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SPEZIAL<br />

Beweglichkeit<br />

erhalten –<br />

wiederherstellen<br />

ORTHOPÄDIE<br />

Patienten erhalten immer mehr<br />

Gelenkprothesen – unter anderem<br />

weil wir länger leben.<br />

SCHMERZDIAGNOSE<br />

Um die Ursachen von Schmerzen<br />

zu finden, müssen viele Spezialisten<br />

zusammenarbeiten.<br />

WINTERSPORT<br />

Neue Sportarten und neue<br />

Ausrüstungen verändern das<br />

Verletzungsmuster.


INHALT<br />

Beweglichkeit<br />

erhalten – wiederherstellen<br />

4 INTERDISZIPLINÄRE SCHMERZABKLÄRUNG<br />

Dem Schmerz auf der Spur<br />

7 R HEUMATISCHE ERKRANKUNGEN<br />

Rheuma ist keine Diagnose<br />

8 SCHMERZEN AM ARBEITSPLATZ<br />

Damit der Bürostuhl nicht zur Folterbank wird<br />

10 IMPINGEMENT<br />

Wenn es klemmt im Gelenk<br />

12 GELENKPROTHESEN<br />

Zehntausende von Prothesen jedes Jahr<br />

16 SPORTVERLETZUNGEN<br />

Neue Risiken: Wintersport im Wandel<br />

19 ARTHROSE<br />

Erkennen, bevor es zu spät ist<br />

20 KNORPELSCHADEN<br />

Knorpelregeneration bringt Beweglichkeit<br />

zurück<br />

23 K NOCHENERSATZ<br />

Knochenharter Ersatzjob<br />

24 FORSCHUNG UND WERKPLATZ<br />

Medizintechnik, eine Schweizer Tradition<br />

26 LANGZEITVERHALTEN<br />

Die Lebensdauer von Prothesen ist begrenzt<br />

27 ETHIK<br />

«‹Zu alt› gibt es nicht»<br />

28 SCHLÜSSELLOCH-CHIRURGIE<br />

Dank Minikamera mittendrin statt nur dabei<br />

30 INTRAOPERATIVES MONITORING<br />

Bei Rückenoperationen Risiken minimieren<br />

34 SPORTMEDIZIN<br />

Für Sportler und Normalos<br />

36 REHA<br />

- Rehabilitation flexibel gestalten<br />

- Muskeltraining unter Strom<br />

38 GESUNDHEITSÖKONOMIE<br />

- «Warum sind diese Eingriffe so teuer?»<br />

- Betreuen statt verwalten<br />

40 NEWS UND IMPRESSUM<br />

42 PORTRAIT<br />

Chirurgen aus Familientradition<br />

Editorial<br />

Mehr Orthopädie<br />

braucht das Land<br />

Ein Schweizer hat im Jahr 1780 die weltweit erste orthopädische Klinik<br />

eröffnet: Der Arzt Jean-André Venel legte in Orbe VD den<br />

Grundstein zu einer langen Tradition in unserem Land. Heute sind<br />

in der Schweiz knapp 500 Orthopäden tätig – darunter gut 20 Frauen.<br />

Der Begriff «Orthopädie» stammt aus dem Griechischen und bedeutet<br />

«etwas geradeziehen». Darum verwundert es nicht, dass das Logo der Orthopädie<br />

ein krummes Bäumchen zeigt, das an einem Pfosten geradegezogen<br />

wird. Tatsächlich wurden bis etwa um 1900<br />

hauptsächlich Kinder behandelt, die durch angeborene<br />

Störungen, wie Klumpfüsse, oder<br />

durch die Folgen von Kinderlähmung und Tuberkulose<br />

«verkrüppelt» waren. «Krüppel» galt<br />

damals übrigens als absolut korrekter Begriff.<br />

Die Behandlung erfolgte mit korrigierenden<br />

Schienen, Apparaten und Massschuhen – unterstützt<br />

durch Heilgymnastik.<br />

Erst im 20. Jahrhundert wurden Operationen<br />

an Knochen und Gelenken möglich, nachdem<br />

die Röntgenstrahlen und die Bakterien<br />

entdeckt sowie die Techniken der Narkose und<br />

der Hygiene entwickelt worden waren. Damit wurde die Orthopädie zu einem<br />

chirurgischen Fach: Nach dem 2. Weltkrieg kamen die operativen Behandlungen<br />

von Knochenbrüchen auf, ab 1960 die Kunstgelenke und ab<br />

den 1970er-Jahren die Gelenksspiegelungen.<br />

Heute sind bei uns Tuberkulose und Kinderlähmung dank Antibiotika<br />

und Impfungen praktisch verschwunden. Dafür steigt die Zahl der Gelenksabnützungen<br />

und Erkrankungen der Wirbelsäule. Verantwortlich dafür<br />

sind das Älterwerden der Bevölkerung und die Zunahme der Übergewichtigen.<br />

Zudem führt mehr Freizeit zu mehr Sportverletzungen.<br />

Dadurch haben in den vergangenen 10 Jahren orthopädische Behandlungen<br />

um gut 70 Prozent zugenommen, sodass heute fast ein Drittel aller<br />

Patienten in Schweizer Spitälern wegen Erkrankungen des Bewegungsapparates<br />

dort liegt. 2008 wurden rund 17 000 künstliche Hüft- und 11 000<br />

Kniegelenke eingesetzt. Tendenz steigend: bei den Hüften jedes Jahr um<br />

etwa 1 Prozent, bei den Kniegelenken sind es gar 5 Prozent. Mit dieser<br />

Zunahme und den längeren Nutzungszeiten der Implantate werden auch<br />

immer mehr Zweitoperationen nötig.<br />

Um dies zu bewältigen, braucht es künftig mehr Fachärzte. Der fachliche<br />

Nachwuchs ist jedoch nicht garantiert: Denn verbleibt die Ausbildung<br />

im bisherigen Rahmen und wird der Praxisstopp weiterhin aufrechterhalten,<br />

wird das Land bis ins Jahr 2020 rund ein Drittel Orthopäden zu wenig<br />

haben. Oder anders ausgedrückt: In 10 Jahren werden 10 000 schmerzgeplagte<br />

Menschen nicht mehr behandelt werden können. Ein Umdenken<br />

in der Gesundheitspolitik ist dringend nötig.<br />

Dr. Josef E. Brandenberg<br />

Ehem. Präsident der Schweiz. Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 3


Interdisziplinäre Schmerzabklärung<br />

Dem Schmerz<br />

auf der Spur<br />

Fast jeder Schweizer leidet mindestens<br />

einmal im Leben an Rückenschmerzen.<br />

Doch keine Beschwerde ist wie die<br />

andere. Eine pauschale Anleitung zur<br />

Abklärung der Ursachen gibt es daher<br />

nicht. Darum arbeiten in einem<br />

Schmerzzentrum verschiedene<br />

Spezialisten Hand in Hand.<br />

Von Fee Anabelle Riebeling<br />

Wenn der Rücken schmerzt, wünschen<br />

sich Betroffene schnelle Abhilfe. Doch<br />

Vorsicht vor übereilten Diagnosen<br />

und Therapien: Sie können sogar das Gegenteil<br />

bewirken und den Patienten noch kränker machen.<br />

Eine seriöse Abklärung erfordert Geduld,<br />

denn die Beschwerden können verschiedenste Ursachen<br />

haben.<br />

Jeder Rückenschmerz muss ernst genommen<br />

werden. Denn mitunter können die Beschwerden eine<br />

Ursache haben, die unbedingt geklärt werden muss, da<br />

sie ein Anzeichen für eine ernste Erkrankung sein können,<br />

beispielsweise einen Tumor. Ausserdem: «Je länger<br />

der Schmerz dauert, desto schwieriger ist es, die Ursache auszumachen»,<br />

sagt Bogdan Radanov, Leitender Arzt am<br />

Schmerzzentrum der Schulthess Klinik Zürich. Die Wirbelsäule<br />

ist ein komplexes System und ständiger Belastung ausgesetzt:<br />

Der untere Teil, die Lenden, trägt den Grossteil des<br />

Oberkörpergewichts, der obere, die Halswirbelsäule, ist für<br />

viele Bewegungen zuständig. Das macht beide anfällig.<br />

Klingt ein akuter Rückenschmerz nicht nach einer Woche<br />

ab, rät der Experte dazu, zunächst den Hausarzt aufzusuchen.<br />

Dieser kennt den allgemeinen Gesundheitszustand<br />

Forsetzung Seite 6<br />

Foto: iStock/ Jacek Chebraszewski, GESgrafik: Ralph Knobelspiess<br />

4 | | SPEZIAL | | Orthopädie Beweglickeit


GESPRÄCH<br />

Die erste Phase der<br />

Schmerzabklärung ist die<br />

wichtigste: Hält der Rückenschmerz<br />

mehr als<br />

eine Woche an, sollten<br />

Betroffene den Hausarzt<br />

aufsuchen, da ein unbehandelter<br />

Schmerz chronisch<br />

werden kann. Mittels<br />

einer umfassenden<br />

Anamnese erfasst der Arzt – soweit nicht von früheren Besuchen<br />

bekannt – die gesundheitliche Vorgeschichte und<br />

stellt zur Entwicklung sowie der Qualität der Beschwerden<br />

Überlegungen an: Wann treten sie auf? Wo schmerzt<br />

es? Was begünstigt sie? Ist aufgrund dieses Gesprächs<br />

noch keine Diagnose möglich, sollte der Hausarzt den<br />

akuten Schmerz frühzeitig mit Medikamenten lindern und<br />

die Weichen für weitere Abklärungen stellen.<br />

PHYSIOTHERAPIE<br />

Physiotherapien können<br />

das Leiden passiv mittels<br />

Massage oder aktiv mit<br />

Übungen lindern. Zudem<br />

sind Therapeuten auch<br />

in der funktionellen Diagnostik<br />

geübt. Das heisst,<br />

sie wissen, welche Glieder<br />

und Gelenke welche<br />

Bewegungen ausführen<br />

und in welcher Form Schmerz ausstrahlen kann. Bringen<br />

auch diese Untersuchungen die Ursache für den Schmerz<br />

nicht an den Tag, wird die Zeit bis zum definitiven Befund<br />

häufig mit passiven Behandlungen überbrückt. Das tut<br />

zwar gut, bringt aber auf Dauer nicht viel. Die Patienten<br />

müssen selber arbeiten. Das heisst: auf die Haltung achten<br />

und die Muskulatur mittels Training kräftigen.<br />

Um die Ursachen<br />

von Schmerzen<br />

gründlich abzuklären,<br />

arbeiten<br />

viele Spezialisten<br />

zusammen<br />

KLINISCHE<br />

ABKLÄRUNG<br />

Das eingehende Gespräch<br />

sollte durch eine klinische<br />

Untersuchung ergänzt werden,<br />

welche ebenfalls vom<br />

Hausarzt, aber auch von einem<br />

<strong>spezial</strong>isierten Physiotherapeuten<br />

durchgeführt<br />

werden kann. Beide prüfen,<br />

wie der Körper auf bestimmte Reize reagiert. Ob er problemlos<br />

die Anforderungen erfüllt, welche ihm beispielsweise<br />

bei Reflex-, Kraft- oder Sensibilitätsuntersuchungen<br />

gestellt werden. Oder ob sich dabei die Beschwerden<br />

verstärken. Je nach Ergebnis der klinischen Untersuchung<br />

kann der Patient im Anschluss daran mit einer adäquaten<br />

Therapie beginnen oder muss sich weiteren Untersuchungen<br />

unterziehen.<br />

RADIOLOGIE<br />

Dem Radiologen stehen<br />

verschiedene bildgebende<br />

Verfahren zur Verfügung,<br />

um Rückenschmerzen auf<br />

den Grund zu gehen. Oft<br />

reicht gewöhnliches Röntgen.<br />

Damit lassen sich die<br />

Knochenstruktur und die<br />

Gelenke erfassen.<br />

Die Magnetresonanztomografie<br />

(MRI) hingegen deckt Veränderungen an den weichen<br />

Geweben auf. Sie zeigt zum Beispiel, ob die Bandscheiben<br />

dehydriert sind oder die Nerven unter Druck und<br />

somit die Ursache des Schmerzes sind.<br />

NEUROLOGIE<br />

Lässt die Abklärung durch<br />

den Hausarzt oder der<br />

MRI-Befund des Radiologen<br />

vermuten, dass die<br />

Nervenwurzeln für den<br />

Rückenschmerz verantwortlich<br />

sind, übernimmt<br />

der Neurologe: Um den<br />

Verdacht zu bestätigen,<br />

macht er eine neurologische<br />

Untersuchung und misst die Nervenleitgeschwindigkeit.<br />

Liegt ein «radikulärer Schmerz» vor, kann dieser so<br />

identifiziert werden, da es zu Gefühlsstörungen, Muskelschwächen<br />

oder abgeschwächten Reflexen kommt.<br />

Beweglichkeit Orthopädie | | SPEZIAL | | 5


des Patienten und kann aufgrund dieses Vorwissens<br />

erste richtungweisende Schlüsse ziehen. Danach untersucht<br />

er den Patienten entweder selbst, verschreibt ihm<br />

eine Therapie oder leitet ihn an einen Spezialisten<br />

weiter.<br />

Doch: «Nicht immer ist die Ursache der Rückenschmerzen<br />

auf Anhieb erkennbar – und manchmal ist<br />

sie es auch nach vielen Untersuchungen nicht», sagt<br />

Martin Schnyder, Arzt in der Praxis<br />

für Interventionelle Schmerztherapie<br />

bei der Merian Iselin Klinik<br />

in Basel. Rund 80 Prozent der<br />

Rückenschmerzen sind unspezifischer<br />

Natur. Sie entwickeln sich<br />

beispielsweise aufgrund einer falschen<br />

Bewegung, Fehlbelastung<br />

Prof. Bogdan<br />

Radanov,<br />

Leitender Arzt am<br />

Schmerzzentrum<br />

der Schulthess<br />

Klinik in Zürich.<br />

Dr. Martin<br />

Schnyder,<br />

Praxis für<br />

Interventionelle<br />

Schmerztherapie,<br />

Belegarzt an der<br />

Merian Iselin<br />

Klinik in Basel.<br />

oder sogar durch starkes Husten<br />

während einer Erkältung. Solche<br />

Rückenschmerzen sollten nach<br />

maximal sechs Wochen – unterstützt<br />

durch Medikamente, Physiotherapie<br />

und Übungen für den<br />

Muskelaufbau – verschwunden<br />

sein. So lange warten meistens<br />

auch Hausärzte mit ihrer Überweisung<br />

an den Spezialisten. Dies<br />

ist für den Patienten manchmal<br />

nur schwer nachvollziehbar – für<br />

Schnyder ist es «das einzig<br />

Richtige».<br />

Lediglich in 20 Prozent aller<br />

Fälle mit Rückenschmerzen lässt<br />

sich die Ursache eindeutig feststellen.<br />

Aber auch hier brauchen<br />

die Betroffenen Geduld und müssen<br />

ihren behandelnden Ärzten –<br />

ob Allgemeinmediziner oder Spezialist<br />

– vertrauen, denn eine sorgfältige<br />

Abklärung braucht<br />

aufgrund der vielen Ursachen, die<br />

Rückenschmerz haben kann, Zeit:<br />

Denn viele verschiedene Spezialisten<br />

müssen Zusammenhänge überprüfen, Diagnosen<br />

fällen und das weitere Vorgehen koordinieren.<br />

«Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist bei der<br />

Schmerzabklärung von grosser Bedeutung», sagt Martin<br />

Schnyder. Auch Bogdan Radanov schätzt das Netz<br />

an Disziplinen in seinem Schmerzzentrum: Bei Unsicherheiten<br />

kann er immer mit einem <strong>spezial</strong>isierten<br />

Kollegen Rücksprache halten.<br />

Beide Schmerzexperten raten Patientinnen und<br />

Patienten davon ab, auf eigene Faust immer neue<br />

Spezialisten zu konsultieren. Radanov bringt es auf den<br />

Punkt: «Eine Nadel im Heuhaufen zu suchen, wo keine<br />

ist, frustriert den Patienten nur zusätzlich und verstärkt<br />

das Leid.»<br />

RHEUMATOLOGIE<br />

Wird der Rückenschmerz<br />

auch über Nacht nicht besser<br />

und erwachen Betroffene<br />

aufgrund des Schmerzes<br />

lange vor dem Klingeln<br />

des Weckers oder hält die<br />

Morgensteifigkeit mehr als<br />

eine halbe Stunde an, sollte<br />

der Rheumatologe aufgesucht<br />

werden. Dieser kann<br />

mittels weiterer Abklärungsschritte Ursachen wie Arthrose,<br />

Arthritis oder den Morbus Bechterew identifizieren<br />

und behandeln.<br />

INTERVENTION<br />

Interventionelle Schmerztherapeuten<br />

können therapieren,<br />

aber auch diagnostizieren:<br />

Besteht der Verdacht,<br />

dass der Schmerz<br />

durch die Reizung der Nervenwurzeln<br />

herrührt, wird<br />

in einem weiteren Schritt<br />

geklärt, welche Wurzel die<br />

Beschwerden auslöst. Mittels<br />

Lokalanästhesie kann der Mediziner nacheinander<br />

einzelne Nerven vorübergehend blockieren und prüfen,<br />

wann der Schmerz verschwindet. Ist die Schmerzursache<br />

identifiziert, können entsprechende therapeutische Massnahmen<br />

ergriffen werden.<br />

PSYCHOLOGIE UND<br />

PSYCHIATRIE<br />

Alles, was wir erleben, hinterlässt<br />

Spuren – emotional,<br />

aber auch körperlich.<br />

Denn das vegetative Nervensystem<br />

und Teile des<br />

Abwehrsystems sind eng<br />

mit der Muskulatur verbunden.<br />

Somit können auch<br />

psychische Entwicklungsstörungen, negative Erfahrungen<br />

und Stresssituationen zu körperlichen Schmerzen führen<br />

oder solche verstärken. In dieser Situation stehen Methoden<br />

der psychologischen Medizin zur Verfügung: Man<br />

kann – beispielsweise durch den gezielten Einsatz von<br />

Medikamenten oder geistige sowie körperliche Übungen<br />

– der Ursache auf den Grund gehen, die Lebenssituation<br />

verbessern und somit auch die Schmerzen lindern.<br />

6 | SPEZIAL | Beweglickeit


Rheumatische Erkrankungen<br />

Rheuma ist keine Diagnose<br />

Unter ein und demselben<br />

Namen werden viele<br />

verschiedene Krankheiten<br />

zusammengefasst. Einige<br />

davon können auch junge<br />

Menschen treffen.<br />

Von Simon Degelo<br />

Ich glaube, ich bekomme Rheuma, das<br />

muss am Alter liegen» – ein Satz, den<br />

man oft zu hören bekommt. Anders<br />

klingt es, wenn man die Ärztin fragt:<br />

«Rheuma ist keine Diagnose», sagt Inès<br />

Kramers-de Quervain von der Schulthess<br />

Klinik. Die Chefärztin für Rheumatologie<br />

spricht lieber von «rheumatischen Erkrankungen»<br />

und räumt gleichzeitig ein,<br />

dass dies ein weiter Begriff sei. Darunter<br />

fällt alles, was am Bewegungsapparat<br />

wehtun kann: von Arthrose über Rückenschmerzen<br />

bis zur Gicht und entzündlichen<br />

Gelenkserkrankungen. Mehrere<br />

hundert Krankheiten werden dazu gezählt.<br />

Sie lassen sich grob in drei Gruppen<br />

einteilen: entzündliche, degenerative rheumatische<br />

Erkrankungen sowie Stoffwechselerkrankungen<br />

mit Auswirkungen auf<br />

den Bewegungsapparat.<br />

Entzündliche Erkrankungen Sie werden<br />

durch eine fehlgeleitete Abwehrreaktion<br />

verursacht: Das Immunsystem hält<br />

eigene Zellen für gefährliche Krankheitserreger<br />

und greift sie an. Die Folgen sind<br />

– je nachdem, welche Gewebe betroffen<br />

sind – ganz unterschiedliche Erkrankungen.<br />

Zum Beispiel sind bei der rheumatoiden<br />

Arthritis die Knorpel und Knochen<br />

der Gelenke angegriffen, beim sogenannten<br />

Lupus (Fachsprache: Lupus erythematodes)<br />

das Bindegewebe, und das entzündliche<br />

Weichteilrheuma betrifft Muskeln<br />

und Sehnen. Für alle diese<br />

Erkrankungen gilt: Es sind keine Alterserscheinungen<br />

– im Gegenteil, sie können<br />

auch bei Kindern ausbrechen.<br />

Degenerative Erkrankungen Dazu<br />

gehören vor allem übermässige Abnutzungen<br />

der Gelenke, die sogenannten Arthrosen.<br />

Sie entstehen entweder primär<br />

ohne erkennbare Ursache oder sekundär<br />

als Folge einer mechanischen Störung im<br />

Gelenk.<br />

Stoffwechselerkrankungen Das häufigste<br />

Beispiel ist hier die Gicht. Dabei<br />

führt die Ablagerung von Harnsäurekristallen<br />

in den Gelenken zu akuten Entzündungsreaktionen,<br />

die typischerweise in<br />

Schüben auftreten.<br />

Doch nicht immer ist die Erklärung so<br />

eindeutig: Rückenschmerzen, als eine der<br />

häufigsten rheumatischen Beschwerden,<br />

können viele verschiedene Ursachen haben:<br />

von einer Verspannung über einen<br />

Bandscheibenvorfall bis zu einer Erkrankung<br />

innerer Organe, die auf den Rücken<br />

ausstrahlt. Und bei manchen Krankheiten<br />

«SCHLEIM AUS DEM GEHIRN»<br />

Der Begriff «Rheuma» kommt vom griechischen Wort «rheos», das so viel<br />

heisst wie fliessen. Erstmals verwendete ihn Guillaume de Baillou, der<br />

Leibarzt von Heinrich IV. Er erklärte sich die Beschwerden damit, dass<br />

kalter Schleim vom Gehirn in die Glieder fliesse.<br />

tappt selbst die Wissenschaft noch im<br />

Dunkeln. So sind zum Beispiel die Ursachen<br />

der sogenannten Fibromyalgie unbekannt.<br />

Sie äussert sich durch Schmerzen<br />

im Bereich der Muskelansätze.<br />

Weil es sich bei<br />

«Rheuma» um so<br />

viele Erkrankungen<br />

mit ähnlichen Symptomen<br />

handelt, ist<br />

die Diagnose oft<br />

schwierig. «Es gilt,<br />

viele Puzzlesteine<br />

zusammenzufügen»,<br />

sagt Rheumatologin<br />

Kramers. de Quervain,<br />

Dr. Inès Kramers-<br />

Erste Hinweise gibt Chefärztin<br />

Rheumatologie<br />

das Erkrankungsbild.<br />

Fällt der Ver-<br />

in Zürich<br />

Schulthess Klinik<br />

dacht auf eine<br />

Autoimmunerkrankung,<br />

können Untersuchungen des Blutes<br />

oder der Gelenkflüssigkeit weiterhelfen.<br />

Eine erhöhte Zahl von weissen Blutkörperchen<br />

ist ein deutliches Zeichen für Entzündungen.<br />

Sind die Gelenke betroffen, kommen<br />

bildgebende Verfahren zum Einsatz:<br />

Röntgenbilder bringen Veränderungen an<br />

den Knochen zum Vorschein, Ultraschall<br />

macht eine erhöhte Durchblutung der<br />

Gelenke sichtbar, was auf Entzündungsreaktionen<br />

hinweist. Erst die Kombination<br />

verschiedener Untersuchungsmethoden<br />

bringt ans Licht, was genau hinter den<br />

gemeinhin als «Rheuma» bezeichneten<br />

Beschwerden steckt.<br />

GESGrafik: Ralph Knobelspiess<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 7


Schmerzen am Arbeitsplatz<br />

Damit der Bürostuhl ni<br />

Ob am Bürotisch oder auf der Baustelle, viele Menschen<br />

leiden bei der Arbeit an Schmerzen. Diese lassen sich oft<br />

leicht erklären und einfach vermeiden.<br />

Tennisellbogen<br />

Symptome: Drückender Schmerz auf der<br />

Aussenseite des Ellbogens, kann sich bis<br />

zum Handgelenk ziehen. Verstärkt sich<br />

bei Belastung.<br />

Ursache: Eine Entzündung an den Ansätzen<br />

der Streckmuskeln im Unterarm.<br />

Diese wird hervorgerufen durch eine<br />

Über- oder Fehlbelastung des Handgelenks,<br />

beispielsweise beim Tennisspiel.<br />

Abhilfe: Bei Sport und körperlicher Arbeit<br />

einseitige Belastungen vermeiden<br />

oder mit entsprechendem Training vorbereiten.<br />

Im Büro ist die richtige Haltung<br />

besonders wichtig: Den Bürostuhl so einstellen,<br />

dass die Arme locker auf dem<br />

Tisch liegen und die Ellbogen einen Winkel<br />

von etwas über 90 Grad beschreiben.<br />

Sehnenscheidenentzündung<br />

Symptome: Stechender oder ziehender<br />

Schmerz, der sich auf der Unterseite des<br />

Handgelenks armaufwärts zieht.<br />

Ursache: Die Sehnenscheiden umhüllen<br />

die Sehnen dort, wo sie über Gelenke laufen,<br />

um die Reibung zu reduzieren. Durch<br />

Überbelastung können sie sich, besonders<br />

am Handgelenk, leicht entzünden.<br />

Gefährlich sind wiederkehrende Bewegungen,<br />

sei es mit einer PC-Maus oder<br />

mit einem Werkzeug.<br />

Abhilfe: Oft lassen sich monotone Bewegungen<br />

im Beruf nicht vermeiden. Deshalb<br />

sollten sie in möglichst natürlicher<br />

Haltung ausgeübt werden. Am Schreibtisch<br />

ist zum Beispiel darauf zu achten,<br />

dass die Tastatur gerade vor einem steht<br />

und möglichst flach gebaut ist. Auch ergonomische<br />

Bürogeräte beziehungsweise<br />

Werkzeuge helfen, die Belastung zu<br />

reduzieren.<br />

Schlechte Durchblutung<br />

Symptome: Müdigkeit und kalte oder<br />

einschlafende Füsse. Kann auch andere<br />

Leiden, wie Gelenkbeschwerden,<br />

begünstigen.<br />

Ursache: Nicht nur Muskeln und Organe<br />

sind auf eine gute Blutversorgung angewiesen,<br />

auch Nerven und Gelenke müssen<br />

mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt<br />

werden. Bei der Büroarbeit ist die Durchblutung<br />

oft mangelhaft: Durch das lange<br />

Stillsitzen wird der Puls reduziert und der<br />

Druck auf das Hinterteil behindert den<br />

Blutfluss in die Beine zusätzlich.<br />

Abhilfe: Bewegung kurbelt den Kreislauf<br />

wieder an. Dabei reicht es schon, kurz<br />

aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen.<br />

Das lässt sich gut in den Arbeitsalltag<br />

integrieren, beispielsweise beim Gang<br />

zum Kopiergerät oder indem man nach<br />

der Mittagspause die Treppe statt den Lift<br />

benutzt.<br />

Rückenschmerzen<br />

Symptome: Schmerzen im Rücken, vor<br />

allem Lendenbereich, Nacken und Schultergürtel<br />

sind betroffen.<br />

Ursache: Rückenschmerzen können verschiedene<br />

Ursachen haben, meistens trägt<br />

langes Sitzen wesentlich zu den Beschwerden<br />

bei. Selbst bei Bandscheibenvorfällen<br />

hängt es massgeblich von der Haltung<br />

und dem Trainingszustand des Rückens<br />

ab, ob sie zu Beschwerden führen.<br />

Abhilfe: Ein guter Stuhl mit beweglicher<br />

Rückenlehne stützt den Rücken und gibt<br />

ihm gleichzeitig die Freiheit, sich zu bewegen.<br />

So wird er ständig leicht trainiert.<br />

8 | SPEZIAL | Beweglichkeit


cht zur Folterbank wird<br />

Der typische Bürobuckel, welchen viele<br />

am Schreibtisch einnehmen, gilt es zu<br />

vermeiden. Dazu sollte der Bildschirm so<br />

eingestellt werden, dass sich die obere<br />

Kante leicht unterhalb der Augenhöhe<br />

befindet. Wer viel am Laptop arbeitet, benutzt<br />

besser einen externen Bildschirm<br />

«Langes Sitzen führt oft<br />

dazu, dass sich Beschwerden<br />

verstärken.»<br />

Raymond Denzler,<br />

Stv. Leiter der Abteilung Physiotherapie<br />

der Schulthess Klinik in Zürich<br />

oder einen Aufbau, welcher das Gerät auf<br />

die richtige Höhe bringt.<br />

Bandscheibenvorfall<br />

Symptome: Rückenschmerzen, können<br />

in Arme oder Beine ausstrahlen und dort<br />

ein Taubheitsgefühl hervorrufen.<br />

Ursache: Heben mit gebeugtem Rücken<br />

führt zu ungleichmässiger Belastung der<br />

Bandscheiben. Resultat: Bandscheibenvorfall<br />

– die Hülle der Bandscheibe reisst<br />

ein und das Bandscheibenmaterial drückt<br />

auf die Nerven, welche dem Rückenwirbel<br />

entspringen.<br />

Abhilfe: Schwere Gegenstände nur mit<br />

geradem Rücken heben. So verteilt sich<br />

der Druck gleichmässig auf die ganze Fläche<br />

der einzelnen Bandscheiben, und<br />

diese werden geschont. Starke Drehbewegungen<br />

des Rückens unter Belastung sollten<br />

ebenfalls vermieden werden, denn<br />

auch sie strapazieren die Bandscheiben<br />

übermässig.<br />

Knieschmerzen<br />

Symptome: Knieschmerzen, treten oft<br />

und vor allem bei Bewegung<br />

oder Belastung<br />

des Gelenks auf.<br />

Ursache: Das Knie ist<br />

ein sehr komplexes Gelenk,<br />

entsprechend vielfältig<br />

können die Ursachen<br />

für Knieprobleme<br />

sein. Neben Unfällen und<br />

Abnutzungserscheinungen kann auch<br />

falsche Belastung eine Rolle spielen.<br />

Abhilfe: Starke Drehbewegungen und<br />

seitliche Belastung sind Gift für das Knie;<br />

wie ein Scharnier ist es für Beuge- und<br />

Streckbewegungen ausgelegt. Zur Vermeidung<br />

gefährlicher Belastungen ist auf<br />

soliden Untergrund zu achten und langes<br />

Traversieren am Hang möglichst zu<br />

vermeiden.<br />

Taube Finger<br />

Symptome: Taubheit und Kribbeln in<br />

Fingern oder Armen.<br />

Ursache: Auch wenn die Symptome<br />

in den Händen auftauchen, kann die<br />

Ursache ganz woanderes liegen: Die<br />

Nervenstränge, welche zu den Händen<br />

führen, treten im Genick aus der Wirbelsäule.<br />

Wird dieses über längere Zeit<br />

gedehnt, können die Nerven eingeklemmt<br />

und blockiert werden, sodass<br />

die Empfindung vorübergehend<br />

gestört ist.<br />

Abhilfe: Wer mit krummem Rücken<br />

dasitzt, kann auch den Hals<br />

nicht gerade halten. Um geradeaus<br />

zu blicken, wird das Genick<br />

stark gedehnt. Ein gerader Rücken<br />

hilft also auch da.<br />

Illustration: iStock/A-Digit<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 9


Impingement<br />

Wenn es klemmt im Gelenk<br />

Dass wir unsere Gelenke nicht beliebig weit verdrehen können,<br />

ist normal. Doch bei einigen klemmen sie oder stossen an einen<br />

Anschlag – und das kann Schmerzen verursachen. Das so<br />

genannte Impingement ist häufig ein Problem für Sportler –<br />

aber nicht nur.<br />

Von Beat Glogger<br />

Plötzlich beim Anziehen des Pullovers<br />

ein stechender Schmerz in der<br />

Schulter oder beim Übereinanderschlagen<br />

der Beine ein Zwick in der Leistengegend.<br />

Die Gelenke klemmen. Medizinisch<br />

gesprochen kommt es zu einem<br />

sogenannten Impingement. Der Begriff<br />

leitet sich aus dem Englischen ab und bedeutet<br />

so viel wie «Zusammenstoss».<br />

Die Ursachen dafür können vielfältig<br />

sein. Entweder passen die Gelenkteile<br />

von Natur aus nicht optimal aufeinander,<br />

oder sie haben sich im Laufe der Jahre<br />

durch übermässige oder falsche Beanspruchung<br />

verändert.<br />

Oft werden Impingements auch bei<br />

Sportlern diagnostiziert. «Nicht weil es<br />

eine Folge des Sports wäre», sagt Andreas<br />

Gösele, Sportarzt an der Crossklinik in<br />

Basel. «Sondern weil Sportler ihre Gelenke<br />

extremer drehen und so erst die<br />

Einschränkung bemerken.»<br />

Zum Klemmer kann es in vielen Gelenken<br />

kommen: Im Ellbogen, Handgelenk,<br />

Knie und im oberen Sprunggelenk.<br />

Am häufigsten jedoch tritt das Impingement<br />

an Schultern und Hüften auf.<br />

Beim Hüft-Impingement stösst der<br />

Oberschenkelhals am Rand der Gelenkpfanne<br />

an. Entweder weil die Gelenkpfanne<br />

im Verhältnis zum Gelenkkopf zu<br />

tief ist oder weil ein kleiner Höcker am<br />

Oberschenkelhals eine weitere Bewegung<br />

verhindert.<br />

Bei beiden Formen treten Beschwerden<br />

meistens erst im Alter zwischen 30<br />

und 50 Jahren auf, manchmal aber schon<br />

bei 18-Jährigen: zum Beispiel drückende,<br />

dumpfe Schmerzen bei langem Sitzen<br />

oder stechender Hüftschmerz beim Auf-<br />

10 | SPEZIAL |Beweglichkeit<br />

stehen, In-die-Hocke-Gehen oder bei<br />

Drehbewegungen. Langfristig kann das<br />

fatale Folgen haben. Denn das dauernde<br />

Anstossen des Oberschenkelhalses an der<br />

Pfanne schädigt den Gelenksknorpel,<br />

und aufgrund der dauernden Reizung<br />

kann sich zusätzliches Knochenmaterial<br />

bilden – was das Problem verstärkt. Ein<br />

Teufelskreis, der unbehandelt in einer<br />

Arthrose enden kann.<br />

In welchem Alter sich die ersten Symptome<br />

zeigen, hängt wesentlich von der<br />

Belastung ab. Bei Sportlern können die<br />

Schmerzen schon im Jugendalter ausbrechen.<br />

«Wenn es richtig schmerzt, ist es<br />

meist schon etwas spät», sagt Jörg Schulenburg,<br />

Orthopäde und Sportmediziner<br />

an der Merian Iselin Klinik in Basel. Darum<br />

ist es wichtig, bei den ersten Anzeichen<br />

ärztlichen Rat einzuholen. Und die<br />

Erfolgsaussichten einer Therapie sind<br />

umso grösser, je früher sie beginnt.<br />

Das Impingement der Hüfte lässt sich<br />

nur durch eine Operation beheben. Ist<br />

der vorstehende Knochenteil am Oberschenkelhals<br />

das Problem, wird dieser abgeschliffen.<br />

Ist die Gelenkpfanne zu tief,<br />

werden deren Ränder gekürzt. Wenn<br />

auch der Knorpelring, der die<br />

Gelenkpfanne am Rand abschliesst,<br />

beschädigt ist, kann<br />

dieser genäht werden. Ist der<br />

Defekt aber zu gross, muss<br />

dieser Knorpelring eventuell<br />

entfernt werden.<br />

Solche Korrekturen wurden<br />

bis vor einigen Jahren ausschliesslich<br />

in einer offenen<br />

Operation ausgeführt. Das ist<br />

jedoch aufwändig, da das Hüftgelenk<br />

sehr tief unter verschiedenen<br />

Muskeln verborgen liegt.<br />

Dr. Jörg Schulenburg,<br />

Orthopäde<br />

u. Sportmediziner,<br />

Gemeinschaftspraxis<br />

Schützenmatt,<br />

Belegarzt an<br />

der Merian Iselin<br />

Klinik in Basel<br />

Um es zu erreichen muss, der Operateur<br />

am Hüfthöcker ein Knochenstück durchsägen,<br />

an dem viele Muskeln befestigt<br />

sind. Danach kann das Gelenk gefahrlos<br />

ausgerenkt werden, um die notwendigen<br />

Operationsschritte durchzuführen. Der<br />

Hüfthöcker wird am Schluss wieder<br />

verschraubt.<br />

In jüngerer Zeit setzt sich nun auch für<br />

Operationen im Hüftgelenk immer mehr<br />

die Arthroskopie durch (siehe auch Seite<br />

28). Bis zu 90 Prozent der Hüft-Impingements<br />

werden heute mit dieser weniger invasiven<br />

Methode operiert, wie der Orthopäde<br />

Schulenburg sagt. Die Methode hat<br />

den entscheidenden Vorteil, dass der Patient<br />

schneller wieder auf den Beinen ist.<br />

Das Impingement an der<br />

Schulter macht sich schmerzlich<br />

bemerkbar, wenn der Arm<br />

nach vorne oder oben bewegt<br />

wird. In dieser Stellung kommt<br />

der Oberarmknochen dem<br />

Schulterdach am nächsten, wobei<br />

die Sehnen der sogenannten<br />

Rotatorenmanschette zwischen<br />

dem Oberarmkopf und<br />

dem Schulterdach eingeklemmt<br />

werden können. Für<br />

das Einklemmen verantwortlich<br />

sind die in diesem Bereich


FRÜH-<br />

ERKENNUNG<br />

Bei Hockeyspielern macht sich das<br />

Hüft-Impingement schon im Jugendalter<br />

bemerkbar. Dank Früherkennung<br />

wird bei den Kloten Flyers<br />

das Problem schnell erkannt und<br />

behoben.<br />

Von Simon Degelo<br />

Hüfte<br />

Beim Impingement<br />

an der Hüfte<br />

stösst der Oberschenkelhals<br />

an<br />

den Rand der Gelenkpfanne<br />

des<br />

Beckenknochens,<br />

oder ein Höcker<br />

am Oberschenkelhals<br />

verhindert<br />

das vollständige<br />

Eindrehen.<br />

engen Platzverhältnisse, wie Marcel Isay,<br />

Schulter<strong>spezial</strong>ist von der Praxisgemeinschaft<br />

Clarahof in Basel, erklärt.<br />

Auch am gesunden Skelett ist der<br />

Platz hier knapp: Die Rotatorenmanschette<br />

besteht aus vier Sehnen. Darüber<br />

befindet sich auch noch ein Schleimbeutel,<br />

der die Reibung zwischen Sehnen und<br />

Knochen reduzieren soll. Verschiedene<br />

Faktoren können nun dazu führen, dass<br />

es hier noch enger wird und somit zum<br />

Impingement kommt:<br />

Schleimbeutelentzündung Dies ist eine<br />

der häufigsten Ursachen für ein Schulter-<br />

Impingement. Der Schleimbeutel entzündet<br />

sich, wenn er ständig gereizt wird,<br />

beispielweise bei längerem Arbeiten über<br />

Kopf. Durch die Entzündung<br />

schwillt der Schleimbeutel an<br />

und drückt auf die Sehne.<br />

Ablagerung von Knochenmaterial<br />

Als Reaktion des Körpers<br />

auf Abnutzungserscheinungen<br />

kann am Schulterdach Knochenmaterial<br />

abgelagert werden.<br />

Dieses drückt dann auf die<br />

Rotatorenmanschette, was<br />

schmerzt.<br />

Unausgeglichenes Training<br />

Besteht ein Ungleichgewicht<br />

der Schultermuskulatur, kann<br />

Dr. Marcel Isay,<br />

Schulter<strong>spezial</strong>ist,<br />

Praxisgemeinschaft<br />

Clarahof,<br />

Belegarzt an<br />

der Merian Iselin<br />

Klinik in Basel<br />

GESGrafik: Ralph Knobelspiess<br />

Schulter<br />

Beim Impingement<br />

an der Schulter ist<br />

der Platz zwischen<br />

Schulterdach und<br />

Oberarmkopf zu<br />

eng. Als Folge werden<br />

Sehnen, Muskeln<br />

und der<br />

Schleimbeutel<br />

schmerzhaft<br />

eingeklemmt.<br />

der Oberarmkopf nach oben drücken,<br />

wobei die Sehne und der Schleimbeutel<br />

eingeklemmt werden.<br />

Meistens ist zur Behebung eines<br />

Schulter-Impingements keine Operation<br />

nötig. Die Entzündungen des Schleimbeutels<br />

werden medikamentös und mit<br />

Physiotherapie behandelt. Wenn orale<br />

Entzündungshemmer nicht helfen, so<br />

spritzt der Arzt Kortison direkt in den<br />

Schleimbeutel.<br />

Hat ungleiches Muskeltraining das<br />

Impingement verursacht, muss der Patient<br />

die Muskeln, die den Oberarmkopf<br />

nach unten ziehen, trainieren. Dadurch<br />

senkt sich die Gelenkkugel leicht ab, und<br />

es bleibt mehr Platz für die Rotatorenmanschette.<br />

Diese Massnahmen helfen<br />

in den meisten Fällen, um ein<br />

Impingement zu heilen. «Nur<br />

bei etwa einem Drittel der Patienten<br />

müssen wir operieren»,<br />

sagt Marcel Isay.<br />

Dabei schleift man ein kleines<br />

Stück vom Schulterdach ab<br />

und entfernt den entzündeten<br />

Schleimbeutel. Auch dies ein<br />

Eingriff, der in der Regel mit<br />

einer Gelenkspiegelung durchgeführt<br />

werden kann.<br />

Die Konkurrenz ist gross: Wer im Eishockey<br />

vorne dabei sein will, muss<br />

immer härter trainieren und immer<br />

früher damit beginnen – und fördert<br />

damit die Entstehung eines Impingements.<br />

Früher wurde dieses oft<br />

erst entdeckt, nachdem es sich bereits<br />

zu einer Arthrose entwickelt<br />

hatte. Der Teamarzt der Kloten Flyers,<br />

Ueli Brunner, will dem entgegentreten:<br />

«Wir testen schon unsere<br />

Nachwuchsspieler routinemässig<br />

auf eine Veranlagung für Impingement.»<br />

Dies geschieht mit einem<br />

einfachen Test der Beweglichkeit in<br />

der Hüfte. Ist diese eingeschränkt, informiert<br />

der Arzt den Spieler und<br />

kontrolliert das Gelenk regelmässig.<br />

Eine Operation wird erst dann notwendig,<br />

wenn Knorpelverletzungen<br />

bemerkbar sind. Die Entscheidung,<br />

ob operiert wird, hänge von den Zukunftsplänen<br />

des Spielers ab, sagt<br />

Brunner: «Wenn jemand eine Profikarriere<br />

anstrebt, operieren wir<br />

möglichst früh. So profitiert der<br />

Spieler am meisten<br />

und muss<br />

nicht befürchten,<br />

dass eine<br />

Arthrose seiner<br />

Karriere<br />

ein<br />

vorzeitiges<br />

Ende<br />

setzt.»<br />

Foto: Remo Max Schindler<br />

Hat schon<br />

zwei Hüftoperationen<br />

hinter sich:<br />

Kloten-Flyers-<br />

Captain Victor<br />

Stancescu<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 11


Gelenkprothesen<br />

Zehntausende von<br />

Prothesen jedes Jahr<br />

Künstliche Gelenke werden heute oft minimal-invasiv eingesetzt. Das heisst,<br />

Chirurgen versuchen dabei, möglichst viel vom gesunden Knochen zu erhalten und<br />

Weichteile zu schonen. Dank Teilprothesen und modularen Kunstgelenken sind<br />

auch Revisionen einfacher geworden.<br />

Von Samuel Schlaefli<br />

Die Schmerzen kommen meist<br />

schleichend und verstärken sich,<br />

bis alltägliche Bewegungen<br />

plötzlich zur Qual werden. Eine Arthrose,<br />

im Volksmund Knorpelabnützung<br />

genannt, tritt oft ohne erkennbare Ursachen<br />

auf. Oder sie ist die Folge eines Gelenkschadens<br />

nach einem Unfall, Sport<br />

mit Fehlbelastungen, Rheuma sowie<br />

Übergewicht. Bringen nichtinvasive Therapien,<br />

wie Physiotherapie, Salbenverbände,<br />

entlastende Bewegungshilfen oder<br />

schmerzlindernde Medikamente, keine<br />

Besserung, schlägt der Arzt als letzte Option<br />

einen Gelenkersatz vor. Operationen<br />

für den Einsatz von künstlichen Hüft-,<br />

Knie-, Sprung- und Schultergelenken<br />

sind heute Standard.<br />

Mit 12 000 bis 15 000 Operationen<br />

pro Jahr ist das künstliche Hüftgelenk in<br />

der Schweiz die mit Abstand am häufigsten<br />

eingesetzte Gelenkprothese. Entsprechend<br />

gut sind die Resultate: «19 von 20<br />

Patienten mit künstlichen Hüftgelenken<br />

sind nach zehn Jahren weitgehend beschwerdefrei<br />

– die Patientenzufriedenheit<br />

ist sehr hoch», sagt Roland Mendelin,<br />

Spezialist für Hüftprothesen an der<br />

Merian Iselin Klinik in Basel. Dieser Erfolg<br />

geht unter anderem auf minimal-invasive<br />

Operationsmethoden zurück. «Je<br />

mehr Weichteile, darunter vor allem<br />

Dr. Roland Mendelin,<br />

Spezialist für<br />

Hüftprothesen,<br />

Crossklinik, Belegarzt<br />

an der Merian<br />

Iselin Klinik in<br />

Basel<br />

Dr. Pascal Rippstein,<br />

Chefarzt des<br />

Zentrums für Fusschirurgie<br />

an der<br />

Schulthess Klinik<br />

in Zürich<br />

Dr. Christoph<br />

Holenstein, Spezialarzt<br />

für Kniechirurgie,<br />

Praxisgemeinschaft<br />

Clarahof,<br />

Belegarzt an der<br />

Merian Iselin Klinik<br />

in Basel<br />

Dr. Fabrizio Moro,<br />

Leitender Arzt<br />

Orthopädie Obere<br />

Extremitäten an<br />

der Schulthess<br />

Klinik in Zürich<br />

Muskeln und Sehnenansätze, während<br />

der Operation geschont werden, desto<br />

schneller sind die Patienten wieder auf<br />

den Beinen», sagt Mendelin. Er nutzt deshalb<br />

zum Einsetzen der Prothese den<br />

«Hueter-Zugang», ein Schnitt von sechs<br />

bis neun Zentimeter Länge seitlich unterhalb<br />

des Leistenbandes. Im Zusammenhang<br />

mit solch minimal-invasiven Methoden<br />

setzen Chirurgen zunehmend<br />

Prothesen mit kurzen Schäften ein. Diese<br />

werden nicht mehr wie früher im Oberschenkelknochen<br />

einzementiert, sondern<br />

im Knochen verkeilt. Dieses sogenannte<br />

Pressfit-System, das auch bei Schulterund<br />

Knieprothesen zum Einsatz kommt,<br />

ist zwar bei der Operation etwas aufwändiger,<br />

führt nach Ansicht vieler Chirurgen<br />

aber zu besseren Resultaten. Noch<br />

fehlen jedoch Langzeitstudien.<br />

Prothesen für Knie-, Sprung- und<br />

Schultergelenk profitieren von den Pionierleistungen<br />

und langjährigen Erfahrungen<br />

bei der Hüfte. Trotzdem ist jedes<br />

Gelenk eine Wissenschaft für sich. Knieprothesen<br />

zum Beispiel bestehen heute<br />

aus drei Teilen: einer Ober- und Unterschenkelkomponente<br />

aus einer Metalllegierung<br />

sowie einem Polyethylen-Stossdämpfer<br />

dazwischen. «Wichtig beim<br />

Einsetzen der Prothese ist, dass das Bein<br />

nach der Operation wieder gerade ist,<br />

ganz durchgestreckt werden kann und die<br />

Bänder gut ausbalanciert funktionieren»,<br />

erklärt Christoph Holenstein, Spezialarzt<br />

für Kniechirurgie der Praxisgemeinschaft<br />

Clarahof in Basel. Bislang haben jedoch<br />

nur 20 Prozent der Patienten nach der<br />

Operation kein Fremdkörpergefühl mehr;<br />

GESGrafik: Ralph Knobelspiess<br />

12 | SPEZIAL | Beweglickeit


Schultergelenk<br />

Hüftgelenk<br />

Kniegelenk<br />

Sprunggelenk<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 13


ei der Hüfte sind es beinahe 100 Prozent.<br />

Trotzdem können auch Knieprothesenträger<br />

in den meisten Fällen wieder Sport<br />

treiben und sind in ihren Alltagsaktivitäten<br />

nicht eingeschränkt.<br />

Eine Neuigkeit sind Knieprothesen<br />

speziell für Frauen. Sie wurden aufgrund<br />

einer anatomischen Studie aus dem Jahr<br />

2006 entwickelt und nehmen besondere<br />

Rücksicht auf die spezifische Anatomie<br />

des Oberschenkels bei Frauen.<br />

Früher war für das Einsetzen einer<br />

Prothese oft noch das Alter des Patienten<br />

ein entscheidender Faktor. «Heute ist niemand<br />

mehr zu jung oder zu alt für einen<br />

Gelenksersatz», hält Holenstein fest. «Entscheidend<br />

ist allein die Diagnose und vor<br />

allem der Leidensdruck beim Patienten.»<br />

Auch bei künstlichen Sprunggelenken<br />

gibt es keine Alterslimite. Früher verschraubte<br />

man von Arthrose befallene<br />

Fussgelenkknochen in der Regel miteinander.<br />

Eine solche «Versteifung» liefert<br />

bis heute gute Ergebnisse. Der Patient<br />

bleibt mobil und kann meist wieder massvoll<br />

Sport treiben. Ein Risiko bleibt jedoch:<br />

eine langfristige Folgearthrose<br />

durch Überbelastung der anderen Fussgelenke<br />

– speziell bei jungen Patienten.<br />

Pascal Rippstein, Chefarzt des Zentrums<br />

für Fusschirurgie an der Schulthess Klinik<br />

in Zürich, zieht deshalb eine Prothese<br />

der Versteifung wenn möglich vor. Auch<br />

wenn Prothesen ebenfalls ihre Tücken<br />

haben: Durch die Polyethylen-Gleitfläche<br />

zwischen den Metallteilen – der Prothesenaufbau<br />

entspricht demjenigen beim<br />

Knie – entstehen Abriebe. Diese können<br />

Reaktionen auslösen, die zur Lockerung<br />

der Prothese führen. Darunter die Bildung<br />

von Zysten, winzigen Löchern im<br />

Knochen, welche die Verankerung der<br />

Prothese gefährden. Junge Prothesepatienten<br />

werden deshalb regelmässig<br />

geröntgt. Wenn nötig, werden die Löcher<br />

mit künstlichem Knochen gefüllt und die<br />

abgeriebene Gleitfläche ersetzt.<br />

Auch in hohem Alter bietet ein künstliches<br />

Sprunggelenk gegenüber einer Versteifung<br />

Vorteile, ist Rippstein überzeugt.<br />

Insbesondere wenn ein Patient nicht<br />

mehr recht an Stöcken gehen kann oder<br />

die Instruktionen des Arztes zur Entlastung<br />

nicht versteht. «Das bewegliche<br />

künstliche Gelenk gibt bei zu früher Belastung<br />

nach, während eine Versteifung<br />

Nur so viel ersetzen wie nötig: Teilprothese<br />

für das Knie<br />

Wenn möglich<br />

erste Wahl<br />

In rund 25 Prozent der Kniearthrosen<br />

ist die Knorpelabnützung auf einen<br />

bestimmten Gelenkanteil beschränkt.<br />

In solchen Fällen ist eine<br />

Knie-Teilprothese möglich, bei welcher<br />

nur der abgenutzte Knochenteil<br />

ersetzt wird. Die Resultate dieser<br />

minimal-invasiven Methode sind<br />

hinsichtlich Schmerzen, Rehabilitation<br />

und Funktion meist exzellent.<br />

Zudem ist eine allfällige Umwandlung<br />

von einer Teil- auf eine Totalprothese<br />

wesentlich einfacher als der<br />

aufwändige Wechsel von einer Totalauf<br />

eine Revisionsprothese.<br />

ein starres, bruchgefährdetes System ist»,<br />

erklärt Rippstein.<br />

Während sich Hüft-, Knie- und<br />

Sprunggelenk-Prothesen in der Schweiz<br />

als Therapie für schwerwiegende Arthrosen<br />

durchgesetzt haben, ist die Schultergelenk-Prothese<br />

für viele noch immer<br />

eine Kuriosität. Zu Unrecht, findet<br />

Fabrizio Moro, Leitender Arzt an der<br />

Schulthess Klinik in Zürich, denn auch<br />

Schulterprothesen seien für Spezialisten<br />

mittlerweile eine Standardoperation mit<br />

rund 90 Prozent zufriedenen Patienten.<br />

Chirurgen wählen bei der Schulter zwischen<br />

zwei unterschiedlichen Prothese-<br />

Bauarten: der anatomischen Totalprothese<br />

oder der umgekehrten (inversen)<br />

Schulterprothese. Entscheidend bei der<br />

Wahl ist der Zustand der Rotatorenmanschette.<br />

Diese besteht aus vier Sehnen, die<br />

den Gelenkkopf des Oberarms umhüllen.<br />

Ist diese Manschette intakt, so wird der<br />

kranke Knorpel des Oberarmkopfes –<br />

ähnlich wie beim Hüftgelenk – entfernt<br />

und durch einen Metallkopf ersetzt. Der<br />

geschädigte Knorpel der Schulterpfanne<br />

wird gleichzeitig mit einem Kunststoff-<br />

Implantat ersetzt.<br />

«Umgekehrte» Prothesen<br />

für ein zweite Chance<br />

Fehlt die Rotatorenmanschette, meist<br />

aufgrund von abnützungsbedingten Rissen,<br />

so wird eine inverse Schulterprothese<br />

eingesetzt. Dazu wird das Schultergelenk<br />

quasi umgedreht: Aus Pfanne wird Kopf<br />

und umgekehrt. Mit Hilfe anderer Muskeln<br />

wird dadurch ein Teil der Schulterbeweglichkeit<br />

wieder hergestellt. Die inverse<br />

Prothese bietet aber noch einen weiteren<br />

Vorteil: «Bei Problemen mit der<br />

Totalprothese, zum Beispiel bei sekundärem<br />

Verschleiss der Rotatorenmanschette,<br />

haben wir mit der inversen Prothese<br />

eine zweite Chance», erklärt Moro.<br />

Damit ein solches «Umrüsten» von anatomischer<br />

zu inverser Prothese ohne aufwändige<br />

Operation möglich ist, haben<br />

Ärzte an der Schulthess Klinik zusammen<br />

mit der Industrie ein modulares System<br />

entwickelt. Derselbe Metallstiel, der für<br />

eine Totalprothese im Oberarmknochen<br />

verankert wird, kann später auch für eine<br />

inverse Prothese genutzt werden.<br />

Neu in der Schulterprothetik sind<br />

Kurzschaftprothesen. Wie bei einer Totalprothese<br />

wird der Kopf des Oberarmknochens<br />

zwar entfernt. Durch eine<br />

nicht-invasive Schaftverankerung bleibt<br />

aber viel vom ursprünglichen Knochen<br />

erhalten. Das ist im Fall einer späteren<br />

Revision vor allem bei jungen Patienten<br />

von Vorteil. «Noch fehlen zwar Langzeitstudien<br />

für Kurzschaftprothesen,<br />

aber das Prinzip ist bestechend», sagt<br />

Moro.<br />

14 | SPEZIAL | Beweglickeit


Sportverletzungen<br />

Neue Risiken: Wintersp<br />

Jeden Winter kommt es auf Schweizer Pisten zu Tausenden<br />

von Unfällen. Wintersport ist und bleibt ein<br />

Vergnügen mit Gefahren. Die Verletzungen haben sich<br />

durch Neuerungen bei der Ausrüstung gewandelt.<br />

Von Simon Degelo<br />

In den letzten Jahrzehnten hat sich das<br />

Bild auf den Skipisten stark verändert:<br />

Wer kann sich noch an die Zeit erinnern,<br />

wo nur Skifahrer auf schmalen Latten<br />

über die Pisten sausten? Ende der<br />

80er-Jahre tauchten die ersten Snowboarder<br />

auf, und heute sind auch die Carver<br />

mit den stark taillierten Ski eine Selbst-<br />

verständlichkeit geworden. Plötzlich<br />

scheinen die Wintersportler auch risikobewusster<br />

geworden zu sein: Viele tragen<br />

einen Helm. Die grellen unförmigen Dinger<br />

– früher nur von Kindern unter elterlichem<br />

Zwang aufgesetzt – haben sich in<br />

letzter Zeit zu einem modischen Accessoire<br />

gemausert.<br />

Was sich nicht geändert hat: Skifahren<br />

und Snowboarden gehören zu den Sportarten,<br />

bei denen die meisten Unfälle passieren.<br />

Jährlich endet nach der Statistik der<br />

Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU)<br />

für rund 68 000 Schneesportler der Skitag<br />

im Spital oder beim Arzt. Davon müssen<br />

3000 während mindestens einer Woche<br />

stationär behandelt werden.<br />

Und hier zeigt sich, nicht nur die Bilder<br />

auf den Pisten haben sich verändert,<br />

sondern auch die Röntgenbilder in den<br />

Spitälern. «Bei Snowboardern sehen wir<br />

Verletzungen, die es bei Skifahrern nicht<br />

gibt», sagt Kerstin Warnke, Ärztin für<br />

Sportmedizin an der Schulthess Klinik<br />

in Zürich. Typisch sind Verstauchungen<br />

und Zerrungen am Fuss, besonders am<br />

oberen Sprunggelenk, welche beim Skifahren<br />

nicht vorkommen. Dies liegt an<br />

den Softboots, den weichen Schuhen, die<br />

16 | SPEZIAL | Beweglichkeit


Unterschiedliche<br />

Ausrüstungen<br />

Snowboarder verletzen vorallem<br />

die oberen Extremitäten.<br />

Bei Skifahrern ist das Knie der<br />

verletzungsanfälligste<br />

Körperteil.<br />

ort im Wandel<br />

Fotos: iStock/Michele Galli<br />

meist zum Snowboarden getragen werden.<br />

Sie bieten den Füssen weniger Schutz<br />

als Skischuhe. Allgemein ist die Verletzungsgefahr<br />

bei Snowboardern deutlich<br />

erhöht: Pro Stunde auf der Piste ereignen<br />

sich beim Boarden eineinhalb Mal so<br />

viele Unfälle wie beim Skifahren. Neben<br />

den Füssen sind vor allem Schultern,<br />

Kopf und Handgelenke gefährdet (siehe<br />

Tabelle Seite 18).<br />

Im Gegensatz zu den Snowboardern<br />

sind es bei Skifahrern in erster Linie Knieverletzungen,<br />

die dem Schneespass ein<br />

vorzeitiges Ende setzen. Allerdings haben<br />

an diesem Gelenk die Verletzungen dank<br />

neuem Sportmaterial abgenommen. «Bei<br />

der breiten Masse reduzieren Carvingski<br />

die Gefahr von Knieverletzungen deutlich»,<br />

sagt Othmar Brügger, der an der<br />

BfU die Risiken von Wintersport erforscht.<br />

Da stärker tailliert und etwas kürzer<br />

gebaut, sind Carvingski einfacher zu<br />

steuern, und es kommt seltener zu Stürzen.<br />

Allerdings kann es bei waghalsigen<br />

Könnern gerade wegen der starken Taillierung<br />

zu Unfällen kommen: Die hohen<br />

Geschwindigkeiten und die engen Radien<br />

führen zu extremen Kniebelastungen, sodass<br />

beim Carven ein Verletzungsmechanismus<br />

auftritt, der vorher praktisch unbekannt<br />

war: Das Kreuzband reisst, ohne<br />

dass man gestürzt wäre. Dasselbe Verletzungsmuster<br />

ist auch von Skirennfahrern<br />

bekannt.<br />

In Anbetracht der Gefahren erstaunt<br />

es nicht, dass sich immer mehr Wintersportler<br />

mit der entsprechenden Schutzausrüstung<br />

wappnen. Nach den Erhebungen<br />

der BfU tragen heute fünf Mal<br />

mehr Menschen einen Helm auf der Piste<br />

als noch im Jahr 2002. Rund 76 Prozent<br />

waren es in der letzten Saison. Bei den unter<br />

18-Jährigen liegt die Helmtragquote<br />

sogar bei 95 Prozent. Enttäuschend jedoch:<br />

Der Effekt in der Unfallstatistik ist<br />

gleich null, der Anteil an Kopfverletzungen<br />

hat in den letzten Jahren nicht abgenommen.<br />

Sind Helme also nutzlos? Brügger<br />

hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt:<br />

«Die Schutzwirkung von<br />

Helmen wurde durch verschiedene Studien<br />

eindeutig belegt – daran kann es<br />

nicht liegen. Vielmehr vermuten wir, dass<br />

andere Faktoren eine Rolle spielen, zum<br />

Beispiel die zunehmende Beliebtheit von<br />

Halfpipes und Schanzen.» Die Reduktion<br />

der Verletzungen wird also durch wag-<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 17


halsigere Sprünge wieder aufgehoben.<br />

Ausserdem hat sich nach Brügger das<br />

Verhalten bei Kopfverletzungen verändert:<br />

«Die Leute gehen heute vermehrt<br />

auch bei leichten Hirnerschütterungen zu<br />

einem Arzt. Gerade vor solchen schützt<br />

ein Helm nicht sehr gut.» Somit treiben<br />

diese eher leichten Fälle die Zahlen in die<br />

Höhe. Denn in der Statistik wird nur die<br />

Anzahl der Arztbesuche erfasst und nicht<br />

der Schweregrad der Verletzung.<br />

Doch nicht alle Teile der Schutzausrüstung<br />

werden gleich intensiv genutzt:<br />

Bei den Protektoren fürs Handgelenk ist<br />

«Je weicher der Schuh, desto<br />

grösser das Risiko für Verletzungen<br />

im Fussbereich»<br />

Dr. Kerstin Warnke,<br />

Chefärztin Sportmedizin, Schulthess Klinik in Zürich<br />

die Tragequote in den letzten vier Jahren<br />

sogar kontinuierlich zurückgegangen.<br />

Dies, obwohl Verletzungen an Handgelenken<br />

und Händen bei Snowboardern zu<br />

den häufigsten Verletzungen gehören<br />

und komplizierte Operationen nach sich<br />

ziehen können.<br />

Die Sportmedizinerin Warnke sagt:<br />

«Durch das Tragen von Handgelenkschonern<br />

nimmt zwar die Häufigkeit der<br />

Verletzungen nicht unbedingt ab, aber<br />

deren Schwere.» Sie ist überzeugt, dass<br />

der Handgelenkschutz sehr viel bringen<br />

würde. Denn ein verstauchtes Handgelenk<br />

ist viel einfacher zu behandeln als ein<br />

gebrochenes.<br />

Handgelenk Beim Handgelenk handelt<br />

es sich eigentlich um ein Ensemble von<br />

mehreren Gelenken. Ihnen verleihen<br />

zahlreiche Bänder, Sehnen und Knochen<br />

ihre Beweglichkeit. Am häufigsten sind<br />

Stürze auf die Hände bei Snowboardern,<br />

insbesondere bei Anfängern.<br />

Das Resultat sind Verstauchungen,<br />

Zerrungen oder Brüche. Oft ist es schwierig,<br />

das Problem zu erkennen: So ist zum<br />

Beispiel ein Bruch des Kahnbeins – einer<br />

der Knochen im Handgelenk – nicht sehr<br />

schmerzhaft und bleibt oft unentdeckt.<br />

Wird er nicht behandelt, so heilt er nicht<br />

richtig zusammen, die Spätfolge kann Ar-<br />

throse sein. Es empfiehlt sich daher, nach<br />

einem Sturz aufs Handgelenk im Zweifelsfall<br />

einen Arzt aufzusuchen, auch<br />

wenn sich die Schmerzen in Grenzen halten.<br />

Denn ein gebrochenes Kahnbein<br />

lässt sich durch eine einfache Operation<br />

wieder herstellen.<br />

Fussgelenk Im Fuss ist es meist das<br />

obere Sprunggelenk, welches verletzt<br />

wird – eine typische Snowboardverletzung.<br />

Während beim Skifahren die<br />

harten Schuhe den Fuss stabilisieren,<br />

schützen ihn Softboots nur unzureichend.<br />

Neben Verstauchungen kommt es häufig<br />

zu Brüchen. Gefährdet ist vor allem der<br />

Talusknochen, der das Waden- und das<br />

Schienbein des Unterschenkels mit dem<br />

Fuss verbindet. Ist er gebrochen, so muss<br />

ein Gips her. Bei einem Trümmerbruch<br />

oder wenn die Knochenstücke stark verschoben<br />

sind, wird gar eine Operation<br />

nötig.<br />

Kopf Kopfverletzungen – allen voran<br />

Hirnerschütterungen – gehören zu den<br />

häufigsten Verletzungen im Wintersport.<br />

Das Risiko ist beim Snowboarden deutlich<br />

höher als beim Skifahren. Helme bieten<br />

zwar einen guten Schutz gegen<br />

schwere Verletzungen wie Schädelbrüche,<br />

aber Hirnerschütterungen können<br />

sie nicht immer verhindern. Entgegen der<br />

landläufigen Meinung kann auch eine<br />

Hirnerschütterung, die nicht zur Bewusstlosigkeit<br />

führt, schwerwiegende<br />

Folgen haben. Wenn das Unfallopfer<br />

starke Kopfschmerzen verspürt oder an<br />

Gedächtnisstörungen leidet, sollte es<br />

überwacht und zu einem Arzt gebracht<br />

werden. Obwohl eine Hirnerschütterung<br />

ausser mit Bettruhe nicht direkt behandelt<br />

werden kann, ist es wichtig, dass<br />

etwaige Zusatzverletzungen, wie Gehirnblutungen,<br />

von einem Spezialisten abgeklärt<br />

werden.<br />

Knie Knieverletzungen treffen vor allem<br />

Skifahrer. Snowboarder sind weniger betroffen,<br />

da das Snowboard die Füsse verbindet<br />

und ein Verdrehen der Knie einschränkt.<br />

Bei Verdrehungsbewegungen<br />

sind Kreuzbänder und Menisken meist<br />

die schwächsten Glieder. Ist das vordere<br />

Kreuzband nur angerissen, so kann es<br />

meist durch Physiotherapie behandelt<br />

werden. Ist es aber vollständig gerissen,<br />

so ist eine Operation nötig, um die volle<br />

Stabilität des Knies wieder herzustellen.<br />

Dabei wird das gerissene Band durch ein<br />

Stück Sehne ersetzt, das dem Patienten an<br />

anderer Stelle entnommen wird. Ist ein<br />

Meniskus beschädigt, so muss er genäht<br />

oder teilweise entfernt werden.<br />

Schulter Zahlreiche Gelenke, Sehnen<br />

und Bänder sind nötig, um Oberarm,<br />

Schulterblatt, Schlüsselbein und Brustkorb<br />

miteinander zu verbinden und die<br />

Beweglichkeit der Schulter zu ermöglichen.<br />

Entsprechend vielfältig sind die<br />

Verletzungen, die man sich bei einem<br />

Sturz auf Schultern oder Arme zuziehen<br />

kann. Bei Schulterverletzungen ist eine<br />

sorgfältige Diagnose besonders wichtig,<br />

da es oft schwierig ist, zu bestimmen, wo<br />

die Ursache der Beschwerden liegt. Das<br />

Spektrum der Therapien ist breit: Sie reichen<br />

vom Einkugeln eines ausgerenkten<br />

Schultergelenks über die Ruhigstellung<br />

mittels eines Verbandes bis zur operativen<br />

Befestigung einer abgebrochenen<br />

Gelenkkugel.<br />

VERLETZUNGEN<br />

Pro 100 Verletzte in den<br />

Wintersaisons 2002 bis 2010<br />

Ski<br />

Snowboard<br />

Kopf/Hals 14 16<br />

Rumpf/Wirbelsäule 11 17<br />

Schulter/Oberarm 17 21<br />

Ellbogen/Vorderarm 3 13<br />

Handgelenk/Hand 3 13<br />

Hüfte/Oberschenkel 6 4<br />

Knie 35 10<br />

Unterschenkel/<br />

Sprunggelenk/Fuss 17 12<br />

18 | SPEZIAL | Beweglichkeit


Arthrose<br />

Erkennen, bevor es zu spät ist<br />

Noch immer gibt es<br />

kein Medikament, das<br />

Arthrose heilt. Doch je<br />

früher die Schädigung der<br />

Gelenkknorpel erkannt<br />

wird, desto eher lässt<br />

sich ihr Verlauf positiv<br />

beeinflussen.<br />

Von Simon Degelo<br />

Manche Patienten kommen erst<br />

in die Behandlung, wenn sie<br />

kaum mehr gehen können»,<br />

sagt Reinhard Elke, Facharzt für orthopädische<br />

Chirurgie an der Merian Iselin Klinik<br />

in Basel. Zu spät behandelt, bleibt oft<br />

nur noch ein Mittel gegen Arthrose: die<br />

Gelenkprothese. Werden die Krankheit<br />

und ihre Ursache jedoch früh genug erkannt,<br />

so gibt es verschiedene Möglichkeiten,<br />

den Verlauf zu verlangsamen, die<br />

Symptome zu lindern und in manchen<br />

Fällen die Beschwerden sogar ganz zum<br />

Verschwinden zu bringen.<br />

Plötzlich schmerzen alltägliche Bewegungen<br />

wie Treppen steigen oder Schuhe<br />

binden, während sich sonst kaum Schmerzen<br />

bemerkbar machen – dies ist oft<br />

ein erstes Anzeichen für eine Arthrose.<br />

«Nur ein aktiv genutzter<br />

Knorpel ist ein gesunder<br />

Knorpel»<br />

Jedoch tritt Arthrose in den meisten Fällen<br />

nicht einfach spontan auf, sondern<br />

hat eine Ursache, die zum Teil schon sehr<br />

lange vorher erkennbar gewesen wäre.<br />

Die häufigsten sind:<br />

Genetische Faktoren spielen in vielen<br />

Das Kniegelenk ist zusammen mit dem<br />

Hüft- und Sprunggelenk am häufigsten<br />

von Arthrose (im Kreis) betroffen.<br />

Prof. Reinhard Elke,<br />

Facharzt für orthopädische Chirurgie,<br />

OrthoMerian, Belegarzt an der Merian Iselin Klinik in Basel<br />

Fällen bei der Entstehung der Krankheit<br />

mit. Diese erkennen von familiäre Veranlagungen<br />

Betroffene oft früh, wie Arthrose<strong>spezial</strong>ist<br />

Elke sagt: «Wenn in einer Familie<br />

mehrere Fälle von Arthrose aufgetreten<br />

sind, kommen die Angehörigen<br />

und fragen, was sie vorbeugend tun<br />

können.»<br />

Störungen in der Geometrie der Gelenke<br />

können zu einer lokalen Überbelastung<br />

des Knorpels führen und so Arthrose verursachen:<br />

zum Beispiel O- und X-Beine.<br />

Eine immer öfter erkannte Ursache für<br />

GESGrafik: Ralph Knobelspiess<br />

Arthrose ist das sogenannte Hüft-Impingement.<br />

Damit ist eine Kollision zwischen<br />

dem Oberschenkelhals und dem<br />

Rand der Hüftgelenkpfanne gemeint, die<br />

ihren Grund oft in Wachstumsstörungen<br />

hat. Weiter können auch schlecht verheilte<br />

Knochenbrüche zu Arthrose<br />

führen.<br />

Krankheiten, welche die Gelenke direkt<br />

angreifen, sind ebenfalls Auslöser von<br />

Arthrose. Die bekanntesten Beispiele sind<br />

die Gicht und rheumatoide Arthritis.<br />

Bei der Behandlung von Arthrose<br />

steht die Behebung der Ursachen im Vordergrund<br />

– sofern dies überhaupt möglich<br />

ist. So lassen sich zum Beispiel Fehlstellungen<br />

operativ oder mittels Physiotherapie<br />

beheben. Gegen der Arthrose<br />

vorausgehende Krankheiten wie Arthritis<br />

helfen Immunsuppressiva; bei Gicht<br />

kommen Urikosurika zum Einsatz, welche<br />

die Ausscheidung von Harnsäure<br />

fördern.<br />

Jedoch sind die Möglichkeiten der<br />

Pharmazie, die Arthrose selbst zu bekämpfen,<br />

begrenzt: Trotz intensiver Forschung<br />

fehlt es noch immer an einem<br />

wirksamen Knorpelmedikament. Das<br />

Versprechen gewisser Medikamente, sie<br />

würden den Knorpel erhalten oder sogar<br />

wieder aufbauen, kann bei genauerer wissenschaftlicher<br />

Betrachtung leider nicht<br />

gehalten werden.<br />

Deshalb beschränken sich medikamentöse<br />

Therapien darauf, den Schmerz<br />

zu bekämpfen und die Entzündungsreaktionen<br />

zu hemmen, die mit der Zerstörung<br />

des Knorpels einhergehen. Dazu<br />

dienen sogenannte nichtsteroidale Antirheumatika,<br />

zu denen auch alltägliche<br />

Schmerzmittel wie «Aspirin» und «Voltaren»<br />

gehören. Sie können die Arthrose<br />

zwar nicht heilen, aber sie lindern die<br />

Symptome und helfen, das Einsetzen einer<br />

Prothese hinauszuzögern.<br />

Was Arthrosepatienten auf keinen<br />

Fall tun sollten: aufhören, sich körperlich<br />

zu betätigen. Denn Knorpel bleibt nur gesund,<br />

wenn er bewegt wird. Dabei sind<br />

allerdings gelenkschonende Sportarten<br />

wie Radfahren, Schwimmen oder Wandern<br />

zu bevorzugen. Sporttreiben hat<br />

überdies einen Zusatznutzen: Es hilft, Gewicht<br />

zu reduzieren und damit die<br />

Gelenke zu entlasten.<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 19


Knorpelschaden<br />

Knorpelregeneration bringt<br />

Der aufrechte Gang wäre ohne hoch <strong>spezial</strong>isierte Knorpelpolster in den Gelenken<br />

gar nicht möglich. Damit auch Patienten mit einem Knorpelschaden wieder<br />

schmerzlos gehen können, haben die Mediziner verschiedene Methoden entwickelt.<br />

Loch im Knorpel<br />

Bei einem KFOR-<br />

Einsatz zog sich<br />

ein 21-jähriger<br />

Soldat einen<br />

schweren Knorpelschaden<br />

am<br />

Knie zu. Das losgelöste<br />

Knorpelstück<br />

blockierte<br />

das Gelenk.<br />

Bei der Operation<br />

zur Knorpelreparatur<br />

muss dieses<br />

lose Stück entfernt<br />

werden, da<br />

es nicht mehr<br />

anwachsen kann.<br />

Foto: Schulthessklinik<br />

Von Simon Degelo<br />

Beim Thema Knorpel denken die meisten Leute<br />

an Ohrmuscheln – oder vielleicht an Knorpelfische.<br />

Doch Knorpel ist viel mehr als ein primitiver<br />

Vorläufer des Knochens. «Es handelt sich dabei<br />

um eines der höchst<strong>spezial</strong>isierten Gewebe im<br />

menschlichen Körper», sagt Matthias Steinwachs,<br />

Chefarzt für Orthobiologie und Knorpelregeneration<br />

an der Schulthess Klinik in Zürich. Ohne die Knorpelpolster<br />

in den Gelenken wäre uns das Gehen gar<br />

nicht möglich, denn sie sorgen dafür, dass sich die Gelenkflächen<br />

praktisch widerstandslos aufeinander<br />

verschieben können. Dank der Knorpel ist die Reibung<br />

in den Gelenken um ein Vielfaches kleiner als<br />

die zwischen zwei Eiswürfeln. Zudem sorgt der Knorpel<br />

für eine gleichmässige Verteilung der Last auf die<br />

Gelenkfläche und hilft, die Stösse zu dämpfen, welche<br />

bei jedem Schritt auf die Gelenke wirken.<br />

Diese Vielseitigkeit verdankt der Knorpel seinem<br />

speziellen Aufbau. Er besteht zu gut zwei Dritteln aus<br />

Wasser – zusammengehalten von Eiweissfasern, die<br />

für Festigkeit und Belastbarkeit sorgen. An der Oberfläche<br />

sind die Fasern horizontal ausgerichtet und<br />

bilden eine äusserst strapazierfähige Schicht, darunter<br />

verlaufen sie vertikal und schaffen eine feste Verbindung<br />

mit dem Knochen.<br />

Wie gut der Knorpel seine Funktion erfüllt, wird<br />

den meisten Menschen erst schmerzlich bewusst,<br />

wenn er es nicht mehr tut. Einmal beschädigt, kann<br />

er sich – anders als die Haut zum Beispiel – nicht von<br />

alleine regenerieren. «Nicht einmal ein glatter Schnitt<br />

mit einem Skalpell könnte zusammenwachsen», sagt<br />

der Knorpel<strong>spezial</strong>ist Matthias Steinwachs.<br />

Das Knorpelgewebe wird während des Wachstums<br />

durch sogenannte Knorpelzellen aufgebaut.<br />

Beim erwachsenen Menschen sind diese Zellen aber<br />

derart dicht von den Fasern umgeben, dass sie sich<br />

20 | SPEZIAL | Beweglickeit


Beweglichkeit zurück<br />

nicht mehr teilen können, wodurch der Knorpel die<br />

Fähigkeit verliert, sich zu regenerieren. Doch die Mediziner<br />

helfen der Natur auf die Sprünge. Heute gibt<br />

es verschiedene Methoden, um Knorpelschäden zu<br />

heilen und den Patienten ihre Beweglichkeit<br />

zurückzugeben.<br />

Mikrofrakturierung Hierbei macht man sich zunutze,<br />

dass auch bei erwachsenen Menschen im Knochenmark<br />

sogenannte Stammzellen zu finden sind.<br />

Diese haben die Fähigkeit, sich zu verschiedenen<br />

Zelltypen zu entwickeln – so auch zu Knorpelzellen.<br />

Nur finden die Stammzellen aus dem Knochenmark<br />

natürlicherweise nicht den Weg dorthin, wo sie gebraucht<br />

würden: zum defekten Knorpel.<br />

«Die Regeneration und<br />

Verpflanzung von Knorpel könnte<br />

in Zukunft Arthrose heilen»<br />

Prof. Matthias Steinwachs,<br />

Chefarzt für Orthobiologie und Knorpelregeneration<br />

an der Schulthess Klinik in Zürich<br />

Deshalb stösst der Chirurg bei der Mikrofrakturierung<br />

mit einer speziellen Ahle kleine Löcher in<br />

den Knochen. So können die Stammzellen austreten<br />

und neues Knorpelgewebe bilden. Allerdings hat dieser<br />

Sekundärknorpel nicht die perfekte Qualität des<br />

ursprünglichen Gelenkknorpels. Er besteht aus ungeordneten<br />

Fasern und ist deshalb auch nicht so stabil<br />

wie das Original.<br />

Zudem funktioniert eine normale Mikrofrakturierung<br />

nur bei kleinen Knorpelschäden. Ist der Defekt<br />

zu gross, werden die Stammzellen von der Gelenkflüssigkeit<br />

weggespült, bevor sie sich zu Knorpelzellen<br />

entwickeln können.<br />

Um dieses Problem zu lösen, bedeckt der Chirurg<br />

die defekte Stelle nach der Mikrofrakturierung<br />

mit einer speziellen Membran, welche die Nährstoffe<br />

passieren lässt, aber die neuen Knorpelzellen an ihrem<br />

Ort fixiert. Nach der Knorpelregeneration baut<br />

sich die Membran im Körper ab.<br />

Transplantation von Knorpelzylindern Bei<br />

dieser Methode verpflanzt der Chirurg Knorpelstücke<br />

mitsamt dem Knochen. Hierzu fräst er zuerst<br />

kleine Zylinder aus einer Stelle im Gelenk, die nicht<br />

stark belastet ist. Diese Stücke werden dann an der<br />

schadhaften Stelle eingefügt. Danach verwächst der<br />

knöcherne Teil mit dem umgebenden Knochen und<br />

hält den mitverpflanzten Knorpel an der gewünschten<br />

Stelle. Nachteil: Das Knorpelmaterial fehlt da, wo<br />

es entnommen wurde. Bei 20 Prozent der Patienten<br />

kommt es deshalb zu Beschwerden.<br />

Transplantation von Knorpelzellen Bei der<br />

Transplantation von Knorpelzellen entnimmt der Chirurg<br />

dem Gelenk ein kleines Stück Knorpel. Mit einem<br />

speziellen Verfahren wird das Knorpelgerüst aufgelöst<br />

und die nunmehr freien Zellen in eine Kulturschale mit<br />

Nährlösung gegeben, wo sie sich vermehren.<br />

Bei einer zweiten Operation pflanzt der Chirurg<br />

die Zellen in die zerstörte Knorpelstelle ein und deckt<br />

sie mit einer Membran ab, damit sie nicht entweichen.<br />

Die Zellen bilden neues Gewebe, welches in<br />

Struktur und Belastbarkeit dem gesunden Knorpel<br />

ähnelt.<br />

«Das Ei des Kolumbus für die Knorpelregeneration<br />

ist noch nicht gefunden», sagt Matthias Steinwachs.<br />

Jede der Methoden hat ihre Vor- und Nachteile;<br />

welche die beste ist, hängt von der Art des Schadens<br />

ab. Bei kleinen Verletzungen ist die<br />

Mikrofrakturierung die Methode der Wahl: Sie kann<br />

in einer einfachen Operation arthroskopisch durchgeführt<br />

werden, ohne dass das Gelenk freigelegt werden<br />

muss. Wenn nicht nur der Knorpel, sondern<br />

auch das Knochenmaterial beschädigt ist, so bietet<br />

die Transplantation von Knorpelzylindern die höchsten<br />

Erfolgsaussichten. Und bei grossflächigen Schäden<br />

ist die Transplantation von Knorpelzellen die<br />

beste Methode, da sie den stabilsten Knorpel verspricht.<br />

Sie ist allerdings auch die teuerste. Deshalb<br />

wird sie in der Schweiz bisher selten eingesetzt –<br />

PIONIER-<br />

GEIST<br />

Am Anfang war<br />

der Leim. Das<br />

Schweizer Familienunternehmen<br />

«Geistlich» begann<br />

1851 Klebstoffe<br />

aus Knochen<br />

und Häuten<br />

herzustellen. Dieselben<br />

Rohstoffe<br />

nutzte der Betrieb<br />

später auch zur<br />

Produktion von<br />

Dünger und Gelatine.<br />

Die langjährigen<br />

Erfahrungen<br />

und die<br />

Nähe zum Knochen<br />

bewog Peter<br />

Geistlich vor<br />

rund dreissig<br />

Jahren dazu, Produkte<br />

für die Regeneration<br />

von<br />

Knochengewebe<br />

zu entwickeln.<br />

Das Unternehmen<br />

lancierte<br />

wenige Jahre<br />

später die ersten<br />

Knochenersatzmaterialien,<br />

welche<br />

bis heute<br />

weltweit im Dental-<br />

und Orthopädiebereich<br />

eingesetzt<br />

werden.<br />

Die neuste Innovation<br />

ist eine<br />

natürliche Membran<br />

für die<br />

Behandlung von<br />

Knorpelschäden.<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 21


Krankenkassen bezahlen die Operation<br />

nicht, mit Verweis auf die hohen Kosten.<br />

Dies greife aber zu kurz, sagt Theodor<br />

Weber vom Bundesamt für Gesundheit.<br />

«Wissenschaftliche Studien zeigen, dass<br />

mit dieser Methode das Einsetzen einer<br />

Prothese vermieden werden kann.» Unter<br />

dem Strich würde man also mit der<br />

teureren Methode doch Geld sparen.<br />

Vielleicht können in Zukunft auch<br />

Knorpelstammzellen transplantiert werden,<br />

ohne dass vorher eine teure Operation<br />

zu deren Entnahme nötig ist. Jedenfalls<br />

sind momentan verschiedene neue<br />

Methoden, die genau das versprechen, in<br />

der Entwicklung. Bei einer war Matthias<br />

Steinwachs massgeblich beteiligt: Dabei<br />

werden statt Knorpelzellen Stammzellen<br />

implantiert, die der Chirurg während der<br />

Operation aus dem Knochenmark entnimmt<br />

und direkt einpflanzt, ohne sie<br />

vorher zu vermehren. Im Tierversuch<br />

funktioniert das, nun wird die Methode<br />

versuchsweise bei Menschen angewendet.<br />

Ein weiterer neuer Ansatz besteht darin,<br />

Knorpelzellen von Spendern im Labor<br />

zu einem ganzen Knorpelstück auszuformen.<br />

Dieses könnte der Chirurg<br />

zuschneiden und dem Patienten<br />

einpflanzen.<br />

Nicht jeder Schaden reparierbar<br />

Was trotz grossem Potenzial allen<br />

Techniken gemeinsam ist: Sie können<br />

nur Knorpelverletzungen von begrenztem<br />

Ausmass heilen und nur, wenn der<br />

Rest des Gelenks noch gesund ist. Jedoch<br />

entstehen die meisten Gelenkprobleme<br />

durch Arthrose, bei welcher der Knorpel<br />

über eine grosse Fläche verschlissen ist.<br />

In diesen Fällen helfen bisher nur Gelenkprothesen.<br />

Diese ist aber teuer und<br />

die Operation aufwändig. Zudem haben<br />

Prothesen eine begrenzte Lebensdauer,<br />

danach müssen sie ersetzt werden, was<br />

aber nicht beliebig oft möglich ist.<br />

Durch die höhere Lebenserwartung<br />

wird in Zukunft die Zahl der Arthrosefälle<br />

noch weiter ansteigen. «Das sind immense<br />

Kosten, die auf unser Gesundheitswesen<br />

zukommen», sagt Matthias Steinwachs.<br />

Wenn es in Zukunft also möglich wäre,<br />

Arthrose durch die Reparatur des Knorpels<br />

zu heilen, bliebe nicht nur den Patienten<br />

viel Leid, sondern auch dem Gesundheitssystem<br />

hohe Kosten erspart.<br />

«Knorpelschäden können alle treffen»<br />

Bert Mandelbaum gilt als einer der<br />

führenden Knorpel<strong>spezial</strong>isten weltweit.<br />

Er ist orthopädischer Chirurg in<br />

der Santa Monica Orthopaedic and<br />

Sports Medicine Group in Los Angeles.<br />

Zudem betreut er das US-Fussballnationalteam<br />

als medizinischer Leiter<br />

und erforscht neue Methoden zur Reparatur<br />

von Knorpelschäden.<br />

Dr. Mandelbaum, zu Ihren Patienten<br />

gehören viele Athleten. Was ist speziell<br />

bei der Behandlung von Knorpelschäden<br />

bei Sportlern?<br />

Bert Mandelbaum: Die Herausforderung<br />

besteht aus weit mehr, als einfach<br />

einen Schaden zu reparieren. Die<br />

Athleten sollen auch schnell wieder<br />

spielen und das Gelenk voll belasten<br />

können.<br />

Nimmt die Häufigkeit von Knorpelschäden<br />

zu?<br />

Ja, einerseits betätigen sich immer<br />

mehr Leute sportlich, damit kommt es<br />

auch zu mehr Verletzungen. Andererseits<br />

gibt es wegen der höheren Lebenserwartung<br />

auch mehr Arthrosen.<br />

Wer ist der typische Patient, der einen<br />

Knorpelschaden erleidet?<br />

Junge oder Alte, Sportler oder Bürolisten,<br />

alle können betroffen sein. Meistens<br />

entsteht die Verletzung aber durch<br />

einen Sturz oder eine übermässige<br />

Belastung.<br />

Kann man Knorpelschäden vorbeugen?<br />

Ja, Vorbeugen ist wichtig! Dank Präventionsprogrammen<br />

wie dem Fifa11+<br />

konnten die Knorpelschäden im Spitzensport<br />

markant reduziert werden.<br />

Dabei geht es vor allem darum, vor<br />

sportlicher Betätigung gut einzuwärmen<br />

und die Muskeln zu stärken, welche<br />

die Gelenke stabilisieren.<br />

Wann ist der beste Moment, einen<br />

Knorpelschaden zu behandeln?<br />

Je früher, desto besser. Am besten<br />

operiert man, bevor starke Beschwerden<br />

und Bewegungseinschränkungen<br />

auftreten.<br />

In welchen Fällen ist es sinnvoll, Knorpel<br />

zu reparieren, und wann muss eine<br />

Gelenkprothese her?<br />

Eine Reparatur kommt nur bei solchen<br />

Patienten in Frage, bei denen sich noch<br />

keine Arthrose entwickelt hat. Ausserdem<br />

können nur Flächen von maximal<br />

10 bis 15 Quadratzentimetern wiederhergestellt<br />

werden.<br />

Welche Rolle spielen Bänder und die<br />

Menisken? Sie sind wichtig, um den<br />

Knorpel vor Verletzungen zu schützen.<br />

Nur wenn sie intakt sind und<br />

auch die Ausrichtung des Gelenks<br />

stimmt, kann eine Knorpelreparatur<br />

dauerhafte Besserung bringen.<br />

Weshalb wird Knorpelzelltransplantation<br />

nicht routinemässig angewendet?<br />

Die Knorpelzelltransplantation ist ein<br />

schwieriges Verfahren. Sie erfordert<br />

zwei Operationen, ist teuer und kann<br />

nicht von jedem Chirurgen durchgeführt<br />

werden. Deshalb schrecken viele<br />

noch davor zurück, obwohl fundierte<br />

medizinische Studien der Methode<br />

gute Wirksamkeit attestieren.<br />

Wie sieht die Zukunft der Knorpel-<br />

reparatur aus?<br />

Die Knorpelzelltransplantation wird<br />

sich durchsetzen, dazu werden die zukünftigen<br />

Verbesserungen der Methode<br />

sowie der kombinierte Einsatz<br />

mit Stützmaterialien beitragen. Es gibt<br />

aber auch andere neue Methoden, die<br />

vielversprechend sind.<br />

22 | SPEZIAL | Beweglickeit


Foto: René Ruis<br />

Dr. Frank<br />

Kleinstück<br />

verwendet Ersatzknochen,<br />

um bei<br />

der Versteifung<br />

einer Wirbelsäule<br />

die Implantate zu<br />

stabilisieren.<br />

Knochenersatz<br />

Knochenharter Ersatzjob<br />

Bei Lücken im Knochen nach<br />

einem komplizierten Bruch,<br />

zur Stabilisierung der Implantate<br />

nach Wirbelversteifungen,<br />

aber auch nach der<br />

Entfernung von Tumoren<br />

nahe am Skelett braucht<br />

es Knochenersatzmaterial,<br />

um die Lücken zu füllen.<br />

Es stammt aus drei verschiedenen<br />

Quellen.<br />

Von Silvan Heuberger<br />

Eigenknochen Die beste Methode ist<br />

auch die naheliegenste: die Transplantation<br />

von Eigenknochen. Diese bietet die<br />

idealsten Voraussetzungen für das Zusammenwachsen<br />

des Knochens. Woher<br />

der Chirurg das Knochengewebe nimmt,<br />

hängt davon ab, wie gross die zu füllende<br />

Lücke ist. Bei kleinen Mengen wird – falls<br />

möglich – das Transplantat in der Nähe<br />

der Verletzung entnommen und gleich<br />

eingesetzt, sodass nur eine Operation nötig<br />

ist. Wird jedoch eine grössere Menge<br />

benötigt, entnimmt man den Knochen<br />

dem Beckenkamm. «Diese Verfahren<br />

sind jedoch nicht unproblematisch», sagt<br />

Frank Kleinstück, Leitender Arzt am<br />

Wirbelsäulenzentrum der Schulthess Klinik<br />

in Zürich. «Nicht selten klagen Patienten<br />

danach über Schmerzen an der Entnahmestelle.<br />

Am besten wäre deshalb, wir<br />

kämen völlig ohne Eigenknochen aus.»<br />

Fremdknochen Ganz ohne Spende von<br />

Eigenknochen geht es, wenn fremdes<br />

Knochenmaterial verwendet wird. Dieses<br />

eignet sich besonders zur Auffüllung von<br />

grossen Defekten. Die fremden Knochenstücke<br />

werden diversen chemischen Ver-<br />

fahren unterzogen, wodurch sie ähnlich<br />

gute Voraussetzungen wie Eigenknochen<br />

bieten können. Doch Frank Kleinstück<br />

sieht auch die Problematik dieser Methode:<br />

«Neben den ethischen Bedenken<br />

bleibt auch immer ein minimales Restrisiko<br />

einer Übertragung von Herpes- oder<br />

HI-Viren sowie anderen Krankheiten.»<br />

Künstlicher Ersatz Eine Alternative bietet<br />

ein Mineral namens Hydroxylapatit,<br />

welches natürlicherweise rund 40 Prozent<br />

des menschlichen Knochens ausmacht. Es<br />

stellt dem gebrochenen Knochen ein natürliches<br />

Gerüst zur Verfügung, in das er<br />

einwachsen kann. Hydroxylapatit wird<br />

künstlich hergestellt und ist beispielsweise<br />

als Paste oder Granulat erhältlich. Häufig<br />

wird das Mineral in Kombination mit Eigenknochen<br />

verwendet. «Ein Material, das<br />

ohne Eigenknochen auskommt, aber dieselben<br />

Eigenschaften aufweist, gibt es leider<br />

noch nicht», sagt Frank Kleinstück.<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 23


Forschung und Werkplatz<br />

Medizintechnik, eine Sch<br />

Die Schweiz ist zusammen mit Irland der<br />

Spitzenreiter: In keinem anderen europäischen<br />

Land gibt es eine vergleichbar hohe Dichte an<br />

medizinaltechnischen Unternehmen.<br />

Von Matthias Scholer<br />

Für Hugo Mathys steht fest: «In der<br />

Medizinaltechnik hat die Schweiz<br />

die Nase weit vorne.» Und Mathys<br />

weiss, wovon er spricht. Schliesslich produziert<br />

das gleichnamige Familienunternehmen<br />

seit Jahrzehnten Produkte für<br />

den Gelenkersatz. Doch das war nicht immer<br />

so.<br />

Ursprünglich verarbeitete der Solothurner<br />

Betrieb rostfreien Stahl und<br />

baute Spezialmaschinen. Als dann in den<br />

1960er-Jahren der Berner Orthopäde<br />

Maurice E. Müller einen Hersteller für<br />

die von ihm entwickelte Hüftprothese<br />

suchte, bot Hugo Mathys’ Vater sein<br />

Fachwissen und seinen Betrieb für deren<br />

Fertigung an. So wandelte sich der Handwerksbetrieb<br />

innert Kürze zu einem auf<br />

Gelenksprothesen <strong>spezial</strong>isierten Unternehmen.<br />

Viele weitere Firmen, die ihre<br />

Wurzeln in der Uhrenindustrie oder<br />

Feinmechanik haben, folgten dem Beispiel<br />

und richteten ihre Geschäftsfelder<br />

auf die neuen Bedürfnisse der Mediziner<br />

aus.<br />

Einige dieser Medtech-Firmen expandierten<br />

im Zuge der Globalisierung ins<br />

Ausland, und zahlreiche Weltkonzerne<br />

wählten die Schweiz als Produktions- und<br />

Forschungsstandort. Doch was bringt einen<br />

ausländischen Konzern dazu, ausgerechnet<br />

in der teuren Schweiz zu produzieren?<br />

«Der Hauptgrund ist die einmalige<br />

Fertigungskompetenz entlang der<br />

ganzen Zuliefererkette und das für die<br />

Schweiz typische Streben nach höchster<br />

Qualität», erklärt Peter Biedermann.<br />

Er ist Geschäftsführer der Netzwerkorganisation<br />

«Medical Cluster», welche zusammen<br />

mit dem Bund und weiteren<br />

Branchenorganisationen den Werk- und<br />

Forschungsplatz Schweiz fördert. Doch<br />

VOM STAHLBLOCK ZUR PROTHESE<br />

Trotz modernster<br />

Technik braucht es<br />

in der Endfertigung<br />

eines künstlichen<br />

Gelenkersatzes noch<br />

viel Handarbeit.<br />

Nachdem die<br />

Hüftprothesen in<br />

der Schmitte ihre<br />

grobe Form erhalten<br />

haben, beginnt in den<br />

Werkhallen der Firma<br />

Mathys die Feinarbeit.<br />

Bis die Implantate<br />

sauber verpackt an<br />

die Spitäler geliefert<br />

werden, durchlaufen<br />

sie noch viele Hände.<br />

Der Weg vom Rohling<br />

bis zur fertigen<br />

Hüftprothese dauert<br />

rund 15 Arbeitstage.<br />

Fotos: Heiner H. Schmitt<br />

Nur Metalle von bester Qualität<br />

Mit Laser vermisst ein Roboter das Implantat<br />

Der Kopfteil der Prothese wird gedreht<br />

Die Grösse des Kopfteils muss haargenau stimmen<br />

24 | SPEZIAL | Beweglickeit


weizer Tradition<br />

Schweizer Medtech-<br />

Branche in Zahlen<br />

Anzahl Unternehmen ca. 750<br />

Anzahl Angestellte ca. 48 000<br />

Anteil KMU 95 %<br />

Jahresumsatz ca. 23 Mia CHF<br />

Anteil an BIP 2 %<br />

Anteil an Gesamtexport 5 %<br />

nicht nur die Fachkompetenz seitens der<br />

Industrie, auch das Bildungsangebot sei<br />

ein grosser Pluspunkt. «Unsere Hochschulsituation<br />

ist im internationalen Vergleich<br />

äusserst attraktiv. Einerseits existiert<br />

eine breite Palette praxisorientierter<br />

Aus- und Weiterbildungsprogramme.<br />

Andererseits werden Forschungsprojekte<br />

im medizintechnischen Bereich gezielt<br />

unterstützt», erklärt Biedermann. So initiierte<br />

beispielsweise vor wenigen Jahren<br />

die Universität Bern in Zusammenarbeit<br />

mit dem Inselspital und anderen Forschungsinstitutionen<br />

einen Masterkurs<br />

in Biomedical Engineering. Diese Nähe<br />

zur Forschung ist essenziell für die Branche,<br />

um neue Ideen möglichst rasch in<br />

Innovationen umzusetzen.<br />

Doch die komfortable Position der<br />

Schweiz ist nicht in Stein gemeisselt. Viele<br />

neue, schnell wachsende Märkte buhlen<br />

um die Gunst der Firmen. «Dass eine<br />

Firma dorthin geht, wo neue Märkte<br />

locken, ist verständlich. Für die Schweiz<br />

wäre es jedoch schlimm, wenn die Unternehmen<br />

auf Grund kurzfristigen Profitdenkens<br />

nicht nur die Produktion sondern<br />

auch die Entwicklungsabteilungen<br />

ins Ausland verlagern würden», skizziert<br />

Biedermann ein mögliches Schreckensszenario.<br />

Damit dieses nicht eintritt, wird<br />

der Werkplatz Schweiz aktiv gepflegt.<br />

Dazu gehört neben der aktiven Vernetzung<br />

der Industrie auch die Förderung<br />

des Exports. «Ein Mitarbeiter in den USA<br />

und einer in China helfen Schweizer<br />

KMU vor Ort, in diesen wichtigen Zielmärkten<br />

Fuss zu fassen», so Biedermann.<br />

Der gemeinsame Nenner aller Massnahmen:<br />

Die Vorzüge des Standorts Schweiz<br />

erhalten, ohne der Globalisierung im<br />

Weg zu stehen.<br />

Die Oberfläche wird beim Strahlen aufgeraut<br />

Das Implantat erhält den letzten Schliff<br />

Strenge Endkontrolle vor Sterilisation<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 25


Langzeitverhalten<br />

Die Lebensdauer von<br />

Prothesen ist begrenzt<br />

Kein Implantat hält ewig. In<br />

den meisten Fällen funktionieren<br />

Prothesen zwar viele<br />

Jahre lang problemlos, doch<br />

irgendwann müssen auch sie<br />

ersetzt werden. Um die Lebensdauer<br />

der einzelnen Produkte<br />

besser abschätzen zu<br />

können, ist eine landesweite<br />

Datensammlung geplant.<br />

Austausch der<br />

Prothese<br />

Der Prothesenschaft<br />

links hat<br />

sich von Knochen<br />

gelöst,<br />

erkennbar am<br />

dunklen Hohlraum<br />

(roter<br />

Pfeil).<br />

Von Matthias Scholer<br />

«Bei Problemen mit einem Implantat<br />

funktioniert ein Register<br />

auch als Frühwarnsystem»<br />

Dr. Christoph Röder,<br />

Stv. Leiter MEM Forschungszentrum der Universität Bern<br />

In der Schweiz werden jährlich rund<br />

20 000 künstliche Hüftgelenke und<br />

16 000 Kniegelenke implantiert. Tendenz<br />

steigend. Im Vorfeld einer Operation<br />

möchten die Patienten verständlicherweise<br />

wissen, wie lange ein künstlicher<br />

Gelenksersatz hält. «Diese Frage lässt sich<br />

nicht mit einer allgemeingültigen Zahl<br />

beantworten», erklärt Prof. Reinhard<br />

Elke. Der Orthopäde setzt als Belegarzt an<br />

der Merian Iselin Klinik jährlich weit<br />

über Hundert künstliche Hüft- und Kniegelenke<br />

ein. «Bei jedem Patienten spielen<br />

verschiedene Faktoren eine Rolle, die für<br />

das Langzeitverhalten der Prothese entscheidend<br />

sind», sagt der Spezialist. So<br />

spielt neben dem implantierten Produkt<br />

auch die Knochenqualität, die Beanspruchung<br />

des Gelenkes, die Operationstechnik<br />

und nicht zuletzt auch die Handfer-<br />

tigkeit des Chirurgen eine Rolle. «Damit<br />

wir das Langzeitverhalten der einzelnen<br />

Produkte und Operationstechniken miteinander<br />

vergleichen können, brauchen<br />

wir eine standardisierte und schweizweite<br />

Datenerhebung», erklärt Elke. Zwar<br />

durchläuft jedes Implantat vor der Zulassung<br />

klinische Tests und wird auch in den<br />

Jahren danach mit Studien begleitet, aber<br />

diese beschränken sich meist auf kleine<br />

Zahlen von Patienten und einzelne Kliniken.<br />

Für eine flächendeckende Datensammlung<br />

fehlten bis anhin der politische<br />

Wille und das Geld. Das hat sich nun<br />

laut Elke geändert: «Wir haben einen<br />

Konsens gefunden, und die Finanzierung<br />

ist geregelt. Einem nationalen Implantatregister<br />

steht somit nichts mehr im<br />

Weg.»<br />

Bereits steht fest, wie die Daten erhoben<br />

werden sollen: Die Chirurgen übermitteln<br />

die Informationen an eine neutrale<br />

Stelle, das schweizerische Implantatregister<br />

Siris, das als eigenständige<br />

Stiftung organisiert ist. Wissenschaftlich<br />

ausgewertet werden die Daten durch das<br />

MEM Forschungszentrum der Universität<br />

Bern. In einer ersten Phase sollen<br />

neben den demografischen Patientendaten<br />

der Grund für den Eingriff, sowie der<br />

Zeitpunkt der Implantation wie auch<br />

jener eines allfälligen Ersatzes erfasst<br />

werden. Für Christoph Röder, den stellvertretenden<br />

Leiter des Forschungszentrums,<br />

ist dies zumindest ein guter Anfang:<br />

«Dieser Minimaldatensatz erlaubt<br />

bereits erste qualitative und ökonomische<br />

Vergleiche zwischen herkömmlichen<br />

und neuen Produkten.» Die Daten<br />

tragen aber auch zur Sicherheit der Patienten<br />

bei. Denn unerwartete Häufungen<br />

von Problemen mit einem bestimmten<br />

Produkt lassen sich damit rasch<br />

erkennen.<br />

Doch dies ist vielleicht nur der Anfang.<br />

«Mit einer Anpassung der Datensätze<br />

liessen sich künftig auch Aussagen<br />

über die Qualität einer Operation, der<br />

Klinik und damit auch der einzelnen<br />

Ärzte machen», blickt Röder in die Zukunft.<br />

Ob so viel Transparenz allerdings<br />

bei allen beteiligten Parteien auf die nötige<br />

Akzeptanz stösst, ist noch offen.<br />

26 | SPEZIAL | Beweglickeit


Fotos: Heiner H. Schmitt<br />

Dr. Hans Jenny,<br />

Facharzt für<br />

Orthopädie, Praxisgemeinschaft<br />

Clarahof,<br />

Belegarzt an der Merian<br />

Iselin Klinik in Basel.<br />

Eine obere Altersgrenze<br />

für ein künstliches<br />

Hüft- oder<br />

Kniegelenk existiert<br />

nicht, meint der Orthopäde<br />

Hans Jenny.<br />

Er konzentriert sich<br />

seit 30 Jahren auf<br />

Eingriffe für künstliche<br />

Hüft- und<br />

Kniegelenke.<br />

Ethik<br />

«‹Zu alt› gibt es nicht»<br />

Dr. Jenny, wie alt ist der älteste Patient,<br />

dem Sie ein künstliches Gelenk eingesetzt<br />

haben?<br />

Es war eine Patientin, die zum Zeitpunkt<br />

des Eingriffs 96 Jahre alt war. Ich operierte<br />

ihr im Abstand von einer Woche<br />

beide Kniegelenke. Mit den «neuen»<br />

Kniegelenken wurrde sie 103 Jahre alt!<br />

Operieren Sie häufig Hochbetagte?<br />

Diese Patientin war sicher ein Extremfall,<br />

aber Personen um 90, die sich für ein<br />

künstliches Gelenk entscheiden, sind<br />

nicht allzu selten. Ich selbst operiere pro<br />

Jahr 5 bis 6 Patienten in diesem Alter.<br />

Gibt es für einen Gelenkersatz eine<br />

obere Altersgrenze?<br />

Die Aussage «Sie sind zu alt für ein künstliches<br />

Gelenk» ist aus meiner Sicht genauso<br />

falsch wie zu behaupten, jemand sei<br />

«zu jung» dafür. Entscheidend sind zwei<br />

Faktoren: Erstens, ob jemand imstande<br />

ist, zu verstehen, was beim Eingriff physisch<br />

und psychisch passiert: dass man die<br />

Mobilität wiederherstellen, Schmerzen<br />

eindämmen, Medikamente reduzieren,<br />

der Einsamkeit vorbeugen will. Und zweitens,<br />

ob dieser Mensch profitiert im Sinne<br />

der Lebensqualität. Man muss immer den<br />

Einzelfall beurteilen. Und ganz wichtig:<br />

Finanzielle Aspekte dürfen kein Grund<br />

sein, einer betagten Person ein künstliches<br />

Gelenk zu verwehren.<br />

Damit auch 75-Jährige noch einen Marathon<br />

laufen?<br />

Natürlich nicht. Mit 75 dem Körper Leistungen<br />

abzuverlangen, als wäre man<br />

Mitte 20, ist Raubbau und volkswirtschaftlicher<br />

Unsinn. Vielmehr geht es<br />

um die Mobilität und Lebensqualität, die<br />

für diesen Lebensabschnitt vernünftig<br />

und sinnvoll sind – dass man zum Beispiel<br />

in der Frauenriege, im Männerturnen<br />

oder der Walking-Gruppe aktiv bleiben<br />

kann. Auf diese Lebensqualität haben<br />

ältere Menschen ein Recht.<br />

Wie riskant ist ein solcher Eingriff für<br />

ältere Patienten?<br />

Die Risiken sind gering und gut kalkulierbar.<br />

Heute operieren wir in Teilnarkose<br />

gewebeschonend und praktisch ohne ins<br />

Gewicht fallenden Blutverlust. Auch in<br />

der Nachsorge, also Pflege und Physiotherapie,<br />

hat sich gegenüber früher enorm<br />

viel getan. Dasselbe gilt natürlich auch für<br />

das Implantationsmaterial: Zwischen<br />

dem heutigen Standard und den Prothesen<br />

von früher liegen Welten.<br />

In welchem Fall raten Sie von einer<br />

Operation ab?<br />

Wenn ein Mensch geistig nicht mehr in<br />

der Lage ist, Sinn und Zweck des Eingriffs<br />

zu erkennen. So ist aus meiner Sicht zum<br />

Beispiel bei einem Alzheimerpatienten<br />

selbst eine fortgeschrittene Gelenkarth-<br />

rose keine Indikation für einen Gelenkersatz.<br />

Ausser es sprechen pflegerische<br />

Gründe dafür, zum Beispiel, wenn das<br />

Umlagern im Bett für einen solchen Patienten<br />

sehr schmerzhaft ist. Das kommt<br />

jedoch sehr selten vor.<br />

Besteht nicht die Gefahr, dass man betagten<br />

Patienten qualitativ mindere<br />

Implantate einsetzt?<br />

Hierzulande gibt es keine minderwertigen<br />

Implantate. Bei einem hochbetagten<br />

Patienten könnte es eventuell angesichts<br />

seines Alters gerechtfertigt sein, aus Kostengründen<br />

eine Prothese mit etwas kürzerer<br />

Lebensdauer zu implantieren. Dies<br />

aber nur unter der Prämisse, auch bei diesem<br />

Patienten medizinisch das Optimum<br />

zu erfüllen.<br />

Die Menschen werden immer älter,<br />

entsprechend wird die Nachfrage nach<br />

Gelenkersatz-Operationen steigen.<br />

Wer soll das bezahlen?<br />

Wir, die Gesellschaft als Kollektiv, werden<br />

das bezahlen. Natürlich kostet das<br />

Schweizer Gesundheitswesen sehr viel,<br />

auch der Gelenkersatz ist teuer. Aber verglichen<br />

mit anderen Ländern bekommen<br />

wir viel dafür zurück. Die gewonnene<br />

Lebensqualität ist unbezahlbar.<br />

Interview: Irène Dietschi<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 27


Schlüsselloch-Chirurgie<br />

Dank Minikamera mit<br />

Wenn bei Problemen mit den Gelenken nur noch eine<br />

Operation hilft, setzen Ärzte immer seltener zum grossen<br />

Schnitt an: Stattdessen dringen sie durch kleinste<br />

Öffnungen. Die minimal-invasiven Methoden sind<br />

schonender für den Patienten, stellen den Operateur<br />

aber vor besondere Herausforderungen.<br />

Von Fee Anabelle Riebeling<br />

Ursprünglich wurde die sogenannte<br />

Arthroskopie dazu entwickelt,<br />

um das Kniegelenk zu<br />

untersuchen, ohne eine grosse Wunde zu<br />

öffnen. Doch ab den 1960er-Jahren erkannte<br />

man den Wert der Methode auch<br />

für chirurgische Eingriffe. Heute gilt die<br />

minimal-invasive Operationstechnik als<br />

Standardverfahren für Knie- und Schultergelenke.<br />

Selbst Probleme in kleinen<br />

Gelenken wie die des Ellbogens oder der<br />

Hand sowie schwer zugänglicher wie die<br />

der Hüfte lassen sich so angehen. Zudem<br />

sind bereits erste Ansätze vorhanden,<br />

auch den Hallux valgus, den Schiefstand<br />

der grossen Zehe, mit Korrekturen durchs<br />

«Schlüsselloch» zu beheben.<br />

Die Vorteile für den Patienten liegen<br />

auf der Hand. Nach dem minimal-invasiven<br />

Eingriff verläuft der Heilungsprozess<br />

mit wesentlich weniger Komplikationen,<br />

und er hinterlässt kaum sichtbare<br />

Narben. Denn statt wie bei herkömmlichen<br />

Operationen die Gelenke offenzulegen,<br />

führt der Arzt bei der Arthroskopie<br />

speziell feine Instrumente durch kleine<br />

Schnitte ein und schont so Muskeln, Bänder<br />

und die Gelenkkapsel. «Die Patienten<br />

brauchen deutlich weniger Medikamente,<br />

haben weniger mit Nachwirkungen zu<br />

kämpfen und können dadurch früher<br />

nach Hause», sagt Matthias Flury, Leitender<br />

Arzt Orthopädie Obere Extremitäten<br />

an der Schulthess Klinik in Zürich. Statt<br />

wie früher nach fünf Tagen würden die<br />

meisten Schulterpatienten heute bereits<br />

nach maximal zwei Tagen entlassen. Der<br />

Experte schätzt die schonende Methode<br />

noch für einen weiteren Aspekt: «Durch<br />

die Arthroskopie sind völlig neue Diagnosen<br />

möglich.» So könne man die<br />

Gelenke nun auch in der Bewegung untersuchen<br />

und dynamische Probleme<br />

erkennen. Dies sei beispielsweise bei sogenannten<br />

Überkopfsportlern – Volleyball-,<br />

Handball- oder Tennisspielern<br />

– von Vorteil, da es bei ihnen während<br />

des Aufschlags zu Sehnenverletzungen<br />

kommen kann, die im Magnetresonanztomografen<br />

(MRI) nur schwer zu erkennen<br />

sind.<br />

Schonend, aber anspruchsvoll<br />

Für Michael Leunig ist die Arthroskopie<br />

Fluch und Segen zugleich. Als Chefarzt<br />

Hüftchirurgie an der Schulthess Klinik<br />

hat er es mit einem besonders kniffeligen<br />

Gelenk zu tun: Bevor er mit<br />

Minikamera und Instrumenten überhaupt<br />

erst in den Raum zwischen Hüftkopf<br />

und -pfanne dringen kann, muss das<br />

Gelenk mit Kraft auseinandergezogen<br />

werden. Das stellt für den Operateur eine<br />

besondere Herausforderung dar, denn er<br />

muss sorgfältig arbeiten, gleichzeitig aber<br />

auch schnell. «Brauche ich zu lange, kön-<br />

INS GELENK HINEIN<br />

Der Begriff Arthroskopie stammt aus dem<br />

Griechischen und bedeutet «Gelenkspiegelung»<br />

(Arthros = Gelenk, skopein =<br />

schauen). Als Begründer der Methode gilt<br />

der Aarauer Eugen Bircher. Als chirurgischer<br />

Chefarzt am Kantonsspital Aarau<br />

interessierte er sich besonders für Verletzungen<br />

im Kniegelenk. 1921 führte er die<br />

erste Spiegelung des Kniegelenks durch –<br />

mit einem Gerät zur Spiegelung des Bauchraums.<br />

Heute ist die Methode für Operationen an<br />

verschiedenen Gelenken gebräuchlich,<br />

28 | SPEZIAL | Beweglickeit


tendrin statt nur dabei<br />

SCHAUEN<br />

zum Beispiel an der Hüfte (Bild oben).<br />

Dazu werden nur wenige Millimeter<br />

grosse Hautschnitte gemacht, durch die<br />

der Arzt eine Stabkamera (Endoskop) direkt<br />

in das Gelenk einführt. Hinzu kommen<br />

– je nach Eingriff – ein bis fünf ebenfalls<br />

nur millimetergrosse Instrumente. Da es<br />

sehr eng ist im Operationsgebiet, wird das<br />

Gelenk mit Kochsalzlösung gedehnt. Diese<br />

ermöglicht nicht nur den Blick auf den Ort<br />

des Geschehens, sondern erlaubt es auch,<br />

losgelöste Knochensplitter oder Knorpelstückchen<br />

und Blut herauszuspülen.<br />

nen beispielsweise am Ischias-Nerv<br />

Druckstellen entstehen und die Beine<br />

einschlafen», so Leunig. Das unangenehme<br />

Gefühl könne auch Wochen nach<br />

dem Eingriff noch anhalten. Deswegen<br />

müssen die operierenden Ärzte «ihr Gelenk<br />

in- und auswendig kennen», wie er<br />

sagt. Hier lauert seiner Ansicht nach auch<br />

die grösste Gefahr: Die Verlockung bestehe,<br />

dass ein Operateur auch ohne ausreichende<br />

Erfahrung auf Druck der Patienten<br />

eine Arthroskopie durchführe.<br />

«Die Methode ist zwar schonend, aber<br />

wenn man etwas falsch macht, kann sie<br />

auch maximal schädlich sein.» So könnten<br />

beispielsweise Knorpel verletzt werden,<br />

die sich nicht aus eigener Kraft regenerieren<br />

und im schlimmsten Fall aufwändige<br />

Folgeoperationen nach sich<br />

ziehen.<br />

Viel Übung erforderlich<br />

Das Hauptproblem für den Operateur<br />

ist die Entkopplung von Blick- und Arbeitsfeld.<br />

Bei einem offenen Eingriff sieht<br />

er direkt die Bewegungen der Instrumente<br />

im Gelenk. Anders bei der Arthroskopie:<br />

Hier überwacht er alles nur über<br />

einen Monitor. Das bedeutet, er muss<br />

vom zweidimensionalen Bild auf ein dreidimensionales<br />

Operationsgebiet abstrahieren<br />

können. Das erfordert ein grosses<br />

räumliches Vorstellungsvermögen, sagt<br />

Matthias Flury.<br />

Und das erfordert viel Übung. So operiert<br />

etwa Stefan Preiss, Chefarzt Untere<br />

Extremitäten an der Schulthess Klinik in<br />

Zürich, pro Jahr rund 500 Knie. Deswegen<br />

aber von «Fliessbandarbeit» sprechen will<br />

er nicht: «Übung macht den Meister.»<br />

Darum raten die Experten, sich bei<br />

der Entscheidung für oder gegen einen<br />

minimal-invasiven Eingriff nicht nur<br />

nach den Risiken, sondern auch nach<br />

der Erfahrung des Chirurgen zu erkundigen.<br />

«Mein Auge sitzt<br />

im Prinzip direkt im<br />

Gelenk. Näher dran<br />

geht nicht»<br />

Dr. Matthias Flury,<br />

Leitender Arzt Orthopädie Obere<br />

Extremitäten an der Schulthess Klinik<br />

in Zürich<br />

«Obwohl Arthroskopie<br />

schonend ist,<br />

ist sie nicht mit einem<br />

Boxenstopp in<br />

der Formel 1 zu<br />

vergleichen»<br />

PD Dr. Michael Leunig,<br />

Chefarzt Hüftchirurgie an der<br />

Schulthess Klinik in Zürich<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 29


Intraoperatives Monitoring<br />

Bei Rückenoperationen<br />

Risiken minimieren<br />

Chirurgische Eingriffe an der Wirbelsäule wecken viele Ängste. Nicht ohne<br />

Grund, denn Verletzungen der Nervenbahnen können Lähmungen zur Folge<br />

haben. Dieses Risiko lässt sich aber minimieren.<br />

Von Martina Huber<br />

Die Wirbelsäule trägt nicht nur<br />

Kopf und Oberkörper. Vielmehr<br />

bildet der Hohlraum in den 24<br />

Hals-, Brust- und Lendenwirbeln einen<br />

schützenden Kanal, in dessen Innern das<br />

Rückenmark verläuft. Tausende sensorischer<br />

Nervenfasern verlaufen hier, um mit<br />

elektrischen Impulsen Sinneseindrücke<br />

vom ganzen Körper zur Verarbeitung ins<br />

Gehirn zurückzutragen. Und hier verläuft<br />

auch die sogenannte Pyramidenbahn:<br />

Sie umfasst die motorischen Nervenfasern,<br />

welche mit elektrischen Impulsen<br />

vom Gehirn das Bewegen der Muskeln<br />

ermöglichen. Wird sie durchtrennt, ist die<br />

betroffene Person querschnittgelähmt.<br />

Und selbst kleinste Verletzungen der Nervenbahnen<br />

können Lähmungen, Schmerzen<br />

oder den Verlust von Sinneswahrnehmungen<br />

zur Folge haben.<br />

Dass viele Leute Angst davor haben,<br />

sich an der Wirbelsäule operieren zu lassen,<br />

ist also verständlich. Und nicht ganz<br />

unbegründet: «Bei einer Rückenoperation<br />

besteht immer ein gewisses Risiko –<br />

wie bei jeder Behandlung, die eine grosse<br />

Wirkung hat», erklärt Martin Sutter,<br />

Neurologe an der Schulthess Klinik in<br />

Zürich. Das Risiko lässt sich aber minimieren.<br />

Der erste Schritt zur sicheren Rücken-OP<br />

ist eine sorgfältige Diagnose:<br />

Dazu befragen Chirurg und Neurologe<br />

den Patienten zu Symptomen und Krankengeschichte<br />

und unterziehen ihn dann<br />

verschiedenen Untersuchungen, um herauszufinden,<br />

wo genau das Problem liegt<br />

und ob eine Operation es lösen könnte.<br />

Spürt der Patient beispielsweise seinen<br />

kleinen Zeh nicht mehr, könnte irgendwo<br />

im Bein oder Rücken ein Nerv eingeklemmt<br />

sein. Aber auch Zuckerkrankheit<br />

kommt dafür als Ursache in Frage – in<br />

diesem Fall wäre eine Rückenoperation<br />

vollkommen überflüssig.<br />

Ist tatsächlich ein Nerv im Rücken<br />

eingeklemmt, können bildgebende Verfahren<br />

zeigen, weshalb: Ob eine Bandscheibe<br />

in den Wirbelkanal drückt, ob<br />

sich ein Tumor im Rückenmark ausbrei-<br />

30 | SPEZIAL | Beweglickeit


Der Neurologe<br />

überwacht während einer<br />

Rückenoperation permanent<br />

die Nervenfunktionen<br />

des Patienten.<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 31


tet – oder ob sich der Zwischenwirbelspalt<br />

im Bereich der Lendenwirbelsäule<br />

verengt hat, wie dies im Alter häufig vorkommt.<br />

Erst wenn die Ursache des Leidens<br />

genau lokalisiert ist, können die Mediziner<br />

abschätzen, welches Risiko der<br />

Patient eingeht, wenn er sich operieren<br />

lässt – oder wenn er dies nicht tut. Entfernt<br />

man beispielsweise einen Tumor im<br />

Rückenmark, besteht ein erhebliches Risiko,<br />

dass nach der Operation Gefühlsstörungen<br />

oder Lähmungen zurückbleiben.<br />

Aber wenn man nichts unternimmt, kann<br />

es zu noch schwerwiegenderen Ausfällen<br />

kommen, wenn der Krebs sich weiter ausbreitet.<br />

«Der Arzt muss mit dem Patienten<br />

unbedingt offen über alle möglichen<br />

Risiken sprechen», sagt Martin Sutter.<br />

«Nur ein gut informierter Patient kann<br />

wirklich entscheiden, ob er operiert werden<br />

will oder nicht.»<br />

Routine als Sicherheitsfaktor<br />

Entscheidet sich der Patient für einen<br />

Eingriff, sollte ein routinierter, <strong>spezial</strong>isierter<br />

Chirurg ans Werk – auch das vermindert<br />

das Risiko. Die Zeiten, in denen<br />

ein Chirurg alles operierte, sind laut Sutter<br />

längst vorbei: «Das ist heute nicht<br />

mehr zu verantworten.» So gebe es etwa<br />

in seiner Klinik Leute, die nur Füsse operieren,<br />

andere seien <strong>spezial</strong>isiert auf<br />

Hände, Ellenbogen – oder eben auf den<br />

Rücken.<br />

Wichtig ist auch: Der Chirurg arbeitet<br />

nicht allein, sondern immer im Team<br />

und unterstützt durch neuste Medizinal-<br />

Technik. Bei einfachen Eingriffen wie<br />

etwa einer Bandscheiben-Operation lässt<br />

sich das Risiko einer Komplikation mit<br />

sorgfältiger Diagnose und routiniertem<br />

Chirurgen auf unter 0,2 Prozent senken<br />

– und weil da nicht direkt am Rückenmark<br />

operiert wird, kommt es auch im<br />

schlimmsten Fall nicht zu einer Querschnittlähmung,<br />

sondern höchstens zur<br />

Verletzung eines einzelnen Nervs, was<br />

beispielsweise zu einer Fussheber-Schwäche<br />

führen kann.<br />

Bei komplizierteren Eingriffen am<br />

oder nahe beim Rückenmark kommt zusätzlich<br />

das sogenannte intraoperative<br />

«Ohne kontinuierliche<br />

Messung der<br />

Nervenfunktion ist<br />

Operieren wie ein<br />

Blindflug.»<br />

Dr. Martin Sutter,<br />

Neurologe an der<br />

Schulthess Klinik in Zürich<br />

Monitoring (IOM) zum Einsatz, um das<br />

Risiko zu minimieren. An der Schulthess<br />

Klinik übernimmt dies der Neurologe<br />

Martin Sutter. Während des Eingriffs<br />

überwacht er ständig an einem Monitor,<br />

ob die Nerven des Rückenmarks noch<br />

funktionieren, ob also keine Lähmungen<br />

auftreten. Dazu sendet ein Gerät am Kopf<br />

des Patienten einen elektrischen Reiz in<br />

die motorische Nervenbahn. Dieser Impuls<br />

wandert der Nervenfaser entlang –<br />

und unterhalb der Stelle, wo operiert<br />

wird, messen Elektroden fortwährend, ob<br />

und in welcher Stärke das Signal dort<br />

noch ankommt. Wird es schwächer,<br />

nimmt der Neurologe sofort Rücksprache<br />

mit dem Chirurgen – und der kann entsprechend<br />

reagieren, bevor ein bleibender<br />

Schaden entsteht.<br />

Grenzen ausloten mit IOM<br />

Diese Methode des intraoperativen Monitorings<br />

ist noch relativ jung. Zwar werden<br />

Nervenmessungen schon seit den<br />

1920er-Jahren durchgeführt. Aber sie waren<br />

zunächst nur bei wachen Patienten<br />

möglich und konnten somit nur für Voruntersuchungen<br />

genutzt werden. Um die<br />

Technologie auch während Rückenoperationen<br />

einzusetzen, mussten erst<br />

spezielle Nervenstimulatoren und Narkosemittel<br />

gefunden werden: Diese sorgen<br />

dafür, dass der Patient schläft, keine<br />

Schmerzen hat und sich nicht bewegt –<br />

und die motorischen Nervenstränge dennoch<br />

messbare elektrische Impulse weitergeben<br />

können. Dieses IOM hielt erst<br />

vor rund 10 Jahren Einzug in die Operationssäle.<br />

«Vorher war Operieren fast wie<br />

ein Blindflug», erinnert sich Sutter. Erst<br />

nach dem Eingriff habe sich gezeigt, ob<br />

während des Operierens Nerven verletzt<br />

worden seien. Um dennoch schon während<br />

des Eingriffs eine gewisse Kontrolle<br />

zu haben, habe man Patienten mit geöffnetem<br />

Rücken aufgeweckt, um zu kontrollieren,<br />

ob sie die Zehen noch selbständig<br />

bewegen konnten. Und besonders<br />

heikle Operationen habe man meist gar<br />

nicht erst durchgeführt: So habe man beispielsweise<br />

Rückenmarktumore in der<br />

Regel nicht entfernt – und wenn doch, sei<br />

der Patient danach häufig querschnittgelähmt<br />

gewesen.<br />

Verbesserung der Qualität<br />

Die Überwachung der Nervenfunktionen<br />

senkt also nicht nur die Risiken bei Operationen.<br />

Vielmehr verbessert sie auch die<br />

Qualität der Eingriffe: «Dank des IOM<br />

kann der Chirurg fortwährend das Risiko<br />

kalkulieren – und so bis an die Grenzen<br />

gehen», sagt Sutter. Oft wisse der Chirurg<br />

nämlich am Anfang einer OP noch nicht<br />

genau, wie weit er gehen könne.<br />

Nicht nur Leute mit Rückenmarktumor<br />

profitieren von der Verbesserung.<br />

Insbesondere Skoliose-Patienten kann<br />

heute viel besser geholfen werden. Deren<br />

massive Verkrümmungen der Wirbelsäule<br />

operiert man meist schon im Kindesalter.<br />

Laut Sutter hat man die Wirbelsäule<br />

der Betroffenen bis in die 1980er-<br />

Jahre vielfach nur ein bisschen gestreckt<br />

– und dann den immer noch krummen<br />

Rücken mit einer Metallstange versteift.<br />

Denn ohne IOM ist ein starkes Eingreifen<br />

riskant: Wird die Wirbelsäule zu stark<br />

gedehnt, können dadurch Nervenbahnen<br />

gezerrt oder eingeklemmt werden – was<br />

unter Umständen bleibende Lähmungen<br />

oder Sinnesstörungen zur Folge hat. Deshalb<br />

setzt sich IOM bei komplizierten<br />

Eingriffen immer mehr als Standard<br />

durch.<br />

32 | SPEZIAL | Beweglickeit


Sportmedizin<br />

Für Sportler<br />

und Normalos<br />

Die Swiss Olympic Medical Center betreiben sportmedizinische<br />

Forschung, betreuen Spitzenathleten und<br />

bieten auch diverse Dienstleistungen für Hobbysportler.<br />

Von Beat Glogger<br />

Die wohl fittesten Patienten in der<br />

Zürcher Schulthess Klinik gehen<br />

in den Praxisräumen von Kerstin<br />

Warnke ein und aus: Ruderer, Volleyballerinnen,<br />

Segler, Tennisspielerinnen,<br />

Kanuten, Kunstturner, Eishockeyspieler,<br />

Snowboarder. Allesamt Top-Athleten aus<br />

Schweizer Sportverbänden, bei denen die<br />

Chefärztin für Sportmedizin auch als Verbandsärztin<br />

fungiert. Ähnliche Klientel<br />

auch in der Crossklinik am Merian Iselin<br />

in Basel: Hier reichen sich vor allem Wintersportler<br />

die Klinke. Der hiesige Chefarzt<br />

für Sportmedizin, Andreas Gösele,<br />

betreut die Schweizer Bob-Nationalmannschaft.<br />

Seit über 15 Jahren auch das<br />

Schweizer Leichtathletikkader und ein<br />

kürzlich neu gegründetes Rad-Team,<br />

dem der mehrfache Weltmeister und<br />

Olympiasieger Fabian Cancellara angehört.<br />

Die Schulthess Klinik und die Crossklinik<br />

gehören zu einem Netzwerk von<br />

insgesamt zwölf Schweizer Kliniken, die<br />

als «Swiss Olympic Medical Center» zertifiziert<br />

sind. Das Label vergibt Swiss<br />

Olympic – die Dachorganisation der<br />

Schweizer Sportverbände – an Kliniken,<br />

die gewisse Qualitätskriterien erfüllen.<br />

Unter anderem ist Bedingung, dass sportphysiologische<br />

Leistungstests angeboten<br />

werden und die leitenden Ärzte in einem<br />

Schweizer Sportverband als Verbandsärzte<br />

tätig sind und deren Athleten an<br />

Wettkämpfen betreuen. «Die Betreuung<br />

der Teams und die Zusammenarbeit mit<br />

Foto: René Ruis<br />

den Trainern erlaubt es uns, stetig<br />

präventive und leistungsdiagnostische<br />

Untersuchungsmethoden weiterzuentwickeln»,<br />

sagt Andreas Gösele, der in jungen<br />

Jahren selbst ein angefressener<br />

Sprinter war. Dabei komme der Prävention<br />

von Sportverletzungen und -schäden<br />

eine zentrale Bedeutung zu.<br />

Doch die Tätigkeit der Sportmediziner<br />

erschöpft sich nicht in der Betreuung<br />

von Top-Athleten, sagt Kerstin Warnke,<br />

die im Sommer 2012 als leitende Olympiaärztin<br />

die Schweizer Delegation an die<br />

Sommerspiele nach London begleiten<br />

wird. Die Erkenntnisse an Spitzensportlern<br />

komme auch ganz «normalen» Pati-<br />

Neue Diagn<br />

Foto: Heiner H. Schmitt<br />

Dr. Andreas Gösele bei einer isokinetischen Kraftmessung mit Bob-Champion Beat Hefti.<br />

Das sogenannte Kompartment-<br />

Syndrom wurde zunächst bei<br />

Sportlern nach intensivem<br />

Training diagnostiziert.<br />

Jetzt zeigt sich, dass auch<br />

andere darunter leiden<br />

können: all jene, die lange<br />

auf den Beinen sind.<br />

34 | SPEZIAL | Beweglickeit


Dr. Kerstin Warnke<br />

überwacht das<br />

Leistungs-EKG bei<br />

einer Frau, die wieder<br />

mit Sport beginnen<br />

möchte.<br />

enten zugute: Freizeitsportlern, Kindern<br />

oder älteren Menschen.<br />

Ein typisches Beispiel ist das sogenannte<br />

Impingement des Hüftgelenks<br />

(siehe auch Seite 10). «Das Hüftimpingement<br />

ist eine relativ neue Diagnose. Wir<br />

reden erst seit Ende der 90er-Jahre davon.<br />

Oft wird es bei Sportlern gefunden», sagt<br />

Warnke. «Nicht weil sie besonders betroffen<br />

wären, sondern weil bei ihnen aufgrund<br />

der grösseren Belastung der Gelenke<br />

gewisse Anomalien am Skelett früher<br />

zu Beschwerden führen.» Auch die<br />

Ausrüstung spielt eine Rolle: zum Beispiel<br />

Fussballschuhe, die sich mit den<br />

Stollen im Rasen festkrallen und so Rotationsbewegungen<br />

einschränken – was<br />

wiederum zu einer stärkeren Belastung<br />

der Gelenke führt.<br />

Gösele betont den Wert der Sportmedizin<br />

für die Allgemeinheit. «Weil man aus<br />

Reihenuntersuchungen mit Sportlern viel<br />

über das Impingement gelernt hat, kommt<br />

man heute bei Nichtsportlern, die an unerklärlichen<br />

Hüftschmerzen leiden, zu<br />

derselben Diagnose. Früherkennung kann<br />

helfen, schwerere Hüftarthrosen zu verhindern.»<br />

Heute versteht der 49-Jährige<br />

auch, warum er damals als jugendlicher<br />

Sprinter in der Hüfte weniger beweglich<br />

war als die Kollegen. «Kürzlich hat eine<br />

MRI-Untersuchung gezeigt, dass ich selbst<br />

ein Hüft-Impingement habe. Jetzt kann<br />

ich präventiv der Arthrose entgegen<br />

wirken.»<br />

Neben Forschung für Sportler und<br />

Nichtsportler erbringt ein Swiss Olympic<br />

Medical Center auch verschiedene Dienstleistungen<br />

für Hobbysportler. Hier können<br />

sie ihren Trainingsstand überprüfen<br />

lassen. Ein leistungsdiagnostischer Test<br />

kostet um die 250 Franken. Geprüft werden<br />

Kraft, Ausdauer, Sauerstoffaufnahmefähigkeit<br />

und weitere Parameter. Die Kosten<br />

dafür übernehmen die Krankenkassen<br />

allerdings nicht. Einzig, wer in einer Untersuchung<br />

die Herztätigkeit mittels Leistungs-EKG<br />

prüfen lässt, kann die Kosten<br />

dafür der Kasse übertragen, sofern er im<br />

Vorfeld unter Beschwerden gelitten hat.<br />

Zu empfehlen ist eine Leistungsdiagnostik<br />

für Personen, die nach längerer<br />

Sportabstinenz wieder mit einem Training<br />

beginnen wollen. Oder auch Spätberufenen,<br />

die es noch einmal wissen wollen<br />

und sich ein Ziel gesteckt haben. Erst<br />

recht, wer sich zum Fünfzigsten den<br />

New-York-Marathon geschenkt hat. Damit<br />

der Lauf durch den Big Apple auch<br />

wirklich zum Genuss wird.<br />

ose hilft auch Nichtsportlern<br />

Der Muskel<strong>spezial</strong>ist Andreas Gösele<br />

behandelt viele Läufer, die<br />

sich über unerklärliche Schmerzen<br />

in den Waden beklagen. Typischerweise<br />

verschwinden die Schmerzen bei<br />

einer Trainingspause, umkehren dann<br />

bei Wiederaufnahme des Trainings aber<br />

sofort wieder zurück. Ähnliches berichteten<br />

auch Motocrossfahrer und Kletterer<br />

über Schmerzen im Unterarm. Heute<br />

weiss man, dass diese Athleten am sogenannten<br />

Kompartment-Syndrom leiden.<br />

Die Schmerzen haben ihren Grund in zu<br />

engen Muskelhüllen – in der Fachsprache<br />

Faszien. Dafür verantwortlich ist meist<br />

eine zu enge Faszie oder eine zu schnelle<br />

Vergrösserung des Muskelquerschnitts<br />

durch intensives Training. Die Faszien,<br />

welche die Muskelgruppen umgeben,<br />

sind dann im Vergleich zum Muskelvolumen<br />

zu eng. Dies führt bei Beanspruchung<br />

der entsprechenden Muskelgruppe<br />

zu einem erhöhten Druck und damit zu<br />

Schmerzen.<br />

Dank dieser Erkenntnis schicken nun<br />

plötzlich auch Gefäss<strong>spezial</strong>isten Patienten<br />

zum Sportarzt. Zum Beispiel Servierpersonal,<br />

das an Wadenschmerzen leidet,<br />

aber weder Krampfadern noch andere ersichtliche<br />

Ursachen dafür zeigt.<br />

Verengte Muskelfaszien lassen sich mit<br />

einer eigens dafür entwickelten Operationstechnik<br />

minimal-invasiv erweitern.<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 35


Reha<br />

Foto:iStock/trialll<br />

Rehabilitation flexibel gesta<br />

Immer mehr Patienten machen ihre Rehabilitation<br />

ambulant. Das kann für sie Vorteile bringen und<br />

entlastet gleichzeitig das Gesundheitswesen.<br />

Von Simon Degelo<br />

In der Rehabilitation kam es in den<br />

letzten Jahren zu einem Philosophiewechsel:<br />

Früher war die Devise, die<br />

Patienten aus ihrem gewohnten Umfeld<br />

herauszunehmen und ihnen Erholung in<br />

einem ruhigen Kurort zu gönnen. Heute<br />

versucht man, sie möglichst bald in ihr<br />

Alltagsleben zurück zu bringen, damit die<br />

Genesenden den Kontakt zu ihren Liebsten<br />

nicht verlieren und möglichst schnell<br />

wieder lernen, den Alltag selbständig zu<br />

bestreiten. Dieses Umdenken haben vor<br />

allem die Fortschritte in der Medizin gefördert:<br />

Dank schonenderen Operationsmethoden<br />

verheilen Wunden schneller,<br />

verbesserte Diagnosemethoden helfen,<br />

Komplikationen vorherzusehen.<br />

Inzwischen ist ein breites Angebot<br />

entstanden, das den Patienten ihren Weg<br />

zurück in den Alltag erleichtert. Es reicht<br />

von Ergotherapie zum Wiedererlernen<br />

von alltäglichen Aktivitäten über Physiotherapie<br />

im Schwimmbecken bis hin zu<br />

Walking in geleiteten Gruppen. Dabei<br />

wohnen die Patienten so früh wie möglich<br />

wieder zu Hause und gehen je nach<br />

Bedürfnis stundenweise oder den ganzen<br />

Tag in die Reha.<br />

Der Trend zu mehr ambulanter Rehabilitation<br />

verspricht auch Geld zu sparen:<br />

Denn das Bett verursacht bei stationären<br />

Spitalaufenthalten den grössten Anteil<br />

der Kosten. Dieser entfällt, wenn die Behandlung<br />

ambulant durchgeführt wird.<br />

Das könnte helfen, den Kostenanstieg im<br />

Gesundheitswesen zu dämpfen. Paradox<br />

jedoch: «Die Spitäler haben keinen Anreiz,<br />

dieses Sparpotenzial umzusetzen»,<br />

sagt Michael Gengenbacher, Chefarzt des<br />

Rehabilitationszentrums am Bethesda<br />

Spital in Basel. Bei stationären Behandlungen<br />

müssen die Kantone 55 Prozent<br />

der Kosten übernehmen, bei ambulanten<br />

hingegen gar nichts.<br />

Gengenbacher rechnet damit, dass<br />

die Einführung der Fallpauschale auf Anfang<br />

nächsten Jahres Bewegung in die Sache<br />

bringt. Zwar ändert sich damit nichts<br />

an der Kostenbeteiligung der Kantone,<br />

aber sie zwingt die Ärzte, sich schon vor<br />

der Behandlung Gedanken über die Rehabilitation<br />

zu machen. «Allerdings besteht<br />

auch eine gewisse Gefahr, dass Patienten<br />

aus dem Spital gedrängt werden»,<br />

sagt Rehabilitations-Spezialist Gengenbacher.<br />

Umso wichtiger sei eine gute Abklärung.<br />

Im Vordergrund steht dabei der<br />

Mensch als Ganzes und nicht nur seine<br />

Krankheit: Das Alter, der allgemeine Gesundheitszustand<br />

sowie eventuelle Begleiterkrankungen<br />

beeinflussen die Genesung.<br />

Doch auch äussere Faktoren<br />

spielen eine Rolle: Gibt es zu Hause einen<br />

Partner, der helfen kann? Oder behindern<br />

Umstände wie eine steile Treppe die<br />

Heimkehr? Nur wenn solche Fragen in<br />

die Planung einbezogen und mit dem Patienten<br />

besprochen werden, lässt sich die<br />

optimale Form der Rehabilitation finden.<br />

Damit der Patient nicht nur schnell aus<br />

dem Spital kommt, sondern auch wieder<br />

beschwerdenfrei durch sein Leben gehen<br />

kann.<br />

36 | SPEZIAL | Beweglickeit


Elektrostimulation<br />

MUSKELTRAINING UNTER STROM<br />

lten<br />

Aquafit<br />

ist gelenkschonend<br />

und<br />

kann auch in<br />

einer ambulanten<br />

Reha<br />

integriert<br />

werden.<br />

«Die Rehabilitation<br />

sollte<br />

schon vor einer<br />

Operation geplant<br />

werden»<br />

Dr. Michael Gengenbacher,<br />

Chefarzt des Rehabilitationszentrums<br />

am Bethesda Spital in Basel<br />

Elektrostimulation erlaubt Muskeltraining<br />

ohne Zutun des Patienten und<br />

wird in der Rehabilitation bereits routinemässig<br />

eingesetzt.<br />

Von Simon Degelo<br />

Die Patientin sitzt auf einem speziellen<br />

Sessel, an ihrem Oberschenkel<br />

sind Elektroden angeklebt, die mit<br />

einem Elektrostimulationsgerät<br />

verkabelt sind. Dr. Nicola Maffiuletti,<br />

der an der Schulthess Klinik in Zürich<br />

die Einsatzmöglichkeiten der Elektrostimulation<br />

erforscht, startet das<br />

Gerät. Er schickt eine Serie kurzer<br />

Stromstösse von bis zu 400 Volt in<br />

den Oberschenkelmuskel der Patientin.<br />

Folge: Der Muskel spannt sich an.<br />

Schmerzlich ist die Methode nicht,<br />

doch die Elektrizität ist auf der Haut<br />

spürbar. «Es kribbelt, wie wenn Ameisen<br />

über die Haut laufen würden»,<br />

sagt die Patientin.<br />

Die elektrischen Impulse entfalten<br />

ihre Wirkung an der Stelle, wo die<br />

Nervenenden auf die Muskelfasern<br />

treffen – in der Fachsprache: an den<br />

motorischen Endplatten. Diese<br />

Schnittstellen sind sehr empfindlich:<br />

Bei einem Stromimpuls ziehen sich<br />

die Muskelfasern zusammen, egal,<br />

ob der Reiz vom Nerv kommt oder<br />

künstlich verursacht wird. So können<br />

Muskeln ohne aktive Bewegung trainiert<br />

werden.<br />

Starke Muckis ohne Anstrengung<br />

also? Muskelforscher Maffiuletti<br />

winkt ab: «Elektrostimulation ist nicht<br />

das Wundermittel, als das es manche<br />

Herstellern anpreisen.»<br />

Doch in gewissen Situationen,<br />

etwa nach einer Operation, bietet die<br />

Methode grosse Vorteile. Zum Beispiel<br />

für Patienten, die eine Hüftprothese<br />

erhalten haben. Anfangs dürfen<br />

sie das künstliche Gelenk nicht voll<br />

belasten und können daher nur sehr<br />

leichte Übungen machen. Dadurch<br />

trainieren sie nur einen Teil der Muskelfasern,<br />

von denen es in der Skelettmuskulatur<br />

zwei unterschiedliche<br />

Typen gibt: die sogenannt schnellen<br />

und die langsamen Fasern. Bei Ausdauerleistung<br />

sind in erster Linie die<br />

langsamen Fasern aktiv, erst bei<br />

grossem Krafteinsatz werden die<br />

schnellen Fasern zugeschaltet. Deshalb<br />

ist es nicht möglich, die schnellen<br />

Fasern mit leichten Übungen zu<br />

trainieren. Mit Elektrostimulation<br />

lässt sich das Problem umgehen: Der<br />

elektrische Reiz regt beide Fasertypen<br />

zu gleichen Teilen an – die schnellen<br />

Fasern können schon bei minimaler<br />

Belastung trainiert werden.<br />

Die Technik hat aber auch ihre<br />

Grenzen: Es wird nicht der ganze<br />

Muskel, sondern vorwiegend der Bereich<br />

zwischen den Elektroden trainiert.<br />

«Zudem sollten die Trainingseinheiten<br />

nicht zu lange dauern, da<br />

es sonst zu Zerrungen kommen<br />

kann», sagt Maffiuletti.<br />

Elektrostimulation macht sogar<br />

Muskeltraining für bewegungsunfähige<br />

Menschen möglich: beispielweise<br />

in der Intensivmedizin. Wenn<br />

Patienten über längere Zeit ohne Bewusstsein<br />

sind und künstlich beatmet<br />

werden müssen, bauen sich ihre<br />

Muskeln innert wenigen Wochen ab.<br />

«Diese Menschen haben nach dem<br />

Aufwachen grosse Probleme, zurück<br />

ins Leben zu finden,» sagt Maffiuletti.<br />

«Wenn wir die Muskelfunktion erhalten,<br />

können wir ihnen wenigstens ein<br />

Hindernis aus dem Weg räumen.»<br />

Foto: Sava Hlavacek<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 37


Gesundheitsökonomie<br />

«Warum sind diese Eingriffe<br />

Steigende Ansprüche an<br />

die Medizin, steigende<br />

Krankenkassenprämien:<br />

Ist unser Gesundheitswesen<br />

noch zu retten?<br />

Was bringen das neue Abrechnungssystem<br />

namens<br />

DRG und Managed Care?<br />

Was versteht man unter DRG?<br />

Profitieren Patienten davon?<br />

Carlo Conti: Für die Patienten ändert<br />

sich mit DRG nichts. Es ist nur eine<br />

andere Art der Abrechnung. Statt nach<br />

Tagespauschalen wird nach Fallkostenpauschalen<br />

abgerechnet.<br />

Thomas Szucs: Die orthopädische Ersatzteilchirurgie<br />

von Knie und Hüfte ist ein<br />

gutes Beispiel für Fallpauschalen. Das sind<br />

heute Routineeingriffe, weitgehend standardisiert<br />

und deshalb gut kalkulierbar.<br />

Werden durch den ökonomischen<br />

Druck nicht einfach Patienten zu früh<br />

aus der Klinik entlassen?<br />

Conti: Ganz klar nein. Erstens wird<br />

heute schon in vielen Kliniken in verschiedenen<br />

Kantonen nach Fallkostenpauschalen<br />

abgerechnet. Sogenannt blutige<br />

Entlassungen sind kein Problem,<br />

auch nicht in Deutschland, wo man<br />

schon länger nach DRG abrechnet. Eine<br />

grosse Untersuchung hat das belegt. Zudem<br />

ist im DRG-System der Schweiz<br />

eine Sicherung vorgesehen. Wenn es<br />

nach der Entlassung innerhalb von 18<br />

Tagen zu Komplikationen kommt, muss<br />

die erstbehandelnde Klinik ohne Zusatzentschädigung<br />

eine Zweitbehandlung<br />

machen. Schlechte Qualität kann sich<br />

eine Klinik bei der freien Spitalwahl gar<br />

nicht leisten.<br />

Szucs: Ich habe Anfang der 1990er-<br />

Jahre die Einführung von DRG in<br />

Deutschland sowie 1996 in Italien mit-<br />

Thomas D. Szucs,<br />

Mediziner und Ökonom, ist Professor für<br />

Gesundheitsökonomie am PharmaCenter<br />

der Universität Basel und Verwaltungsrats-Präsident<br />

der Helsana Group.<br />

erlebt. Es gab wie heute in der Schweiz<br />

am Anfang massive Ängste, die sich aber<br />

in der Folge nicht bewahrheitet haben.<br />

Ein weiteres Zauberwort heisst Managed<br />

Care, also integrierte Versorgung.<br />

Künftig soll ein Vertrauensarzt die Behandlung<br />

von A bis Z steuern. Verlieren<br />

die Patienten damit nicht ihre<br />

Selbstbestimmung?<br />

Conti: In einem gut organisierten Managed-Care-System<br />

ist der Patient besser<br />

aufgehoben als im jetzigen System. Wenn<br />

das zudem noch zu finanziellen Einsparungen<br />

führt, weil zum Beispiel Doppelspurigkeiten<br />

vermieden werden, ist dagegen<br />

nichts einzuwenden. Zwei Bedingungen<br />

gibt es. Erstens müssen diese<br />

Managed-Care-Organisationen unabhängig<br />

von den Kassen sein – die Kassen<br />

selbst sollten keine Managed-Care-Modelle<br />

anbieten. Und vor allem muss der<br />

Patient innerhalb eines Qualitätswettbewerbs<br />

eine Wahlmöglichkeit haben. Das<br />

Carlo Conti,<br />

Anwalt, ist seit zehn Jahren Gesundheitsdirektor<br />

des Kantons Basel-Stadt, Verwaltungsrats-Präsident<br />

der Swiss DRG AG<br />

und Vizepräsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz.<br />

spricht ganz klar gegen die Idee einer<br />

Einheitskasse.<br />

Szucs: Auch ich bin gegen Managed<br />

Care durch Krankenkassen. Denn das<br />

gibt einen Interessenskonflikt zwischen<br />

Leistungserbringern und Kostenträgern.<br />

Ansonsten sehe ich bei Managed Care<br />

nur Vorteile. Zum Beispiel werden der<br />

Datenfluss sowie Archivierung und Dokumentation<br />

verbessert. Es wird einfacher,<br />

nachzuvollziehen, wo ein Patient<br />

welche medizinischen Leistungen erhalten<br />

hat. Dass die freie Arztwahl wegfällt,<br />

sehe ich nicht als Problem. Für die heutigen<br />

Jungen spielt es keine grosse Rolle<br />

mehr, wenn sie nicht immer auf denselben<br />

Hausarzt treffen. Im Zeitalter der losen<br />

sozialen Netzwerke geht man auch<br />

mit seiner Gesundheit ganz anders um,<br />

sehr viel flexibler.<br />

Die Orthopädie ist ein grosser Markt,<br />

künstliche Gelenke sind für viele<br />

Player eine Goldgrube, der Bedarf an<br />

Foto: S Heiner H. Schmitt<br />

38 | SPEZIAL | Beweglickeit


so teuer?»<br />

Operationen wird steigen. Kann sich<br />

unsere Gesellschaft diesen Anspruch<br />

überhaupt leisten?<br />

Conti: Es stimmt, mit Orthopädie lässt<br />

sich viel Geld verdienen. Aber bedenken<br />

Sie, welche Probleme ältere Leute noch<br />

vor 20, 25 Jahren hatten – Schmerzen,<br />

viele konnten nicht mal mehr gehen.<br />

Demgegenüber hat die heutige Orthopädie<br />

eine echte Verbesserung der Lebensqualität<br />

gebracht. Und je älter die Menschen<br />

werden, desto mehr wächst der<br />

Anteil derjenigen, die solche Leistungen<br />

brauchen – und in Anspruch nehmen.<br />

Letztlich ist es eine gesellschaftliche<br />

Frage, was alles nötig und möglich ist. Ich<br />

als Gesundheitsdirektor masse mir nicht<br />

an, zu entscheiden, ob ein älterer Mensch<br />

Anrecht auf bestimmte medizinische<br />

Leistungen hat oder nicht.<br />

Szucs: Es ist ja nicht nur die Lebensqualität,<br />

die gestiegen ist, sondern auch die<br />

Unabhängigkeit – dass man sich zum<br />

Beispiel allein ankleiden, selbständig<br />

nach draussen gehen kann.<br />

Was mir hingegen Kopfzerbrechen bereitet:<br />

Warum diese Eingriffe immer noch<br />

so teuer sind. Früher dauerten Hüftoperationen<br />

drei Stunden. Heute erhält man<br />

eine neue Hüfte in 40 Minuten – ökonomisch<br />

gesprochen ein klarer Produktivitätsgewinn,<br />

von dem auch der Prämienzahler<br />

profitieren sollte.<br />

Conti: Die Gesundheitskosten steigen<br />

nicht überdramatisch, sie steigen seit<br />

dem Jahr 2000 jährlich um zirka 2 Prozent.<br />

Aber die Prämien steigen überdurchschnittlich,<br />

und zwar, weil wir die<br />

Finanzierungslast dem Prämienzahler<br />

übertragen. Darunter leiden die Leute.<br />

Was wir brauchen, um in Zukunft die Finanzierbarkeit<br />

sicherzustellen, sind mehr<br />

Steuergelder in diesem System. Wir können<br />

zwar alles Mögliche tun, um die Effizienz<br />

zu steigern, aber die steigende<br />

Nachfrage aufgrund der demografischen<br />

Entwicklung werden wir nicht auf null<br />

reduzieren können.<br />

Interview: Irène Dietschi<br />

Managed Care<br />

BETREUEN STATT VERWALTEN<br />

Integrierte Versorgungsnetze sollen<br />

helfen, die Gesundheitskosten einzudämmen.<br />

Das Beispiel Orthopädie<br />

zeigt, dass Managed Care vor allem<br />

den Patienten nützt.<br />

Von Irène Dietschi<br />

Optimierte Behandlungsprozesse,<br />

verbesserte Qualität, weniger Kosten:<br />

Das versprechen sich viele von integrierten<br />

Versorgungsnetzen, sogenannter<br />

Managed Care. Die Argumente für<br />

diese Form der Gesundheitsversorgung<br />

sind einleuchtend: Wenn sich<br />

verschiedene Leistungserbringer –<br />

etwa Hausärzte, Spezialärzte und Therapeuten<br />

– zusammenschliessen,<br />

kann die Behandlung besser koordiniert<br />

werden. Die meisten Gesundheitspolitiker<br />

definieren Managed<br />

Care als Mittel zur Kostensenkung.<br />

Eine Fehleinschätzung, findet Stephan<br />

Fricker, CEO der Merian Iselin<br />

Klinik für Orthopädie und Chirurgie:<br />

«Managed Care betrifft vor allem die<br />

Qualität.» Seine Klinik betreibe<br />

integrierte Versorgung,<br />

indem für die Nachbehandlung<br />

ein grosses und<br />

bewährtes Netzwerk zur Verfügung<br />

stehe; zum Beispiel<br />

Physiotherapie-Institute, mit<br />

denen man bevorzugt zusammenarbeite,<br />

aber auch<br />

die Spitex und andere Institutionen.<br />

Durch die gute Planung<br />

einer Behandlungskette<br />

würden nicht nur die<br />

Heilungschancen verbessert,<br />

sondern auch die Heilungsdauer<br />

optimiert. Diese<br />

Einschätzung teilt Matthias<br />

Spielmann, CEO der Schulthess<br />

Klinik. In der Zürcher<br />

Klinik sind es Case Manager<br />

– in der Regel ehemalige<br />

Krankenschwestern –, welche<br />

die Operationstermine<br />

und die weiteren Behandlungsschritte<br />

planen. «Es ist<br />

Foto: iStock/kenzon<br />

Matthias P.<br />

Spielmann,<br />

CEO der Schulthess<br />

Klinik in<br />

Zürich<br />

Stephan Fricker,<br />

CEO der Merian<br />

Iselin Klinik in Basel<br />

Mehrfachbelastung kann zu Rückenschmerzen<br />

führen. Ein Fall für Managed<br />

Care.<br />

entscheidend, dass zum Beispiel für<br />

die Rehabilitation eines Patienten ein<br />

Reha-Bett genau an dem Tag und dem<br />

Ort zur Verfügung steht, an dem er es<br />

braucht», sagt Spielmann. Es liege an<br />

den Krankenversicherungen, die Steuerung<br />

von ganzen Behandlungsprozessen<br />

zu planen. Statt einfach Kassenverwalter<br />

zu sein, sollten die Versicherer<br />

vermehrt zu «Care Managern»<br />

werden, wie dies von einzelnen bereits<br />

vorgemacht werde.<br />

Dass dies in der Orthopädie<br />

sinnvoll wäre, zeigt eine vom<br />

Nationalfonds unterstützte<br />

Studie zu chronischen Rückenschmerzen:<br />

Sogenannte<br />

funktionsbezogene Therapien<br />

sind erfolgreicher als<br />

normale Physiotherapie.<br />

Konkret: Muss jemand bei<br />

seiner Arbeit häufig Gewichte<br />

heben, ist es neben einem<br />

Ausdauer- und Kraftprogramm<br />

angezeigt, diese Bewegungen<br />

ergonomisch zu<br />

üben. In der Studie waren<br />

von den Teilnehmern der<br />

funktionsbezogenen Therapie<br />

deutlich mehr an den Arbeitsplatz<br />

zurückgekehrt als<br />

von der Gruppe, die lediglich<br />

Physiotherapie bekommen<br />

hatte. Dabei waren die Behandlungskosten<br />

erst noch<br />

tiefer.<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 39


IMPRESSUM<br />

HEALTH UNIT<br />

Gesamtleitung:<br />

Fibo Deutsch<br />

Planung und medizinische<br />

Leitung: Dr. med. Markus Meier<br />

Projektleitung:<br />

Dr. h.c. Beat Glogger<br />

Redaktion: scitec-media gmbh<br />

Art Direction / Layout: Theodor<br />

Bilger<br />

Produktion: Beat Glogger<br />

Bildredaktion: Ralph Knobelspiess,<br />

Nadja Stohler<br />

Titelfoto: iStock/Jacom Stephens<br />

Korrektorat: Anton Rohr<br />

Internet: Rolf Winkler<br />

(www.gesundheitsprechstunde.ch)<br />

Redaktionsadresse:<br />

Gesundheit Sprechstunde<br />

Hagenholzstrasse 83b<br />

8050 Zürich<br />

E-Mail: ges@ringier.ch<br />

Verkauf / Kooperationen:<br />

Dr. med. Markus Meier<br />

Verlagsadresse:<br />

Ringier AG<br />

Verlag Gesundheit Sprechstunde<br />

Hagenholzstrasse 83b<br />

8050 Zürich<br />

Druck:<br />

Ringier Print AG<br />

4800 Zofingen<br />

Auflage: 531 000 Exemplare<br />

Dieses Sonderheft erscheint als<br />

Beilage der Badischen Zeitung am<br />

29.1., der NZZ am Sonntag am 30.1.,<br />

der SonntagsZeitung am 30.1. und<br />

des Birsigtal-Boten am 3.2.2011.<br />

Mit freundlicher Unterstützung von:<br />

Vitamin D macht stark<br />

EXZENTRISCHES TRAINING<br />

UNNÜTZE THERAPIE<br />

Arthrose ist weltweit die häufigste<br />

Gelenkerkrankung: In Westeuropa leidet<br />

die Hälfte aller 65-Jährigen darunter,<br />

bei den 75-Jährigen sind es schon<br />

80 Prozent. Um dem Knorpelabbau<br />

entgegenzuwirken und die Schmerzen<br />

zu lindern, werden Patienten häufig<br />

mit den Wirkstoffen Chondroitin und<br />

Glucosamin behandelt. Das bringt jedoch<br />

nichts, wie Peter Jüni, leitender<br />

Epidemiologe am Institut für Sozialund<br />

Präventivmedizin der Universität<br />

Gesunder Knochen (l.) und<br />

Osteoporose<br />

Mit den Jahren nehmen Knochendichte<br />

und Muskelkraft ab. Das<br />

menschliche Skelett wird anfälliger,<br />

das Sturz- und Verletzungsrisiko<br />

steigt. Die Statistik zeigt: Im<br />

Alter von 65 Jahren stürzen 30<br />

Prozent der zu Hause lebenden Senioren,<br />

bei den 80-Jährigen sind es<br />

gar die Hälfte. Rund fünf Prozent<br />

erleiden Knochenbrüche.<br />

Die Folge: Die Patienten sind in ihren<br />

Bewegungen und somit ihrer Selbständigkeit<br />

eingeschränkt. Rund 40<br />

Prozent müssen nach einem Unfall<br />

sogar in ein Pflegeheim ziehen. Bislang<br />

versuchte man, Brüchen mit Kalzium<br />

entgegenzuwirken. Nun konnten<br />

Forscher vom Zentrum Alter und<br />

Mobilität am Universitätsspital Zürich<br />

und des Stadtspitals Triemli<br />

nachweisen, dass die regelmässige<br />

Einnahme von hoch dosiertem Vitamin<br />

D bei älteren Hüftbruchpatienten<br />

die Zahl der Wiedereintritte ins Spital<br />

wegen sturzbedingter Verletzungen<br />

um 60 Prozent senken kann.<br />

Wer im Alter nicht zum alten Eisen<br />

gehören will, sollte etwas dafür<br />

tun. Das Senioren-Training muss<br />

einerseits effektiv sein, darf andererseits<br />

aber den Kreislauf nicht zu<br />

stark belasten. Ideal dafür ist das<br />

sogenannte exzentrische Ergometer-Training:<br />

Anders als bei herkömmlichen<br />

Übungen müssen die<br />

Patienten die Pedale des speziellen<br />

Ergometers nicht selber antreiben,<br />

sondern bremsen. So, dass die<br />

Bremsleistung mit der Belastungsvorgabe<br />

übereinstimmt. Eine Methode,<br />

die ausserhalb des Hochleistungssports<br />

noch nahezu unbekannt<br />

ist. Forscher der Universität<br />

Bern haben sie während dreier<br />

Monaten bei Patienten ausprobiert.<br />

Gleichzeitig mussten die Testpersonen<br />

auch ein kognitives Training<br />

absolvieren. Das Ergebnis: Exzentrisch<br />

trainierende Senioren machten<br />

hinsichtlich Kraft, Koordination<br />

und Wahrnehmung sowie Gedächtnisleistung<br />

deutlich grössere Fortschritte<br />

als solche, die ein herkömmliches<br />

Training absolvierten.<br />

Bern, herausgefunden hat. Sein Team<br />

analysierte 10 Studien mit mehr als<br />

3800 Patienten, bei denen die Wirksamkeit<br />

der Medikamente bei Knieoder<br />

Hüftgelenkarthrosen untersucht<br />

wurde. Das Resultat ist erschreckend:<br />

Die Experten bescheinigen den vermeintlichen<br />

Heilsbringern die Wirksamkeit<br />

von Placebos und raten den<br />

Krankenkassen, die Kosten für diese<br />

Therapie künftig nicht mehr zu<br />

übernehmen.<br />

40 | SPEZIAL | Beweglichkeit


METALLISCHES<br />

GLAS<br />

Patienten mit komplizierten Knochenbrüchen<br />

müssen zweimal unters<br />

Messer: In einer ersten Operation fixiert<br />

der Chirurg den Bruch mit Platten<br />

und Schrauben. Diese müssen –<br />

wenn der Knochen verheilt ist – wieder<br />

entfernt werden. Der zweite<br />

Eingriff könnte bald überflüssig werden.<br />

Denn Materialforscher der ETH<br />

Zürich haben eine Legierung aus Magnesium,<br />

Zink und Kalzium entwickelt,<br />

die so stabil wie Knochen ist<br />

und eine neue Generation von biologisch<br />

abbaubaren Implantaten einläuten<br />

könnte. Das neue Material<br />

wird «metallisches Glas» genannt.<br />

Anders als bei früheren Ansätzen zu<br />

biologisch abbaubaren Implantaten<br />

bildet sich beim Abbau des neuartigen<br />

Materials fast kein Wasserstoff<br />

mehr. So können Gasblasen um die<br />

Implantate vermieden werden, die<br />

bislang das Knochenwachstum und<br />

somit die Heilung behindert haben.<br />

Bis zum Einsatz der Legierung sind<br />

noch weitere klinische Tests notwendig.<br />

Ausserdem müssen Wege gefunden<br />

werden, das neue Material effizient<br />

und möglichst kostengünstig<br />

herzustellen.<br />

Training<br />

ist besser<br />

als Fango<br />

Mit Rückenschmerzen ist nicht zu<br />

spassen. Denn werden sie chronisch,<br />

gehen die Geplagten nicht nur wesentlich<br />

häufiger zum Arzt, was hohe<br />

Kosten verursacht, sondern viele werden<br />

auch arbeitsunfähig oder sogar<br />

invalid. Nun konnten Forscher um<br />

Stefan Bachmann vom Rehabilitationszentrum<br />

der Klinik Valens SG<br />

nachweisen, dass sich die Zahl der<br />

Ausfalltage – und damit auch die Kosten<br />

– mit Hilfe des richtigen Behandlungsansatzes<br />

deutlich reduzieren lassen.<br />

Während dreier Jahre verglichen<br />

sie die Erfolge und Kosten unterschiedlicher<br />

Therapieformen. Das Ergebnis:<br />

Statt passivphysikalische<br />

Massnahmen zu geniessen, wie beispielsweise<br />

Massagen oder Fangopackungen,<br />

bei denen die Linderung der<br />

Symptome im Vordergrund steht,<br />

sollten die Patienten unter Anleitung<br />

aktiv und funktionsorientiert trainieren<br />

– auch wenn dabei die Schmerzen<br />

zunächst zunehmen. Durch Kräftigung,<br />

Dehnung und Stabilisierung<br />

der Muskulatur sowie die Steigerung<br />

der Ausdauer werden die physischen<br />

Fähigkeiten und somit auch die Belastbarkeit<br />

gestärkt.<br />

Knochenwolle statt<br />

Granulat oder Zement<br />

Foto: iStock/Phil Date<br />

Schon lange verlassen sich Ärzte nach<br />

einer Operation nicht mehr allein auf<br />

die Selbstheilungskräfte des menschlichen<br />

Körpers. Besonders wenn Knochen<br />

schnell nachwachsen sollen,<br />

müssen Mediziner nachhelfen. Bislang<br />

stehen ihnen dafür zwei Materialien<br />

zur Verfügung. Doch die weisen<br />

Mängel auf: So kann das vom Rind gewonnene<br />

Knochen-Granulat aus der<br />

Wunde herausrieseln. Zement bleibt<br />

zwar dort, wo er angewendet wird, ist<br />

jedoch nur innerhalb der ersten Sekunden<br />

modulierbar. Abhilfe soll<br />

künftig die sogenannte Knochenwolle<br />

aus den Labors der ETH Zürich schaffen.<br />

Die faserige Nano-Substanz ist<br />

flexibel und gut portionierbar. Sie besteht<br />

aus Calciumphosphat und Polymilchsäure.<br />

Beide Materialien sind<br />

getrennt voneinander schon seit langem<br />

im Einsatz und gut verträglich.<br />

Tests bei Hasen und Schafen haben<br />

die Wirkung bestätigt, klinische Studien<br />

sollen demnächst folgen.<br />

Foto: iStock/horex<br />

Beweglichkeit | SPEZIAL | 41


Foto: René Ruis<br />

Sohn Stefan Preiss (49, links) ist<br />

orthopädischer Chirurg, Chefarzt<br />

Untere Extremitäten an der<br />

Schulthess Klinik. Pro Jahr operiert<br />

er über 500 Kniegelenke.<br />

Im Fussball brachte er es bis ins<br />

U21-Kader der Grasshoppers.<br />

Vater Thomas Preiss (86, rechts)<br />

arbeitete 40 Jahre lang als Chirurg<br />

in verschiedenen Privatkliniken<br />

in Zürich und in der eigenen<br />

Praxis. In den 1950er-Jahren<br />

war er Torhüter beim Grasshopperclub<br />

und spielte für die<br />

Schweizer Fussball Nationalmannschaft.<br />

Schon Grossvater Gustav Preiss<br />

war Chirurg und operierte in<br />

den 30er-Jahren als einer der<br />

ersten in der Schweiz Menisken.<br />

Portrait<br />

Chirurgen aus Familientradition<br />

Thomas Preiss, wie geht es Ihnen<br />

heute?<br />

Thomas Preiss (lacht): Gut, natürlich hat<br />

man gewisse Altersbeschwerden. Ich bin<br />

ja immerhin 86.<br />

Ich meine, wie geht es Ihren Gelenken?<br />

Th. P.: Ich habe ein künstliches Kniegelenk<br />

und auf der rechten Seite eine Versteifung<br />

im unteren und oberen<br />

Sprunggelenk.<br />

Wegen des intensiven Sports?<br />

Th. P.: Ich glaube schon. Ich habe mich ja<br />

auch nie geschont.<br />

War Ihr Vater als Nati-Goalie und erfolgreicher<br />

Chirurg ein Vorbild?<br />

Stefan Preiss: Sportlich nicht. Ich war zu<br />

früh und zu oft verletzt. Aber beruflich<br />

war er sicher mein Vorbild.<br />

Gibt es Dinge, die er gemacht hat und<br />

Sie heute belächeln?<br />

St. P.: Belächeln sicher nicht. Es ist ja 40<br />

Jahre her, und vieles hat sich verändert.<br />

Ich erinnere mich, dass er für eine Kreuzbandoperation<br />

einen Schnitt gemacht<br />

hat, wie wir ihn heute für eine ganze<br />

Knieprothese machen. Damals hat man<br />

sogar die Kniescheibe zur Seite geschoben<br />

und gekippt, was heute unvorstellbar ist.<br />

Dieselbe Operation wird heute arthroskopisch,<br />

das heisst mit drei kleinen<br />

Schnitten, durchgeführt.<br />

Thomas Preiss, Sie haben die Zeit erlebt,<br />

als man von der offenen Operation<br />

zur Schlüsselloch-Technik überging.<br />

Wie war die Umstellung?<br />

Th. P.: Schwierig, weil ich zu dieser Zeit<br />

nicht mehr in einer Ausbildungsklinik<br />

gearbeitet habe. In der Praxis hat man weniger<br />

Gelegenheit, neue Operationstechniken<br />

zu erlernen.<br />

St. P.: Ich habe von Anfang gelernt, komplexeste<br />

Bandrekonstruktionen arthroskopisch<br />

durchzuführen, bei denen du<br />

noch hinten und vorn das ganze Knie aufgeschnitten<br />

hast.<br />

Bewundern Sie Dinge, die Ihr Sohn<br />

macht?<br />

Th. P.: Ganz klar. Die machen heute<br />

Dinge, die tausendmal besser sind als das,<br />

was wir damals gemacht haben.<br />

Zum Beispiel?<br />

Th. P.: Mein Vater Gustav entfernte bei<br />

einer Meniskusoperation immer den ganzen<br />

Meniskus, die Patienten blieben drei<br />

Wochen mit eingegipstem Bein im Spital.<br />

Ich habe zwar auch noch den ganzen<br />

rausgenommen, aber das Kniegelenk<br />

wurde bereits am Tag nach der Operation<br />

bewegt. Der Spitalaufenthalt dauerte<br />

noch neun Tage. Stefans Patienten verlassen<br />

heute die Klinik am selben Tag<br />

wieder.<br />

Geht das schneller und gleichzeitig<br />

besser? Ist das nicht Pfusch?<br />

St. P.: Überhaupt nicht. Heute dauert eine<br />

arthroskopische Meniskusoperation<br />

knapp 20 Minuten. Das Operationsvolumen<br />

ist viel kleiner, die Narkosen sind optimiert.<br />

Dadurch ist das Risiko deutlich geringer.<br />

Viel schneller kann man einen Meniskus<br />

nicht entfernen. Ausser man würde<br />

ihn vielleicht herausschiessen (lacht).<br />

Wie viele Knie waren es heute?<br />

St. P.: Ich weiss gar nicht… Fünf oder<br />

sechs Operationen waren es.<br />

War es früher ruhiger?<br />

Th. P.: Ja sicher. Nur schon bis die nächste<br />

Narkose eingeleitet war, da konnte man<br />

gut Mittagessen gehen und auf den Patienten<br />

warten.<br />

Werden Ihre Kinder auch Orthopäden<br />

oder Chirurgen?<br />

St. P.: Der Sohn sicher nicht. Der findet<br />

Studieren bis jetzt nicht cool. Beim jüngsten<br />

Mädchen wissen wir es noch nicht.<br />

Wir werden sehen.<br />

Interview: Beat Glogger<br />

42 | SPEZIAL | Beweglichkeit


SPEZIAL<br />

Beweglichkeit<br />

erhalten –<br />

wiederherstellen<br />

ORTHOPÄDIE<br />

Patienten erhalten immer mehr<br />

Gelenkprothesen – unter anderem<br />

weil wir länger leben.<br />

SCHMERZDIAGNOSE<br />

Um die Ursachen von Schmerzen<br />

zu finden, müssen viele Spezialisten<br />

zusammenarbeiten.<br />

WINTERSPORT<br />

Neue Sportarten und neue<br />

Ausrüstungen verändern das<br />

Verletzungsmuster.

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