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Der Wahnwärter

Ein Interview mit Professor Norbert Nedopil, Deutschlands bekanntestem forensischen Psychiater

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SCHWERPUNKT - Interview<br />

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Es ist nun die Frage, ob das, was in den Medien<br />

geschieht, so lebensnah ist. Egal, zu welcher<br />

Tageszeit man den Fernseher anschaltet, auf<br />

irgendeinem Sender passiert gerade ein Mord.<br />

Tatsächlich fallen in Deutschland pro Jahr nur<br />

etwa 600 bis 700 Morde an, und noch einmal<br />

so viele Mordversuche. Es gibt also eine wahnsinnige<br />

Diskrepanz zwischen der Realität und<br />

ihrer Abbildung durch Medien und Kultur.<br />

Auch die Berufsgruppen, die in diesem Bereich<br />

tätig sind, erscheinen in einem anderen<br />

Licht. Ob das für uns forensische Psychiater<br />

aber genauso gilt wie für die Mordkommissare,<br />

weiß ich nicht. Sicher gibt es im Fernsehen<br />

und in Kriminalromanen hie und da überzeichnete<br />

Profiler-Gestalten oder Psychiater,<br />

die helfen, einen Unschuldigen zu entlasten,<br />

der sich verdächtig gemacht hat. Aber ansonsten<br />

spielen wir in solchen Formaten doch eine<br />

relativ kleine Rolle. Dass es wiederum ein kulturelles<br />

Interesse gibt an dem Bereich, in dem<br />

wir zusammen mit Polizisten, Richtern und<br />

vielen anderen tätig sind, erstaunt mich nicht.<br />

<strong>Der</strong> Tod, der gewaltsame Tod, Morde aus Liebe<br />

und Eifersucht, die Tötung des Intimpartners<br />

– das sind eben die dramatischsten Dinge,<br />

die es im Leben gibt.<br />

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Wir reden schon ein bisschen so. Im Gegensatz<br />

zu allen anderen Spezialisten müssen wir<br />

unser Fachwissen in Laiensprache übersetzen.<br />

Unsere Aufgabe ist es, einem Richter, der keine<br />

psychiatrischen Kenntnisse hat, verständlich<br />

zu machen, was wir wissen und was wir<br />

erfahren haben. Und wir müssen das mit Worten<br />

tun, die auch bei längeren Ausführungen<br />

nicht einschlafen lassen.<br />

Viele von uns bringen aber auch von Haus<br />

aus eine gewisse Freude am Formulieren mit<br />

und eine ganze Reihe meiner Kollegen ist ja<br />

auch mit literarischen Werken hervorgetreten,<br />

sogenannten »true crime stories«. Das finde<br />

ich persönlich nicht so spannend, aber auch<br />

ich bemühe mich gern um eingängige Formulierungen.<br />

Solche Ausdrücke werden dann<br />

oft auch von der Presse aufgegriffen, etwa<br />

kürzlich im Falle einer Probandin, von der ich<br />

gesagt habe, sie hätte bei ihrer Beschuldigtenvernehmung<br />

gesprochen, als würde sie ihre<br />

eigene Rolle spielen. Fachintern würde man<br />

hier von einer histrionischen Persönlichkeitsstörung<br />

sprechen. Aber ich stehe zu meiner<br />

Formulierung.<br />

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Dafür gibt es wahrscheinlich mehrere Ursachen.<br />

Dass die Intensität dieser Gewaltszenen<br />

aber immer mehr gesteigert wird, das hat seine<br />

Gründe schon in der Funktionsweise des<br />

menschlichen Reizsystems. Das wird nicht<br />

durch einen konstanten Reiz angeregt, sondern<br />

durch die Veränderung von Reizen. Es<br />

manifestiert sich ja schon im Kindesalter: Die<br />

Hand, die auf der Schulter liegt, spüren wir<br />

nach einiger Zeit nicht mehr. Sie muss sich<br />

bewegen, sonst vergessen wir, dass sie da ist.<br />

In vielen Bereichen äußert sich dieser Zusammenhang<br />

in einem Bedürfnis nach Steigerung<br />

der Reizintensität. Wenn ein Level erreicht ist,<br />

muss irgendwann das nächsthöhere angestrebt<br />

werden, um aufs Neue den gewünschten<br />

Effekt zu erzielen. Das ist beim Konsum<br />

von Gewaltszenen nicht anders als bei der<br />

Gefahrenschwelle im Extremsport. Ich glaube<br />

aber nicht, dass unsere Zeit, was den Umgang<br />

mit menschlichen Schmerzen und Qualen<br />

angeht, aus der Reihe fällt. Bis in die frühe<br />

Neuzeit wurde öffentlich gefoltert, verbrannt<br />

und hingerichtet. Diese Vorgänge waren mit<br />

unvorstellbarer Brutalität verbunden.<br />

philtrat 17

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