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Behinderte Kinder und Jugendliche in der Frühen Neuzeit

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"Die <strong>der</strong> Welt <strong>und</strong> sich selbst zur Last s<strong>in</strong>d" :<br />

<strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Frühen</strong> <strong>Neuzeit</strong><br />

Author(en):<br />

Objekttyp:<br />

Ritzmann, Iris<br />

Article<br />

Zeitschrift:<br />

Traverse : Zeitschrift für Geschichte = Revue d'histoire<br />

Band(Jahr): 3(2006)<br />

Artikel: Persistenter Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung L<strong>in</strong>k: http://dx.doi.org/10.5169/seals-31092<br />

= Handicap<br />

Erstellt am: 18.05.2012<br />

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RITZMANN: BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN DER FRÜHEN NEUZEIT<br />

« DIE DER WELT UND SICH SELBST<br />

ZUR LAST SIND»<br />

BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE<br />

IN DER FRÜHEN NEUZEIT<br />

IRIS RITZMANN<br />

ZIEL<br />

DES BEITRAGS<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne <strong>und</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung im K<strong>in</strong>des- <strong>und</strong> Jugendalter,<br />

das<br />

s<strong>in</strong>d die beiden Themenkreise, denen sich dieser Beitrag annähern möchte.<br />

Konkret sollen die folgenden Fragen im Zentrum stehen: Wann galten <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> o<strong>der</strong><br />

<strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Frühen</strong> <strong>Neuzeit</strong> als beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t? Was waren die H<strong>in</strong>tergründe von<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen <strong>und</strong> wie wurden sie mediz<strong>in</strong>isch zugeordnet? Wer war für junge<br />

<strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong> zuständig <strong>und</strong> wie wurden sie betreut? Lassen sich Unterschiede im<br />

Umgang mit körperlicher <strong>und</strong> geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung feststellen? Welche Aus¬<br />

sagen zur Selbst- <strong>und</strong> Fremdwahrnehmung lassen sich machen? Es ist mir klar,<br />

dass dieser Beitrag ke<strong>in</strong>e fertigen Antworten liefern kann. Me<strong>in</strong> Anliegen ist es<br />

viel mehr, e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>historische Sichtweise auf Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen<br />

<strong>und</strong> ihre unterschiedliche Deutung <strong>in</strong> spezifischen historischen <strong>und</strong> personellen<br />

Zusammenhängen, hier am Beispiel junger Betroffener <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Frühen</strong> <strong>Neuzeit</strong>,<br />

zu thematisieren.<br />

QUELLENBESCHREIBUNG UND QUELLENKRITIK<br />

Die vorliegende Studie stützt sich auf Aufnahmeakten aus<br />

zwei hessischen Für¬<br />

sorge<strong>in</strong>stitutionen. Die Dokumente aus dem « Hohen Hospital zu Ha<strong>in</strong>a » ,1<br />

das nur<br />

männliche Insassen aufnahm, konnten über den Zeitraum 1747 1800 bearbeitet<br />

werden, diejenigen aus dem « Hohen Hospital zu Merxhausen » 2<br />

mit ausschliess¬<br />

lich weiblichen Insassen über den Zeitraum 1721 1800.3 Diese Aufnahmeakten<br />

weisen die Form von Krankengeschichten auf; sie beziehen sich jeweils auf e<strong>in</strong>e<br />

Person, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Hospital aufgenommen werden sollte.<br />

Die traditionellen Hospitäler <strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne funktionierten nicht als Heilanstal¬<br />

ten, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als karitative Institutionen zur Pflege von Menschen,<br />

um die sich sonst niemand mehr kümmerte. Dazu gehörten Alte, chronisch Kranke<br />

sowie körperlich o<strong>der</strong> geistig <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>. Für die mehr o<strong>der</strong> weniger kostenlose<br />

73


BEHINDERUNG / HANDICAP TRAVERSE 2006/ 3<br />

Aufnahme dieser <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n als « Hausk<strong>in</strong><strong>der</strong> » setze die Obrigkeit Unheilbarkeit<br />

<strong>und</strong> Armut als Aufnahmekriterien voraus. Obschon die beiden protestantischen<br />

Hohen Hospitäler dem Landesfürsten unterstellt waren, behielten sie den tra¬<br />

ditionell karitativen Charakter kirchlicher Institutionen bei. 4 Sie kümmerten<br />

sich um bedürftige <strong>und</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Menschen im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er religiösen Aufgabe.<br />

Doch nur wer nachweislich unverschuldet <strong>in</strong>s Elend stürzte, durfte diese Hilfe<br />

<strong>in</strong> Anspruch nehmen.<br />

Insgesamt standen für das<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>ert 2164 Aufnahmeakten <strong>in</strong> annähernd<br />

lückenloser Überlieferung zur Verfügung. Lediglich 152 Aktenbündel handel¬<br />

ten von <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n bis zum Alter von 16 Jahren. Zusätzlich<br />

zu diesen Krankengeschichten wurden vere<strong>in</strong>zelt auch K<strong>in</strong>dheitsschil<strong>der</strong>un¬<br />

gen <strong>in</strong> die Untersuchung mit e<strong>in</strong>bezogen, die sich <strong>in</strong> den Akten erwachsener<br />

Personen befanden. Die e<strong>in</strong>zelnen Aktenbündel bestehen meist aus e<strong>in</strong>em<br />

Aufnahmegesuch, <strong>der</strong> Bittschrift o<strong>der</strong> sogenannten Supplikation, Gutachten<br />

<strong>und</strong> Zeugnissen von Ärzten, Pfarrern <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>devorstehern o<strong>der</strong> sonstigen<br />

Amtspersonen, <strong>und</strong> schliesslich dem Rescript. Das Rescript be<strong>in</strong>haltete den<br />

Auftrag des Landesfürsten an den Hospitalvorsteher, zu e<strong>in</strong>em bestimmten<br />

Zeitpunkt <strong>und</strong> teilweise gegen e<strong>in</strong> bestimmtes Entgelt e<strong>in</strong>e bestimmte Person<br />

<strong>in</strong>s Hohe Hospital aufzunehmen.<br />

Die Dokumente gelangten nur <strong>in</strong> die Hospitäler, wenn die Aufnahmen zustande<br />

kamen. Wie viele Begehren abgelehnt wurden, lässt sich nicht feststellen. Die<br />

häufige Angabe <strong>der</strong> langen Warteliste sowie die <strong>in</strong> den Aktenbündeln erhaltenen<br />

mehrfachen Bemühungen um e<strong>in</strong>e Aufnahme während vieler Jahre zeugen jedoch<br />

davon, dass die Plätze <strong>in</strong> den Hohen Hospitälern begehrt waren. 5 Meistens<br />

diktierten die Angehörigen ihre Bittschriften dem Dorfschreiber. Sie enthalten<br />

viele Floskeln <strong>und</strong> stereotype Formulierungen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e ausufernde, barocke<br />

Unterwürfigkeitsgesten. Auf die Anrede folgte e<strong>in</strong>e Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> auswegs¬<br />

losen Situation sowie <strong>der</strong> jahrelangen aufopfernden Pflege des kranken Familien¬<br />

mitglieds. Daneben aber stösst man auf ausgesprochen subjektive, oftmals<br />

emotional gefärbte <strong>und</strong> e<strong>in</strong>malige Schil<strong>der</strong>ungen. Gerade diese Beschreibungen<br />

s<strong>in</strong>d es, die anhand e<strong>in</strong>zelner Beispiele e<strong>in</strong>e qualitative Auswertung ermöglichen.<br />

Die grosse Zahl <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gesehenen Akten erlaubt zudem e<strong>in</strong>e behutsame statis¬<br />

tische Auswertung. Die Bittschriften wurden freilich mit e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Absicht verfasst, die den Wahrheitsgehalt stark relativiert die meisten Schriften<br />

verfolgten den Zweck e<strong>in</strong>er baldigen Hospitalisierung. Es lässt sich <strong>in</strong>des kaum<br />

mehr herausf<strong>in</strong>den, ob beispielsweise e<strong>in</strong>e familiäre Pflegesituation wirklich<br />

unhaltbar war o<strong>der</strong> nur so geschil<strong>der</strong>t wurde. E<strong>in</strong>e quellenkritische E<strong>in</strong>stellung<br />

ist daher unabd<strong>in</strong>gbar.<br />

74


RITZMANN: BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN DER FRÜHEN NEUZEIT<br />

BEGRIFFSKLÄRUNG: WER GALT ALS « BEHINDERT »<br />

Der Ausdruck « beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t » f<strong>in</strong>det sich nicht <strong>in</strong> den Quellen. In <strong>der</strong> <strong>Frühen</strong><br />

<strong>Neuzeit</strong> wurden Menschen, die heute als beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t bezeichnet werden, mit<br />

Adjektiven wie « armselig » « elend » « erbarmungswürdig » « miserabel » o<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>fach « hülflos » beschrieben. Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Abklärung, welche<br />

Betreuungssituation noch zumutbar sei, sticht jedoch <strong>in</strong>s Auge, dass e<strong>in</strong>erseits<br />

die mediz<strong>in</strong>ische Bestätigung <strong>der</strong> Unheilbarkeit <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits die gesell¬<br />

schaftliche Def<strong>in</strong>ition von Hilfsbedürftigkeit zusammenfallen mussten, um<br />

diese Zuschreibungen zu legitimieren.<br />

Für die mediz<strong>in</strong>ische E<strong>in</strong>schätzung stellte die Unheilbarkeit das zentrale Unter¬<br />

scheidungsmerkmal zwischen e<strong>in</strong>er bleibenden Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er vorüber¬<br />

gehenden Krankheit dar. Lassen sich <strong>in</strong> den Quellen gewisse Krankheitsbil<strong>der</strong><br />

abgrenzen, die als unheilbar galten <strong>und</strong> für die Aufnahme den Ausschlag gaben?<br />

E<strong>in</strong>e Zuordnung zu e<strong>in</strong>zelnen Krankheitsbil<strong>der</strong>n bedarf e<strong>in</strong>er kritischen Aus¬<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> retrospektiven Diagnostik. Mo<strong>der</strong>ne Krankheitsvor¬<br />

stellungen lassen sich nur sehr bed<strong>in</strong>gt auf historische Konzepte übertragen. 6<br />

Unter diesen Vorbehalten können jedoch Kategorien von Krankheitsbil<strong>der</strong>n<br />

ausgemacht werden, die den mediz<strong>in</strong>ischen Gutachten zufolge oft als Beh<strong>in</strong>¬<br />

<strong>der</strong>ungen def<strong>in</strong>iert wurden.<br />

Damit erhält die Person des Gutachters e<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung. Als Gutachter<br />

traten seit dem frühen 18. Jahrh<strong>und</strong>ert regelmässig Ärzte <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung. Sie<br />

hatten verschiedene Positionen <strong>in</strong>ne, vom e<strong>in</strong>fachen Landphysikus bis zum<br />

angesehenen Universitätsprofessor <strong>und</strong> g<strong>in</strong>gen von unterschiedlichen Erfah¬<br />

rungen, Lehrme<strong>in</strong>ungen <strong>und</strong> Überzeugungen aus. Ihr Urteil stützte sich auf die<br />

Untersuchung, die damalige ursächliche Zuordnung, den bisherigen Verlauf e<strong>in</strong>er<br />

Krankheit o<strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, bereits unternommene Behandlungsversuche <strong>und</strong><br />

die spekulative Prognose. Die Beurteilung e<strong>in</strong>er Be<strong>in</strong>lähmung, des Verlustes <strong>der</strong><br />

Sehfähigkeit o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung basierte damit längst nicht nur<br />

auf objektiven Kriterien, son<strong>der</strong>n unterstand <strong>in</strong> weiten Bereichen <strong>der</strong> subjektiven<br />

Interpretation des e<strong>in</strong>zelnen Arztes. Geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen umfassten zudem<br />

e<strong>in</strong> breites Spektrum unterschiedlicher E<strong>in</strong>schränkungen, wobei es heute nicht<br />

mehr möglich ist festzustellen, ob e<strong>in</strong>e kognitive o<strong>der</strong> psychische Störung, e<strong>in</strong>e<br />

Geistesschwäche o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e gravierende Geisteskrankheit vorlag. Im E<strong>in</strong>klang<br />

mit den Quellen werde ich daher unter dem Begriff « geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung »<br />

kognitive, psychische <strong>und</strong> geistige Bee<strong>in</strong>trächtigungen subsumieren.<br />

In enger Abhängigkeit zur mediz<strong>in</strong>ischen Beurteilung stand die soziale Def<strong>in</strong>ition<br />

von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung. Um den Tatbestand e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zu erfüllen, musste die<br />

Hilflosigkeit, <strong>und</strong> das hiess konkret die Erwerbsunfähigkeit, <strong>und</strong> bei <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n<br />

entsprechend die zukünftige Erwerbsunfähigkeit, <strong>und</strong> die Armut <strong>der</strong> Familie<br />

75


BEHINDERUNG / HANDICAP TRAVERSE 2006/ 3<br />

ausgewiesen werden. 7<br />

E<strong>in</strong> zusätzliches Kriterium für die Aufnahme beziehungs¬<br />

weise die Verwahrung von Menschen mit e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung konnte e<strong>in</strong>e<br />

glaubhafte Bedrohung darstellen. Als « Experten » brachten Geme<strong>in</strong>devorsteher,<br />

angesehene Dorfmitglie<strong>der</strong> <strong>und</strong> Pfarrherren ihre E<strong>in</strong>schätzungen zu Papier. Diese<br />

Gutachten über Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen unterstanden ebenfalls subjektiven Ansichten <strong>und</strong><br />

Interpretationen. Schliesslich musste <strong>der</strong> Betroffene selbst se<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

nicht zw<strong>in</strong>gend als Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung wahrnehmen. Entsprechende Krankheitsbil<strong>der</strong><br />

wie Lähmungen, Verlust von Körperglie<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Bl<strong>in</strong>dheit führten <strong>in</strong> armen<br />

Familien zwar häufig zu e<strong>in</strong>em lebenslangen Dase<strong>in</strong> als Almosenempfänger,<br />

aber längst nicht immer.<br />

Der Begriff Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, wie ich ihn <strong>in</strong> diesem Artikel verwende, vere<strong>in</strong>t also<br />

körperliche, geistige <strong>und</strong> gesellschaftliche Phänomene sowie <strong>der</strong>en Selbst- <strong>und</strong><br />

Fremd<strong>in</strong>terpretation. Die oft diskutierte Unterscheidung von biologischer Schädi¬<br />

gung <strong>und</strong> sozialer Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung8 greift hier zu kurz, da<br />

ausblendet, die sich durch die gesellschaftliche Prägung <strong>der</strong><br />

z<strong>in</strong>ischen Sichtweise auf Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ergibt.<br />

sie die Überschneidungen<br />

biologisch- medi¬<br />

BESONDERHEITEN DER<br />

JUGENDALTER<br />

BEHINDERUNG IM KINDES-UND<br />

76<br />

E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Stellung unter den <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n nahmen <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong><br />

e<strong>in</strong>. Die Unfähigkeit zum selbständigen Broterwerb war zum<strong>in</strong>dest während ihrer<br />

Jugend weitgehend unabhängig von ihrem ges<strong>und</strong>heitlichen Zustand. Für ihre<br />

Versorgung hatten deshalb pr<strong>in</strong>zipiell nicht die Hohen Hospitäler o<strong>der</strong> analoge<br />

Fürsorge<strong>in</strong>stitutionen, son<strong>der</strong>n die Eltern aufzukommen. Der ger<strong>in</strong>ge <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>-<strong>und</strong><br />

<strong>Jugendliche</strong>nanteil von sieben Prozent unter den Hospitalaufnahmen, <strong>der</strong><br />

angesichts <strong>der</strong> breiten Bevölkerungspyramide des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts noch schärfer<br />

hervorsticht, kann direkt als Folge <strong>der</strong> familiären Zuständigkeit <strong>in</strong>terpretiert<br />

werden. Unter den untersuchten Aufnahmeakten konnte nur <strong>in</strong> vier Fällen die<br />

Aufnahme von Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong><strong>der</strong>n unter sechs Jahren ausgemacht werden. Nimmt<br />

man die Altersgruppe zwischen sechs <strong>und</strong> zwölf Jahren h<strong>in</strong>zu, steigt die Zahl <strong>der</strong><br />

aufgenommenen <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> auf 53 an, was immer noch lediglich zweie<strong>in</strong>halb Prozent<br />

aller Aufnahmen ausmacht. Wie auch aus den rückblickenden Schil<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong><br />

den Krankengeschichten Erwachsener hervorgeht, war die langjährige familiäre<br />

Betreuung beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> die Regel. Kam es dennoch zur Aufnahme m<strong>in</strong>¬<br />

<strong>der</strong>jähriger <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>r, befanden sich diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sozialen Notlage, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ihre<br />

Betreuung nicht mehr gewährleistet war. Lebten ihre Eltern noch, waren diese<br />

meist selbst arbeitsunfähig <strong>und</strong> völlig verarmt. Viele dieser <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> waren Waisen<br />

o<strong>der</strong> Halbwaisen. Im Gegensatz zu an<strong>der</strong>en Bittstellern handelt es sich bei den


RITZMANN: BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN DER FRÜHEN NEUZEIT<br />

Antragstellern jedoch fast nie um die Betroffenen selbst. Es waren vielmehr<br />

verbleibende Elternteile o<strong>der</strong> sonstige erwachsene Verwandte <strong>und</strong> Bekannte, die<br />

sich für die Aufnahme dieser m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n e<strong>in</strong>setzten.<br />

Die Bittschriften können kaum darauf h<strong>in</strong> <strong>in</strong>terpretiert werden, die Angehörigen<br />

hätten diese <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> so schnell wie möglich kostengünstig unterbr<strong>in</strong>gen wollen <strong>und</strong><br />

deshalb die Aufnahme <strong>in</strong>s Hospital angestrebt. Beispielsweise diktierte <strong>der</strong> Vater<br />

des fünfjährigen bl<strong>in</strong>den Philipp K., e<strong>in</strong> armer Tagelöhner, dem Dorfschreiber,<br />

se<strong>in</strong>e Frau <strong>und</strong> er seien beide sehr krank. 9 Die Bittschrift sollte nicht Philipps<br />

sofortige Aufnahme bewirken. Der Vater schreibt, es gehe ihm « sehr zu hertzen<br />

[],<br />

wann ich o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>e auch gebrechliche Ehefrau versterben solten, wo dies<br />

K<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e Nahrung <strong>und</strong> Verpflegung f<strong>in</strong>den solle » Die Eltern wollten ihr K<strong>in</strong>d<br />

lediglich für den Fall ihres Todes gut aufgehoben wissen. Nur drei Monate später<br />

erfolgte Philipps Aufnahme <strong>in</strong>folge des Todes bei<strong>der</strong> Eltern. Diese Lesart erfährt<br />

<strong>in</strong> weiteren Schriftstücken e<strong>in</strong>e Bestätigung. So schrieb<br />

e<strong>in</strong> 74- jähriger Vater<br />

über se<strong>in</strong>en geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Sohn, « dass ich zum Voraus sehe, wie dieser<br />

arme Mensch nach me<strong>in</strong>em Tode wird darben müssen » .10 Er wollte ihn daher<br />

« noch vor me<strong>in</strong>em Ableben versorget zu wissen » Solange er selbst noch am<br />

Leben sei, wolle er den 17- Jährigen « bey mir behalten <strong>und</strong> vätterlich versorgen<br />

<strong>und</strong> verpflegen »<br />

Die Krankengeschichten belegen zudem, dass Angehörige von kranken o<strong>der</strong><br />

verletzten <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n häufig<br />

zahlreiche therapeutische Möglichkeiten ausreizten,<br />

bevor sie akzeptierten, dass ihr K<strong>in</strong>d lebenslang se<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung beibehalten<br />

würde. In je<strong>der</strong> sechsten Krankengeschichte f<strong>in</strong>den sich spezielle Verweise auf<br />

Arzneimittel, chirurgische Therapien o<strong>der</strong> langjährige, mit hohen Kosten ver¬<br />

b<strong>und</strong>ene Kuren.<br />

Kam es dann doch zur E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Hospital, bezweckten Familienmitglie<strong>der</strong><br />

primär e<strong>in</strong>e gute Unterbr<strong>in</strong>gung ihrer Angehörigen, aber ebenfalls e<strong>in</strong>e Entlastung<br />

von e<strong>in</strong>er unhaltbaren Pflegesituation. Nicht selten sche<strong>in</strong>en die Angehörigen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Konflikt zwischen ihrer emotionalen B<strong>in</strong>dung zum beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />

K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> den rationalen Erfor<strong>der</strong>nissen e<strong>in</strong>er geregelten Betreuung gestanden<br />

zu haben. Ganz an<strong>der</strong>s lagen die Interessen <strong>der</strong> Kommunen <strong>und</strong> <strong>der</strong> weiteren<br />

sozialen Umgebung. Die Geme<strong>in</strong>den wollten <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie möglichst nicht zur<br />

Kasse gebeten werden <strong>und</strong> suchten Schutz <strong>und</strong> Sicherheit. Anhand e<strong>in</strong>er Auf¬<br />

nahmeakte aus dem Jahr 1781, die für die Darstellung <strong>der</strong> verschiedenen Inter¬<br />

essen als exemplarisch gelten kann, soll dies verdeutlicht werden. 11<br />

Als primäre<br />

Bittsteller für die Aufnahme des 15- jährigen Henrich M. traten <strong>in</strong> diesem Falle<br />

nicht die Familienangehörigen auf, son<strong>der</strong>n die ortsansässigen Müller. Die vier<br />

Männer bezeugten, dass sich Henrich fast täglich zu den Mühlrä<strong>der</strong>n begebe.<br />

Er sei schon mehrfach <strong>in</strong>s Wasser gefallen, « wo wir ihn mit gröster Lebens<br />

Gefahr herausgerissen <strong>und</strong> noch gerettet haben »<br />

Leicht könne es geschehen,<br />

77


BEHINDERUNG / HANDICAP TRAVERSE 2006/ 3<br />

dass <strong>der</strong> Junge ertr<strong>in</strong>ke o<strong>der</strong> von den Rä<strong>der</strong>n zerquetscht würde. Im Schreiben<br />

des Geme<strong>in</strong>devorstandes wird zudem <strong>der</strong> Metzgermeister des Orts erwähnt, <strong>der</strong><br />

persönlich beim Geme<strong>in</strong>devorstand vorgesprochen hatte: Der Junge habe ihm<br />

verschiedene Hammelhäute mit dem Messer zerschnitten. Das Interesse <strong>der</strong><br />

Handwerker vor Ort bestand also dar<strong>in</strong>, ihre Arbeit ungestört zu<br />

verrichten <strong>und</strong><br />

ke<strong>in</strong>e Verantwortung für e<strong>in</strong>en möglichen Unglücksfall übernehmen zu müssen.<br />

An<strong>der</strong>s stellte sich die Interessenslage <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de dar. E<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>demitglied,<br />

das sich als Bekannter <strong>der</strong> Familie bezeichnete, schrieb, das Verhalten des Jungen<br />

sei nicht nur für ihn selbst, son<strong>der</strong>n auch für an<strong>der</strong>e höchst gefährlich. Wenn er<br />

nicht unter strenger Aufsicht gehalten würde, « reisset er das Feuer aus dem Ofen,<br />

trägt es <strong>in</strong> Hauss herum, <strong>und</strong> legt solches an die gefährlichsten Orte » Henrich<br />

M. stellte <strong>in</strong> dieser Perspektive e<strong>in</strong>e wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Gefahr für die<br />

ganze Dorfgeme<strong>in</strong>schaft dar.<br />

Der Vater selbst, e<strong>in</strong> ehemaliger Soldat, wandte sich ebenfalls <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bittschrift<br />

an den Landesfürsten. Es existiere doch e<strong>in</strong>e Institution, wor<strong>in</strong> für diejenigen<br />

gesorgt würde, « welchen Gott die S<strong>in</strong>ne beraubet, <strong>und</strong> die <strong>der</strong> Welt <strong>und</strong> sich<br />

selbst zur Last s<strong>in</strong>d » Das Aufnahmegesuch für se<strong>in</strong>en Sohn begründete er mit<br />

<strong>der</strong> « Verhütung alles bevorstehenden Unglücks » das er nicht nur auf den Sohn<br />

bezieht, son<strong>der</strong>n auch auf se<strong>in</strong>e geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Ehefrau. Wenn <strong>der</strong> Sohn <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Hospital aufgenommen würde, könne er se<strong>in</strong>e Frau besser beaufsichtigen.<br />

Atteste über die beiden Aufnahmekriterien Unheilbarkeit <strong>und</strong> Armut lagen bei,<br />

<strong>und</strong> die Sachlage überzeugte offenbar die Obrigkeit. Bereits am 10. März 1781<br />

erg<strong>in</strong>g an den Hospitalvorsteher <strong>der</strong> Befehl, den Jungen aufzunehmen, <strong>und</strong> am<br />

30. April desselben Jahres trat er e<strong>in</strong>. Die Geschichte hätte hier e<strong>in</strong>en logischen<br />

Abschluss gef<strong>und</strong>en, wenn nicht e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Zettel an <strong>der</strong> E<strong>in</strong>trittsakte erhalten<br />

geblieben wäre. Darauf f<strong>in</strong>det sich die Notiz, <strong>der</strong> Vater habe bereits am nächsten<br />

Morgen se<strong>in</strong>en Sohn « wi<strong>der</strong> gehohlt, <strong>und</strong> [ sei] damit fortgegangen »<br />

lich hegte er<br />

Offensicht¬<br />

trotz grosser persönlicher Beschwernis Bedenken gegenüber <strong>der</strong><br />

Fremdbetreuung se<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des. Auch wenn se<strong>in</strong> Junge « <strong>der</strong> Welt <strong>und</strong> sich selbst<br />

zur Last »<br />

fiel, so wollte <strong>der</strong> Vater diese Last doch weiter tragen.<br />

MEDIZINISCHE KATEGORIEN VON BEHINDERUNGEN<br />

78<br />

Für e<strong>in</strong>e Kategorisierung mediz<strong>in</strong>ischer Angaben geben vor allem die <strong>in</strong> den<br />

ärztlichen Gutachten beschriebenen Krankheitsbil<strong>der</strong> <strong>und</strong> Symptome nähere<br />

Informationen. Die statistische Darstellung <strong>und</strong> Kategorisierung <strong>der</strong> <strong>in</strong> diesen<br />

Dokumenten am häufigsten genannten Diagnosen darf nicht, wie bereits aus¬<br />

geführt, unkritisch mit heutigen Krankheitsvorstellungen gleichgesetzt werden<br />

siehe Fig. 1).


RITZMANN: BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN DER FRÜHEN NEUZEIT<br />

Fig. 1:<br />

Die häufigsten E<strong>in</strong>trittsdiagnosen von <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n prozentual<br />

geschlechtsbezogen auf alle E<strong>in</strong>tritte Total 152)<br />

Zu den am häufigsten genannten körperlichen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen, die zu e<strong>in</strong>er<br />

Aufnahme führten, zählten Bl<strong>in</strong>dheit <strong>und</strong> Lähmungen, gefolgt von fehlenden<br />

Gliedmassen sowie Unfall- <strong>und</strong> Krankheitsfolgen. Den Angaben <strong>in</strong> den Akten<br />

zufolge war bei über zwölf Prozent <strong>der</strong> jungen Insassen <strong>in</strong> den Hessischen Ho¬<br />

hen Hospitälern Ha<strong>in</strong>a <strong>und</strong> Merxhausen e<strong>in</strong>e Pockenerkrankung die Ursache <strong>der</strong><br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen.<br />

E<strong>in</strong>e eigene Kategorie bildete die Epilepsie o<strong>der</strong> Fallsucht, die über e<strong>in</strong> Viertel<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisungen betraf. Diese Krankheit stellte das familiäre Umfeld vor die<br />

schwierige Aufgabe, e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das sich frei bewegen konnte, unter ständige<br />

Aufsicht zu stellen, damit es nicht verunfallte. Viele Familien konnten diese Be¬<br />

treuung nicht gewährleisten, <strong>und</strong> so wiesen die Epileptiker häufig Verletzungen<br />

auf. H<strong>in</strong>zu kam, dass über die Hälfte zusätzlich als geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t beschrieben<br />

wurde. Gesamthaft wiesen drei Viertel aller <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n mit e<strong>in</strong>er<br />

Epilepsie e<strong>in</strong>e Mehrfachbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung auf. Während an<strong>der</strong>e Diagnosen e<strong>in</strong>e<br />

ziemlich ausgeglichene Geschlechterverteilung zeigen, wurde die Epilepsie bei<br />

deutlich mehr Mädchen als Jungen angeführt.<br />

Die grösste Kategorie bildeten die geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen, die von e<strong>in</strong>er harm¬<br />

losen « Simplizität » bis zum gefürchteten « Furor »<br />

<strong>der</strong> Raserei reichten. 12 Gemäss<br />

den konsultierten Beständen kamen <strong>in</strong> den Hohen Hospitälern über 40 Prozent <strong>der</strong><br />

79


BEHINDERUNG / HANDICAP TRAVERSE 2006/ 3<br />

aufgenommenen <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n wegen e<strong>in</strong>er geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

unter. Unter ihnen befanden sich ebenfalls zahlreiche mehrfach <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>. So<br />

litten unter den 64 geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n den Quellen<br />

zufolge 24 an Epilepsie, zehn waren taubstumm o<strong>der</strong> bl<strong>in</strong>d <strong>und</strong> neun hatten e<strong>in</strong>e<br />

Lähmung.<br />

WAHRNEHMUNG KÖRPERLICHER BEHINDERUNG<br />

80<br />

E<strong>in</strong>e körperliche Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung musste die betreffende Person nicht zwangsläufig<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Aussenseiterposition drängen. Hierzu das Beispiel e<strong>in</strong>es zwölfjährigen<br />

Mädchens, das « <strong>in</strong> den Blattern » also <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er Pockenerkrankung, se<strong>in</strong> Au¬<br />

genlicht weitgehend verloren hatte. 13<br />

Dem Aufnahmegesuch <strong>in</strong>s Hohe Hospital<br />

zu Merxhausen lag e<strong>in</strong> ärztliches Attest bei. Offensichtlich hatte <strong>der</strong> Arzt, um<br />

sich e<strong>in</strong> Urteil bilden zu können, das Mädchen mit se<strong>in</strong>er Mutter <strong>in</strong>s Schulhaus<br />

beor<strong>der</strong>t, <strong>und</strong> so fand nicht nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende Befragung <strong>und</strong> Untersuchung des<br />

Mädchens statt, son<strong>der</strong>n er fragte auch den Lehrer nach se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung. Der Arzt<br />

hielt schliesslich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gutachten fest, dass das Mädchen zwar « <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em buch<br />

ke<strong>in</strong>en Buchstaben erkennet, Jedoch rühmet <strong>der</strong> Schuhlmeister, dass diesses se<strong>in</strong><br />

bestes Schuhlk<strong>in</strong>d wäre » Der Lehrer betrachtete das bl<strong>in</strong>de Mädchen nicht nur<br />

als durchaus bildungsfähig e<strong>in</strong>e Ansicht, die im aufgeklärten Bürgertum <strong>in</strong> jener<br />

Zeit immer wie<strong>der</strong> vertreten wurde <strong>und</strong> an verschiedenen europäischen Orten zur<br />

Gründung <strong>und</strong> För<strong>der</strong>ung von Bl<strong>in</strong>denschulen führte. 14 Er betonte, dass es bessere<br />

Leistungen als se<strong>in</strong>e Schulkollegen erbrachte. Das Mädchen nahm demnach am<br />

normalen Unterricht teil <strong>und</strong> war <strong>in</strong> den Klassenverband <strong>in</strong>tegriert.<br />

Wie nahmen körperlich <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong> ihre Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung selbst wahr? Die Zeugnisse<br />

aus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> junger Menschen s<strong>in</strong>d per se<br />

e<strong>in</strong>e Seltenheit. In den untersuchten<br />

Beständen fanden sich nur drei Dokumente, die von Personen unter 25 Jahren<br />

diktiert wurden. Aus allen dreien geht hervor, dass die Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung für die<br />

Betroffenen absolut im H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> stand. 15 E<strong>in</strong>en seltenen Quellenf<strong>und</strong> bildet<br />

das dicke Dokumentenbündel des bl<strong>in</strong>den Valent<strong>in</strong> K. 16 In e<strong>in</strong>er Petition aus<br />

dem Jahr 1790 schil<strong>der</strong>te K. se<strong>in</strong>e Geschichte wie folgt: « Als ich kaum 2 Jahr<br />

alt war, hatte ich das betrübte Schicksaal, dass ich <strong>in</strong> den Blattern beyde Augen<br />

verlohr, <strong>und</strong> stock bl<strong>in</strong>d wurde. Ich verlohr darauf durch e<strong>in</strong>en vorzeitigen Todt<br />

me<strong>in</strong>e Eltern, die mir nichts als die äuserste Dürftigkeit h<strong>in</strong>terliesen. Dieser Fall<br />

versetzte mich <strong>in</strong> die traurige Laage, dass ich mich von aller Welt verlassen sahe,<br />

<strong>und</strong> blos mich auf die Unterstützung me<strong>in</strong>er Neben- Menschen verlassen muste. »<br />

Der bereits volljährige Valent<strong>in</strong> K. wohnte zu diesem Zeitpunkt bei se<strong>in</strong>er Tante,<br />

die zehn eigene <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> versorgte. K. versuchte mit Betteln zum Lebensunterhalt<br />

beizutragen. Offensichtlich litt er stark darunter, dass er nicht selbst für sich auf-


RITZMANN: BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN DER FRÜHEN NEUZEIT<br />

kommen konnte. Diese letztlich re<strong>in</strong> ökonomische Unselbständigkeit führte er<br />

als zentrales <strong>und</strong> e<strong>in</strong>ziges Argument an, ihm als <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n die obrigkeitliche<br />

Fürsorge zu gewähren. Das Gesuch wurde bewilligt.<br />

Die Geschichte bräche an dieser Stelle ab, wenn nicht nach 45 Jahre e<strong>in</strong>e erneute<br />

Bittschrift e<strong>in</strong>gegangen wäre. Der alte K. br<strong>in</strong>gt dar<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Erlebnisse seit dem<br />

E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong>s Hospital zu Papier. K. schreibt, er sei 1791 im Kloster Ha<strong>in</strong>a auf¬<br />

genommen worden. Nach kaum zehn Wochen habe er Urlaub erhalten, « um doch<br />

noch e<strong>in</strong>mal me<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>schaft besuchen zu können » Auf dem Weg zurück<br />

nach Ha<strong>in</strong>a sass er « sehr betrübt für mich denkend » <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gasthaus. Dort<br />

sprach ihn e<strong>in</strong> reisen<strong>der</strong> Musikmeister an, « warum so betrübt, ich antworte, me<strong>in</strong><br />

Elend <strong>und</strong> Schicksaal kann ich ihnen <strong>in</strong> diesem Augenblick nicht alle erläutern,<br />

kurz es kam <strong>in</strong> diesem Gespräch so weit, dass ich Musick gelernt hätte, endlich<br />

kam es so weit, ob ich mit ihm reisen wollte, ja versprach mir aber zuvor für<br />

me<strong>in</strong>e Wäsche gehörige Kleidungsstücke <strong>und</strong> sonstige Medicamente hätte ich<br />

nichts für zu sorgen <strong>und</strong> übrigens auch me<strong>in</strong>e restlichen Verdienst. Am 17ten<br />

September d. J. b<strong>in</strong> ich von me<strong>in</strong>er Reise als nun alt <strong>und</strong> betagt <strong>in</strong> Wolfhagen<br />

bei me<strong>in</strong>en Schwestern wie<strong>der</strong> angekommen. » Diese kurze Schil<strong>der</strong>ung ver¬<br />

mittelt e<strong>in</strong>en Zugang zur Selbstwahrnehmung. K. fühlte sich als <strong>Jugendliche</strong>r<br />

offensichtlich unter se<strong>in</strong>en Verwandten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en aufgehoben, auch wenn<br />

sie f<strong>in</strong>anziell nicht mehr für ihn aufkommen konnten. Er trat bereits als junger<br />

Mensch nur wi<strong>der</strong>willig <strong>in</strong> das Hospital zu Ha<strong>in</strong>a e<strong>in</strong>, ja, die von ihm <strong>in</strong>itiierte<br />

Reise h<strong>in</strong>terlässt den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>es letzten Abschieds vor dem sozialen Ende.<br />

Entsprechend gerne g<strong>in</strong>g er auf die Alternative e<strong>in</strong>, die ihm <strong>der</strong> Musikus bot.<br />

K. wollte lieber selbständig für se<strong>in</strong>en Unterhalt aufkommen, als abgesichert als<br />

<strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>r im Hospital zu leben. Dem Gesuch, e<strong>in</strong> zweites Mal <strong>in</strong>s Hospital<br />

aufgenommen zu werden, wurde ebenfalls stattgegeben. In <strong>der</strong> Folge verfasste<br />

K. noch weitere Bittschriften, um den Kontakt mit <strong>der</strong> Aussenwelt beizubehal¬<br />

ten. Die Schreibweise lässt darauf schliessen, dass K. trotz se<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Eigenständigkeit bewahren konnte. Er trat nicht verschüchtert <strong>und</strong><br />

dankbar auf, son<strong>der</strong>n for<strong>der</strong>nd <strong>und</strong> unabhängig.<br />

BETREUUNG GEISTIG BEHINDERTER KINDER UND JUGENDLICHER<br />

In e<strong>in</strong>em gewissen Gegensatz zu körperlichen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen konzentrierte<br />

sich die Problematik bei geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen nicht nur auf die fehlende<br />

Selbständigkeit beziehungsweise den Ausfall <strong>der</strong> Arbeitskraft. Sie drängten sich<br />

vielmehr mit zunehmendem Alter <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> sozialen Begegnungen,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenn e<strong>in</strong>e Fremd- o<strong>der</strong> Selbstgefährdung <strong>in</strong> Betracht gezogen wer¬<br />

den musste. E<strong>in</strong>en Zugang zu<br />

den e<strong>in</strong>zelnen Krankheitsbil<strong>der</strong>n können nur die<br />

81


BEHINDERUNG / HANDICAP TRAVERSE 2006/ 3<br />

82<br />

Beschreibungen <strong>in</strong> den Quellentexten liefern. Die Hospitalakten <strong>der</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Jugendliche</strong>n richteten sich ziemlich durchgehend nach <strong>der</strong> zeittypischen Zuteilung<br />

<strong>in</strong> « simpel » o<strong>der</strong> « e<strong>in</strong>fältig » « mente captus » beziehungsweise « mente capta »<br />

o<strong>der</strong> « verrückt » <strong>und</strong> schliesslich « furios » o<strong>der</strong> « rasend » siehe Fig. 2).<br />

Die geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen machten bei den Mädchen 39 Prozent, bei den Jungen<br />

44 Prozent <strong>der</strong> E<strong>in</strong>trittsdiagnosen aus. Das Auftreten von geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />

per se wies demnach ke<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Geschlechterhäufung auf. Ganz an<strong>der</strong>s<br />

die Verteilung auf die damaligen Kategorien geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung. Während<br />

die Jungen überdurchschnittlich häufig als « simpel » bezeichnet wurden, stand<br />

bei den Mädchen die Bezeichnung « mente capta » <strong>in</strong> Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>. Als « Furiosi »<br />

fielen vor allem männliche <strong>Jugendliche</strong> auf. 17 Welchen Anteil die gesellschaftliche<br />

Rollenzuteilung an dieser Verteilung hatte, die sich bis heute nachverfolgen lässt,<br />

kann aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Quellenlage nicht beantwortet werden. Den « Furiosi » drohte<br />

die gewaltsame Verwahrung. Der elfjährige Johann Balthasar R. beispielsweise<br />

g<strong>in</strong>g den Aufzeichnungen gemäss auf die Menschen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Umgebung los.<br />

Die Eltern verabreichten dem epilepsiekranken Jungen ständig Arzneimittel,<br />

doch se<strong>in</strong>e Krampfanfälle häuften sich <strong>und</strong> die « Blöds<strong>in</strong>nigkeit » nahm die Form<br />

e<strong>in</strong>es « Deliriums » an. Die Eltern sahen ihre Aufgabe nun vor allem dar<strong>in</strong>, den<br />

« rasenden » Jungen an Übergriffen auf die soziale Umgebung zu h<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Da Me¬<br />

dikamente ke<strong>in</strong>e Wirkung gezeigt hatten, konnten sie nur noch auf mechanische<br />

Mittel zurückgreifen, <strong>in</strong>dem « man den armen Knaben mit Stricken festmachen,<br />

<strong>und</strong> auf das Sorgfältigste zu Verhütung grössern Schadens verwahren muss ».18<br />

Erst als sie selbst die Hoffnung auf e<strong>in</strong>e Besserung aufgaben <strong>und</strong> zugleich die<br />

ständige Aufsicht nicht mehr gewährleisten konnten, stellten sie den Antrag auf<br />

e<strong>in</strong>e Aufnahme <strong>in</strong>s Hospital. Der bisherige Verlauf, die Bedürftigkeit <strong>der</strong> Fami¬<br />

lie <strong>und</strong> die soziale Gefährdung, die aus <strong>der</strong> ungenügenden Beaufsichtigung des<br />

Kranken abgeleitet wurde, bed<strong>in</strong>gten geme<strong>in</strong>sam, dass <strong>der</strong> Junge vom kranken<br />

K<strong>in</strong>d zum beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Insassen wurde. Das Hospital nahm damit die Funktion<br />

e<strong>in</strong>er Verwahrungsstätte zum Schutze <strong>der</strong> Gesellschaft e<strong>in</strong>.<br />

Nur ganz vere<strong>in</strong>zelt wurden auch Mädchen gewaltsam gefesselt, so die 14-jährige<br />

Anna Cathar<strong>in</strong>a E. Der Vorm<strong>und</strong> des Mädchens berichtete, « das man solches an<br />

Strike o<strong>der</strong> Betten an b<strong>in</strong>den mus » Zur Befürwortung dieser Massnahme fühlte<br />

er sich gezwungen, da er befürchtete, dass se<strong>in</strong> Mündel « grösser unheil an richtet<br />

unter den Leuten wan es loss komt, dan es schlegt kratzt <strong>und</strong> beyst als wen es<br />

gantz uns<strong>in</strong>nig wehre » .19<br />

Entsprachen solch drastische Massnahmen e<strong>in</strong>em da¬<br />

mals durchaus üblichen, menschenunwürdigen Umgang mit geistig <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n?<br />

O<strong>der</strong> wusste man sich mangels Alternativen nicht an<strong>der</strong>s zu helfen? Diese Frage<br />

lässt sich aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> konsultierten Quellen nicht restlos klären <strong>und</strong> erfor<strong>der</strong>t<br />

die Berücksichtigung verschiedener Aspekte: Das Leid <strong>der</strong> geistig <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n<br />

<strong>in</strong> ihrer Betreuungssituation, das Gefahrenpotenzial, das von ihnen ausg<strong>in</strong>g, <strong>und</strong>


RITZMANN: BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN DER FRÜHEN NEUZEIT<br />

Fig. 2: Prozentuale Verteilung von <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n mit geistigen<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen Total 64)<br />

schliesslich die Historizität, <strong>in</strong> diesem Falle ihre historische Wahrnehmung, die<br />

aus den jeweiligen Perspektiven heraus verstanden <strong>und</strong> mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verwoben<br />

werden müssen. Liest man von den Institutionen, <strong>in</strong> denen die geistig Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>¬<br />

ten <strong>in</strong> Löchern angekettet wurden, 20 wo sie nicht selten im W<strong>in</strong>ter erfroren, <strong>in</strong><br />

Käfigen aufgehängt wurden o<strong>der</strong> ihrem Leben selbst e<strong>in</strong> Ende setzten, 21<br />

wären<br />

alternative Unterbr<strong>in</strong>gungsmöglichkeiten durchaus denkbar.<br />

Die Bittschriften dagegen weisen deutlich darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong>nerhalb des fami¬<br />

liären Netzwerks geistig <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong> durchaus über Jahre liebevoll betreut wur¬<br />

den <strong>und</strong> die physische Bändigung erst als letztes Mittel zum E<strong>in</strong>satz kam. Die<br />

Pflege geistig <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>r <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Familie stellte freilich hohe Ansprüche<br />

an die Betreuenden, wie das folgende Beispiel zeigt: Maria D. erlitt als acht<br />

Tage altes Neugeborenes ihren ersten Krampfanfall <strong>und</strong> blieb e<strong>in</strong> schwächliches<br />

K<strong>in</strong>d, das niemals gehen lernte. Schon <strong>in</strong> frühen Jahren starb die Mutter, e<strong>in</strong><br />

Aufnahmegesuch wurde jedoch erst gestellt, als das Mädchen 13- jährig war.<br />

Die Akte wirft nicht nur e<strong>in</strong> Licht darauf, was die Pflege<br />

e<strong>in</strong>es mehrfach be¬<br />

h<strong>in</strong><strong>der</strong>ten K<strong>in</strong>des konkret bedeuten konnte, sie lässt auch erahnen, <strong>in</strong> welcher<br />

Situation es sich im Alltag befand. Da das Mädchen « die meiste Lebens Zeit<br />

liegend h<strong>in</strong>gebracht hat, dadurch ihm dann die beyden Be<strong>in</strong>e <strong>in</strong> allen junctiones<br />

gantz krumm <strong>und</strong> steiff geworden, <strong>und</strong> auch die beyde Hände gelähmt s<strong>in</strong>d,<br />

83


BEHINDERUNG / HANDICAP TRAVERSE 2006/ 3<br />

dass es nunmehro beständig auf <strong>der</strong> rechten Seite liegen muss <strong>und</strong> sich we<strong>der</strong><br />

Nahrung selbst reichen, noch nöthige Re<strong>in</strong>igung beschaffen, o<strong>der</strong> sonsten auf<br />

e<strong>in</strong>igerley Weisse helffen kan, zumahlen da es bey diesem grossen Elend auch<br />

noch blöd am Verstand <strong>und</strong> stumm geblieben ist, <strong>und</strong> nur den Gebrauch des<br />

Gehörs <strong>und</strong> Gesichts übrig behalten zu haben sche<strong>in</strong>et » 22<br />

Die Pflege dieses Mäd¬<br />

chens verrichteten Familienangehörige zusätzlich zu ihrem meist anstrengenden<br />

Tagwerk <strong>und</strong> offenbar mit e<strong>in</strong>er gewissen Selbstverständlichkeit. Sie erhielten<br />

das gelähmte Mädchen über Jahre am Leben, was konkret darauf schliessen<br />

lässt, dass es trotz fehlen<strong>der</strong> Stimme <strong>und</strong> motorischen Lähmungen, also ohne<br />

Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen, regelmässig Hilfe <strong>und</strong> Nahrung<br />

erhalten <strong>und</strong> trotz ständig gleicher Liegehaltung nicht unter grossflächigen<br />

Geschwüren gelitten hatte. Neben <strong>der</strong> körperlichen Zuwendung beschäftigten<br />

sich die Pflegenden auch mit <strong>der</strong> geistigen Verfassung des K<strong>in</strong>des. Sie kamen<br />

zum Schluss, dass das K<strong>in</strong>d stumm sei, vermutlich aber hören <strong>und</strong> sehen könne.<br />

Die familiäre Betreuung be<strong>in</strong>haltete damit <strong>in</strong> hohem Mass Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />

Zuwendung zu den geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Angehörigen.<br />

FAZIT<br />

84<br />

<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> nahmen unter den <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en Status e<strong>in</strong>, da unabhängig von ihrem Zustand <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

die Familien für ihren Lebensunterhalt verantwortlich waren. Meist tauchte erst<br />

im Jugendalter die Frage auf, wer <strong>in</strong> Zukunft für sie sorgen könnte. Solange<br />

die Familien entsprechende Möglichkeiten sahen, sorgten sie selbst für ihre<br />

beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Angehörigen <strong>und</strong> wandten auch beträchtliche f<strong>in</strong>anzielle Mittel für<br />

sie auf. <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>, die <strong>in</strong> den Hospitälern platziert wurden, stammten<br />

im überwiegenden Fall aus unvollständigen o<strong>der</strong> extrem armen Familien. Die<br />

hier bearbeiteten Quellenbestände legen den Schluss nahe, dass <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>und</strong> Ju¬<br />

gendliche mit e<strong>in</strong>er körperlichen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung gut <strong>in</strong> die Gesellschaft <strong>in</strong>tegriert<br />

waren. Soweit dies möglich war, genossen sie e<strong>in</strong>e Bildung, <strong>und</strong> die Schilde¬<br />

rungen bezeugen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong>e emotionale Zuneigung <strong>der</strong> Angehörigen. Die<br />

wenigen Egodokumente legen den Schluss nahe, dass körperlich <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong><br />

ihre Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung nicht als zentrales Merkmal wahrnahmen. Allerd<strong>in</strong>gs litten<br />

sie <strong>in</strong> hohem Mass darunter, an<strong>der</strong>en zur Last zu fallen. Der Umgang mit geistig<br />

<strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n unterschied sich deutlich von demjenigen mit körperlich Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>¬<br />

ten. Die Betreuung geistig <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>r konnte e<strong>in</strong>zelne Familienmitglie<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

hohem Mass belasten <strong>und</strong> von <strong>der</strong> alltäglichen Arbeit fernhalten. Zudem g<strong>in</strong>gen<br />

von e<strong>in</strong>igen, vorwiegend männlichen geistig <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n akute Gefahren für<br />

die soziale Umgebung aus, die für die Aufnahme <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Hospital den Ausschlag


RITZMANN: BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE IN DER FRÜHEN NEUZEIT<br />

geben konnten. Die auf den e<strong>in</strong>zelnen <strong>Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te</strong>n ausgerichtete familiäre Pflege<br />

wich dann e<strong>in</strong>er Verwahrung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Institution, die sich an gesellschaftlichen<br />

Sicherheitsbedürfnissen orientierte.<br />

Anmerkungen<br />

1 Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen LWV), H 13.<br />

2 Staatsarchiv Marburg STAMR), M 229.<br />

3 Der Bestand M 229 des Hauptstaatsarchivs <strong>in</strong> Marburg war noch nicht e<strong>in</strong>zeln signiert, daher<br />

wurden die Bittschriften mit allen zugehörigen Anlagen analog zum Bestand des Archivs des<br />

Landeswohlfahrtsverbandes Hessen <strong>in</strong> Kassel H 13 mit dem Datum des Reskripts bezeichnet.<br />

4 Wolfgang Friedrich, « Vom Kloster zum Hospital. Rechtsgr<strong>und</strong>lagen geistlicher Stiftungen<br />

<strong>in</strong> Hessen vor <strong>und</strong> nach <strong>der</strong> Reformation » <strong>in</strong> Arnd Friedrich, Fritz He<strong>in</strong>rich, Christ<strong>in</strong>a Vanja<br />

Hg.), Das Hospital am Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>. Soziale Reformen <strong>in</strong><br />

Hessen im Spiegel euro¬<br />

päischer Kulturgeschichte, Petersberg 2004, 63 77.<br />

5 Christ<strong>in</strong>a Vanja, « Homo miserabilis. Das Problem des Arbeitskraftverlustes <strong>in</strong> <strong>der</strong> armen<br />

Bevölkerung <strong>der</strong> <strong>Frühen</strong> <strong>Neuzeit</strong> » <strong>in</strong> Paul Münch Hg.), « Erfahrung » als Kategorie <strong>der</strong><br />

Frühneuzeitgeschichte Historische Zeitschrift, Beiheft 31), München 2001, 193 207,<br />

hier 205.<br />

6 Vgl. z. B. Charles E. Rosenberg, « Illness, Society, and History » <strong>in</strong> Charles E. Rosenberg,<br />

Janet Golden Hg.), Fram<strong>in</strong>g Disease. Studies <strong>in</strong> Cultural History, New Jersey 1992,<br />

xiii xxvi.<br />

7 Vanja wie Anm. 5), 195.<br />

8 Vgl. z. B. Cornelia Renggli, « Disability Studies <strong>und</strong> die Un-/ Sichtbarkeit von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung »<br />

Psychologie & Gesellschaftskritik 113 2005), 79 94.<br />

9 LWV, H 13, 1755.07.11.<br />

10 LWV, H 13, 1787.08.10.<br />

11 LWV, H13, 1781.03.10.<br />

12 Vgl. Christ<strong>in</strong>a Vanja, « Die Stiftung <strong>der</strong> Hohen Hospitäler zwischen Mittelalter <strong>und</strong> <strong>Neuzeit</strong> »<br />

<strong>in</strong> Arnd Friedrich, Fritz He<strong>in</strong>rich, Christ<strong>in</strong>a Vanja Hg.), Das Hospital am Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Neu¬<br />

zeit. Soziale Reformen <strong>in</strong> Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte, Petersberg 2004,<br />

17 32, hier 22.<br />

13 STAMR, M 229, 1769.06.30.<br />

14 Vgl. Ursula Hofer- Sieber, « Bildbar <strong>und</strong> verwertbar? » Utilitätsdenken <strong>und</strong> Vorstellungen<br />

<strong>der</strong> Bildbarkeit beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Menschen Ende 18. <strong>und</strong> Anfang 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>in</strong> Frankreich,<br />

Diss., Bern 2000.<br />

15 Zwei weitere Egodokumente stammen von e<strong>in</strong>em bl<strong>in</strong>den, 15- jährigen Mädchen<br />

HStM, M 229, 1748.08.12) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em stark gehbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten, achtjährigen Jungen<br />

LWV, H 13, 1759.08.06).<br />

16 LWV, H 13: 1787.08.10.<br />

17 Vgl. z. B. LWV, H 13, 1724.06.06, 1750.08.21, 1752.12.26 o<strong>der</strong> 1790.03.29.<br />

18 LWV, H 13, 1746.04.03.<br />

19 STAMR, M 229, 1727.07.03.<br />

20 Vgl. Al<strong>in</strong>e Ste<strong>in</strong>brecher, Verrückte Welten. Wahns<strong>in</strong>n <strong>und</strong> Gesellschaft im barocken Zürich,<br />

Zürich 2006.<br />

21 In e<strong>in</strong>em Krankenjournal <strong>der</strong> Handschriftenabteilung <strong>der</strong> Zentralbibliothek Zürich:<br />

Ms. Car. XV 10 m, 258, 21. 2. 1781.<br />

22 STAMR, M 229, 1762.08.11. Die E<strong>in</strong>schätzung, das Mädchen sei « blöd an Verstand » me<strong>in</strong>t<br />

s<strong>in</strong>ngemäss, dass es nicht adäquat auf die Kontaktaufnahmen se<strong>in</strong>er Umgebung reagierte.<br />

85


BEHINDERUNG / HANDICAP TRAVERSE 2006/ 3<br />

RESUME<br />

« DIE DER WELT UND SICH SELBST ZUR LAST SIND »<br />

ENFANTS ET ADOLESCENTS HANDICAPES AU XVIIIE SIECLE<br />

Quand le XVIIIe siècle considérait- il les adolescents comme des handicapés? Qui<br />

en était responsable et comment étaient- ils soignés? Faisait- on une différencia¬<br />

tion entre le handicap physique et psychique? Quelles étaient les conséquences<br />

dun tel handicap? Ces questions sont ici développées sur la base de sources du<br />

XVIIIe siècle, consistant en des notes manuscrites tirées de fonds darchives des<br />

hôpitaux. Dans la pratique médicale des sources explorées, la notion de handicap<br />

recouvrait avant tout les critères d<strong>in</strong>curabilité et de pauvreté. La déclaration<br />

d<strong>in</strong>curabilité était le fait de médec<strong>in</strong>s qui établissaient leur diagnostic sur la<br />

base dun état subjectif des connaissances, et sur leur conviction et expérience<br />

personnelle. La situation économique était également jugée par les magistrats.<br />

Cest pourquoi la notion de handicap était davantage un concept culturel, au se<strong>in</strong><br />

duquel une dist<strong>in</strong>ction entre sa manifestation physiologique ou sociale semblait<br />

peu nécessaire. Tant que lenfant ne devait pas subvenir à sa propre existence,<br />

l<strong>in</strong>capacité économique de lhandicapé ne troublait guère la période de lenfance.<br />

Les enfants handicapés semblaient alors bien <strong>in</strong>tégrés à la société, prenant part à<br />

lapprentissage et bénéficiant dune compassion émotionnelle. Les rares égo- do¬<br />

cuments donnent à penser que le handicap physique nentraînait pas une limitation<br />

ni nétait considéré comme particulier, du mo<strong>in</strong>s tant quil ne représentait pas un<br />

poids pour les proches. Mais plus le handicapé avançait vers lâge adulte, plus on<br />

accordait dimportance à<br />

sa situation économique. Les rapports avec les enfants<br />

et adolescents handicapés au plan mental se différenciaient significativement de<br />

la situation des handicapés physiques. En plus de laugmentation de la charge<br />

quils constituaient pour leurs familles, les handicapés mentaux présentaient aussi<br />

des dangers pour leur propre environnement social. Dans ces cas, lhôpital en tant<br />

que lieu de garde assumait une fonction de<br />

protection de la société.<br />

Traduction: Frédéric Joye)<br />

86

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