br />
Immer mehr Patienten machen ihre Rehabilitation<br />
ambulant. Das kann für sie Vorteile bringen und<br />
entlastet gleichzeitig das Gesundheitswesen.<br />
Von Simon Degelo<br />
In der Rehabilitation kam es in den<br />
letzten Jahren zu einem Philosophiewechsel:<br />
Früher war die Devise, die<br />
Patienten aus ihrem gewohnten Umfeld<br />
herauszunehmen und ihnen Erholung in<br />
einem ruhigen Kurort zu gönnen. Heute<br />
versucht man, sie möglichst bald in ihr<br />
Alltagsleben zurück zu bringen, damit die<br />
Genesenden den Kontakt zu ihren Liebsten<br />
nicht verlieren und möglichst schnell<br />
wieder lernen, den Alltag selbständig zu<br />
bestreiten. Dieses Umdenken haben vor<br />
allem die Fortschritte in der Medizin gefördert:<br />
Dank schonenderen Operationsmethoden<br />
verheilen Wunden schneller,<br />
verbesserte Diagnosemethoden helfen,<br />
Komplikationen vorherzusehen.<br />
Inzwischen ist ein breites Angebot<br />
entstanden, das den Patienten ihren Weg<br />
zurück in den Alltag erleichtert. Es reicht<br />
von Ergotherapie zum Wiedererlernen<br />
von alltäglichen Aktivitäten über Physiotherapie<br />
im Schwimmbecken bis hin zu<br />
Walking in geleiteten Gruppen. Dabei<br />
wohnen die Patienten so früh wie möglich<br />
wieder zu Hause und gehen je nach<br />
Bedürfnis stundenweise oder den ganzen<br />
Tag in die Reha.<br />
Der Trend zu mehr ambulanter Rehabilitation<br />
verspricht auch Geld zu sparen:<br />
Denn das Bett verursacht bei stationären<br />
Spitalaufenthalten den grössten Anteil<br />
der Kosten. Dieser entfällt, wenn die Behandlung<br />
ambulant durchgeführt wird.<br />
Das könnte helfen, den Kostenanstieg im<br />
Gesundheitswesen zu dämpfen. Paradox<br />
jedoch: «Die Spitäler haben keinen Anreiz,<br />
dieses Sparpotenzial umzusetzen»,<br />
sagt Michael Gengenbacher, Chefarzt des<br />
Rehabilitationszentrums am Bethesda<br />
Spital in Basel. Bei stationären Behandlungen<br />
müssen die Kantone 55 Prozent<br />
der Kosten übernehmen, bei ambulanten<br />
hingegen gar nichts.<br />
Gengenbacher rechnet damit, dass<br />
die Einführung der Fallpauschale auf Anfang<br />
nächsten Jahres Bewegung in die Sache<br />
bringt. Zwar ändert sich damit nichts<br />
an der Kostenbeteiligung der Kantone,<br />
aber sie zwingt die Ärzte, sich schon vor<br />
der Behandlung Gedanken über die Rehabilitation<br />
zu machen. «Allerdings besteht<br />
auch eine gewisse Gefahr, dass Patienten<br />
aus dem Spital gedrängt werden»,<br />
sagt Rehabilitations-Spezialist Gengenbacher.<br />
Umso wichtiger sei eine gute Abklärung.<br />
Im Vordergrund steht dabei der<br />
Mensch als Ganzes und nicht nur seine<br />
Krankheit: Das Alter, der allgemeine Gesundheitszustand<br />
sowie eventuelle Begleiterkrankungen<br />
beeinflussen die Genesung.<br />
Doch auch äussere Faktoren<br />
spielen eine Rolle: Gibt es zu Hause einen<br />
Partner, der helfen kann? Oder behindern<br />
Umstände wie eine steile Treppe die<br />
Heimkehr? Nur wenn solche Fragen in<br />
die Planung einbezogen und mit dem Patienten<br />
besprochen werden, lässt sich die<br />
optimale Form der Rehabilitation finden.<br />
Damit der Patient nicht nur schnell aus<br />
dem Spital kommt, sondern auch wieder<br />
beschwerdenfrei durch sein Leben gehen<br />
kann.<br />
36 | SPEZIAL | Beweglickeit
Elektrostimulation<br />
MUSKELTRAINING UNTER STROM<br />
lten<br />
Aquafit<br />
ist gelenkschonend<br />
und<br />
kann auch in<br />
einer ambulanten<br />
Reha<br />
integriert<br />
werden.<br />
«Die Rehabilitation<br />
sollte<br />
schon vor einer<br />
Operation geplant<br />
werden»<br />
Dr. Michael Gengenbacher,<br />
Chefarzt des Rehabilitationszentrums<br />
am Bethesda Spital in Basel<br />
Elektrostimulation erlaubt Muskeltraining<br />
ohne Zutun des Patienten und<br />
wird in der Rehabilitation bereits routinemässig<br />
eingesetzt.<br />
Von Simon Degelo<br />
Die Patientin sitzt auf einem speziellen<br />
Sessel, an ihrem Oberschenkel<br />
sind Elektroden angeklebt, die mit<br />
einem Elektrostimulationsgerät<br />
verkabelt sind. Dr. Nicola Maffiuletti,<br />
der an der Schulthess Klinik in Zürich<br />
die Einsatzmöglichkeiten der Elektrostimulation<br />
erforscht, startet das<br />
Gerät. Er schickt eine Serie kurzer<br />
Stromstösse von bis zu 400 Volt in<br />
den Oberschenkelmuskel der Patientin.<br />
Folge: Der Muskel spannt sich an.<br />
Schmerzlich ist die Methode nicht,<br />
doch die Elektrizität ist auf der Haut<br />
spürbar. «Es kribbelt, wie wenn Ameisen<br />
über die Haut laufen würden»,<br />
sagt die Patientin.<br />
Die elektrischen Impulse entfalten<br />
ihre Wirkung an der Stelle, wo die<br />
Nervenenden auf die Muskelfasern<br />
treffen – in der Fachsprache: an den<br />
motorischen Endplatten. Diese<br />
Schnittstellen sind sehr empfindlich:<br />
Bei einem Stromimpuls ziehen sich<br />
die Muskelfasern zusammen, egal,<br />
ob der Reiz vom Nerv kommt oder<br />
künstlich verursacht wird. So können<br />
Muskeln ohne aktive Bewegung trainiert<br />
werden.<br />
Starke Muckis ohne Anstrengung<br />
also? Muskelforscher Maffiuletti<br />
winkt ab: «Elektrostimulation ist nicht<br />
das Wundermittel, als das es manche<br />
Herstellern anpreisen.»<br />
Doch in gewissen Situationen,<br />
etwa nach einer Operation, bietet die<br />
Methode grosse Vorteile. Zum Beispiel<br />
für Patienten, die eine Hüftprothese<br />
erhalten haben. Anfangs dürfen<br />
sie das künstliche Gelenk nicht voll<br />
belasten und können daher nur sehr<br />
leichte Übungen machen. Dadurch<br />
trainieren sie nur einen Teil der Muskelfasern,<br />
von denen es in der Skelettmuskulatur<br />
zwei unterschiedliche<br />
Typen gibt: die sogenannt schnellen<br />
und die langsamen Fasern. Bei Ausdauerleistung<br />
sind in erster Linie die<br />
langsamen Fasern aktiv, erst bei<br />
grossem Krafteinsatz werden die<br />
schnellen Fasern zugeschaltet. Deshalb<br />
ist es nicht möglich, die schnellen<br />
Fasern mit leichten Übungen zu<br />
trainieren. Mit Elektrostimulation<br />
lässt sich das Problem umgehen: Der<br />
elektrische Reiz regt beide Fasertypen<br />
zu gleichen Teilen an – die schnellen<br />
Fasern können schon bei minimaler<br />
Belastung trainiert werden.<br />
Die Technik hat aber auch ihre<br />
Grenzen: Es wird nicht der ganze<br />
Muskel, sondern vorwiegend der Bereich<br />
zwischen den Elektroden trainiert.<br />
«Zudem sollten die Trainingseinheiten<br />
nicht zu lange dauern, da<br />
es sonst zu Zerrungen kommen<br />
kann», sagt Maffiuletti.<br />
Elektrostimulation macht sogar<br />
Muskeltraining für bewegungsunfähige<br />
Menschen möglich: beispielweise<br />
in der Intensivmedizin. Wenn<br />
Patienten über längere Zeit ohne Bewusstsein<br />
sind und künstlich beatmet<br />
werden müssen, bauen sich ihre<br />
Muskeln innert wenigen Wochen ab.<br />
«Diese Menschen haben nach dem<br />
Aufwachen grosse Probleme, zurück<br />
ins Leben zu finden,» sagt Maffiuletti.<br />
«Wenn wir die Muskelfunktion erhalten,<br />
können wir ihnen wenigstens ein<br />
Hindernis aus dem Weg räumen.»<br />
Foto: Sava Hlavacek<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 37
Gesundheitsökonomie<br />
«Warum sind diese Eingriffe<br />
Steigende Ansprüche an<br />
die Medizin, steigende<br />
Krankenkassenprämien:<br />
Ist unser Gesundheitswesen<br />
noch zu retten?<br />
Was bringen das neue Abrechnungssystem<br />
namens<br />
DRG und Managed Care?<br />
Was versteht man unter DRG?<br />
Profitieren Patienten davon?<br />
Carlo Conti: Für die Patienten ändert<br />
sich mit DRG nichts. Es ist nur eine<br />
andere Art der Abrechnung. Statt nach<br />
Tagespauschalen wird nach Fallkostenpauschalen<br />
abgerechnet.<br />
Thomas Szucs: Die orthopädische Ersatzteilchirurgie<br />
von Knie und Hüfte ist ein<br />
gutes Beispiel für Fallpauschalen. Das sind<br />
heute Routineeingriffe, weitgehend standardisiert<br />
und deshalb gut kalkulierbar.<br />
Werden durch den ökonomischen<br />
Druck nicht einfach Patienten zu früh<br />
aus der Klinik entlassen?<br />
Conti: Ganz klar nein. Erstens wird<br />
heute schon in vielen Kliniken in verschiedenen<br />
Kantonen nach Fallkostenpauschalen<br />
abgerechnet. Sogenannt blutige<br />
Entlassungen sind kein Problem,<br />
auch nicht in Deutschland, wo man<br />
schon länger nach DRG abrechnet. Eine<br />
grosse Untersuchung hat das belegt. Zudem<br />
ist im DRG-System der Schweiz<br />
eine Sicherung vorgesehen. Wenn es<br />
nach der Entlassung innerhalb von 18<br />
Tagen zu Komplikationen kommt, muss<br />
die erstbehandelnde Klinik ohne Zusatzentschädigung<br />
eine Zweitbehandlung<br />
machen. Schlechte Qualität kann sich<br />
eine Klinik bei der freien Spitalwahl gar<br />
nicht leisten.<br />
Szucs: Ich habe Anfang der 1990er-<br />
Jahre die Einführung von DRG in<br />
Deutschland sowie 1996 in Italien mit-<br />
Thomas D. Szucs,<br />
Mediziner und Ökonom, ist Professor für<br />
Gesundheitsökonomie am PharmaCenter<br />
der Universität Basel und Verwaltungsrats-Präsident<br />
der Helsana Group.<br />
erlebt. Es gab wie heute in der Schweiz<br />
am Anfang massive Ängste, die sich aber<br />
in der Folge nicht bewahrheitet haben.<br />
Ein weiteres Zauberwort heisst Managed<br />
Care, also integrierte Versorgung.<br />
Künftig soll ein Vertrauensarzt die Behandlung<br />
von A bis Z steuern. Verlieren<br />
die Patienten damit nicht ihre<br />
Selbstbestimmung?<br />
Conti: In einem gut organisierten Managed-Care-System<br />
ist der Patient besser<br />
aufgehoben als im jetzigen System. Wenn<br />
das zudem noch zu finanziellen Einsparungen<br />
führt, weil zum Beispiel Doppelspurigkeiten<br />
vermieden werden, ist dagegen<br />
nichts einzuwenden. Zwei Bedingungen<br />
gibt es. Erstens müssen diese<br />
Managed-Care-Organisationen unabhängig<br />
von den Kassen sein – die Kassen<br />
selbst sollten keine Managed-Care-Modelle<br />
anbieten. Und vor allem muss der<br />
Patient innerhalb eines Qualitätswettbewerbs<br />
eine Wahlmöglichkeit haben. Das<br />
Carlo Conti,<br />
Anwalt, ist seit zehn Jahren Gesundheitsdirektor<br />
des Kantons Basel-Stadt, Verwaltungsrats-Präsident<br />
der Swiss DRG AG<br />
und Vizepräsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz.<br />
spricht ganz klar gegen die Idee einer<br />
Einheitskasse.<br />
Szucs: Auch ich bin gegen Managed<br />
Care durch Krankenkassen. Denn das<br />
gibt einen Interessenskonflikt zwischen<br />
Leistungserbringern und Kostenträgern.<br />
Ansonsten sehe ich bei Managed Care<br />
nur Vorteile. Zum Beispiel werden der<br />
Datenfluss sowie Archivierung und Dokumentation<br />
verbessert. Es wird einfacher,<br />
nachzuvollziehen, wo ein Patient<br />
welche medizinischen Leistungen erhalten<br />
hat. Dass die freie Arztwahl wegfällt,<br />
sehe ich nicht als Problem. Für die heutigen<br />
Jungen spielt es keine grosse Rolle<br />
mehr, wenn sie nicht immer auf denselben<br />
Hausarzt treffen. Im Zeitalter der losen<br />
sozialen Netzwerke geht man auch<br />
mit seiner Gesundheit ganz anders um,<br />
sehr viel flexibler.<br />
Die Orthopädie ist ein grosser Markt,<br />
künstliche Gelenke sind für viele<br />
Player eine Goldgrube, der Bedarf an<br />
Foto: S Heiner H. Schmitt<br />
38 | SPEZIAL | Beweglickeit
so teuer?»<br />
Operationen wird steigen. Kann sich<br />
unsere Gesellschaft diesen Anspruch<br />
überhaupt leisten?<br />
Conti: Es stimmt, mit Orthopädie lässt<br />
sich viel Geld verdienen. Aber bedenken<br />
Sie, welche Probleme ältere Leute noch<br />
vor 20, 25 Jahren hatten – Schmerzen,<br />
viele konnten nicht mal mehr gehen.<br />
Demgegenüber hat die heutige Orthopädie<br />
eine echte Verbesserung der Lebensqualität<br />
gebracht. Und je älter die Menschen<br />
werden, desto mehr wächst der<br />
Anteil derjenigen, die solche Leistungen<br />
brauchen – und in Anspruch nehmen.<br />
Letztlich ist es eine gesellschaftliche<br />
Frage, was alles nötig und möglich ist. Ich<br />
als Gesundheitsdirektor masse mir nicht<br />
an, zu entscheiden, ob ein älterer Mensch<br />
Anrecht auf bestimmte medizinische<br />
Leistungen hat oder nicht.<br />
Szucs: Es ist ja nicht nur die Lebensqualität,<br />
die gestiegen ist, sondern auch die<br />
Unabhängigkeit – dass man sich zum<br />
Beispiel allein ankleiden, selbständig<br />
nach draussen gehen kann.<br />
Was mir hingegen Kopfzerbrechen bereitet:<br />
Warum diese Eingriffe immer noch<br />
so teuer sind. Früher dauerten Hüftoperationen<br />
drei Stunden. Heute erhält man<br />
eine neue Hüfte in 40 Minuten – ökonomisch<br />
gesprochen ein klarer Produktivitätsgewinn,<br />
von dem auch der Prämienzahler<br />
profitieren sollte.<br />
Conti: Die Gesundheitskosten steigen<br />
nicht überdramatisch, sie steigen seit<br />
dem Jahr 2000 jährlich um zirka 2 Prozent.<br />
Aber die Prämien steigen überdurchschnittlich,<br />
und zwar, weil wir die<br />
Finanzierungslast dem Prämienzahler<br />
übertragen. Darunter leiden die Leute.<br />
Was wir brauchen, um in Zukunft die Finanzierbarkeit<br />
sicherzustellen, sind mehr<br />
Steuergelder in diesem System. Wir können<br />
zwar alles Mögliche tun, um die Effizienz<br />
zu steigern, aber die steigende<br />
Nachfrage aufgrund der demografischen<br />
Entwicklung werden wir nicht auf null<br />
reduzieren können.<br />
Interview: Irène Dietschi<br />
Managed Care<br />
BETREUEN STATT VERWALTEN<br />
Integrierte Versorgungsnetze sollen<br />
helfen, die Gesundheitskosten einzudämmen.<br />
Das Beispiel Orthopädie<br />
zeigt, dass Managed Care vor allem<br />
den Patienten nützt.<br />
Von Irène Dietschi<br />
Optimierte Behandlungsprozesse,<br />
verbesserte Qualität, weniger Kosten:<br />
Das versprechen sich viele von integrierten<br />
Versorgungsnetzen, sogenannter<br />
Managed Care. Die Argumente für<br />
diese Form der Gesundheitsversorgung<br />
sind einleuchtend: Wenn sich<br />
verschiedene Leistungserbringer –<br />
etwa Hausärzte, Spezialärzte und Therapeuten<br />
– zusammenschliessen,<br />
kann die Behandlung besser koordiniert<br />
werden. Die meisten Gesundheitspolitiker<br />
definieren Managed<br />
Care als Mittel zur Kostensenkung.<br />
Eine Fehleinschätzung, findet Stephan<br />
Fricker, CEO der Merian Iselin<br />
Klinik für Orthopädie und Chirurgie:<br />
«Managed Care betrifft vor allem die<br />
Qualität.» Seine Klinik betreibe<br />
integrierte Versorgung,<br />
indem für die Nachbehandlung<br />
ein grosses und<br />
bewährtes Netzwerk zur Verfügung<br />
stehe; zum Beispiel<br />
Physiotherapie-Institute, mit<br />
denen man bevorzugt zusammenarbeite,<br />
aber auch<br />
die Spitex und andere Institutionen.<br />
Durch die gute Planung<br />
einer Behandlungskette<br />
würden nicht nur die<br />
Heilungschancen verbessert,<br />
sondern auch die Heilungsdauer<br />
optimiert. Diese<br />
Einschätzung teilt Matthias<br />
Spielmann, CEO der Schulthess<br />
Klinik. In der Zürcher<br />
Klinik sind es Case Manager<br />
– in der Regel ehemalige<br />
Krankenschwestern –, welche<br />
die Operationstermine<br />
und die weiteren Behandlungsschritte<br />
planen. «Es ist<br />
Foto: iStock/kenzon<br />
Matthias P.<br />
Spielmann,<br />
CEO der Schulthess<br />
Klinik in<br />
Zürich<br />
Stephan Fricker,<br />
CEO der Merian<br />
Iselin Klinik in Basel<br />
Mehrfachbelastung kann zu Rückenschmerzen<br />
führen. Ein Fall für Managed<br />
Care.<br />
entscheidend, dass zum Beispiel für<br />
die Rehabilitation eines Patienten ein<br />
Reha-Bett genau an dem Tag und dem<br />
Ort zur Verfügung steht, an dem er es<br />
braucht», sagt Spielmann. Es liege an<br />
den Krankenversicherungen, die Steuerung<br />
von ganzen Behandlungsprozessen<br />
zu planen. Statt einfach Kassenverwalter<br />
zu sein, sollten die Versicherer<br />
vermehrt zu «Care Managern»<br />
werden, wie dies von einzelnen bereits<br />
vorgemacht werde.<br />
Dass dies in der Orthopädie<br />
sinnvoll wäre, zeigt eine vom<br />
Nationalfonds unterstützte<br />
Studie zu chronischen Rückenschmerzen:<br />
Sogenannte<br />
funktionsbezogene Therapien<br />
sind erfolgreicher als<br />
normale Physiotherapie.<br />
Konkret: Muss jemand bei<br />
seiner Arbeit häufig Gewichte<br />
heben, ist es neben einem<br />
Ausdauer- und Kraftprogramm<br />
angezeigt, diese Bewegungen<br />
ergonomisch zu<br />
üben. In der Studie waren<br />
von den Teilnehmern der<br />
funktionsbezogenen Therapie<br />
deutlich mehr an den Arbeitsplatz<br />
zurückgekehrt als<br />
von der Gruppe, die lediglich<br />
Physiotherapie bekommen<br />
hatte. Dabei waren die Behandlungskosten<br />
erst noch<br />
tiefer.<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 39
IMPRESSUM<br />
HEALTH UNIT<br />
Gesamtleitung:<br />
Fibo Deutsch<br />
Planung und medizinische<br />
Leitung: Dr. med. Markus Meier<br />
Projektleitung:<br />
Dr. h.c. Beat Glogger<br />
Redaktion: scitec-media gmbh<br />
Art Direction / Layout: Theodor<br />
Bilger<br />
Produktion: Beat Glogger<br />
Bildredaktion: Ralph Knobelspiess,<br />
Nadja Stohler<br />
Titelfoto: iStock/Jacom Stephens<br />
Korrektorat: Anton Rohr<br />
Internet: Rolf Winkler<br />
(www.gesundheitsprechstunde.ch)<br />
Redaktionsadresse:<br />
Gesundheit Sprechstunde<br />
Hagenholzstrasse 83b<br />
8050 Zürich<br />
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Verkauf / Kooperationen:<br />
Dr. med. Markus Meier<br />
Verlagsadresse:<br />
Ringier AG<br />
Verlag Gesundheit Sprechstunde<br />
Hagenholzstrasse 83b<br />
8050 Zürich<br />
Druck:<br />
Ringier Print AG<br />
4800 Zofingen<br />
Auflage: 531 000 Exemplare<br />
Dieses Sonderheft erscheint als<br />
Beilage der Badischen Zeitung am<br />
29.1., der NZZ am Sonntag am 30.1.,<br />
der SonntagsZeitung am 30.1. und<br />
des Birsigtal-Boten am 3.2.2011.<br />
Mit freundlicher Unterstützung von:<br />
Vitamin D macht stark<br />
EXZENTRISCHES TRAINING<br />
UNNÜTZE THERAPIE<br />
Arthrose ist weltweit die häufigste<br />
Gelenkerkrankung: In Westeuropa leidet<br />
die Hälfte aller 65-Jährigen darunter,<br />
bei den 75-Jährigen sind es schon<br />
80 Prozent. Um dem Knorpelabbau<br />
entgegenzuwirken und die Schmerzen<br />
zu lindern, werden Patienten häufig<br />
mit den Wirkstoffen Chondroitin und<br />
Glucosamin behandelt. Das bringt jedoch<br />
nichts, wie Peter Jüni, leitender<br />
Epidemiologe am Institut für Sozialund<br />
Präventivmedizin der Universität<br />
Gesunder Knochen (l.) und<br />
Osteoporose<br />
Mit den Jahren nehmen Knochendichte<br />
und Muskelkraft ab. Das<br />
menschliche Skelett wird anfälliger,<br />
das Sturz- und Verletzungsrisiko<br />
steigt. Die Statistik zeigt: Im<br />
Alter von 65 Jahren stürzen 30<br />
Prozent der zu Hause lebenden Senioren,<br />
bei den 80-Jährigen sind es<br />
gar die Hälfte. Rund fünf Prozent<br />
erleiden Knochenbrüche.<br />
Die Folge: Die Patienten sind in ihren<br />
Bewegungen und somit ihrer Selbständigkeit<br />
eingeschränkt. Rund 40<br />
Prozent müssen nach einem Unfall<br />
sogar in ein Pflegeheim ziehen. Bislang<br />
versuchte man, Brüchen mit Kalzium<br />
entgegenzuwirken. Nun konnten<br />
Forscher vom Zentrum Alter und<br />
Mobilität am Universitätsspital Zürich<br />
und des Stadtspitals Triemli<br />
nachweisen, dass die regelmässige<br />
Einnahme von hoch dosiertem Vitamin<br />
D bei älteren Hüftbruchpatienten<br />
die Zahl der Wiedereintritte ins Spital<br />
wegen sturzbedingter Verletzungen<br />
um 60 Prozent senken kann.<br />
Wer im Alter nicht zum alten Eisen<br />
gehören will, sollte etwas dafür<br />
tun. Das Senioren-Training muss<br />
einerseits effektiv sein, darf andererseits<br />
aber den Kreislauf nicht zu<br />
stark belasten. Ideal dafür ist das<br />
sogenannte exzentrische Ergometer-Training:<br />
Anders als bei herkömmlichen<br />
Übungen müssen die<br />
Patienten die Pedale des speziellen<br />
Ergometers nicht selber antreiben,<br />
sondern bremsen. So, dass die<br />
Bremsleistung mit der Belastungsvorgabe<br />
übereinstimmt. Eine Methode,<br />
die ausserhalb des Hochleistungssports<br />
noch nahezu unbekannt<br />
ist. Forscher der Universität<br />
Bern haben sie während dreier<br />
Monaten bei Patienten ausprobiert.<br />
Gleichzeitig mussten die Testpersonen<br />
auch ein kognitives Training<br />
absolvieren. Das Ergebnis: Exzentrisch<br />
trainierende Senioren machten<br />
hinsichtlich Kraft, Koordination<br />
und Wahrnehmung sowie Gedächtnisleistung<br />
deutlich grössere Fortschritte<br />
als solche, die ein herkömmliches<br />
Training absolvierten.<br />
Bern, herausgefunden hat. Sein Team<br />
analysierte 10 Studien mit mehr als<br />
3800 Patienten, bei denen die Wirksamkeit<br />
der Medikamente bei Knieoder<br />
Hüftgelenkarthrosen untersucht<br />
wurde. Das Resultat ist erschreckend:<br />
Die Experten bescheinigen den vermeintlichen<br />
Heilsbringern die Wirksamkeit<br />
von Placebos und raten den<br />
Krankenkassen, die Kosten für diese<br />
Therapie künftig nicht mehr zu<br />
übernehmen.<br />
40 | SPEZIAL | Beweglichkeit
METALLISCHES<br />
GLAS<br />
Patienten mit komplizierten Knochenbrüchen<br />
müssen zweimal unters<br />
Messer: In einer ersten Operation fixiert<br />
der Chirurg den Bruch mit Platten<br />
und Schrauben. Diese müssen –<br />
wenn der Knochen verheilt ist – wieder<br />
entfernt werden. Der zweite<br />
Eingriff könnte bald überflüssig werden.<br />
Denn Materialforscher der ETH<br />
Zürich haben eine Legierung aus Magnesium,<br />
Zink und Kalzium entwickelt,<br />
die so stabil wie Knochen ist<br />
und eine neue Generation von biologisch<br />
abbaubaren Implantaten einläuten<br />
könnte. Das neue Material<br />
wird «metallisches Glas» genannt.<br />
Anders als bei früheren Ansätzen zu<br />
biologisch abbaubaren Implantaten<br />
bildet sich beim Abbau des neuartigen<br />
Materials fast kein Wasserstoff<br />
mehr. So können Gasblasen um die<br />
Implantate vermieden werden, die<br />
bislang das Knochenwachstum und<br />
somit die Heilung behindert haben.<br />
Bis zum Einsatz der Legierung sind<br />
noch weitere klinische Tests notwendig.<br />
Ausserdem müssen Wege gefunden<br />
werden, das neue Material effizient<br />
und möglichst kostengünstig<br />
herzustellen.<br />
Training<br />
ist besser<br />
als Fango<br />
Mit Rückenschmerzen ist nicht zu<br />
spassen. Denn werden sie chronisch,<br />
gehen die Geplagten nicht nur wesentlich<br />
häufiger zum Arzt, was hohe<br />
Kosten verursacht, sondern viele werden<br />
auch arbeitsunfähig oder sogar<br />
invalid. Nun konnten Forscher um<br />
Stefan Bachmann vom Rehabilitationszentrum<br />
der Klinik Valens SG<br />
nachweisen, dass sich die Zahl der<br />
Ausfalltage – und damit auch die Kosten<br />
– mit Hilfe des richtigen Behandlungsansatzes<br />
deutlich reduzieren lassen.<br />
Während dreier Jahre verglichen<br />
sie die Erfolge und Kosten unterschiedlicher<br />
Therapieformen. Das Ergebnis:<br />
Statt passivphysikalische<br />
Massnahmen zu geniessen, wie beispielsweise<br />
Massagen oder Fangopackungen,<br />
bei denen die Linderung der<br />
Symptome im Vordergrund steht,<br />
sollten die Patienten unter Anleitung<br />
aktiv und funktionsorientiert trainieren<br />
– auch wenn dabei die Schmerzen<br />
zunächst zunehmen. Durch Kräftigung,<br />
Dehnung und Stabilisierung<br />
der Muskulatur sowie die Steigerung<br />
der Ausdauer werden die physischen<br />
Fähigkeiten und somit auch die Belastbarkeit<br />
gestärkt.<br />
Knochenwolle statt<br />
Granulat oder Zement<br />
Foto: iStock/Phil Date<br />
Schon lange verlassen sich Ärzte nach<br />
einer Operation nicht mehr allein auf<br />
die Selbstheilungskräfte des menschlichen<br />
Körpers. Besonders wenn Knochen<br />
schnell nachwachsen sollen,<br />
müssen Mediziner nachhelfen. Bislang<br />
stehen ihnen dafür zwei Materialien<br />
zur Verfügung. Doch die weisen<br />
Mängel auf: So kann das vom Rind gewonnene<br />
Knochen-Granulat aus der<br />
Wunde herausrieseln. Zement bleibt<br />
zwar dort, wo er angewendet wird, ist<br />
jedoch nur innerhalb der ersten Sekunden<br />
modulierbar. Abhilfe soll<br />
künftig die sogenannte Knochenwolle<br />
aus den Labors der ETH Zürich schaffen.<br />
Die faserige Nano-Substanz ist<br />
flexibel und gut portionierbar. Sie besteht<br />
aus Calciumphosphat und Polymilchsäure.<br />
Beide Materialien sind<br />
getrennt voneinander schon seit langem<br />
im Einsatz und gut verträglich.<br />
Tests bei Hasen und Schafen haben<br />
die Wirkung bestätigt, klinische Studien<br />
sollen demnächst folgen.<br />
Foto: iStock/horex<br />
Beweglichkeit | SPEZIAL | 41
Foto: René Ruis<br />
Sohn Stefan Preiss (49, links) ist<br />
orthopädischer Chirurg, Chefarzt<br />
Untere Extremitäten an der<br />
Schulthess Klinik. Pro Jahr operiert<br />
er über 500 Kniegelenke.<br />
Im Fussball brachte er es bis ins<br />
U21-Kader der Grasshoppers.<br />
Vater Thomas Preiss (86, rechts)<br />
arbeitete 40 Jahre lang als Chirurg<br />
in verschiedenen Privatkliniken<br />
in Zürich und in der eigenen<br />
Praxis. In den 1950er-Jahren<br />
war er Torhüter beim Grasshopperclub<br />
und spielte für die<br />
Schweizer Fussball Nationalmannschaft.<br />
Schon Grossvater Gustav Preiss<br />
war Chirurg und operierte in<br />
den 30er-Jahren als einer der<br />
ersten in der Schweiz Menisken.<br />
Portrait<br />
Chirurgen aus Familientradition<br />
Thomas Preiss, wie geht es Ihnen<br />
heute?<br />
Thomas Preiss (lacht): Gut, natürlich hat<br />
man gewisse Altersbeschwerden. Ich bin<br />
ja immerhin 86.<br />
Ich meine, wie geht es Ihren Gelenken?<br />
Th. P.: Ich habe ein künstliches Kniegelenk<br />
und auf der rechten Seite eine Versteifung<br />
im unteren und oberen<br />
Sprunggelenk.<br />
Wegen des intensiven Sports?<br />
Th. P.: Ich glaube schon. Ich habe mich ja<br />
auch nie geschont.<br />
War Ihr Vater als Nati-Goalie und erfolgreicher<br />
Chirurg ein Vorbild?<br />
Stefan Preiss: Sportlich nicht. Ich war zu<br />
früh und zu oft verletzt. Aber beruflich<br />
war er sicher mein Vorbild.<br />
Gibt es Dinge, die er gemacht hat und<br />
Sie heute belächeln?<br />
St. P.: Belächeln sicher nicht. Es ist ja 40<br />
Jahre her, und vieles hat sich verändert.<br />
Ich erinnere mich, dass er für eine Kreuzbandoperation<br />
einen Schnitt gemacht<br />
hat, wie wir ihn heute für eine ganze<br />
Knieprothese machen. Damals hat man<br />
sogar die Kniescheibe zur Seite geschoben<br />
und gekippt, was heute unvorstellbar ist.<br />
Dieselbe Operation wird heute arthroskopisch,<br />
das heisst mit drei kleinen<br />
Schnitten, durchgeführt.<br />
Thomas Preiss, Sie haben die Zeit erlebt,<br />
als man von der offenen Operation<br />
zur Schlüsselloch-Technik überging.<br />
Wie war die Umstellung?<br />
Th. P.: Schwierig, weil ich zu dieser Zeit<br />
nicht mehr in einer Ausbildungsklinik<br />
gearbeitet habe. In der Praxis hat man weniger<br />
Gelegenheit, neue Operationstechniken<br />
zu erlernen.<br />
St. P.: Ich habe von Anfang gelernt, komplexeste<br />
Bandrekonstruktionen arthroskopisch<br />
durchzuführen, bei denen du<br />
noch hinten und vorn das ganze Knie aufgeschnitten<br />
hast.<br />
Bewundern Sie Dinge, die Ihr Sohn<br />
macht?<br />
Th. P.: Ganz klar. Die machen heute<br />
Dinge, die tausendmal besser sind als das,<br />
was wir damals gemacht haben.<br />
Zum Beispiel?<br />
Th. P.: Mein Vater Gustav entfernte bei<br />
einer Meniskusoperation immer den ganzen<br />
Meniskus, die Patienten blieben drei<br />
Wochen mit eingegipstem Bein im Spital.<br />
Ich habe zwar auch noch den ganzen<br />
rausgenommen, aber das Kniegelenk<br />
wurde bereits am Tag nach der Operation<br />
bewegt. Der Spitalaufenthalt dauerte<br />
noch neun Tage. Stefans Patienten verlassen<br />
heute die Klinik am selben Tag<br />
wieder.<br />
Geht das schneller und gleichzeitig<br />
besser? Ist das nicht Pfusch?<br />
St. P.: Überhaupt nicht. Heute dauert eine<br />
arthroskopische Meniskusoperation<br />
knapp 20 Minuten. Das Operationsvolumen<br />
ist viel kleiner, die Narkosen sind optimiert.<br />
Dadurch ist das Risiko deutlich geringer.<br />
Viel schneller kann man einen Meniskus<br />
nicht entfernen. Ausser man würde<br />
ihn vielleicht herausschiessen (lacht).<br />
Wie viele Knie waren es heute?<br />
St. P.: Ich weiss gar nicht… Fünf oder<br />
sechs Operationen waren es.<br />
War es früher ruhiger?<br />
Th. P.: Ja sicher. Nur schon bis die nächste<br />
Narkose eingeleitet war, da konnte man<br />
gut Mittagessen gehen und auf den Patienten<br />
warten.<br />
Werden Ihre Kinder auch Orthopäden<br />
oder Chirurgen?<br />
St. P.: Der Sohn sicher nicht. Der findet<br />
Studieren bis jetzt nicht cool. Beim jüngsten<br />
Mädchen wissen wir es noch nicht.<br />
Wir werden sehen.<br />
Interview: Beat Glogger<br />
42 | SPEZIAL | Beweglichkeit
SPEZIAL<br />
Beweglichkeit<br />
erhalten –<br />
wiederherstellen<br />
ORTHOPÄDIE<br />
Patienten erhalten immer mehr<br />
Gelenkprothesen – unter anderem<br />
weil wir länger leben.<br />
SCHMERZDIAGNOSE<br />
Um die Ursachen von Schmerzen<br />
zu finden, müssen viele Spezialisten<br />
zusammenarbeiten.<br />
WINTERSPORT<br />
Neue Sportarten und neue<br />
Ausrüstungen verändern das<br />
Verletzungsmuster.