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Kurt Schwitters und die Mystik - Sprengel Museum Hannover

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9<br />

Das Rituell-Formelhafte eines solchen Verfahrens, dessen beschwörender Charakter,<br />

ja sein magisch-mystischer Ursprung waren einem Zeitgenossen wie Walter Benjamin<br />

ganz <strong>und</strong> gar bewusst. Für ihn waren <strong>die</strong> Lautdichtungen »magische Wortexperimente,<br />

nicht artistische Spielereien sind <strong>die</strong> passionierten phonetischen <strong>und</strong> graphischen<br />

Verwandlungsspiele, <strong>die</strong> nun schon fünfzehn Jahre sich durch <strong>die</strong> gesamte<br />

Literatur der Avantgarde ziehen [...]«. 22<br />

Alphabet<br />

Die Einteilung der Ursonate in »26 Parcellen« entspricht der Buchstabenanzahl des<br />

lateinischen Alphabets. Das verweist auf uralte alphanumerische Symbolisierungen.<br />

Denn das Alphabet ist nichts anderes als eine »kulturelle Gr<strong>und</strong>metapher für Vollkommenheit<br />

<strong>und</strong> Totalität« 23 . Die Ursonate wäre also nichts weniger als eine metaphorische<br />

Darstellung einer Gesamtheit (des Weltganzen?), wie <strong>Schwitters</strong>’ Merzbau<br />

ein Projekt ist, das sich seiner Idee des ›Gesamtkunstwerks‹ nähert.<br />

Zugleich erinnert <strong>die</strong>se Orientierung an der alphabetischen Ordnung aber auch an<br />

<strong>die</strong> Lamentationen des Propheten Jeremia. Deren Verse beginnen jeweils mit den<br />

Buchstaben entsprechend der Reihenfolge des hebräischen Alphabets, haben also<br />

<strong>die</strong> Form eines sogenannten alphabetischen Akrostichons. Diese berühmten Dichtungen<br />

des Alten Testaments sind Klagegesänge über <strong>die</strong> Verwüstung Jerusalems<br />

durch den zornigen Jahwe. Sie verweisen damit auch inhaltlich auf <strong>die</strong> verborgene<br />

Schicht der Ursonate, <strong>die</strong> – wie Merz insgesamt – um Verwüstung <strong>und</strong> Rettung<br />

kreist.<br />

<strong>Schwitters</strong> (re-)zitiert das Alphabet am Ende der Ursonate bekanntlich viermal rückwärts,<br />

dreimal allerdings ohne das abschließende A; nur beim vorletzten Mal soll <strong>die</strong><br />

vollständige Reihe von Z bis A erklingen. Das scheint bei Kenntnis der Spekulationen<br />

Jacob Böhmes alles andere als willkürlich zu sein. Denn der bezeichnet Gott als »aller<br />

Alphabeten Eröffner« 24 <strong>und</strong> nennt neben dem göttlichen Alphabet, das für den<br />

Menschen naturgemäß unerkennbar bleiben muss, nur vier weitere: <strong>die</strong> von Gott gegebene<br />

Natursprache (das vollständige Alphabet in der Ursonate) <strong>und</strong> <strong>die</strong> ›menschlichen‹,<br />

historisch gewachsenen Alphabete. Es sind <strong>die</strong> drei für das christliche Abendland<br />

relevanten Schriftsysteme, das hebräische, das griechische <strong>und</strong> das lateinische<br />

– repräsentiert in der Ursonate durch <strong>die</strong> drei unvollständigen Alphabete.<br />

22<br />

Walter Benjamin Werke II, 1, Der Sürrealismus (1929), S. 302.<br />

23<br />

Ulrich Berges, Klagelieder, Freiburg u. a. 2002, S. 76; vgl. ebd. »Das Alphabet [...] <strong>die</strong>nte als Maßstab<br />

<strong>und</strong> Leitschnur, um <strong>die</strong> bitteren Erfahrungen der exilisch-nachexilischen Zeit in Worte zu<br />

fassen.«; vgl. Gershom Scholem, Zur Kabbala <strong>und</strong> ihrer Symbolik, Frankfurt am Main 1981, S. 220 ff.<br />

24<br />

Jacob Böhme, Mysterium Pansophicum, in: Sämtliche Schriften 4. Bd. (V-IX), S. 106.

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