4 misericordia 4/12 · Thema: Loslassen Messies können nur schwer Entscheidungen treffen. Um nicht das Falsche wegzuwerfen, heben sie alles auf, auch auf die Gefahr hin, dass ihre Wohnung zur Rumpelkammer wird. Die Unfähigkeit Sachen wegzuwerfen treibt Messies in die Isolation Kein Platz mehr zum Leben Renate Roi<strong>der</strong> (Name geän<strong>der</strong>t) ist sich sicher: „Spätestens, wenn die Leute vor meinem Haus stehen, wissen sie, was los ist.“ Holzkisten, leere Kartons und Blu- mentöpfe stapeln sich neben <strong>der</strong> Haustür. Ihr Auto parkt sie grundsätzlich vor dem Haus, denn die Garage ist vollgestellt mit alten Möbeln und Holzkisten. Auf die Frage, warum sie nicht alles in einen Container wirft o<strong>der</strong> die Sachen nach und nach zum Wertstoffhof bringt, antwortet Renate: „Momentan beziehe
ich Hartz IV und habe kein Geld für einen Container.“ Fragt man weiter, fallen Schlagworte wie Handlungsblockade, Stress o<strong>der</strong> das Eingeständnis: „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist alles voll.“ Renate ist Messie. Vor sechs Jahren gründete die heute 52-Jährige einen Gesprächskreis. Trennung als Auslöser Schon als Sechsjährige habe sie Dinge wie alte Fliesen und Schüsseln gesammelt, die Nachbarn weggeworfen hatten. „Ein Messie glaubt, ausnahmslos alles einmal brauchen zu können“, sagt Renate. Außerdem könnten Messies keine Entscheidungen treffen, weil sie Fehler um jeden Preis vermeiden wollen. Schlimm wurde Renates Sammelwut nach dem Bruch ihrer letzten Beziehung. Ihr damaliger Lebensgefährte habe sie immer wie<strong>der</strong> dazu gezwungen, eine gewisse Ordnung zu halten – meistens mit tyrannischen Methoden. „Der räumte alle Schränke und Regale aus, und ich musste alles wie<strong>der</strong> einordnen.“ Er selbst beteiligte sich gar nicht am Haushalt. „Als es aus war, wurde es ganz heftig. Vielleicht war das auch eine Trotzreaktion“, erklärt sie ihre darauffolgende Sammelwut. Auch Sabine Walter (Name geän<strong>der</strong>t) kommt regelmäßig zu den Treffen <strong>der</strong> Selbsthilfegruppe. Sie berichtet, dass sie über unordentliche Ecken in ihrer Wohnung eine Tagesdecke wirft, wenn Besuch kommt. Die 64-Jährige lebt mit ihrem Mann zusammen. Im Gegensatz zu ihr könne <strong>der</strong> richtig gut wegwerfen. „Wahrscheinlich schreckt ihn auch meine Sammelwut ab, so dass er umso mehr wegschmeißt.“ Vor allem das Gefühl, man könne aus dem meisten noch etwas machen, hin<strong>der</strong>t sie daran, etwas wegzuwerfen. „Aus den abgelegten Hemden meines Mannes kann ich doch noch schöne Kissen nähen.“ Meistens bleibt es beim Vorsatz und die Hemden landen auch nach Jahren noch nicht im Müll. So komisch sich die Geschichten <strong>der</strong> beiden anhören mögen – Messies leiden unter ihrem Wahn, alles sammeln zu müssen. In <strong>der</strong> Selbsthilfegruppe stellt Renate immer wie<strong>der</strong> fest, dass oft <strong>der</strong> Verlust eines geliebten Menschen dazu führt, dass jemand zum Messie wird. Betroffene fangen an, obsessiv Gegenständen um sich zu scharen, weil sie dann das Gefühl haben, selbst entscheiden zu können, wann die Sachen aus ihrem Leben verschwinden. Gleichzeitig biete das Angesammelte auch eine gewisse Schutzfunktion vor Grenzüberschreitungen <strong>der</strong> Mitmenschen. Aber man bezahle diesen Schutzraum mit Isolation. „Der Messie schämt sich für seine Unordnung und will um jeden Preis vermeiden, dass ein Außenstehen<strong>der</strong> diese erblickt.“ Obwohl Sabine und Renate eng befreundet sind, war Sabine noch nie in Renates Wohnung. „Ich lasse niemanden mehr hinein“, sagt sie. Vor Jahren habe sie einmal einer Bekannten erzählt, dass sie Messie sei. Die wollte ihr beim Aufräumen helfen. Nach <strong>der</strong> Aktion herrschte Funkstille. „Nach einem halben Jahr rief sie mich an und sagte mir, dass sie so lange gebraucht habe, um die zwei Bil<strong>der</strong> von mir zu einer Person zusammenzufügen. Das Bild, das sie vorher von mir hatte, und das Bild danach.“ Sehnsucht nach Perfektion Aufräumshows, wie sie in Reality-Soaps im Fernsehen gezeigt werden, empfindet Renate als pure Vergewaltigung. Denn eines eint alle Messies, auch wenn es für Außenstehende nur schwer zu glauben ist: Sie sind keine disziplinlosen Schlamper, son<strong>der</strong>n Perfektionisten. Diese Sehnsucht nach Perfektion macht es ihnen meist noch schwerer, ihr Chaos Thema: Loslassen · misericordia 4/12 5 in den Griff zu bekommen. „Denn wenn sich eine gewisse Unordnung breit gemacht hat, wollen sie alles auf einmal in den Griff bekommen, was beim Ausmaß <strong>der</strong> Unordnung gar nicht mehr möglich ist“, sagt Professor Dr. Hermann Spießl, Chefarzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Bezirkskrankenhaus Landshut. Zusätzlich falle es Perfektionisten sowieso schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Messies sind oft Menschen, die angepasst sind, nach außen gut funktionieren und nicht „Nein“ sagen können. Renate erzählt ein Beispiel: „Als eine Cousine von mir angerufen hat, sie hätte zehn Säcke mit alten Klei<strong>der</strong>n, bin ich natürlich hingefahren. Schließlich hat sie die ja extra für mich gesammelt.“ Die Sachen liegen jetzt in einigen ihrer überquellenden Schränke, während die Kleidung, die sie täglich benutzt, auf einer Seite ihres Bettes liegt. Meistens gelingt es Messies im beruflichen Bereich durchaus, Ordnung zu halten. Sabine, die mittlerweile in Rente ist, arbeitete als Sekretärin in einem Konstruktionsbüro. „Da war ich pingelig, habe detaillierte Excel-Listen angefertigt, damit man alles leichter findet.“ Nach <strong>der</strong> Pensionierung wollte sie zuhause Zimmer für Zimmer ausräumen. „Da fiel mir auf, wieviel sich in all den Jahren angehäuft hatte. “ Die Menschen in <strong>der</strong> Selbsthilfegruppe stammen aus allen sozialen Schichten und Berufen. „Da kann ich mich aussprechen, ohne Angst haben zu müssen, dass mich jemand auslacht“, sagt Sabine. Durch die Treffen sei sie nachsichtiger mit sich selbst geworden. „Ich setze mich nicht mehr so unter Druck, dass ich das ganze Haus sofort in den Griff kriegen muss. “ Dadurch fiele es ihr leichter, immer mal wie<strong>der</strong> eine Ecke leerzuräumen. Doch von heute auf morgen werde niemand vom Messie zum Wegschmeißer, sagt Renate. „Das bleibt ein lebenslanger Kampf.“ Alexandra Beck Landshuter Zeitung Kontakt zu Messie-Selbshilfegruppen findet man im Internet unter www.messie-selbsthilfe.de .