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Suizidwunsch bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung ...

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Suizidalität als medizinisches Problem<br />

–<br />

<strong>Suizidwunsch</strong> <strong>bei</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>einer</strong><br />

<strong>psychischen</strong> <strong>Erkrankung</strong><br />

Martin E. Keck<br />

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat.<br />

Tagung, 28. September 2012, Kunsthaus Zürich, Auditorium<br />

Forum Gesundheit und Medizin<br />

Sterbe, wer will?<br />

Sterbehilfe und organisierte Suizid<strong>bei</strong>hilfe als ethische Frage<br />

und gesellschaftliche Herausforderung – Wie weiter in der Schweiz?<br />

Zentrum für Neurowissenschaften Zürich - ZNZ<br />

Clienia Privatklinik Schlössli<br />

-<br />

Privatklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie


Risikofaktoren Suizid<br />

90% der Suizidenten weisen eine psychiatrische Störung auf<br />

Affektive Störungen (Depression) 40 - 70%<br />

Suchterkrankung 25 - 50%<br />

Persönlichkeitsstörungen 30%<br />

Schizophrenie 15 - 50%<br />

Angsterkrankung 10 - 20%


Rangfolge der Ursachen für Tod und chronische<br />

Behinderung ("disability-adjusted life years") weltweit<br />

1990<br />

Atemwegserkrankungen 1<br />

Gastrointestinale Infektionen 2<br />

Perinatale Komplikationen 3<br />

Depression 4<br />

Koronare Herzerkrankung 5<br />

Zerebrovaskuläre <strong>Erkrankung</strong>en 6<br />

Tuberkulose 7<br />

Masern 8<br />

Verkehrsunfälle 9<br />

Angeborene Fehlbildungen 10<br />

Malaria 11<br />

Chron.-obstr. Lungenerkrankung 12<br />

Epilepsie 13<br />

Eisenmangelanämie 14<br />

Proteinmangelerkrankungen 15<br />

4<br />

1<br />

1 Depression,<br />

Angsterkrankungen<br />

2 Koronare Herzerkrankung<br />

3 Verkehrsunfälle<br />

4 Zerebrovaskuläre <strong>Erkrankung</strong>en<br />

5 Chron.-obstr. Lungenerkrankung<br />

6 Atemwegserkrankungen<br />

7 Tuberkulose<br />

8 Kriegsfolgen<br />

9 Gastrointestinale Infektionen<br />

10 HIV<br />

"The Global Burden of Disease“, WHO, 2006<br />

2030<br />

11 Perinatale Komplikationen<br />

12 Folgen von Gewalt<br />

13 Angeborene Fehlbildungen<br />

14 Selbstverstümmelungen


Umsatz von Antidepressiva in Mio. Packungen in der Schweiz<br />

3<br />

2.5<br />

2<br />

1.5<br />

1<br />

0.5<br />

0<br />

1995 2000 2005 2008<br />

Quelle: IMS Health GmbH Hergiswil; Interpharma


Diagnostisches und therapeutisches Defizit <strong>bei</strong> Depression<br />

Gesamtzahl<br />

behandl.bed.<br />

Depressionen<br />

ca. 4 Mio.<br />

In hausärztl.<br />

Behandlung<br />

2,4 - 2,8 Mio.<br />

als Depression<br />

diagnostiziert<br />

1,2 - 1,4 Mio.<br />

suffizient<br />

behandelt<br />

240-360<br />

Tausend<br />

nach 3<br />

Monaten<br />

Behandlung<br />

compliant<br />

100-160<br />

Tausend<br />

Kompetenznetz Depression<br />

60-70 % 30-35 % 6-9 % 2,5-4 %


Problem therapieresistente Depressionen<br />

• Nur 30 % der Patienten haben eine volle Remission [Rush 1995; 2006]<br />

• <strong>bei</strong> 25 % d. Pat. chronischer Verlauf > 2 Jahre [Angst 1997]<br />

Depression ist behandelbar<br />

Behandlung ist optimierbar


Rate (pro 100’000)<br />

10-14<br />

15-19<br />

20-24<br />

25-29<br />

30-34<br />

35-39<br />

40-44<br />

45-49<br />

50-54<br />

55-59<br />

60-64<br />

65-69<br />

70-74<br />

75-79<br />

80+<br />

Risiko Suizid: wer nimmt sich das Leben?<br />

Schweiz 1986 bis 1990<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Alter<br />

Frauen<br />

Männer<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli<br />

Ajdacic-Gross & Jeanneret 1996


Häufigkeit psychischer <strong>Erkrankung</strong>en im Alter –<br />

Depression oft nicht erkannt!<br />

%<br />

50<br />

40<br />

Depression<br />

Demenz<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

70-74 75-79 80-84 85-89 90-94 95+ Alter<br />

aus Berliner Altersstudie 1996<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Depression und Suizidalität<br />

bis zu 15 %<br />

ca. 25 %<br />

ca. 70 %<br />

<strong>mit</strong> schwerer Depression versterben durch Suizid<br />

weisen einen Suizidversuch auf<br />

haben Suizidgedanken<br />

90 % der Suizidenten litten unter psychiatrischen<br />

<strong>Erkrankung</strong>en, am häufigsten Depression (40-70 %)<br />

Wenn eine Depression vorliegt, muss Suizidalität<br />

immer aktiv exploriert werden!<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Depression: Risiko Suizid<br />

"Derjenige, welcher sich heute in einem<br />

Anfall von Melancholie tötet, würde sich<br />

gewünscht haben zu leben, wenn er nur<br />

eine Woche gewartet hätte"<br />

Voltaire (1694-1778)<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Exkurs: Status nach kürzlicher Klinikentlassung<br />

Aktuelle psychiatrische Hospitalisation<br />

43-faches Risiko<br />

St. n. psychiatrischer Hospitalisation, - 8 Tage<br />

226x<br />

St. n. psychiatrischer Hospitalisation, - 30 Tage<br />

107x<br />

St. n. psychiatrischer Hospitalisation, - 6 Mte.<br />

44x<br />

St. n. psychiatrischer Hospitalisation, - 12 Mte.<br />

23x<br />

St. n. psychiatrischer Hospitalisation, > 1 Jar 6x<br />

Im Vergleich: St. n. Suizidversuch<br />

50x<br />

Qin et al. 2003


Diagnostik !<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Suizid:<br />

Darf der Mensch sterben (wollen)?<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Kleopatra VII. (69 v. Chr. - 30 v. Chr.) ; Seneca (1 - 65); Nero (37-68);<br />

Heinrich von Kleist (1777 - 1811); Vincent van Gogh (1853 - 1890);<br />

Virginia Woolf (1881- 1941); Rudolf Diesel (1858 - 1913);<br />

Ernest Hemingway (1899 - 1961); Paul Celan (1920 - 1970);<br />

Marilyn Monroe (1926 - 1962); Ulrike Meinhof (1934 - 1976);<br />

Uwe Barschel (1944 - 1987); Kurt Cobain (1967 - 1994); Stefan Zweig (1881-1942);<br />

Jack London (1876-1916); Rex Gildo (1936-1999); Nick Drake (1948-1974);<br />

Sid Vicious (1957-1979); Michael Hutchence (1960-1997); Ian Curtis (1956-1980);<br />

Kronprinz Rudolf (1858-1889); Gert Bastian (1923-1992);<br />

Hannelore Kohl (1933-2001); Robert Enke (1977-2009); Gudrun Ensslin (1940-1977);<br />

Sigmund Freud (1856-1939); Klaus Mann (1906-1949);<br />

Kurt Tucholsky (1890-1935); Jean Amery (1912-78), Ernst Ludwig Kirchner (1880-38),<br />

Gunther Sachs (1932-2011)<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


„In den letzten Monaten habe ich durch die Lektüre einschlägiger<br />

Publikationen erkannt, an der ausweglosen Krankheit A. zu erkranken.<br />

[...] Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben,<br />

wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe,<br />

entschieden entgegenzutreten“<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Definition von Suizid und Suizidalität<br />

Unter Suizidalität verstehen wir das Potential aller seelischen Kräfte und<br />

Funktionen, das auf Selbstvernichtung tendiert<br />

Haenel & Pöldinger 1986<br />

Suizidalität ist die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von <strong>Menschen</strong>, die in<br />

Gedanken durch aktives Handeln, Handeln lassen oder passives Unterlassen den<br />

eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis <strong>einer</strong> Handlung in Kauf<br />

nehmen<br />

Wolfersdorf 2000<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Definitionen<br />

• Die Bezeichnung Freitod enthält den Gedanken der freien Wahl zwischen<br />

Leben und Tod (Selbstbestimmungsrechts des <strong>Menschen</strong>).<br />

Meistens wird von den <strong>Menschen</strong>, die einen Suizid beabsichtigen, der<br />

eigene Tod jedoch als der einzig mögliche Ausweg gesehen<br />

• Die Entscheidungsfreiheit <strong>einer</strong> suizidalen Person ist in der Regel stark<br />

eingeschränkt<br />

• In der Wissenschaft wird die dauerhafte Einnahme von Alkohol, anderen<br />

Drogen, Magersucht oder extreme Fettsucht auch als "Suizid auf Raten"<br />

gesehen. Hier wird von einem chronischen Suizid gesprochen<br />

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Was bedeutet Suizid?<br />

Kulturelle und historische Aspekte<br />

• Folge von Sünde und Verbrechen gegen Gott?<br />

• Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung?<br />

• Ausdruck von Heldentum (Märtyrer)?<br />

• Folge der Degeneration <strong>einer</strong> Gesellschaft?<br />

• Folge <strong>einer</strong> <strong>psychischen</strong> Störung?<br />

• Legitime Flucht vor befürchtetem Leiden?<br />

Beispiele für unterschiedliche historische Antworten:<br />

• die Stoa<br />

• Aristoteles<br />

• Augustinus, katholische Kirche, Mittelalter<br />

• Aufklärung (z.B. Voltaire, David Hume)<br />

• Heute: ein von medizinischem Denken geprägter Diskurs<br />

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Definition von Suizid und Suizidalität<br />

Grenzbereiche, <strong>bei</strong> denen eigenes „freiwilliges Verhalten“ zu vorzeitigem Tod<br />

führen kann. Beispiele:<br />

Hochrisikoverhaltensweisen:<br />

z.B. rücksichtsloses Autofahren, S-Bahn-Surfen, Balancieren auf dem<br />

Brückengeländer, Hochrisikosportarten<br />

Chronisch gesundheitsgefährdendes Verhalten<br />

z.B. Hoher Nikotin- oder Alkoholkonsum, Drogenkonsum, Verzicht auf jegliche<br />

Ernährungsregeln <strong>bei</strong> Diabethes, Hypertonie usw.<br />

Selbstschädigendes Verhalten <strong>bei</strong> <strong>psychischen</strong> Störungen<br />

z.B. Extreme Gewichtsabnahme <strong>bei</strong> Magersucht<br />

Wird i.d.R. nicht zu suizidalem Handeln im engeren Sinne gezählt<br />

Meist kein Todeswunsch im Vordergrund. Im Gegenteil: Gefährlichkeit wird<br />

weitgehend verdrängt oder bagatellisiert<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


was ist „freier Wille“?<br />

• Handlungsfreiheit: Eine Person kann das tun, was sie will<br />

• Willensfreiheit: Eine Person kann ihren Willen bestimmen und<br />

entscheiden, welche Motive, Wünsche und Überzeugungen<br />

handlungswirksam werden sollen<br />

• Urteilsfähigkeit (Art. 16 Zivilgesetzbuch)<br />

• Handlungsfreiheit hat demnach auch der Drogensüchtige, den er tut was<br />

er will. Allerdings ist er nicht frei darin, zu bestimmen was er will, denn er<br />

handelt entsprechend eines inneren Zwangs<br />

• In der Philosophie wie auch in der Neurowissenschaft diskutiert man<br />

kontrovers, ob freier Wille überhaupt möglich ist.<br />

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was ist „freier Wille“?<br />

offene Fragen<br />

• Ausmass an Selbstbestimmung selbst im Einzelfall kaum objektivierbar<br />

• Kann ein Mensch wirklich aus freien Stücken sterben wollen?<br />

• oder ist das nicht immer Ausdruck <strong>einer</strong> Krankheit?<br />

• Wann hat ein Mensch die Reife, darüber zu entscheiden?<br />

• Mit 8 Jahren, 18 Jahren, 80 Jahren?<br />

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Psychopathologische Risikofaktoren <strong>bei</strong> depressiven Patienten<br />

• Wahnhaft-depressive Symptomatik als Zeichen generalisierter und<br />

maximierter kognitiver Einengung<br />

• Hoffnungslosigkeit<br />

• Unruhe und Getriebenheit<br />

• Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld<br />

• Nicht bewältigbar erscheinende Angstzustände<br />

Wolfersdorf, 2000<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Risikofaktoren<br />

• Geschlecht: Männer > Frauen<br />

• Alter: älter als 50 Jahre > jünger als 50 Jahre<br />

• Familienstand: Geschiedene > Verwitwete > Ledige > Verheiratete<br />

• Soziale Schichten: Unterschicht überrepräsentiert<br />

• Ar<strong>bei</strong>tsstand: Ar<strong>bei</strong>tslose >> <strong>mit</strong> Ar<strong>bei</strong>tsplatz<br />

• Jahreszeit: Sommer und Frühling> Winter und Herbst<br />

• Stadt/Land: Stadt > Land (in Ländern der ehemaligen Sowjetunion umgekehrt)<br />

• Religionszugehörigkeit: protestantisch > katholisch<br />

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Psychologische Erklärungsmodelle<br />

Lerntheoretischer Ansatz<br />

• Suizidales Verhalten ist in Familien, in Jugendkreisen und in den<br />

Massenmedien erlerntes Verhalten. Der Suizid wird als mögliches<br />

Problemlöseverhalten erfahren. Man erhofft sich dadurch mehr<br />

Aufmerksamkeit und Zuwendung.<br />

• Es ist eine Tatsache, dass Suizidhandlungen gehäuft auftreten, wenn solche<br />

aus der Umgebung bekannt sind.<br />

• «Werther-Effekt»: nach dem Erscheinen von Goethes «Die Leiden des jungen<br />

Werthers» stieg die Suizidrate an<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Epidemiologische Grundlagen Schweiz<br />

Vollendete Suizide:<br />

1360/Jahr (2007)<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


1. Vollendeter Suizid CH: 1360 / Jahr<br />

Lebenszeitrisiko:<br />

M: 1,5%, F: 0,7%<br />

2. Suizidversuche<br />

10 – 12 000 / Jahr (CH)<br />

Lebenszeitprävalenz = 10-15%<br />

3. Krisen <strong>mit</strong> Suizidplänen Selbstschädigende<br />

Handlungen (CH):<br />

ca. 40 000 / Jahr<br />

4. Krisen <strong>mit</strong> Suizidgedanken ? / Jahr<br />

25% aller<br />

15-19 jährigen<br />

5. Psycho-soziale Krisen<br />

? / Jahr<br />

Lebenszeitprävalenz:<br />

50% aller <strong>Menschen</strong><br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Was sind subjektive / objektive Gründe für<br />

Todeswünsche?<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Die Innensicht der Suizidenten<br />

• Eine Situation wird für den Betroffenen als unerträglich wahrgenommen.<br />

• Die Gründe für diese Bewertung können vielfältig sein: Scham, Kränkung,<br />

seelischer oder körperlicher Schmerz, schwerster Verlust, Enttäuschung usw.<br />

• „Für alle anderen bin ich nur noch eine Last“<br />

• Die Qual erscheint nicht länger ertragbar (Handlungsdruck)<br />

• oder: eine unerträgliche Situation scheint in naher Zukunft unausweichlich<br />

einzutreten und die suizidale Handlung antizipiert diese Situation<br />

• Der Suizident erlebt seine Situation als völlig aussichtslos und erkennt<br />

k<strong>einer</strong>lei Änderungsmöglichkeiten<br />

• Der Suizid ist so<strong>mit</strong> primär eine Flucht aus dieser als unerträglich und<br />

hoffnungslos erlebten Situation<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Die Aussensicht auf den Suizidenten<br />

• Von „Fachleuten“ wird Suizid heute i.d.R. primär unter medizinisch /<br />

psychiatrischen Gesichtspunkten gesehen<br />

• „Psychologische Autopsiestudien“ zeigen: über 90% der Suizidenten hatten<br />

im Vorfeld psychische <strong>Erkrankung</strong> (v.a. Depression)<br />

• Es gibt neurobiologische und genetische Verbindungen<br />

• <strong>Suizidwunsch</strong> wird heute in der Regel nicht als Ausdruck des freien Willens<br />

eines <strong>Menschen</strong> bewertet<br />

• Der Mensch verliere aufgrund der <strong>psychischen</strong> Störung die Fähigkeit zu<br />

<strong>einer</strong> adäquaten Bewertung von Gegenwart und Zukunft zu kommen<br />

• Der Wunsch zu sterben fusst nicht auf <strong>einer</strong> persönlichen rationalen<br />

Entscheidung, sondern ist vielmehr ein Symptom s<strong>einer</strong> <strong>Erkrankung</strong><br />

• In <strong>einer</strong> aktuellen Krise kann es dann zu suizidalem Verhalten kommen<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Modell für suizidales Verhalten<br />

(nach Blumenthal und Kupfer, 1986)<br />

Biologie<br />

Psychosoziale<br />

Lebensereignisse,<br />

Chronische Körperliche Krankheiten<br />

Psychiatrische <strong>Erkrankung</strong>en<br />

Persönlichkeitszüge<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Starke Todeswünsche werden meist als Verlust<br />

der Entscheidungsfähigkeit bewertet<br />

Aufgrund s<strong>einer</strong> <strong>psychischen</strong> Störung keine „realistische“ Sicht der<br />

Probleme und Zukunftsperspektiven<br />

Nach Ringel (1953) <strong>bei</strong>nhaltet das präsuizidale Syndrom<br />

als zentrales Merkmal die „Einengung“ der Person:<br />

• Der Betroffene sieht seine Situation hoffnungslos; er erkennt k<strong>einer</strong>lei<br />

Wahlmöglichkeiten oder Alternativen<br />

• Seine Gefühle reduzieren sich auf Depression und Angst<br />

• Sein Blick ist zunehmend „tunnelartig“ auf den Suizid als einzigen Ausweg<br />

fokussiert<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Anzahl betroffener <strong>Menschen</strong><br />

Verschiedenen Stadien der Suizidalität<br />

Mässige<br />

Suizidgefahr<br />

Hohe<br />

Suizidgefahr<br />

Passive<br />

Todeswünsche<br />

Suizidgedanken<br />

Suizidideen<br />

Suizidpläne<br />

Vorbereitungen<br />

Suizidale<br />

Handlungen<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli<br />

Erwägung Ambivalenz Entschluss


aber: Suizidalität ist auch „normal“<br />

• Auch viele psychisch „gesunde“ <strong>Menschen</strong> erleben im Laufe des Lebens<br />

Situationen, in denen sie sich <strong>mit</strong> der Möglichkeit des eigenen Todes<br />

beschäftigen und den eigenen Tod als Möglichkeit in Betracht ziehen<br />

• Fast nie kommt es da<strong>bei</strong> zu suizidalen Handlungen<br />

• Ein großer Teil berichtet über passive Todeswünsche und Suizidgedanken<br />

• Diese Auseinandersetzung kann Teil eines Trauerprozesses sein und ist oft<br />

ein vorübergehender Zustand (z.B. verwaiste Eltern)<br />

• Vorsicht vor <strong>einer</strong> Pathologisierung von Suizidgedanken<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Akute Suizidalität: Risikogruppen<br />

• für Suizid: ältere Männer<br />

• für Suizidversuch: junge Frauen (14-24 Jahre)<br />

• <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>psychischen</strong> <strong>Erkrankung</strong>en (Depression<br />

Suchterkrankungen, Psychosen)<br />

• akute krisenhafte Ereignisse (z.B. Scheitern, Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit, Schulden,<br />

Scheidung, Inhaftierung, Verluste, Traumatisierung)<br />

• Keine Einbindung in feste Strukturen, soziale Isolierung<br />

• Zeit nach der Entlassung aus stationär psychiatrischer Behandlung<br />

• Chronische körperliche <strong>Erkrankung</strong>en<br />

• Schlafstörungen, Schmerzerkrankungen<br />

• Suizidversuche in der Vorgeschichte oder in der Familiengeschichte<br />

• Hohe narzisstische Kränkbarkeit<br />

• starke Verleugnungstendenz und mangelndes Hilfesuchverhalten<br />

(„mir geht es gut; ich brauche keine Hilfe...“)<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Indikatoren für akute Suizidgefahr<br />

• drängende Suizidgedanken<br />

• grosse Hoffnungslosigkeit und starke Schuldgefühle<br />

• starker Handlungsdruck („ich halte das nicht länger aus!“)<br />

• massive narzisstische Kränkung<br />

• starke Impulsivität (erhöhte Gefahr <strong>bei</strong> Drogen- oder Alkoholkonsum)<br />

• zunehmender sozialer Rückzug<br />

• Verabschiedung von <strong>Menschen</strong>, Verschenken von Wertgegenständen<br />

Regelung letzter Dinge (Testament, Versicherungen, Papiere)<br />

• offene und verdeckte Ankündigung von Suizid („es wird aufhören, so oder<br />

so...“)<br />

• Mensch reagiert gereizt, aggressiv oder ist agitiert<br />

• konkrete Suizidpläne oder Vorbereitung suizidaler Handlungen<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Therapeutische Hilfe<br />

• sehr gutes therapeutisches Bündnis Voraussetzung<br />

• stets bleibt (auch <strong>bei</strong> sorgfältigster Therapie) ein Restrisiko,<br />

dass es zu einem Suizid kommt<br />

• es gibt Patienten, denen wir nicht helfen können<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Ursachen von Suizidalität<br />

Auslösesituationen<br />

• Krisensituationen (Zuspitzung durch Situationen, für<br />

deren Bewältigung nicht ausreichend Ressourcen zu<br />

Verfügung stehen)<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Die Motive suizidaler Handlungen<br />

• Nur ein Teil der <strong>Menschen</strong>, die suizidale Handlungen durchführen, sucht<br />

primär den Tod<br />

• Es können <strong>bei</strong> suizidalen Handlungen unterschiedliche psychologische<br />

Motive vorliegen. Einteilung nach Feuerlein (1971):<br />

• suizidale Pause: Unterbrechung <strong>einer</strong> unerträglichen Situation<br />

• suizidale Geste: Wirkung auf andere <strong>Menschen</strong> im Vordergrund,<br />

appellativer Aspekt<br />

• suizidale Handlungen im engeren Sinn: Todeswunsch vorherrschend<br />

• Eine eindeutige Unterscheidung nicht immer möglich<br />

• im Einzelfall können verschiedene Intentionen gleichzeitig bestehen, wo<strong>bei</strong><br />

meist eines dominant ist<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Protektive Faktoren <strong>bei</strong> Suizidalität<br />

• familiäres / soziales Umfeld:<br />

Familie, Kinder, Partner, Freunde<br />

• medizinische / psychologische Versorgung:<br />

Arzt, Therapeut, Medikamente<br />

• Ar<strong>bei</strong>t & finanzielle Absicherung<br />

• Tagesstruktur<br />

• Angebot vor Ort / Krisendienst etc.<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Verbesserung<br />

sozialer<br />

Lebensbedingungen<br />

z.B. Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit<br />

Berichterstattung<br />

in Presse<br />

und Medien<br />

Auf die<br />

Allgemeinbevölkerung<br />

bezogene Strategien<br />

Suizidprävention<br />

Programme an<br />

Schulen u.<br />

Jugendzentren<br />

Auf Hochrisikogruppen<br />

fokussierende Strategien<br />

Strafgefangene<br />

Ältere sozial<br />

isolierte <strong>Menschen</strong><br />

Drogenabhängige<br />

Borderline PS<br />

Erstellung<br />

eines<br />

Medienguide<br />

Erschwerter<br />

Zugang zu<br />

Mitteln<br />

Aufklärung<br />

der<br />

Allgemein-<br />

Bevölkerung<br />

Fortbildung<br />

niedergel.<br />

Allgemeinmediziner<br />

Kriseninterventions-<br />

Zentren, Telephon-<br />

Seelsorge, etc.<br />

Schizophrenie<br />

aus Psychiatrie<br />

entlassene<br />

Patienten<br />

Erschwerter<br />

Zugang zu<br />

Drogen<br />

stationäre psych.<br />

Patienten<br />

Regulierte<br />

Ausgabe von<br />

Medikamenten<br />

Einzäunung gefährlicher<br />

Orte<br />

Pat. nach Suizidversuch<br />

Hausgasentgiftung<br />

Verschärfung der<br />

Waffengesetzte<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli<br />

Entgiftung von<br />

Autoabgasen<br />

Entstigmatisierung<br />

Enttabuisierung von<br />

Affekt. Störungen<br />

Versorgungsoptimierung<br />

depressiver Patienten<br />

<strong>mit</strong> Antidepressiva und<br />

Lithiumprophylaxe


Methodische Probleme <strong>bei</strong> der<br />

Evaluation von Suizidprävention<br />

Wenig Wissen, was wirksam ist und was nicht<br />

• kleine Stichprobengrössen<br />

• kaum experimentelles Vorgehen aus ethischen Gründen<br />

mangelnde Kontrolle und Randomisierung<br />

• zweifelhafte Erfolgskriterien und geringe Übertragbarkeit der<br />

Ergebnisse<br />

• Keine einzelne Methode allein kann das Problem<br />

„Suizidprävention“ lösen.<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Suizidprävention Kompetenznetz Depression:<br />

Interventions- und Kontrollregion<br />

Interventionsregion<br />

Nürnberg:<br />

480.000 Einwohner<br />

Würzburg<br />

Nürnberg<br />

Bayern<br />

Kontrollregion<br />

Würzburg:<br />

270.000 Einwohner<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


Mehr-Ebenen-Aktionsprogramm<br />

1.<br />

Kooperation<br />

<strong>mit</strong> Hausärzten:<br />

Fortbildung<br />

4.<br />

Angebote<br />

für Betroffene und<br />

Angehörige<br />

Ziel:<br />

Bessere Versorgung<br />

depressiv erkrankter<br />

<strong>Menschen</strong><br />

2.<br />

PR<br />

Aktivitäten:<br />

Aufklärung der<br />

Öffentlichkeit<br />

3.<br />

Zusammenar<strong>bei</strong>t<br />

<strong>mit</strong> Multiplikatoren:<br />

z.B. Pfarrer, Lehrer,<br />

Altenpflegekräfte<br />

© Prof. Keck, Clienia Privatklinik Schlössli


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Datenerfassung in Nürnberg<br />

Aktionsprogramm in<br />

Nürnberg<br />

Datenerfassung in der Kontrollregion<br />

12 Monate 24 Monate<br />

2000 2001 2002 2003<br />

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Evaluationskriterien<br />

Anzahl der<br />

Suizide<br />

Primäres Erfolgskriterium:<br />

Anzahl suizidaler<br />

Handlungen im<br />

Vergleich zur Baseline<br />

und zur Kontrollregion<br />

Anzahl der<br />

Suizidversuche<br />

Überweisungen<br />

Medienanalyse<br />

Verschreibungsprofile<br />

Bevölkerungsumfragen<br />

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suizidale Handlungen<br />

Suizidale Handlungen<br />

700<br />

620<br />

Vergleich Nürnberg vs. Würzburg<br />

600<br />

500<br />

500<br />

471<br />

2001 vs. 2000: p


Suizide<br />

Veränderung der Suizidhäufigkeit<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

100<br />

89<br />

66 70<br />

75<br />

55<br />

58<br />

46<br />

34<br />

42<br />

20<br />

31 31<br />

40<br />

19<br />

12 11 9<br />

2000 2001 2002 2000 2001 2002 2000 2001 2002 2000 2001 2002 2000 2001 2002 2000 2001 2002<br />

männlich weiblich gesamt männlich weiblich gesamt<br />

Nürnberg<br />

Würzburg<br />

• Leichter Wiederanstieg der Suizide in Nürnberg<br />

• Keine signifikanten Veränderungen der Suizide nach Intervention<br />

• Starke „natürliche“ Fluktuationen erschweren Interpretation<br />

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Persönliche Anmerkung<br />

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„…die Befugnisse so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen<br />

unheilbar Kranken<br />

<strong>bei</strong> kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes<br />

der Gnadentod gewährt werden kann“


Ärztliche Sorgfalt<br />

Es gibt Patienten, denen wir nicht helfen können<br />

Die Begleitung ist ärztliche Aufgabe<br />

Wie diese Begleitung gestaltet wird, ist in einem engen<br />

Vertrauensverhältnis zu erar<strong>bei</strong>ten<br />

„Medikalisierung“ ist keine Lösung


Herzlichen Dank für Ihre<br />

Aufmerksamkeit !<br />

martin.keck@clienia.ch


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Fallzahl<br />

Relation von Suiziden zu Suizidversuchen in verschiedene<br />

Altersgruppen (Nürnberg 2000-2001)<br />

700<br />

600<br />

500<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

47<br />

54<br />

527<br />

298<br />

74<br />

117<br />

60 Jahre<br />

Suizidversuche<br />

Suizide<br />

• <strong>bei</strong> Frauen unter 20 J. führt nur jede 50. suizidale Handlung zum Tod<br />

• <strong>bei</strong> Männern über 80 J. enden 7 von 10 „Suizidversuche“ tödlich<br />

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