Mitteilungen 2-2011_final.fm - SFB 573 - Ludwig-Maximilians ...
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MITTEILUNGEN 2/<strong>2011</strong><br />
mentalablehnung jeglicher Schriftkultur, in welcher<br />
ausschließlich ein Unterdrückungsinstrument der Herrschenden<br />
gesehen wird, als Bestätigung ex negativo jenes<br />
Lobpreises der Schrift gedeutet werden, mit dem<br />
Edward Halls Chronik, eine Hauptquelle von Shakespeares<br />
Geschichtsdramen, die ordnungsstiftende Kraft<br />
der Historiographie gegen das ›bestialische‹ Vergessen<br />
ins Feld führt. Doch das Drama widersetzt sich einer<br />
eindeutigen binären Wertopposition zwischen Mündlichkeit<br />
und Schriftlichkeit – auch der platonischen,<br />
welche die Oralität favorisiert –, indem es die Komplementarität<br />
der beiden Modi, vor allem aber jene<br />
mnemonic anxieties zum Ausdruck bringt, die mit der<br />
Unterdrückung oraler Erinnerungskulturen im Zuge<br />
der print revolution einhergehen. Die als perfektes Speichermedium<br />
gepriesene gedruckte Schrift produziert<br />
ihre eigenen Verdrängungsprozesse, kann nicht allein<br />
dem Geschichtsgedächtnis, sondern auch dem Geschichtsvergessen<br />
dienstbar gemacht werden.<br />
»There is nothing either good or bad, but thinking<br />
makes it so.« (Hamlet 2.2) Um 1600, als Shakespeare<br />
dem nachdenklichen Prinzen von Dänemark diesen<br />
Kernsatz pyrrhonischen Denkens in den Mund legt, ist<br />
die Philosophie der Skeptiker zum Gemeingut der europäischen<br />
Renaissance geworden. Christian Kaiser geht<br />
in seinem Beitrag auf die Anfänge der Skeptiker-Rezeption<br />
im 15. und frühen 16. Jahrhundert zurück und<br />
plädiert für eine Korrektur der bislang vorherrschenden<br />
Sichtweise, die nahezu ausschließlich auf Sextus Empiricus<br />
gerichtet war, Pyrrhon von Elis hingegen, den<br />
Begründer der skeptischen Philosophie, weitgehend<br />
vernachlässigt hat. Wie Kaiser zeigt, hat aber gerade<br />
Pyrrhon das Bild, das die Renaissance sich vom Skeptiker<br />
machte, entscheidend geprägt – und dies vor allem<br />
durch die biographischen Anekdoten, die über Diogenes<br />
Laertios (bzw. seinen lateinischen Übersetzer Traversari)<br />
und Lukian in Umlauf kamen. Diese liefern<br />
Exempel zum einen für die lächerliche Lebensuntüchtigkeit<br />
eines Philosophen, der jedwede Erkenntnissicherheit<br />
leugnet, zum andern aber auch für eine aus<br />
ebendieser Haltung gewonnene Seelenruhe, die dem auf<br />
stürmischer Seefahrt unerschütterlich bleibenden Skeptiker<br />
auf einem Gemälde aus dem Kloster Ottobeuren<br />
eine erstaunliche Vorbildrolle zuwachsen lässt. Die<br />
Ähnlichkeit mit Jesus’ Ruhe im Sturm auf dem See<br />
Genezareth ist unübersehbar. Für christliches Verständnis,<br />
so argumentiert Kaiser, hat Pyrrhon gegenüber<br />
den dogmatischen Philosophen der Antike immerhin<br />
den Vorteil, sich aus dem Schulenstreit um Götter<br />
und wahre Glückseligkeit herausgehalten zu haben. So<br />
wird er zum »Einäugigen unter den Blinden«.<br />
Im vierten Beitrag des Hefts stellt Eva Stoll die<br />
Neuedition einer spanischen Soldatenchronik vor, die<br />
im Rahmen des Teilprojektes B 5 »Neue und Alte Welt<br />
– Wissenstraditionen in der Christianisierung Amerikas«<br />
durchgeführt wurde und in Kürze erscheinen<br />
wird. Zwar, so Stoll, wird man dem Autor Alonso<br />
Borregán, einem eher unbedeutenden conquistador der<br />
zweiten Welle, kaum den Ehrentitel des »ersten Chronisten<br />
Perus« zubilligen wollen – dafür weist sein Text<br />
zu viele Mängel auf –, doch von wissenschaftlichem Interesse<br />
ist sein Werk allemal, nicht nur als historische<br />
Quelle für die freilich oftmals unklar berichteten<br />
Ereignisse, sondern auch und gerade als Sprachdokument,<br />
als der Versuch eines für seine schriftstellerische<br />
Aufgabe nur bedingt kompetenten Autors, den literarischen<br />
Ansprüchen des ambitionierten Formats<br />
einer Crónica zu genügen. Dieser Versuch schlägt in<br />
durchaus interessanter Weise immer wieder fehl, etwa<br />
dann, wenn Borregán die Diskurskonventionen von<br />
Chronik und Bittschrift vermengt, wenn ihm die Kohärenz<br />
der Erzählung entgleitet oder auch – besonders aufschlussreich<br />
–, wenn seine Schrift Anzeichen konzeptioneller<br />
Mündlichkeit erkennen lässt. Die Neuedition<br />
bietet weiteren Forschungen eine verlässliche Grundlage.<br />
Beschlossen wird das Heft von diesmal drei<br />
Berichten über Tagungen und Workshops, die im vergangenen<br />
Jahr von Mitgliedern des <strong>SFB</strong>s veranstaltet<br />
wurden.<br />
Zum letzten Mal von dieser Stelle wünscht Ihnen eine<br />
anregende Lektüre!<br />
Prof. Dr. Andreas Höfele<br />
Department für Anglistik und Amerikanistik<br />
<strong>Ludwig</strong>-<strong>Maximilians</strong>-Universität München