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Der Wahnwärter

Ein Interview mit Professor Norbert Nedopil, Deutschlands bekanntestem forensischen Psychiater

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SCHWERPUNKT - Interview<br />

<strong>Der</strong> <strong>Wahnwärter</strong><br />

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Das Gespräch führten und<br />

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Mord!»<br />

Lene lag in ihrem Blut, das Gesicht unkenntlich, mit<br />

zerschlagener Hirnschale.<br />

»Er hat seine Frau ermordet, er hat seine Frau ermordet!»<br />

<br />

stieß an die Wiege. »Heiliger Himmel!« Und er fuhr<br />

zurück, bleich, mit entsetzensstarrem Blick. Da lag<br />

das Kind mit durchschnittenem Halse.<br />

<strong>Der</strong> Wärter war verschwunden; die Nachforschungen,<br />

welche man noch in derselben Nacht anstellte,<br />

blieben erfolglos. Den Morgen darauf fand ihn der<br />

diensttuende Wärter zwischen den Bahngeleisen<br />

und an der Stelle sitzend, wo Tobiaschen überfahren<br />

worden war.<br />

Er hielt das braune Pudelmützchen in der Hand und<br />

liebkoste es ununterbrochen wie etwas, das Leben<br />

hat.<br />

<strong>Der</strong> Wärter richtete einige Fragen an ihn, bekam jedoch<br />

keine Antwort und bemerkte bald, dass er es<br />

mit einem Irrsinnigen zu tun habe.<br />

<strong>Der</strong> Wärter am Block, davon in Kenntnis gesetzt, erbat<br />

telegraphisch Hilfe.<br />

Nun versuchten mehrere Männer ihn durch gutes<br />

Zureden von den Geleisen fortzulocken; jedoch vergebens.<br />

<strong>Der</strong> Schnellzug, der um diese Zeit passierte, musste<br />

anhalten, und erst der Übermacht seines Personals<br />

gelang es, den Kranken, der alsbald furchtbar zu toben<br />

begann, mit Gewalt von der Strecke zu entfernen.<br />

Man musste ihm Hände und Füße binden, und der<br />

inzwischen requirierte Gendarm überwachte seinen<br />

Transport nach dem Berliner Untersuchungsgefängnisse,<br />

von wo aus er jedoch schon am ersten Tage<br />

nach der Irrenabteilung der Charité überführt wurde.<br />

Noch bei der Einlieferung hielt er das braune Mützchen<br />

in Händen und bewachte es mit eifersüchtiger<br />

Sorgfalt und Zärtlichkeit.<br />

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<br />

Eine eigene Diagnose kann ich von jemandem,<br />

den ich nicht selber gesehen und untersucht<br />

habe, nicht stellen. Wie der Text auf »Irrsinn«<br />

schließen würde ich aber mit Sicherheit nicht.<br />

Was das Buch gerade lesenswert macht, dass<br />

es einen für den Leser nachvollziehbaren<br />

Zusammenhang zwischen einem erlittenen<br />

Trauma (dem kurz vorher geschilderten,<br />

möglicherweise von der Stiefmutter Lene<br />

verschuldeten Tod von Thiels erstem Sohn<br />

Tobias – Anm. d. Red.) und der daraus resultierenden<br />

Tat herzustellen vermag, entspricht<br />

aus meiner Sicht nicht der Wirklichkeit. Traumata,<br />

auf die Gewalttäter Ihr Handeln zurückführen,<br />

können in Wahrheit Bagatellen sein,<br />

oder sie sind ganz erfunden. Tatsächlich gibt<br />

es bei wahnhaften Kindstötungen bestimmte<br />

Muster. Frauen werden oft zu Tätern, weil der<br />

Partner weggeht und sie mit dem Kind alleingelassen<br />

werden. Aus der Überforderung entsteht<br />

im Vorfeld der Tat eine Depression. Auf<br />

Männer hat der Verlust des Partners dagegen<br />

einen Kränkungseffekt. Hier wird der Prozess<br />

in Gang gesetzt, weil sie selber alleingelassen<br />

werden. Aber auf eine solche Symptomatik,<br />

wie sie der ICD-10 oder andere Kriterienkataloge<br />

beschreiben, ergeben sich aus der Geschichte<br />

des Bahnwärters keine Hinweise. Was<br />

dann am Schluss genannt wird, Toben und bei<br />

der Festnahme ein Mützchen liebkosen – das<br />

sind keine Kriterien, auf die man eine Diagnose<br />

stützen kann.<br />

In diesem Fall ist der Wahnsinn des Protagonisten<br />

also keine realistische Folge der<br />

Begebenheiten, die ihm vorausgehen. Wenn<br />

literarische Figuren in geistiger Umnachtung<br />

handeln, stehen sie dabei aber fast immer in<br />

einem Zusammenhang, der ihren Zustand<br />

verstehbar werden lässt. Ist die Praxis, eine<br />

Psychose erklären zu wollen, aus Ihrer Sicht<br />

sinnvoll? Oder entzieht sich das Phänomen<br />

»Wahnsinn« unserem Verständnis?<br />

Eine Psychose ist tatsächlich im Wesentlichen<br />

unverständlich. Dass man sie nicht<br />

verstehen oder erklären kann, macht sie aus,<br />

gerade darin besteht seit Jaspers ihre Definition.<br />

In dieser Unergründbarkeit ist sie einer<br />

Krebserkrankung nicht unähnlich. Warum die<br />

bei einem Menschen plötzlich ausbricht, entzieht<br />

sich auch unserem Verständnis. Wenn<br />

Literatur also genau das zu leisten versucht,<br />

eine Psychose aus der Vergangenheit und den<br />

Erlebnissen einer Figur abzuleiten, ist das aus<br />

fachlicher Sicht zuerst einmal problematisch.<br />

Allerdings gibt es in der klassischen deutschen<br />

Psychiatrie die Unterscheidung zwischen<br />

dem Wesen der Psychose und dem Pathoplastischen.<br />

Das Wesen der Psychose ist durch<br />

formale Aspekte definiert, etwa dass man falsche<br />

Inbeziehungssetzungen vornimmt und<br />

unbegründete Erregungszustände hat. Das<br />

Pathoplastische dagegen ist sozusagen der<br />

Inhalt, und darin kommt durchaus Erlebtes<br />

vor. Wenn also jemand zum Beispiel in einen<br />

rasenden Zustand gerät, weil er etwas wiedererkennt,<br />

was ihn früher einmal dramatisch<br />

geängstigt hat, dann ist der Zusammenhang,<br />

der die Form füllt, nachvollziehbar, aber nicht<br />

die Form selber.<br />

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philtrat 17


SCHWERPUNKT - Interview<br />

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<br />

Es ist nun die Frage, ob das, was in den Medien<br />

geschieht, so lebensnah ist. Egal, zu welcher<br />

Tageszeit man den Fernseher anschaltet, auf<br />

irgendeinem Sender passiert gerade ein Mord.<br />

Tatsächlich fallen in Deutschland pro Jahr nur<br />

etwa 600 bis 700 Morde an, und noch einmal<br />

so viele Mordversuche. Es gibt also eine wahnsinnige<br />

Diskrepanz zwischen der Realität und<br />

ihrer Abbildung durch Medien und Kultur.<br />

Auch die Berufsgruppen, die in diesem Bereich<br />

tätig sind, erscheinen in einem anderen<br />

Licht. Ob das für uns forensische Psychiater<br />

aber genauso gilt wie für die Mordkommissare,<br />

weiß ich nicht. Sicher gibt es im Fernsehen<br />

und in Kriminalromanen hie und da überzeichnete<br />

Profiler-Gestalten oder Psychiater,<br />

die helfen, einen Unschuldigen zu entlasten,<br />

der sich verdächtig gemacht hat. Aber ansonsten<br />

spielen wir in solchen Formaten doch eine<br />

relativ kleine Rolle. Dass es wiederum ein kulturelles<br />

Interesse gibt an dem Bereich, in dem<br />

wir zusammen mit Polizisten, Richtern und<br />

vielen anderen tätig sind, erstaunt mich nicht.<br />

<strong>Der</strong> Tod, der gewaltsame Tod, Morde aus Liebe<br />

und Eifersucht, die Tötung des Intimpartners<br />

– das sind eben die dramatischsten Dinge,<br />

die es im Leben gibt.<br />

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<br />

Wir reden schon ein bisschen so. Im Gegensatz<br />

zu allen anderen Spezialisten müssen wir<br />

unser Fachwissen in Laiensprache übersetzen.<br />

Unsere Aufgabe ist es, einem Richter, der keine<br />

psychiatrischen Kenntnisse hat, verständlich<br />

zu machen, was wir wissen und was wir<br />

erfahren haben. Und wir müssen das mit Worten<br />

tun, die auch bei längeren Ausführungen<br />

nicht einschlafen lassen.<br />

Viele von uns bringen aber auch von Haus<br />

aus eine gewisse Freude am Formulieren mit<br />

und eine ganze Reihe meiner Kollegen ist ja<br />

auch mit literarischen Werken hervorgetreten,<br />

sogenannten »true crime stories«. Das finde<br />

ich persönlich nicht so spannend, aber auch<br />

ich bemühe mich gern um eingängige Formulierungen.<br />

Solche Ausdrücke werden dann<br />

oft auch von der Presse aufgegriffen, etwa<br />

kürzlich im Falle einer Probandin, von der ich<br />

gesagt habe, sie hätte bei ihrer Beschuldigtenvernehmung<br />

gesprochen, als würde sie ihre<br />

eigene Rolle spielen. Fachintern würde man<br />

hier von einer histrionischen Persönlichkeitsstörung<br />

sprechen. Aber ich stehe zu meiner<br />

Formulierung.<br />

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<br />

Dafür gibt es wahrscheinlich mehrere Ursachen.<br />

Dass die Intensität dieser Gewaltszenen<br />

aber immer mehr gesteigert wird, das hat seine<br />

Gründe schon in der Funktionsweise des<br />

menschlichen Reizsystems. Das wird nicht<br />

durch einen konstanten Reiz angeregt, sondern<br />

durch die Veränderung von Reizen. Es<br />

manifestiert sich ja schon im Kindesalter: Die<br />

Hand, die auf der Schulter liegt, spüren wir<br />

nach einiger Zeit nicht mehr. Sie muss sich<br />

bewegen, sonst vergessen wir, dass sie da ist.<br />

In vielen Bereichen äußert sich dieser Zusammenhang<br />

in einem Bedürfnis nach Steigerung<br />

der Reizintensität. Wenn ein Level erreicht ist,<br />

muss irgendwann das nächsthöhere angestrebt<br />

werden, um aufs Neue den gewünschten<br />

Effekt zu erzielen. Das ist beim Konsum<br />

von Gewaltszenen nicht anders als bei der<br />

Gefahrenschwelle im Extremsport. Ich glaube<br />

aber nicht, dass unsere Zeit, was den Umgang<br />

mit menschlichen Schmerzen und Qualen<br />

angeht, aus der Reihe fällt. Bis in die frühe<br />

Neuzeit wurde öffentlich gefoltert, verbrannt<br />

und hingerichtet. Diese Vorgänge waren mit<br />

unvorstellbarer Brutalität verbunden.<br />

philtrat 17


SCHWERPUNKT - Interview<br />

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Also ich habe noch nie jemanden beurteilt, der<br />

so gefoltert hat wie in diesen Filmen, von den<br />

denen Sie sprechen.<br />

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Ich hatte schon Leute vor mir, die ihre Opfer<br />

gequält haben, Volker E. zum Beispiel. (<strong>Der</strong><br />

Lastwagenfahrer Volker E. folterte und ermordete<br />

zwischen Juni 2001 und November 2006<br />

in Spanien und Frankreich fünf Prostituierte,<br />

Anm. d. Red.) Aber das war dann nach zwanzig<br />

Minuten vorbei, die waren dann tot.<br />

<br />

Ja, aber das sind nicht die Fälle, die sich durch<br />

ein besonders hohes Maß an physischer Grausamkeit<br />

auszeichnen. Wenn Kindersoldaten<br />

aus Afrika hier sitzen, die an posttraumatischen<br />

Belastungsstörungen leiden, das etwa<br />

kann schon niederschmetternd sein. Schockierend<br />

ist auch, wie Kinder manchmal zum<br />

Spielball im Rosenkrieg der Eltern werden.<br />

Dabei meine ich nicht den Streit ums Sorgerecht,<br />

sondern beispielsweise den Versuch,<br />

dem Kind einzureden, es werde vom anderen<br />

Elternteil missbraucht. Mit solch abstoßenden<br />

Induktionen wird da gearbeitet, um auf die<br />

Kinder Einfluss zu nehmen, auch wenn sie<br />

sagen, das war gar nicht so. So etwas finde<br />

ich erschütternd. In anderen Fällen wird man<br />

aber auch einfach nur wütend. Wenn jemand<br />

seine Frau verliert, weil ihm ein Betrunkener<br />

ins Auto fährt und der Vertreter der Versicherung<br />

des Unfallverursachers spricht ihm ein<br />

paar Tausend Euro für die Beerdigung zu und<br />

sagt, er solle doch froh sein, wenn sie überlebt<br />

hätte und jetzt behindert wäre, wäre das ja viel<br />

teurer … Es sind ganz normale Menschen, die<br />

diese Grausamkeit ausüben können.<br />

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<br />

Nein, Skrupellosigkeit ist keine Störung. Es<br />

gibt aber Fälle aus dem Sektor, den Sie angesprochen<br />

haben, in denen das Verhalten der<br />

Personen von krankhaften Zügen bestimmt<br />

ist, bei Anlagebetrügern zum Beispiel. Das<br />

sind Menschen, die andere geschickt manipulieren,<br />

sodass die ihnen dann ihr ganzes<br />

Erspartes überlassen und am Ende all ihr Hab<br />

und Gut verlieren. Es kann aber vorkommen,<br />

dass die vermeintlichen Betrüger wirklich davon<br />

überzeugt waren, dass sie das könnten,<br />

dass sie das, was sie ihren Opfern versprechen,<br />

auch tatsächlich einlösen würden. Das sind<br />

dann Fälle von krankhaftem Größenwahn.<br />

Damit hatte ich schon zu tun.<br />

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Ich hoffe nicht. Nein, wenn überhaupt bin<br />

toleranter geworden. Mich ärgert die Voreingenommenheit,<br />

der man bei Gericht, in der<br />

Presse, in der Literatur begegnet. Da wird oft<br />

viel zu weit vorausgedacht, viel zu viel interpretiert.<br />

Die Leute haben Schemata im Kopf<br />

und denen ordnen sie die Dinge zu, aber nein,<br />

häufig ist es ganz anders. Das Leben schließt<br />

so viele Optionen ein!<br />

<br />

<br />

Ja. Die Gefahr, die von solchen Menschen –<br />

auch von Serientätern – ausgeht, wird in der<br />

Regel eher über- als unterschätzt. Ich habe in<br />

meinem Berufsleben vielleicht drei oder vier<br />

Mal echte Angst gehabt, ob sie begründet oder<br />

unbegründet war, weiß ich nicht immer. Was<br />

ich tatsächlich häufig empfinde, das ist die Anspannung,<br />

ob ich dem gerecht werde, was von<br />

mir in meiner Tätigkeit erwartet wird. Aber<br />

ansonsten sehe ich die Dinge mit Gelassenheit.<br />

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Norbert Nedopil<br />

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