Der Wahnwärter

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SCHWERPUNKT - Interview Es ist nun die Frage, ob das, was in den Medien geschieht, so lebensnah ist. Egal, zu welcher Tageszeit man den Fernseher anschaltet, auf irgendeinem Sender passiert gerade ein Mord. Tatsächlich fallen in Deutschland pro Jahr nur etwa 600 bis 700 Morde an, und noch einmal so viele Mordversuche. Es gibt also eine wahnsinnige Diskrepanz zwischen der Realität und ihrer Abbildung durch Medien und Kultur. Auch die Berufsgruppen, die in diesem Bereich tätig sind, erscheinen in einem anderen Licht. Ob das für uns forensische Psychiater aber genauso gilt wie für die Mordkommissare, weiß ich nicht. Sicher gibt es im Fernsehen und in Kriminalromanen hie und da überzeichnete Profiler-Gestalten oder Psychiater, die helfen, einen Unschuldigen zu entlasten, der sich verdächtig gemacht hat. Aber ansonsten spielen wir in solchen Formaten doch eine relativ kleine Rolle. Dass es wiederum ein kulturelles Interesse gibt an dem Bereich, in dem wir zusammen mit Polizisten, Richtern und vielen anderen tätig sind, erstaunt mich nicht. <strong>Der</strong> Tod, der gewaltsame Tod, Morde aus Liebe und Eifersucht, die Tötung des Intimpartners – das sind eben die dramatischsten Dinge, die es im Leben gibt. Wir reden schon ein bisschen so. Im Gegensatz zu allen anderen Spezialisten müssen wir unser Fachwissen in Laiensprache übersetzen. Unsere Aufgabe ist es, einem Richter, der keine psychiatrischen Kenntnisse hat, verständlich zu machen, was wir wissen und was wir erfahren haben. Und wir müssen das mit Worten tun, die auch bei längeren Ausführungen nicht einschlafen lassen. Viele von uns bringen aber auch von Haus aus eine gewisse Freude am Formulieren mit und eine ganze Reihe meiner Kollegen ist ja auch mit literarischen Werken hervorgetreten, sogenannten »true crime stories«. Das finde ich persönlich nicht so spannend, aber auch ich bemühe mich gern um eingängige Formulierungen. Solche Ausdrücke werden dann oft auch von der Presse aufgegriffen, etwa kürzlich im Falle einer Probandin, von der ich gesagt habe, sie hätte bei ihrer Beschuldigtenvernehmung gesprochen, als würde sie ihre eigene Rolle spielen. Fachintern würde man hier von einer histrionischen Persönlichkeitsstörung sprechen. Aber ich stehe zu meiner Formulierung. Dafür gibt es wahrscheinlich mehrere Ursachen. Dass die Intensität dieser Gewaltszenen aber immer mehr gesteigert wird, das hat seine Gründe schon in der Funktionsweise des menschlichen Reizsystems. Das wird nicht durch einen konstanten Reiz angeregt, sondern durch die Veränderung von Reizen. Es manifestiert sich ja schon im Kindesalter: Die Hand, die auf der Schulter liegt, spüren wir nach einiger Zeit nicht mehr. Sie muss sich bewegen, sonst vergessen wir, dass sie da ist. In vielen Bereichen äußert sich dieser Zusammenhang in einem Bedürfnis nach Steigerung der Reizintensität. Wenn ein Level erreicht ist, muss irgendwann das nächsthöhere angestrebt werden, um aufs Neue den gewünschten Effekt zu erzielen. Das ist beim Konsum von Gewaltszenen nicht anders als bei der Gefahrenschwelle im Extremsport. Ich glaube aber nicht, dass unsere Zeit, was den Umgang mit menschlichen Schmerzen und Qualen angeht, aus der Reihe fällt. Bis in die frühe Neuzeit wurde öffentlich gefoltert, verbrannt und hingerichtet. Diese Vorgänge waren mit unvorstellbarer Brutalität verbunden. philtrat 17
SCHWERPUNKT - Interview Also ich habe noch nie jemanden beurteilt, der so gefoltert hat wie in diesen Filmen, von den denen Sie sprechen. Ich hatte schon Leute vor mir, die ihre Opfer gequält haben, Volker E. zum Beispiel. (<strong>Der</strong> Lastwagenfahrer Volker E. folterte und ermordete zwischen Juni 2001 und November 2006 in Spanien und Frankreich fünf Prostituierte, Anm. d. Red.) Aber das war dann nach zwanzig Minuten vorbei, die waren dann tot. Ja, aber das sind nicht die Fälle, die sich durch ein besonders hohes Maß an physischer Grausamkeit auszeichnen. Wenn Kindersoldaten aus Afrika hier sitzen, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, das etwa kann schon niederschmetternd sein. Schockierend ist auch, wie Kinder manchmal zum Spielball im Rosenkrieg der Eltern werden. Dabei meine ich nicht den Streit ums Sorgerecht, sondern beispielsweise den Versuch, dem Kind einzureden, es werde vom anderen Elternteil missbraucht. Mit solch abstoßenden Induktionen wird da gearbeitet, um auf die Kinder Einfluss zu nehmen, auch wenn sie sagen, das war gar nicht so. So etwas finde ich erschütternd. In anderen Fällen wird man aber auch einfach nur wütend. Wenn jemand seine Frau verliert, weil ihm ein Betrunkener ins Auto fährt und der Vertreter der Versicherung des Unfallverursachers spricht ihm ein paar Tausend Euro für die Beerdigung zu und sagt, er solle doch froh sein, wenn sie überlebt hätte und jetzt behindert wäre, wäre das ja viel teurer … Es sind ganz normale Menschen, die diese Grausamkeit ausüben können. Nein, Skrupellosigkeit ist keine Störung. Es gibt aber Fälle aus dem Sektor, den Sie angesprochen haben, in denen das Verhalten der Personen von krankhaften Zügen bestimmt ist, bei Anlagebetrügern zum Beispiel. Das sind Menschen, die andere geschickt manipulieren, sodass die ihnen dann ihr ganzes Erspartes überlassen und am Ende all ihr Hab und Gut verlieren. Es kann aber vorkommen, dass die vermeintlichen Betrüger wirklich davon überzeugt waren, dass sie das könnten, dass sie das, was sie ihren Opfern versprechen, auch tatsächlich einlösen würden. Das sind dann Fälle von krankhaftem Größenwahn. Damit hatte ich schon zu tun. Ich hoffe nicht. Nein, wenn überhaupt bin toleranter geworden. Mich ärgert die Voreingenommenheit, der man bei Gericht, in der Presse, in der Literatur begegnet. Da wird oft viel zu weit vorausgedacht, viel zu viel interpretiert. Die Leute haben Schemata im Kopf und denen ordnen sie die Dinge zu, aber nein, häufig ist es ganz anders. Das Leben schließt so viele Optionen ein! Ja. Die Gefahr, die von solchen Menschen – auch von Serientätern – ausgeht, wird in der Regel eher über- als unterschätzt. Ich habe in meinem Berufsleben vielleicht drei oder vier Mal echte Angst gehabt, ob sie begründet oder unbegründet war, weiß ich nicht immer. Was ich tatsächlich häufig empfinde, das ist die Anspannung, ob ich dem gerecht werde, was von mir in meiner Tätigkeit erwartet wird. Aber ansonsten sehe ich die Dinge mit Gelassenheit. Norbert Nedopil 36 philtrat 17
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