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4. Kapitel

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<strong>4.</strong> <strong>Kapitel</strong><br />

Ich stand am Zaun des Hauses von Rietmaier und<br />

sah mich um. Neben dem Haus hörte ich lautes Lachen<br />

und schaute um die Ecke. Eine Schar leicht<br />

bekleideter Mädchen saß dort kichernd an einem<br />

Pool. Manche patschten mit den Füßen im Wasser,<br />

andere prosteten sich mit Sektgläsern zu. Inmitten<br />

der Schar ließ sich ein Mann umwerben und bedienen.<br />

Eine Schönheit füllte ihm gerade Sekt in ein<br />

Glas, als er sich zu mir umdrehte. Rietmaier! Es war<br />

Rietmaier! Ich wollte ihm etwas zurufen, doch ich<br />

bekam keinen Ton heraus. ‚Er ist doch tot’, dachte<br />

ich. Rietmaier stand auf, wie in Zeitlupe. Er kam<br />

auf mich zu und ich sah das Schwert in seiner rechten<br />

Hand, mit der er zum Schlag ausholte. Ich tastete<br />

nach meiner Dienstpistole, doch da war keine.<br />

Das Futteral war leer. Rietmaier kam auf mich zu.<br />

Im Gesicht hatte er ein breites Grinsen. Das Schwert<br />

schwang er nun über seinen Kopf und schlug auf<br />

mich ein. Mir gelang es gerade noch, dem Schlag<br />

auszuweichen. Mit einem Krach schlug die Spitze<br />

des Schwertes auf dem Boden neben mir ein. Ich<br />

machte eine Rolle nach links und fühlte einen<br />

Schmerz in meinem linken Ellbogen.<br />

Ich öffnete die Augen und Lisa beugte sich über<br />

mich.<br />

„Heiner, was ist denn mit dir los?“, fragte sie,<br />

ganz aufgeregt. „ Hast du dir wehgetan? Wenn du


schon zur Toilette musst, dann mach dir doch wenigstens<br />

das Licht an!“<br />

„Lisa, ach Gott Lisa, du bist es. Gott sei Dank! Ich<br />

wollte nicht zur Toilette. Ich glaube, ich hatte einen<br />

schlechten Traum“, sagte ich, mich an Lisa hochziehend.<br />

„Da bin ich ganz einfach aus dem Bett<br />

gefallen.“<br />

„Du solltest mal Urlaub machen“, meinte Lisa, die<br />

in ihrem Negligee süß aussah. „Dann hättest du<br />

auch einmal etwas Zeit für mich.“<br />

Ich zog Lisa zu mir heran und legte meinen Kopf<br />

auf ihre Schulter. Sie roch gut und ich fühlte mich<br />

wohl in ihrer Nähe. Was fand diese Frau eigentlich<br />

an mir, darüber musste ich plötzlich nachdenken.<br />

Ich war fast doppelt so alt wie sie und vernachlässigte<br />

sie in jeder Beziehung. Ein Polizist sollte solo<br />

bleiben, vielleicht wäre das eine bessere Lösung.<br />

Fast glaubte ich, sie hätte meine Gedanken erraten.<br />

„Komm wieder ins Bett“, sagte Lisa und zog<br />

mich, indem sie hinsank, zu sich. Wir versanken<br />

beide im Taumel der Gefühle und anschließend<br />

schliefen wir, eng aneinander geschlungen, ein. Den<br />

bösen Traum hatte ich vergessen.<br />

2


5. <strong>Kapitel</strong><br />

Die Obduktion des Toten war für heute Nachmittag,<br />

gegen fünfzehn Uhr, angesetzt worden. Vorher<br />

wollte ich mich aber noch auf dem Grundstück von<br />

Rietmaier umsehen.<br />

Ich rief Leni in Trier an und verabredete mich mit<br />

ihr um 1<strong>4.</strong>45 Uhr an der Leichenhalle des Krankenhauses<br />

der Barmherzigen Brüder. Dann fuhr ich in<br />

die Buchenstraße 10 in Forstenau.<br />

Im Prunk hatte „Charly Rietel“ weiß Gott nicht<br />

gelebt. Nicht hier in Forstenau. Anderthalb Stockwerk,<br />

nur teilweise verputzt, ein Altbau. Offensichtlich<br />

ein ehemaliges Bauernhaus, denn an die rechte<br />

Hausseite schloss sich ein kleiner Anbau mit einem<br />

bogenförmigen Tor an, eventuell ein ehemaliger<br />

Stall.<br />

Der Eingang zum Haus lag an der Seite, also nicht<br />

zur Buchenstraße hin. Zur Haustür führte eine kleine<br />

Treppe mit drei Stufen, davor eine Grundstücksfläche<br />

von der Größe eines Kleingartens.<br />

Die Haustür war von den Kollegen versiegelt worden<br />

und das Siegel klebte immer noch auf beiden<br />

Seiten und war unbeschädigt. Der Zugang zur Trep-<br />

3


pe war mit lockerem Schotter versehen, um nicht<br />

den Schmutz ins Haus zu tragen.<br />

So stand ich nun vor dem Anwesen Rietmaier, der<br />

hier noch einige Jahre Renovierungsarbeiten vor<br />

sich gehabt hätte. Dass er ständig am Fortschritt<br />

seiner Bemühungen gearbeitet hatte, davon zeugten<br />

ein Betonmischer und eine Schaufel, die man achtlos<br />

zwischen die leeren Zementsäcke geworfen hatte.<br />

Ich ließ meine Blicke über das Haus, das Anwesen<br />

schweifen, in der Hoffnung, etwas zu entdecken,<br />

was der Aufklärung hätte dienlich sein können.<br />

Mit dem Fuß scharrte ich im Splitt der Einfahrt<br />

und stutzte plötzlich. Einige der rund zwei Zentimeter<br />

großen Steinchen hatten teilweise eine dunklere<br />

Farbe als die übrigen. Ich hob ein Steinchen auf und<br />

betrachtete es. Das konnte natürlich Farbe sein oder<br />

Tropfen von ausgelaufenem Motorenöl. Es konnte<br />

aber auch … Blut sein! Wenn es das tatsächlich<br />

war, würde es sich bald herausstellen, wem dieses<br />

Blut gehörte. War es das von Rietmaier? Wenn ja,<br />

dann stand ich wahrscheinlich genau auf dem Tatort.<br />

Was mich an der Sache störte, war die Tatsache,<br />

dass die dunkleren Steine wahllos zwischen den<br />

anderen lagen. Eine Blutlache konnte es also nicht<br />

sein.<br />

Ich zückte mein Handy und rief den Erkennungsdienst<br />

an. Bis zu dessen Eintreffen blieb ich an Ort<br />

und Stelle. Danach machte ich mich sofort auf zur<br />

Gerichtsmedizin in Trier. Eine halbe Stunde würde<br />

ich benötigen. Die Herren Obduzenten brauchten<br />

also nicht zu warten.<br />

4


Leni wartete bereits vor dem Eingang des Leichenaufbewahrungstraktes,<br />

als ich eintraf.<br />

„Die Tür ist offen, wir sollten hineingehen“, sagte<br />

sie.<br />

Wir gingen vorbei an den Toten, die auf Bahren<br />

lagen und bis über die Köpfe mit weißen Laken<br />

zugedeckt waren. Dass sich darunter ehemaliges<br />

Leben befand, erkannte man lediglich an den unterschiedlichen<br />

Erhebungen des Kopfes und der Füße.<br />

Immer, wenn ich hier durchging, schauderte es mich<br />

ein wenig. Nicht wegen der Toten, vielmehr der<br />

Erkenntnis wegen, dass irgendwann jeder Mensch<br />

einmal so daliegt.<br />

„Ah, die Herrschaften von der Kripo vermute<br />

ich.“ Ein sonorer Herr in grünem Arztkittel kam uns<br />

entgegen. Ein Mundschutz hing unter seinem Kinn,<br />

Haare und Menjou-Schnurrbart waren schneeweiß.<br />

„Schneider“, stellte er sich vor, Professor Theo<br />

Schneider, Pathologe und der Obduzent für Ihren<br />

Fall.“<br />

„Ich bin Heiner Spürmann, Kripo Trier und das ist<br />

meine Kollegin Marlene Schiffmann“, stellte ich<br />

uns vor.<br />

„Es ist alles vorbereitet“, informierte Schneider<br />

und ruderte in Richtung Obduktionsraum. Wir folgten<br />

ihm wie in einem Sog. „Staatsanwalt Rödel hat<br />

angerufen und mitgeteilt, dass er entweder später<br />

oder gar nicht kommen wird. Er steckt in einer Verhandlung,<br />

die sich hinauszögern wird, wie er sagte.“<br />

5


„Also fangen wir an“, schlug ich vor und bemerkte<br />

gleichzeitig, wie Leni zusammenzuckte. Mir war<br />

sofort klar, warum.<br />

„Es ist deine erste Leichenöffnung, nicht wahr?“<br />

fragte ich sie.<br />

Sie nickte und schien verlegen.<br />

„Das ist doch nichts Schlimmes“, versuchte ich<br />

sie zu beruhigen. „Es ist bei allem einmal das erste<br />

Mal. Du musst natürlich nicht mitkommen, aber<br />

dein Beruf wird dich irgendwann doch einmal dazu<br />

zwingen. Wenn es dann eine Wasserleiche oder eine<br />

von Maden zerfressene …“<br />

„Ist schon gut, ich komme mit.“ Leni warf den<br />

Kopf leicht in den Nacken und wollte tapfer weitergehen.<br />

Ich hielt sie am Arm fest.<br />

„Es ist ratsam, wenn du etwas Parfum oder Kölnisch<br />

Wasser auf dein Taschentuch träufelst, für alle<br />

Fälle. Meist hilft es.“<br />

Sie nickte noch einmal und wir betraten den Sektionsraum.<br />

Dort war schon alles vorbereitet. Rietmeiers<br />

sterbliche Überreste lagen auf dem metallenen<br />

Seziertisch. Er lag auf dem Rücken, unter dem<br />

Kopf ein Holzvierkant, an der großen Zehe des linken<br />

Fußes ein Zettel mit all seinen erforderlichen<br />

Daten. Eine Adresse darauf gab es nicht mehr.<br />

Die Leiche war völlig unbekleidet und Leni gab<br />

sich alle Mühe nicht hinzusehen.<br />

„Darf ich vorstellen, Wladimir Kornsack, mein<br />

Gehilfe. Auf seine Dienste zu verzichten könnte ich<br />

mir nie erlauben.“ Dr. Schneider zeigte auf seinen<br />

Mitarbeiter, der bereits an der Leiche nestelte und<br />

6


nur kurz nickend zu uns aufsah. Also richtig betrachtet,<br />

sah nur das linke Auge auf uns, das rechte<br />

blieb erst einmal in Wartestellung in geschlossenem<br />

Zustand, um sich dann kurz zu öffnen und gleich<br />

wieder zu schließen. Ein geschädigter Nerv war<br />

dafür verantwortlich, wie ich irgendwann erfuhr.<br />

Auf einem fahrbaren Tisch lagen die Instrumente,<br />

die zum größten Teil zum Einsatz kommen sollten.<br />

Daneben kleine Kunststoffbehältnisse zum Verstauen<br />

von Gewebeproben und Klebezettel. Alles muss<br />

dokumentiert werden. Schneider hielt in seiner rechten<br />

Hand bereits ein Diktiergerät, in dem er jeden<br />

Schritt der Obduktion verbal festhalten würde.<br />

„Montag, 23. Oktober, 15.20 Uhr, Obduktion<br />

Wilhelm Rietmaier, geb. 19. Dezember 1960 in<br />

Forstenau …“ Schneider diktierte alle erforderlichen<br />

Anfangsdaten in sein Diktaphon und sagte<br />

dann, zu seinem Gehilfen gewandt: „Wir können<br />

beginnen.“<br />

Jede Leichenöffnung geschieht nach dem gleichen<br />

Schema. Sei es ein Mord, ein Selbstmord, ein Unfall<br />

oder ein anderer Grund, der aufgrund einer nicht<br />

feststellbaren Todesursache eine Obduktion erforderlich<br />

macht, die Verfahrensweise ist immer die<br />

gleiche. Nur so können Pathologen, Staatsanwaltschaft<br />

und Kriminalpolizei sicher gehen, dass keine<br />

Untersuchung, keine Probe und kein wichtiges Detail<br />

vergessen werden. Ich hatte meine digitale Fotokamera<br />

dabei, um jeden Schritt, jedes wichtige<br />

Detail fotografisch festzuhalten.<br />

7


Als erstes folgte eine Untersuchung des äußeren<br />

Körpers und Schneider bat mich, näher zu kommen.<br />

„Über dem gesamten Oberkörper sind insgesamt<br />

zwölf Schnittwunden zu erkennen, alle in einer ungefähren<br />

Länge von acht Zentimetern und ein Einstich<br />

in die linke Brustseite.“ Schneider hielt einen<br />

Messstab an: „Vier Zentimeter breit.“ Dann nahm er<br />

den Stab, führte ihn in die Wunde ein und wir konnten<br />

sehen, dass er seitlich bis ins Herz drang und<br />

von außen gesehen, fast gänzlich verschwand.<br />

„Ich vermute, ja ich bin mir jetzt schon fast sicher,<br />

dass dieser Stich die Todesursache ist“, sagte<br />

Schneider, „wenn er vorher nicht wegen der tiefen<br />

Schnitte verblutet ist. Dennoch macht mir dieser<br />

Einstichbereich Sorgen. Sorgen bezüglich Ihrer Ermittlungen.“<br />

Er schaute mich an, als wolle er sagen:<br />

‚wie meine ich das bloß?’<br />

Ich wusste genau, was er meinte.<br />

„Es ist eine unübliche Stelle, einen Stich zu setzen“,<br />

sagte ich und stellte mir die Ausführung vor.<br />

„Der Einstich befindet sich genau dort, wo der<br />

Oberarm am Oberkörper anliegt, wenn man aufrecht<br />

steht. Das wiederum bedeutet, dass der tödliche<br />

Stich während einer Abwehrbewegung dieses Armes<br />

ausgeführt wurde, oder aber ...“<br />

„Oder aber, als die Person auf dem Boden lag“,<br />

unterbrach mich Professor Schneider und führte<br />

erneut den Messstab in die Wunde ein. „Sehen Sie<br />

genau hin!“ Offensichtlich wähnte sich Schneider<br />

im Hörsaal unter seinen Studenten, denen er ein<br />

wichtiges Detail unterbreiten wollte. Ich war heute<br />

8


der Student und ich muss sagen, ich war es gerne.<br />

Denn alles was Schneider mit Leib und Seele offerierte,<br />

kam der Klärung des Falles zugute.<br />

„Es ist doch merkwürdig, dass der Stich fast waagerecht<br />

gesetzt wurde“, fuhr Schneider fort. Hätte<br />

der Mann gestanden – und er hätte ja nicht einfach<br />

in aller Ruhe einem Angriff auf sich zugesehenwäre<br />

der Stich zumindest mit einem geringen Winkel<br />

von unten nach oben in die Brust eingedrungen.<br />

Einen Einstich von oben können wir vergessen,<br />

oder? Mit einem Schwert!“ Er sagte dies fast vorwurfsvoll,<br />

als hätte ich seine Aussage dementiert.<br />

„Also muss der Mann auf der Erde gelegen haben.“<br />

Ich versuchte, mir das alles bildlich vorzustellen.<br />

„Und er muss verteidigungsunfähig gewesen<br />

sein, sonst hätte er sicherlich auch Stichwunden am<br />

linken Unterarm“, sagte ich mehr zu mir selbst.<br />

„Und er muss auf der rechten Körperseite gelegen<br />

haben. Charly Rietel, wenn du doch reden könntest.“<br />

Wie dumm diese Frage war, fiel mir natürlich<br />

sofort auf. Wenn er reden könnte, wäre er nicht tot<br />

und wenn er nicht tot wäre, würde ich heute Abend<br />

pünktlich bei Lisa sein.<br />

Für Schneider schien dieses Thema erledig zu sein.<br />

Alles Weitere überließ er mir. Er war bereits dabei,<br />

die Leiche an verschiedenen Stellen abzutasten<br />

und die einzelnen Untersuchungsergebnisse ins Diktaphon<br />

zu sprechen. Kornsack und Schneider drehten<br />

den Körper in Bauchlage und der Professor un-<br />

9


tersuchte jeden Zentimeter. Dann nickte er seinem<br />

Gehilfen zu.<br />

Das, was ich schon an die 100 Mal mitgemacht<br />

hatte, musste für Leni eine Tortur sein. Besonders<br />

zu Beginn der Leichenöffnung muss man stark sein.<br />

Wladimir Kornsack, er stammte aus Polen, hatte<br />

eine Deutsche geheiratet und deren Namen angenommen,<br />

führte, nachdem er die Leiche wieder auf<br />

den Rücken gedreht hatte, den ersten Schnitt, beginnend<br />

an der Schläfe über dem linken Ohr, um<br />

den Schädel herum bis zum rechten Ohr, um dann<br />

mit beiden Händen kraftvoll den Skalp zu lösen und<br />

mit der haarigen Seite auf dem Gesicht abzulegen.<br />

Das Kinn diente dabei als Halterung. Dann langte er<br />

zu der elektrischen Knochensäge mit dem Aussehen<br />

einer kleinen Schleifflex, auf die ein rundes Sägeblatt<br />

mit feinen Zähnen montiert ist, setzte sie auf<br />

eben der gleichen Linie an, wie er die Kopfhaut<br />

eingeschnitten hatte und fraß sich mit den metallenen<br />

Zähnen durch die Knochendicke. Der Sägeschnitt<br />

rund um den Schädel brauchte einige Zeit<br />

und auch einige Kraft. Woran man sich unbeteiligter<br />

Anwesender erst gewöhnen musste, war der<br />

schrille, kreischende Ton, mit dem sich die Säge<br />

durch den Knochen fraß.<br />

Ich sah zu Leni. Die hatte den Kopf geneigt und<br />

hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Sie<br />

wird`s verkraften und das weiß sie auch. Denn das,<br />

was sie heute sieht und hört, wird sie in ihrer Laufbahn<br />

noch oft mitmachen müssen.<br />

10


Inzwischen hatte Kornsack den Schädeldeckel<br />

abgehoben und das Gehirn aus dem Schädel herausgelöst.<br />

Wortlos übergab er es an Schneider, der es<br />

mit einem scharfen Schlachtermesser in zentimeterdicke<br />

Scheiben schnitt. Eine dieser Scheiben verschwand<br />

in einem der bereitgestellten Kunststoffbehältnisse,<br />

wurde verschlossen und beschriftet und<br />

der Vorgang von Schneider auf Tonband dokumentiert.<br />

Das geschah in dieser Reihenfolge mit allen<br />

Proben, die entnommen wurden. Kornsack, der<br />

wirklich die Drecksarbeit alleine machen musste,<br />

führte nun mit dem Skalpell einen Schnitt, beginnend<br />

unterhalb des Kinnknochens über Brust und<br />

Bauch bis hin zum Schambein durch. Es folgte jeweils<br />

ein Schnitt entlang des Schlüsselbeins in<br />

Richtung Hals. So konnte nun die Haut des vorderen<br />

Körpers wie ein Vorhang nach beiden Seiten<br />

offen gelegt werden. Die Rippen lagen nun sichtbar<br />

vor uns. Mit einer Art Geflügelschere löste Kornsack<br />

ein trapezförmiges Rippenstück aus der Brust,<br />

legte es beiseite und vertiefte den Schnitt im<br />

Bauchbereich. So lagen mit wenigen Handgriffen<br />

alle inneren Organe frei. Die Lebenswerkstatt eines<br />

Menschen. Zahnräder in Form von fleischigen<br />

Weichteilen, die ineinander griffen und immer wieder<br />

nur eines bewirkten: Die Masse Mensch am<br />

Leben zu erhalten. Es sei denn, seinesgleichen greift<br />

mit roher Gewalt ein und zerstört die Automatik.<br />

Die Vorarbeit war getan und Schneider trat an den<br />

Seziertisch. Mit einem Skalpell löste er nacheinander<br />

alle Organe, vom Magen an aufwärts bis zum<br />

11


Herz, schnitt Proben ab und verstaute diese unter<br />

ständigen Kommentaren in den Plastikbehältern, die<br />

sein Gehilfe sofort entsprechend beschriftete. Das<br />

tat dieser mit einem solchen Eifer, das sein rechtes<br />

Augenlid zu flackern begann und man nicht wusste,<br />

würde es sich öffnen oder geschlossen bleiben.<br />

Während der gesamten Zeit hatte Leni neben mir<br />

gestanden. Sogar, als mir Schneider die Tiefe des<br />

Einstiches vorführte, war sie mit an den Seziertisch<br />

getreten. Tapferes Mädel! Bisher hatte sie kein Kölnisch<br />

Wasser gebraucht. Auch nicht, als Kornsack<br />

die komplette Masse der Därme aus der Bauchhöhle<br />

entfernte und die wabbelige Masse neben dem Körper<br />

auf den Seziertisch ablegte.<br />

Doch, als nun der Gehilfe des Obduzenten alle<br />

Organe wieder in die Bauch- und Brusthöhle ablegte,<br />

sah ich, dass sie schluckte und etwas nach hinten<br />

trat.<br />

„Wir sind fertig“, hörte ich Schneider sagen. „Den<br />

Obduktionsbericht erhalten sie so bald wie möglich.<br />

Aber im Gunde wissen Sie für Ihre Ermittlungen ja<br />

ausreichend Bescheid. Ich wünsche Ihnen beiden<br />

viel Erfolg.“<br />

Kornsack hatte bereits begonnen, den geöffneten<br />

Körper vom Schambein her nach oben mit einem<br />

kräftigen Seil zu vernähen. Das Gehirn befand sich<br />

ebenfalls wieder an Ort und Stelle, das Schädeldach<br />

ebenfalls, die Kopfhaut verdeckte den Sägeschnitt.<br />

Ein durchschnittlicher Leichenbestatter würde<br />

Rietmaier wieder so hinbekommen, dass in seinem<br />

12


Sarg später nichts mehr auf die heutige Arbeit<br />

Rückschlüsse zulassen würde.<br />

Wir verabschiedeten uns von Schneider, Kornsack<br />

winkte uns kurz während seiner Arbeit zu, das rechte<br />

Auge war dabei sogar halb geöffnet.<br />

Im Präsidium angekommen, ging Leni sofort in<br />

unser Büro. Mir war klar, sie brauchte jetzt ein<br />

Stündchen für sich zum Abschalten. Ich stattete<br />

dem Erkennungsdienst noch einen kurzen Besuch<br />

ab, um mich nach dem Ergebnis der Blutspuren auf<br />

den Kieselsteinen der Einfahrt des Hauses Rietmaier<br />

zu erkundigen. Das Ergebnis der Untersuchung<br />

stand bereits fest. Es war tatsächlich Rietmeiers<br />

Blut. Also stand somit auch der Tatort fest.<br />

Er wurde auf seinem eigenen Grundstück ermordet.<br />

Aber wer hatte einen Grund, dies zu tun? In mir fraß<br />

sich der Gedanke fest, dass seine Vergangenheit<br />

irgendwie damit zu tun hatte. Doch, wo ansetzen?<br />

Was wussten die Nachbarn, was ich nicht wusste?<br />

Ich hatte das Gefühl, dort ansetzten zu müssen.<br />

Nach offiziellem Dienstschluss fuhr ich nach<br />

Hause. In diesem Fall war es ein Vorteil, dass der<br />

Tatort sich in meinem Wohnort befand.<br />

Lisa war zu Hause. „Hast du Hunger?“, fragte sie<br />

nach einer herzlichen Begrüßung mit Kuss und einer<br />

kleinen Streicheleinheit. Ich fühlte mich auf<br />

einmal sehr wohl in ihrer Gegenwart. Gleichzeitig<br />

meldete sich mein schlechtes Gewissen. Ich ließ sie<br />

einfach zu oft und zu lange alleine. Und wie sie das<br />

verkraftete. Kein Vorwurf, keine Szene.<br />

13


„Hast du Hunger?“, fragte sie noch einmal und<br />

zog mich am Jackenärmel ins Wohnzimmer. Als<br />

hätte sie gewusst, dass ich heute pünktlich nach<br />

Hause kommen sollte, hatte sie den Tisch zu einem<br />

Candle-Light-Dinner hergerichtet.<br />

Ich ertappte mich dabei, dass ich verlegen wurde.<br />

Ich wollte ihr einfach Danke sagen, wollte ihr versprechen,<br />

mich mehr um sie zu kümmern, ich wollte<br />

...<br />

„Gefällt es dir?“, fragte sie leise neben mir und<br />

anstatt vieler Worte nahm ich sie in den Arm und<br />

küsste sie, bis sie anfing, sich zu winden und ich sie<br />

losließ.<br />

„Du bringst mich ja um“, sagte sie lachend. „Spar<br />

dir das auf für heute Abend.“<br />

Da war es wieder, das schlechte Gewissen. Gerade<br />

heute wartete noch eine Menge Arbeit auf mich.<br />

Die Nachbarn von Rietmaier! Jeder Tag, in dem ich<br />

die Ermittlungen schleifen ließ, war ein verlorener<br />

Tag! Ich würde ihr nach dem Essen sagen, dass ich<br />

wieder los musste.<br />

Die Arbeit war schneller getan, als ich dachte. Auf<br />

der gegenüberliegenden Straßenseite des Hauses<br />

Rietmaier gab es zwei Einfamilienhäuser, auf der<br />

rechten Seite neben dem Haus ein weiteres, doch an<br />

diesem fehlten die Fenster, um den Tatort einzusehen.<br />

Links vom Haus Rietmaier trennte eine Wiese<br />

mit einem freien Bauplatz das Haus vom Anwesen<br />

dort örtlichen Bürgermeisters, Detlef Hildebrandt.<br />

Sicherlich hätte er sich für dieses Grundstück lange<br />

interessiert, doch er und seine Frau Margarethe wa-<br />

14


en kinderlos geblieben. Für wen also hätte er sich<br />

krumm legen sollen?<br />

Es kam, wie ich es mir vorgestellt hatte. Niemand<br />

hatte in der Zeit von achtzehn bis zwanzig Uhr, aber<br />

auch nicht davor oder danach, etwas Verdächtiges<br />

gesehen oder gehört.<br />

Hildebrandt selbst war nicht zu Hause, seine Frau<br />

Margarethe öffnete mir die Tür.<br />

„Ach, Herr Spürmann, Sie sind es. Sie wollen<br />

sicher zu meinem Mann. Der ist leider nicht da. Er<br />

ist zu einer Beerdigung im Nachbarort. Wird sicherlich<br />

spät, bis er nach Hause kommt. Soll ich ihm<br />

etwas ausrichten?“<br />

Ich kam sofort zur Sache. „Frau Hildebrandt, Sie<br />

haben doch sicher von dem Toten im Waldhausener<br />

Forst gehört? Wahrscheinlich hat es sich inzwischen<br />

auch herumgesprochen, dass es sich dabei um ihren<br />

Nachbarn, Wilhelm Rietmeier, handelt? Können Sie<br />

sich erinnern, am Abend des Zwanzigsten, also am<br />

vergangenen Freitag, in den Abendstunden, irgendetwas<br />

Verdächtiges nebenan bemerkt oder gehört zu<br />

haben?“<br />

„Nein“, antwortete Margarethe Hildebrandt. Sie<br />

machte einen sichtlich zerstreuten Eindruck auf<br />

mich. „Wir waren am Freitag gar nicht zu Hause.<br />

Wir sind erst spät zurückgekommen. Und gehört<br />

habe ich von dem Vorfall erst am Samstag durch<br />

Nachbarn, im Gespräch.“<br />

O.k., hier gab es für mich nichts zu holen. Ich<br />

verabschiedete mich mit einem Gruß an den Ehemann.<br />

Meine Ermittlungen an diesem Abend hatten<br />

15


nichts hergegeben. Ich beschloss, noch kurz das<br />

„Hochwald Stübchen“ aufzusuchen und anschließend<br />

würde Lisa sich freuen, mich so früh am<br />

Abend wieder zu sehen. Dass aber bei genauer Betrachtung<br />

dieser Abend zur Klärung des Falles einiges<br />

beizutragen gehabt hätte, wurde mir erst viel<br />

später bewusst.<br />

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