EKD zum Thema "Armut" - Tafel-niedersachsen.de
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Diakonie Texte | Positionspapier | 03.2010<br />
„Es sollte überhaupt kein<br />
Armer unter Euch sein“ 5.Mose 15,4<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ im Kontext sozialer<br />
Gerechtigkeit<br />
Diakonie für<br />
Menschen<br />
<strong>Tafel</strong>n in Kirche und<br />
Diakonie<br />
Stand März 2010
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort ........................................................................................................................................................... 3<br />
Zusammenfassung .......................................................................................................................................... 4<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Thesen................................................................................................................................................. 5<br />
Handlungsempfehlungen ................................................................................................................................ 7<br />
1. Einleitung .................................................................................................................................................... 9<br />
2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland ..................................................................................................................... 12<br />
2.1. I<strong>de</strong>e, Geschichte und Grundstrukturen ............................................................................................. 12<br />
2.2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Zahlen ....................................................................................................................... 12<br />
2.3 Die strukturelle Vielfalt <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Landschaft .............................................................................. 13<br />
3. Abwesenheit von Armut als Min<strong>de</strong>stkriterium sozialer Gerechtigkeit und weitere sozialethische<br />
Bewertungs kriterien zu „<strong>Tafel</strong>n“ ...............................................................................................................16<br />
4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und -überwindung? ............................................................. 19<br />
4.1. „<strong>Tafel</strong>n“ verschaffen einen notwendigen, existenzsichern<strong>de</strong>n finanziellen Spielraum ..................... 19<br />
4.2. „<strong>Tafel</strong>n“ bieten Möglichkeiten <strong>de</strong>r Begegnung und eines gesellschaftlich notwendigen<br />
sozialen Miteinan<strong>de</strong>rs ........................................................................................................................ 20<br />
4.3. Engagement schafft Bestätigung ....................................................................................................... 20<br />
4.4. „<strong>Tafel</strong>n“ bieten ,mehr‘ als Nahrung – Angebote rund um Ernährung und Lebensmittel ................ 20<br />
4.5. „<strong>Tafel</strong>n“ als Raum für Sozialarbeit .................................................................................................... 20<br />
4.6. „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit als Chance zur Solidarisierung .................................................................................. 21<br />
4.7. Die Lebenslage Armut skandalisieren ............................................................................................... 21<br />
4.8. „<strong>Tafel</strong>n“ als Motor <strong>de</strong>r Gemeinwesenentwicklung ............................................................................ 21<br />
4.9. Sozialpolitischer Einsatz <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ ............................................................................................... 21<br />
4.10. Die beson<strong>de</strong>re Integrität einer Initiative nutzen .............................................................................. 22<br />
5. (Sozial-)Politische Paradoxien <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit .................................................................................... 23<br />
5.1. Professionalisierungsfalle .................................................................................................................. 23<br />
5.2. Wie viel politische Unterstützung darf es sein? Nähe und Distanz <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />
zur (Kommunal-)Politik .................................................................................................................... 23<br />
5.3. „<strong>Tafel</strong>n“ und ihre Sponsoren – Unterstützung o<strong>de</strong>r Instrumentalisierung <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit ............... 24<br />
5.4. Das Dilemma von Armutslin<strong>de</strong>rung als Armutsverfestigung ......................................................... 25<br />
5.5. Was stützt die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r von Armut Betroffenen? .......................................................................... 25<br />
6. Spezifische Auswirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf Kirche und Diakonie .......................................................... 27<br />
6.1. „<strong>Tafel</strong>n“ als Brücke zwischen Diakonie und Kirche ......................................................................... 27<br />
6.2. Rückwirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf ein kirchliches Armutsverständnis und Bereiche<br />
kirchlich-diakonischer Sozialarbeit ................................................................................................... 28<br />
6.3. Das Verhältnis von diakonischem Selbstverständnis und <strong>de</strong>m Selbst verständnis<br />
<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. ........................................................................................ 28<br />
Impressum .....................................................................................................................................................31<br />
2 Diakonie Texte 03.2010
Vorwort<br />
Kaum ein Phänomen hat die wachsen<strong>de</strong> Armut in<br />
Deutschland so ins öffentliche Bewusstsein gebracht<br />
wie die Existenz <strong>de</strong>r Lebensmittelausgabestellen.<br />
Unter welchem Namen – ob <strong>Tafel</strong>, Vesperkirche,<br />
Suppenküche etc. – die einzelnen Initiativen auch<br />
erscheinen, eines ist ihnen gemeinsam: Die Arbeit<br />
geht ihnen nicht aus und die Zahl <strong>de</strong>rer, die ihre<br />
Unterstützung benötigen, wächst. Evangelische Kirchengemein<strong>de</strong>n,<br />
diakonische Einrichtungen und<br />
Werke sind in diese Initiativen vielfältig eingebun<strong>de</strong>n<br />
und wer<strong>de</strong>n dabei durch eine große Zahl Freiwilliger<br />
unterstützt.<br />
Die Diakonie setzt sich vor <strong>de</strong>m Hintergrund ihrer<br />
christlichen Verantwortung und Tradition für die<br />
Gestaltung einer gerechten Gesellschaft ein, in <strong>de</strong>r<br />
Menschen solidarisch – ohne Stigmatisierung –<br />
zusammen leben. Ziel <strong>de</strong>r Diakonie ist die Überwindung<br />
<strong>de</strong>r Gegensätze von Arm und Reich. Die<br />
Diakonie versteht sich – nicht nur im Europäischen<br />
Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung<br />
– als Partnerin aller, die eine gerechte<br />
Gesellschaft gestalten wollen. Sie ist daher auch aufgerufen,<br />
ihr eigenes Engagement immer wie<strong>de</strong>r<br />
daraufhin zu überprüfen, ob es langfristig Armut<br />
überwin<strong>de</strong>t und Menschen befähigt, selbst Verantwortung<br />
zu übernehmen. Die vorliegen<strong>de</strong> Handreichung<br />
möchte in diesem Sinne Diskussionen in Kirche,<br />
Diakonie und Politik anregen: Um die<br />
Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung<br />
in Kirche und Diakonie zu verstärken, aber auch um<br />
nachhaltige Strukturen zur Prävention von Armut<br />
und für mehr Chancen und Teilhabe aller Menschen<br />
zu schaffen.<br />
Kerstin Griese<br />
Vorstand Sozialpolitik <strong>de</strong>s Diakonischen Werkes<br />
<strong>de</strong>r Evangelischen Kirche in Deutschland<br />
Die vorliegen<strong>de</strong> Handreichung wur<strong>de</strong> im Rahmen eines Projektes erarbeitet von:<br />
Susanne Alms <strong>de</strong> Ocana, Stadtteil-Diakonie Sülldorf-Iserbrook<br />
Matthias Bruckdorfer, Diakonisches Werk <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong> e. V. (Projektleitung)<br />
Reiner Engel, Diakonisches Werk Eichsfeld-Mühlhausen e.V.<br />
Wilfried Kehr, Diakonisches Werk im Westerwaldkreis<br />
Michael König, Sozialberatungsstelle Soest, Evangelisches Perthes-Werk e. V.<br />
Dr. Silke Köser, Diakonisches Werk <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong> e. V. (Projektleitung)<br />
Klaus Wanka, Diakonisches Werk Schweinfurt e. V.<br />
03.2010 Diakonie Texte 3
Zusammenfassung<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ sind in erster Linie ein Mittel <strong>de</strong>r Armutslin<strong>de</strong>rung<br />
einer solidarisch han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Zivilgesellschaft.<br />
Die Diakonie begrüßt dieses armutslin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />
Engagement von Menschen in „<strong>Tafel</strong>n“. Dafür<br />
gebührt Ihnen Anerkennung und Dank. „<strong>Tafel</strong>n“<br />
können aber aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n kein wirksames<br />
Instrument zur Überwindung gesellschaftlicher<br />
Armut sein. Die Überwindung von Armut ist<br />
Ziel und Aufgabe <strong>de</strong>s Staates. Der Sozialstaat muss<br />
<strong>de</strong>r Garant dafür sein, dass Armut strukturell und<br />
nachhaltig bekämpft und verhin<strong>de</strong>rt wird. Die Diakonie<br />
betrachtet die Abwesenheit von Armut als das<br />
Min<strong>de</strong>stkriterium für die Verwirklichung sozialstaatlicher<br />
Zielsetzungen <strong>de</strong>r sozialen Sicherheit und<br />
sozialen Gerechtigkeit.<br />
Die „<strong>Tafel</strong>n“ zeigen über<strong>de</strong>utlich, dass trotz staatlicher<br />
Sozialpolitik Armen eine menschenwürdige<br />
Existenz verweigert wird. Insbeson<strong>de</strong>re politische<br />
Akteure instrumentalisieren und missbrauchen in<br />
einigen Fällen die Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“, um eigene<br />
Untätigkeit und Versäumnisse bei <strong>de</strong>r Überwindung<br />
von Armut zu ver<strong>de</strong>cken.<br />
Um diese Instrumentalisierung und <strong>de</strong>n Missbrauch<br />
von „<strong>Tafel</strong>n“ zu verhin<strong>de</strong>rn, unterstützt die Diakonie<br />
alle Ehrenamtlichen darin, über ihr karitatives<br />
Engagement hinaus sozialanwaltschaftlich zu han<strong>de</strong>ln<br />
und sozialpolitische Verantwortung zu übernehmen.<br />
Sozialanwaltschaftliches Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ besteht im Wesentlichen in einer doppelten<br />
Skandalisierung. Zum einen <strong>de</strong>r Skandalisierung<br />
wachsen<strong>de</strong>r Armut und Ungleichheit und <strong>zum</strong> an<strong>de</strong>ren<br />
<strong>de</strong>r Skandalisierung staatlicher Versuche, Rechtsansprüche<br />
mit <strong>de</strong>m Verweis auf „<strong>Tafel</strong>n“ nicht zu<br />
gewähren bzw. abzubauen. Das sozialanwaltschaftliche<br />
Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ ist i<strong>de</strong>altypisch eingebettet<br />
in eine abgestimmte Handlungsstrategie mit<br />
Netzwerkpartnern im Sozialraum.<br />
Ziel <strong>de</strong>r Diakonie ist nicht die Selbstauflösung <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>n“, son<strong>de</strong>rn eine nachhaltige Armutsüberwindung<br />
durch Sozialpolitik.<br />
4 Diakonie Texte 03.2010
„<strong>Tafel</strong>“-Thesen<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Die Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“ verkoppelt zwei gänzlich<br />
unterschiedliche Problemstellungen: Zum<br />
einen die Vernichtung einmal produzierter überschüssiger<br />
Lebensmittel, <strong>zum</strong> an<strong>de</strong>ren die relative<br />
Armut vieler Menschen in unserer Gesellschaft.<br />
Die Diakonie erkennt in „<strong>Tafel</strong>n“ kreative zivilgesellschaftliche<br />
Initiativen, die auf bei<strong>de</strong> Problemstellungen<br />
gleichermaßen reagieren wollen.<br />
Die „<strong>Tafel</strong>n“ dürfen nicht <strong>zum</strong> Bestandteil einer<br />
staatlichen Strategie zur Überwindung von Armut<br />
(Armutsbekämpfung) wer<strong>de</strong>n. Unabhängig davon,<br />
ob und in welchem Umfang „<strong>Tafel</strong>n“ existieren,<br />
ist es ausschließlich die Aufgabe <strong>de</strong>s Staates, auf<br />
<strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Unantastbarkeit <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong><br />
in § 1 <strong>de</strong>s Grundgesetzes die Daseinsvorsorge<br />
nach sozialstaatlichen Zielsetzungen <strong>de</strong>r<br />
sozialen Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit zu<br />
gestalten. Notwendige (nicht hinreichen<strong>de</strong>) Bedingung<br />
ist dabei die Abwesenheit von Armut.<br />
Der Sozialstaat muss <strong>de</strong>r Garant dafür sein, dass<br />
Armut strukturell und nachhaltig aus <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
verbannt wird. Diesen armutsfreien Zustand<br />
hat die Sozialpolitik noch nicht verwirklicht. Die<br />
Grundsicherungssysteme <strong>de</strong>r Sozialhilfe, <strong>de</strong>r<br />
Grundsicherung für Arbeitssuchen<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s<br />
Asylbewerberleistungsgesetzes müssen bedarfs<strong>de</strong>ckend<br />
gestaltet wer<strong>de</strong>n. Auch bedarf es staatlicherseits<br />
weiterer Anstrengungen insbeson<strong>de</strong>re<br />
in <strong>de</strong>n Bereichen Bildung, Wohnen, soziale Integration,<br />
soziale Infrastruktur und Gesundheit, um<br />
Armut vor <strong>de</strong>m Hintergrund einer Lebenslagen<strong>de</strong>finition<br />
wirksam und dauerhaft zu überwin<strong>de</strong>n.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ können kein wirksames Instrument zur<br />
Überwindung gesellschaftlicher Armut sein. Sie<br />
sind eine Praxis <strong>de</strong>r Barmherzigkeit und tätiger<br />
Nächstenliebe. Sie können keine bedarfsgerechte,<br />
verlässliche, nachhaltige und ursachenüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Hilfe bieten. „<strong>Tafel</strong>n“ sind, unabhängig von<br />
ihrer jeweiligen konzeptionellen Ausdifferenzierung,<br />
in erster Linie ein Mittel <strong>de</strong>r Armutslin<strong>de</strong>rung.<br />
Die Diakonie macht die Erfahrung, dass das Sammeln<br />
und Weiterleiten sogenannter überschüssiger<br />
Lebensmittel durch „<strong>Tafel</strong>n“ einen Nutzen für von<br />
Armut Betroffene hat. Die zusätzlichen Nahrungsmittel<br />
verschaffen <strong>de</strong>n Menschen oftmals existentiell<br />
be<strong>de</strong>utsame materielle Spielräume. Das trifft<br />
natürlich nur für diejenigen zu, die zur „<strong>Tafel</strong>“<br />
gehen. Der größte Teil <strong>de</strong>r Armutsbevölkerung<br />
nimmt das Angebot <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“ aber gar nicht in<br />
Anspruch.<br />
Die Diakonie begrüßt uneingeschränkt das armutslin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />
Engagement <strong>de</strong>r Menschen in „<strong>Tafel</strong>n“.<br />
Dafür gebührt ihnen Lob, Anerkennung, Wertschätzung<br />
und Dank. Die Diakonie unterstützt die<br />
Freiwillig Engagierten in ihrer Arbeit und bestärkt<br />
sie darin, ihr Engagement fortzusetzen.<br />
Freiwillig Engagierte in „<strong>Tafel</strong>n“ können er kennen,<br />
dass sie einer inzwischen erfolgreichen sozial en<br />
Bewegung angehören, die sozialstrukturell<br />
be<strong>de</strong>utsam ist und <strong>de</strong>shalb von allen relevanten<br />
meinungsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und entscheidungstragen<strong>de</strong>n<br />
Gruppen wahrgenommen wird. Damit ist die<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Bewegung auch Objekt von Begehrlichkeiten,<br />
Interessen und Instrumentalisierungen, bis<br />
hin <strong>zum</strong> Missbrauch, gewor<strong>de</strong>n.<br />
Die „<strong>Tafel</strong>n“ als Objekt in <strong>de</strong>r sozialpolitischen<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung um Armutsfragen stehen<br />
aktuell in <strong>de</strong>r Gefahr, von Politikkonzepten vereinnahmt<br />
zu wer<strong>de</strong>n, die in ihrer Zielsetzung nicht<br />
die Armutsüberwindung und die Stärkung <strong>de</strong>r<br />
sozialen Gerechtigkeit haben. Solche Politikkonzepte<br />
würdigen einerseits das „<strong>Tafel</strong>“-Engagement<br />
überschwänglich, versuchen aber an<strong>de</strong>rerseits<br />
03.2010 Diakonie Texte 5
„<strong>Tafel</strong>“-Thesen<br />
<br />
<br />
<br />
auch die Verantwortung für die Armutsüberwindung<br />
mehr und mehr in <strong>de</strong>n zivilgesellschaftlichprivaten<br />
Raum abzuschieben<br />
Dies führt dazu, dass sich für viele Menschen die<br />
Lebenslage Armut verfestigt, da ihnen <strong>de</strong>r gesicherte<br />
Zugang zu armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Leistungen<br />
erschwert wird beziehungsweise das Verbleiben<br />
in <strong>de</strong>r Armut geför<strong>de</strong>rt wird.<br />
Die „<strong>Tafel</strong>n“ sind <strong>de</strong>nnoch kein ‚Problemfall‘ <strong>de</strong>r<br />
Armutsüberwindung, son<strong>de</strong>rn die interessengeleitete<br />
Instrumentalisierung und <strong>de</strong>r Missbrauch<br />
<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ im Armutsdiskurs durch politische<br />
und an<strong>de</strong>re Akteure erschwert es, armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Lösungen umzusetzen. Von daher ist die<br />
For<strong>de</strong>rung, <strong>Tafel</strong>n müssten sich überflüssig<br />
machen, nicht plausibel. Es wird wahrscheinlich<br />
immer Menschen mit niedrigem Einkommen o<strong>de</strong>r<br />
in Mangelsituationen geben (auch bei einem<br />
bedarfsgerechten Regelsatz o<strong>de</strong>r bei einem bedingungslosen<br />
Grun<strong>de</strong>inkommen/soziokulturellen<br />
Existenzminimum), die froh über zusätzliche Mittel<br />
in Form von Lebensmitteln sind und bis zu<br />
einem gewissen Grad wer<strong>de</strong>n auch in Zukunft –<br />
trotz verbesserter Waren- und Logistik-Konzepte<br />
– ‚überschüssige‘ Lebensmittel produziert wer<strong>de</strong>n.<br />
Solange es also Menschen gibt, die die Weitergabe<br />
dieser überschüssigen Lebensmittel organisieren<br />
wollen und dafür auch Nutzerinnen und<br />
Nutzer fin<strong>de</strong>n, ist die Existenz von „<strong>Tafel</strong>n“ durchaus<br />
sinnvoll und unterstützenswert. „<strong>Tafel</strong>n“ befin<strong>de</strong>n<br />
sich damit in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Spannungsfel<strong>de</strong>s,<br />
<strong>de</strong>ssen Grenzen bereits in <strong>de</strong>r Bibel mit „Es sollte<br />
überhaupt kein Armer unter Euch sein“ 1 und<br />
„Denn Arme habt ihr allezeit bei euch“ 2 gekennzeichnet<br />
sind.<br />
Die Diakonie unterstützt, dass Freiwillig Engagierte<br />
auf allen Ebenen gegenüber <strong>de</strong>n politischen<br />
Entscheidungsträgern auf kommunaler, Lan<strong>de</strong>sund<br />
Bun<strong>de</strong>sebene als selbstbewusste sozialpolitische<br />
Akteure auftreten und mit <strong>de</strong>r ihnen zugewiesenen<br />
sozialpolitischen Be<strong>de</strong>utung ver-<br />
1 5.Mose 15,4<br />
2 Mt 26,11<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
antwortlich umgehen – über die zweifelsfrei gute<br />
Einzeltat einer je<strong>de</strong>n/eines je<strong>de</strong>n hinaus<br />
Sozialpolitische Verantwortung <strong>de</strong>r Freiwillig<br />
Engagierten heißt auch, dass sie aktiv und bewusst<br />
ihre Arbeit in <strong>de</strong>r Lebensmittelausgabe <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ hinsichtlich <strong>de</strong>r Fragen nach Menschenwür<strong>de</strong>,<br />
sozialer Gerechtigkeit, ökonomischer und<br />
ökologischer Nachhaltigkeit so gestalten, dass<br />
mögliche negative Effekte minimiert o<strong>de</strong>r vermie<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n. Kirche und Diakonie tragen als Träger<br />
solcher Initiativen eine beson<strong>de</strong>re Verantwortung,<br />
<strong>de</strong>r sie durch Schulung, (sozialpolitische)<br />
Qualifizierung und (seelsorgerliche) Begleitung<br />
<strong>de</strong>r Freiwillig Engagierten gerecht wer<strong>de</strong>n.<br />
Je<strong>de</strong> Form von über die Lebensmittelausgabe<br />
hinausgehen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en und Handlungsalternativen<br />
sollten im Rahmen von Kooperationen mit bestehen<strong>de</strong>n<br />
sozialen Einrichtungen und sozialen Diensten<br />
(<strong>de</strong>r Diakonie) organisiert wer<strong>de</strong>n. Es macht<br />
keinen Sinn, dass „<strong>Tafel</strong>n“ in eigener Regie und<br />
in Konkurrenz <strong>zum</strong> bestehen<strong>de</strong>n Hilfesystem<br />
Angebote <strong>de</strong>r Sozialen Arbeit (Beratung, Begleitung<br />
etc.) „neu erfin<strong>de</strong>n“ und damit einer De-Professionalisierung<br />
<strong>de</strong>r Sozialen Arbeit Vorschub<br />
leis ten.<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ erreichen häufig von Diakonie und Kirche<br />
eher schwer erreichbare Menschen in Armut.<br />
Diese Beobachtung sollte Anlass für die Einrichtungen<br />
und Dienste <strong>de</strong>r Diakonie sein, ihre Konzeptionen<br />
auf Niedrigschwelligkeit und aufsuchen<strong>de</strong><br />
Elemente hin zu überprüfen.<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ sind Ausdruck einer sozialen Spaltung<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft in zwei Konsumptionsbereiche.<br />
Sie stehen in Gefahr, dies ungewollt zu unterstützen.<br />
Die einen verfügen über ausreichend beziehungsweise<br />
reichlich Mittel, sich frei auf <strong>de</strong>m<br />
Markt als Konsumentinnen beziehungsweise Konsumenten<br />
zu bedienen, während ein an<strong>de</strong>rer Teil<br />
<strong>de</strong>r Bevölkerung in „Soziallä<strong>de</strong>n“ auf verbilligte<br />
(Gebraucht)Waren o<strong>de</strong>r Almosen angewiesen<br />
ist.<br />
6 Diakonie Texte 03.2010
Handlungsempfehlungen<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ konzentrieren sich auf ihre originäre<br />
Grundi<strong>de</strong>e – Verteilung von überschüssigen<br />
Lebensmitteln an Bedürftige, richten ihr Han<strong>de</strong>ln<br />
daraufhin aus und begrenzen es. Das be<strong>de</strong>utet insbeson<strong>de</strong>re<br />
auf <strong>de</strong>n Zukauf von Lebensmitteln zu<br />
verzichten.<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ müssen grundsätzlich ihre Arbeit unter<br />
<strong>de</strong>m Vorzeichen <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> planen,<br />
durchführen und reflektieren. Achtsamkeit, Respekt<br />
und Wertschätzung prägen die Kommunikation<br />
mit <strong>de</strong>n Nutzerinnen und Nutzern. Eine Begegnung<br />
auf Augenhöhe ist nötig, um Gefühle <strong>de</strong>r<br />
Scham, <strong>de</strong>r Schuld und <strong>de</strong>r Erniedrigung möglichst<br />
gering zu halten.<br />
Eine Vernetzung <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ mit <strong>de</strong>m bereits<br />
bestehen<strong>de</strong>n Hilfesystem ist unverzichtbar. I<strong>de</strong>en,<br />
die über die Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>n hinausgehen,<br />
können in Kooperation mit Netzwerkpartnern<br />
reflektiert und gegebenenfalls realisiert wer<strong>de</strong>n.<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ sollten nicht die Trägerschaft für Zusatzangebote<br />
anstreben.<br />
Bei <strong>de</strong>r Gründung, <strong>de</strong>m Betrieb o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schließung<br />
von „<strong>Tafel</strong>n“ arbeiten Kirchengemein<strong>de</strong>n<br />
und verfasste Diakonie zusammen und beraten<br />
sich gegenseitig. Bei<strong>de</strong> Seiten verfügen über spezifische<br />
Kompetenzen und Möglichkeiten und profitieren<br />
gegenseitig davon.<br />
Gemeinwesenorientierte und vernetzte „<strong>Tafel</strong>n“<br />
achten darauf, dass die Nutzerinnen und Nutzer<br />
<strong>de</strong>n Weg zu einer individuellen und qualitativ<br />
guten sozialen Beratung fin<strong>de</strong>n. Die einschlägigen<br />
professionellen Netzwerkpartner <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />
haben insbeson<strong>de</strong>re die Aufgabe, über materielle<br />
Rechtsansprüche und ihre Durchsetzungsmöglichkeiten<br />
zu beraten.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Obwohl „<strong>Tafel</strong>n“ für die Nutzerinnen und Nutzer<br />
zunächst ein System <strong>de</strong>r Fremdbestimmung darstellen,<br />
können „<strong>Tafel</strong>n“ im Netzwerk mit an<strong>de</strong>ren<br />
sozialen Dienstleistern in Richtung einer Befähigung<br />
<strong>de</strong>r Betroffenen arbeiten. „<strong>Tafel</strong>n“ als Orte<br />
<strong>de</strong>r Begegnung von Gleichbetroffenen können<br />
zunächst zu einer psychischen Entlastung führen.<br />
Wenn zusätzlich die Chance zur Bildung von<br />
Gruppen genutzt wird, die die Selbsthilfe und<br />
Selbstorganisation <strong>de</strong>r Nutzerinnen und Nutzer<br />
unterstützen, kann das einen Schritt hin zur Überwindung<br />
von Ohnmachts- und Abhängigkeitserfahrungen<br />
be<strong>de</strong>uten.<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ müssen von ihren Nutzerinnen und<br />
Nutzern im Gespräch in Erfahrung bringen, ob<br />
Sozial leistungsträger mit <strong>de</strong>m Verweis auf das<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Angebot materielle Rechtsansprüche<br />
nicht o<strong>de</strong>r nur unzureichend gewähren. Diese<br />
Informationen müssen zeitnah <strong>de</strong>n Kooperationspartnern<br />
beziehungsweise <strong>de</strong>m Netzwerk<br />
übermittelt wer<strong>de</strong>n.<br />
Diese Defizite in <strong>de</strong>r Rechtsverwirklichung bil<strong>de</strong>n<br />
zusammen mit <strong>de</strong>r grundsätzlichen Armutsproblematik,<br />
die in <strong>Tafel</strong>n augenscheinlich wird, <strong>de</strong>n<br />
Ausgangspunkt für gesellschafts- und sozialpolitisches<br />
Engagement <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“. Hier bedarf es<br />
einer ‚doppelten Skandalisierung‘. Mit diesem<br />
sozialanwaltschaftlichen Han<strong>de</strong>ln übernehmen die<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ sozialpolitische Verantwortung. Es verhin<strong>de</strong>rt,<br />
dass die Unterstützungsleistung <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />
von staatlicher Seite missbraucht wird. Die sozialanwaltschaftlichen<br />
Aktivitäten wer<strong>de</strong>n i<strong>de</strong>altypisch<br />
eingebun<strong>de</strong>n in eine gemeinsame Strategie<br />
mit (diakonischen) Kooperations partnern.<br />
Die Begleitung, Qualifizierung und Fortbildung<br />
Freiwillig Engagierter in „<strong>Tafel</strong>n“ durch haupt-<br />
03.2010 Diakonie Texte 7
Handlungsempfehlungen<br />
<br />
<br />
amtlich Mitarbeiten<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Diakonie ist ein obligatorischer<br />
Qualitätsstandard. 3<br />
Bestandteil und Spezifikum <strong>de</strong>r hauptamtlichen<br />
Begleitung <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ ist eine sozialpolitische Bildungsarbeit,<br />
die Ehrenamtliche über die Kritik an<br />
ihrer Arbeit umfassend informiert, über mögliche<br />
nichtbeabsichtigte nachteilige Effekte für die Nutzerinnen<br />
und Nutzer aufklärt und über angemessene<br />
sozialanwaltschaftliche Aktivitäten berät.<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ achten auf die Realisierung „interner<br />
Verteilungsgerechtigkeit“. Die weiterzugeben<strong>de</strong><br />
Menge an Lebensmitteln sollte insbeson<strong>de</strong>re<br />
3 DW <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong>, 2006: Freiwilliges Engagement in Kirche<br />
und Diakonie, 20<br />
<br />
<br />
danach bemessen sein, ob die Nutzerin o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Nutzer eine Einzelperson ist o<strong>de</strong>r ob mehrere Personen,<br />
wie etwa ein Haushalt mit Kin<strong>de</strong>rn, im<br />
Hintergrund stehen.<br />
Wenn „<strong>Tafel</strong>n“ die Arbeit nicht mehr ausschließlich<br />
mit Freiwillig Engagierten bewältigen können,<br />
stellt die Beschäftigung von Mitarbeiten<strong>de</strong>n<br />
über „Ein-Euro-Jobs“/Arbeitsgelegenheiten in <strong>de</strong>r<br />
Mehraufwandsvariante (AG-MAE) keine i<strong>de</strong>ale<br />
Lösung dar. Statt<strong>de</strong>ssen sollten Möglichkeiten <strong>de</strong>r<br />
För<strong>de</strong>rung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse<br />
geprüft wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Integrität <strong>de</strong>r Spen<strong>de</strong>r und Sponsoren in<br />
sozial er, ökologischer und ökonomischer Perspektive<br />
ist zu beachten.<br />
8 Diakonie Texte 03.2010
1. Einleitung<br />
Die Bibel hat eine klare Option für die Armen, für<br />
Menschen in materieller Not und Menschen, <strong>de</strong>ren<br />
Recht missachtet wird. Die Kirche steht damit solidarisch<br />
an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>rjenigen, die Not lei<strong>de</strong>n. Sie<br />
macht daher aufmerksam auf die Ursachen von<br />
Armut. Das biblische Bild von Armut ist ein realistisches.<br />
Es steht in <strong>de</strong>r Spannung von „Es sollte überhaupt<br />
kein Armer unter euch sein“ 4 und „Denn Arme<br />
habt ihr allezeit bei euch“ 5 . Zwischen diesem Anspruch<br />
und Realismus bewegt sich diakonisches Han<strong>de</strong>ln<br />
im Kampf gegen Armut auch heute noch.<br />
Hilfe für die Armen in <strong>de</strong>r Welt ist ein urchristlicher<br />
Topos und grundlegen<strong>de</strong>s Element diakonischen<br />
Han<strong>de</strong>lns. Helfen ist Ausdruck menschlicher Einfühlungsgabe<br />
und tätiger Barmherzigkeit. Mit <strong>de</strong>m<br />
helfen<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>ln wird zunächst an<strong>de</strong>ren Menschen<br />
Gutes getan. Im direkten zwischenmensch lichen<br />
Kontakt soll das Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren überwun<strong>de</strong>n,<br />
min<strong>de</strong>stens aber gelin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Mit einer anwachsen<strong>de</strong>n<br />
Summe unterstützen<strong>de</strong>r Aktivitäten ist dann<br />
durchaus die Hoffnung und die Intention verbun<strong>de</strong>n,<br />
mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen und Armut<br />
zu beseitigen. In <strong>de</strong>r biblischen Tradition ist bei<strong>de</strong>s<br />
eng verknüpft: Konkretes Hilfehan<strong>de</strong>ln und <strong>de</strong>r Einsatz<br />
für gerechte Strukturen.<br />
Eine von vielen <strong>de</strong>nkbaren Formen helfen<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lns<br />
als Reaktion auf (wachsen<strong>de</strong>) Armut hat quantitativ<br />
seit 1993 in Deutschland ein erstaunlich hohes<br />
Ausmaß erreicht: Gemeint ist die Arbeit vieler überwiegend<br />
Freiwillig Engagierter in sogenannten<br />
„<strong>Tafel</strong>n“.<br />
Im <strong>de</strong>utschen Sprachgebrauch hat sich die Verwendung<br />
<strong>de</strong>s Begriffes „<strong>Tafel</strong>“ für alle Formen bürgerschaftlichen<br />
Engagements in Lebensmittelausgabestellen<br />
für Bedürftige eingebürgert, auch wenn diese<br />
4 5.Mose 15,4<br />
5 Mt 26,11<br />
Initiativen sich selbst nicht immer „<strong>Tafel</strong>n“ nennen.<br />
Der folgen<strong>de</strong> Text greift diesen Sprachgebrauch auf<br />
und verwen<strong>de</strong>t ebenfalls <strong>de</strong>n Begriff „<strong>Tafel</strong>“ zur<br />
Beschreibung dieses Phänomens, macht aber durch<br />
die Verwendung von Anführungszeichen <strong>de</strong>utlich,<br />
dass auch Initiativen gemeint sind, die sich selbst<br />
Vesperkirche, Suppenküche etc. nennen. 6<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ sind und waren dabei nie die einzigen von<br />
<strong>de</strong>r Zivilgesellschaft getragenen Formen von Hilfe,<br />
welche die mit einem Rechtsanspruch versehenen<br />
sozialstaatlichen Hilfen ergänzt haben. Solche sozialstaatsergänzen<strong>de</strong>n<br />
Hilfeformen, die insbeson<strong>de</strong>re<br />
<strong>de</strong>r von Armut betroffenen Bevölkerung Entlastungen<br />
und Spielräume bei <strong>de</strong>r alltäglichen Lebensbewältigung<br />
eröffnen sollen, gab es in Deutschland<br />
über Jahrzehnte hinweg in unterschiedlichen Formen<br />
und Ausmaßen: Vesperkirchen, Suppenküchen,<br />
Mittagstische, Essensausgabestellen, Diakonielä<strong>de</strong>n,<br />
Lebensmittellä<strong>de</strong>n, Sozialkaufhäuser, Klei<strong>de</strong>rkammern,<br />
Gebrauchtmöbellä<strong>de</strong>n etc.<br />
Keine dieser vielfältigen sozialstaatsergänzen<strong>de</strong>n<br />
Hilfeformen ist aber so rasant gewachsen wie die<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ und hat so viel öffentliche Aufmerksamkeit<br />
für das <strong>Thema</strong> Armut in unserer Gesellschaft erzeugt.<br />
Die „<strong>Tafel</strong>n“ avancieren fast schon zur prägen<strong>de</strong>n<br />
Kraft für das Bild von Armut und für <strong>de</strong>n Umgang<br />
mit ihr in unserer Gesellschaft. Insofern können die<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ als erfolgreich bezeichnet wer<strong>de</strong>n.<br />
6 Dort wo auf die Anführungszeichen verzichtet wird, wird<br />
von Initiativen gesprochen, die <strong>de</strong>n Namen <strong>Tafel</strong> führen und<br />
Mitglied im Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. sind. Die<br />
Bezeichnung „<strong>Tafel</strong>“ für eine Lebensmittelausgabe wird von<br />
vielen als problematisch betrachtet, da hier ein Begriff <strong>de</strong>r<br />
Fest- und Feierkultur mit <strong>de</strong>m Sammeln und Verteilen von<br />
Lebensmitteln in Verbindung gebracht wird. Vgl. dazu:<br />
Lorenz, Stephan: Die <strong>Tafel</strong>n zwischen Konsumismus und<br />
‚Überflüssigkeit‘. Zur Perspektive einer Soziologie <strong>de</strong>s Überflusses.<br />
In: Selke, Stefan (Hrsg.): <strong>Tafel</strong>n in Deutschland.<br />
Wiesba<strong>de</strong>n 2009, 75-78.<br />
03.2010 Diakonie Texte 9
1 Einleitung<br />
Durch diesen Erfolg sind „<strong>Tafel</strong>n“ sozialstrukturell<br />
be<strong>de</strong>utsam gewor<strong>de</strong>n. Verbän<strong>de</strong>, Wissenschaft, Politik,<br />
Medien, Wirtschaft etc. äußern, verhalten und<br />
positionieren sich zur Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“. Sie wer<strong>de</strong>n<br />
als wichtiges gesellschaftliches Phänomen von<br />
allen Seiten bewertet, benutzt und interessengeleitet<br />
verwertet. „<strong>Tafel</strong>n“ verlieren damit ihre ‚sozialpolitische<br />
Unschuld‘ und sind als gewichtiges Argument<br />
im gesellschafts- und sozialpolitischen Diskurs angekommen.<br />
Ausgerechnet diese Erfolgsgeschichte <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />
gerät aber zunehmend ins Kreuzfeuer <strong>de</strong>r Kritik.<br />
Was aber soll falsch sein an einer ‚millionenfachen<br />
Summe an guten Taten‘ je<strong>de</strong>n Tag? Leis ten die „<strong>Tafel</strong>n“<br />
nicht ihren spezifischen Beitrag zur Armutsbekämpfung<br />
und realisieren so ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit?<br />
Auch die evangelischen Kirchen und ihre Diakonie,<br />
die sich als Grün<strong>de</strong>r beziehungsweise Träger von<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ o<strong>de</strong>r als Einzelpersonen in zivilgesellschaftlichen<br />
Gruppen und Netzwerken in „<strong>Tafel</strong>n“ engagieren,<br />
fin<strong>de</strong>n sich inmitten einer gesellschaftlichen<br />
Kontroverse wie<strong>de</strong>r, die sich durch ein hohes Maß<br />
an Ambivalenz gegenüber <strong>de</strong>m Phänomen „<strong>Tafel</strong>“<br />
auszeichnet.<br />
Grundsätzlich wird an <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit bemängelt,<br />
dass die Versorgung von Armen mit Nahrungsmitteln<br />
zwar einerseits helfe, die soziale Notlage kurzfristig<br />
erträglicher zu machen. Sie stelle aber an<strong>de</strong>rerseits<br />
noch keinen Weg zur Überwindung <strong>de</strong>r<br />
sozialen Notlage an sich dar. Angetreten, um etwas<br />
gegen die wachsen<strong>de</strong> Armut zu tun, sehen sich hoch<br />
engagierte Bürger und Bürgerinnen <strong>de</strong>m Vorwurf<br />
ausgesetzt, eben diese wachsen<strong>de</strong> Armut und Hilfebedürftigkeit<br />
durch ihr Engagement zu verfestigen.<br />
So nähmen beispielsweise einschlägige Sozialleistungsträger<br />
die Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ <strong>zum</strong> Anlass,<br />
rechtswidrig materielle Rechtsansprüche mit <strong>de</strong>m<br />
Verweis auf <strong>de</strong>ren Versorgungsleistung zu kürzen<br />
o<strong>de</strong>r gar zu verweigern.<br />
„<strong>Tafel</strong>n“, so die Kritiker, seien inzwischen nicht ein<br />
Teil <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>s Armutsproblems, son<strong>de</strong>rn<br />
selbst ein Teil <strong>de</strong>s Armutsproblems. Die „Vertafelung<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft“ führe nicht zu weniger,<br />
son<strong>de</strong>rn mittel- bis langfristig zu mehr und größerer<br />
Armut.<br />
Insbeson<strong>de</strong>re bestehe die Gefahr, dass auch die<br />
Sozial gesetzgebung auf Bun<strong>de</strong>s- und Lan<strong>de</strong>sebene –<br />
etwa im Bereich <strong>de</strong>r Grundsicherung – die Versorgungsleistung<br />
<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ immer mehr ins Kalkül<br />
ziehe und originär sozialstaatsorientierte Kriterien<br />
wie Bedarfs- o<strong>de</strong>r Teilhabegerechtigkeit zunehmend<br />
unberücksichtigt lasse.<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ sind für manche wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>r Beleg für<br />
ein längst überfälliges aber notwendiges Wachstum<br />
<strong>de</strong>r Zivilgesellschaft; für <strong>de</strong>n Schritt hin zu einer<br />
zunehmend vom Staat unabhängigen echten Bürgergesellschaft.<br />
Für an<strong>de</strong>re stellt das Engagement in<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ lediglich einen gut gemeinten, sozialpolitisch<br />
aber unaufgeklärten Akt naiver Nächstenliebe<br />
dar, <strong>de</strong>ssen unintendierte Nebenwirkungen eher<br />
weniger statt mehr soziale Gerechtigkeit schaffen.<br />
Im Gegensatz dazu schreiben manche diesen Aktivitäten<br />
eine zentrale Rolle bei <strong>de</strong>r Armutsbekämpfung<br />
zu, halten die „<strong>Tafel</strong>n“ gar für das Instrument<br />
<strong>de</strong>r Armutsbekämpfung.<br />
Für an<strong>de</strong>re ist genau diese Einschätzung ein Beweis<br />
dafür, dass die gesellschaftliche Debatte über<br />
Lösungen <strong>de</strong>s Armutsproblems durch die Existenz<br />
von „<strong>Tafel</strong>n“ und ihre kritiklose Stilisierung <strong>zum</strong><br />
Königsweg <strong>de</strong>r Armutsbekämpfung, <strong>de</strong>n ernsthaften<br />
Diskurs <strong>de</strong>r Armutsüberwindung behin<strong>de</strong>rt. Das<br />
erleichtere einen Rückfall in Zeiten <strong>de</strong>s Almosenwesens<br />
und damit seien „<strong>Tafel</strong>n“ nichts an<strong>de</strong>res als ein<br />
Ausdruck und Begleitphänomen einer Politik, die<br />
die errungenen sozialstaatlichen Rechtsansprüche<br />
sukzessive rückbauen und allgemeine Lebensrisiken<br />
weiter (re-)privatisieren will.<br />
Der vorliegen<strong>de</strong> Text leistet einen Beitrag zur sozialpolitischen<br />
und sozialethischen Einordnung und<br />
Bewertung <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“. Die dabei im Folgen<strong>de</strong>n<br />
entwickelten Argumentationen gelten analog<br />
auch für an<strong>de</strong>re Formen sozialstaatsergänzen<strong>de</strong>r<br />
Hilfen, die ohne materiellen Rechtsanspruch von<br />
Bürgerinnen und Bürgern im Freiwilligen Engagement<br />
erbracht wer<strong>de</strong>n. Damit wird auch das Bedürfnis<br />
vieler engagierter Menschen in Kirche und Diakonie<br />
nach Klärung <strong>de</strong>r sozialpolitischen und<br />
10 Diakonie Texte 03.2010
1 Einleitung<br />
sozialethischen Chancen und Risiken ihres Engagements<br />
in „<strong>Tafel</strong>n“ zur Unterstützung <strong>de</strong>r alltäglichen<br />
Lebensbewältigung einkommensarmer Menschen<br />
aufgegriffen.<br />
Es folgt nach einer kurzen Einführung in I<strong>de</strong>e,<br />
Geschichte und Organisationsformen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“,<br />
die Entwicklung von Bewertungskriterien für ihre<br />
Betrachtung im Kontext sozialer Gerechtigkeit. Diesen<br />
schließt sich eine differenzierte Bewertung <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Arbeit hinsichtlich ihrer armutslin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n<br />
und armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Funktionen an. Die<br />
(sozial-) politischen Paradoxien, in welche diese<br />
Initiativen mit zunehmen<strong>de</strong>m Wachstum und Fortbestehen<br />
geraten, wer<strong>de</strong>n im folgen<strong>de</strong>n Kapitel<br />
beschrieben, um im Anschluss daran, die beson<strong>de</strong>ren<br />
Auswirkungen und Umstän<strong>de</strong> von kirchlich/diakonisch<br />
verantworteten „<strong>Tafel</strong>n“ zu beschreiben.<br />
03.2010 Diakonie Texte 11
2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland<br />
2.1. I<strong>de</strong>e, Geschichte und<br />
Grundstrukturen<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ sind zunächst in <strong>de</strong>n USA auf Initiative engagierter<br />
Frauen für Wohnungslose entstan<strong>de</strong>n. Das Projekt<br />
„City Harvest“ in New York gilt als Vorläufer <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit. Die Grundi<strong>de</strong>e ist bestechend<br />
einfach und einleuchtend: Die im normalen<br />
Warenverkehr am Markt als unverkäuflich eingestuften<br />
Lebensmittel wer<strong>de</strong>n eingesammelt und an bedürftige<br />
Menschen weitergegeben. So wird <strong>zum</strong> einen<br />
vermie<strong>de</strong>n, dass noch essbare Nahrungsmittel weggeworfen<br />
und vernichtet wer<strong>de</strong>n. Zum an<strong>de</strong>ren kommen<br />
materiell bedürftige Menschen in <strong>de</strong>n Genuss<br />
kostenloser o<strong>de</strong>r stark verbilligter Lebensmittel.<br />
Sabine Werth grün<strong>de</strong>te mit an<strong>de</strong>ren Bürgerinnen und<br />
Bürgern 1993 in Berlin die erste <strong>Tafel</strong> in Deutschland.<br />
Schon zwei Jahre nach dieser Gründung entstand<br />
1995 <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.<br />
Er erhebt <strong>de</strong>n Anspruch, die Interessen <strong>de</strong>r in ihm<br />
organisierten Lebensmittelausgabestellen bun<strong>de</strong>sweit<br />
zu bün<strong>de</strong>ln und zu vertreten. Als Grundlage zur<br />
Realisierung dieser Interessenvertretung hat <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. erstens ein<br />
grundsätzliches Regelwerk erstellt, die sogenannten<br />
„<strong>Tafel</strong>-Grundsätze“. Zweitens ist <strong>de</strong>r Name <strong>Tafel</strong> als<br />
„eingetragenes Markenzeichen durch <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>sverband<br />
Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. rechtlich geschützt“ 7 .<br />
Wer sich <strong>Tafel</strong> nennen will, muss sich <strong>de</strong>n Grundsätzen<br />
<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Deutschen <strong>Tafel</strong><br />
e. V. verpflichten. Der Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong><br />
e. V. steht aktuell unter <strong>de</strong>r Schirmherrschaft <strong>de</strong>r<br />
Bun<strong>de</strong>sministerin für Arbeit und Soziales. Er ist Mitglied<br />
im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband<br />
und sieht seine Hauptaufgaben in <strong>de</strong>r Vermittlung<br />
von überregionalen Partnern und Sponsoren für seine<br />
lokalen <strong>Tafel</strong>n. Darüber hinaus vertritt er die <strong>Tafel</strong>-<br />
Interessen gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft<br />
sowie unterstützt seine Mitglie<strong>de</strong>r hinsichtlich<br />
Austausch, Beratung und durch die Hilfestellung<br />
bei Neugründungen.<br />
2.2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Zahlen<br />
Wie viele Initiativen, Vereine o<strong>de</strong>r ähnliches sich<br />
nicht <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. angeschlossen<br />
haben und daher auch einen an<strong>de</strong>ren<br />
Namen führen, prinzipiell aber nichts an<strong>de</strong>res<br />
machen als die im Bun<strong>de</strong>sverband organisierten<br />
<strong>Tafel</strong>n, lässt sich statistisch nicht erfassen. Daher hat<br />
<strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong> Blick in die Statistik <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverband<br />
Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. auch nur eine begrenzte<br />
Aussagekraft für das Phänomen <strong>de</strong>r bürgerschaftlich<br />
organisierten Lebensmittelausgabestellen. Es<br />
muss jedoch davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n, dass ein<br />
großer Teil <strong>de</strong>r Initiativen sich in dieser Form organisiert<br />
hat, da die Mitgliedschaft im Bun<strong>de</strong>sverband<br />
die Beschaffung <strong>de</strong>r Lebensmittel durch Rahmenverträge<br />
zwischen Bun<strong>de</strong>sverband und Lebensmitteldiscounter<br />
für die einzelnen örtlichen Initiativen<br />
wesentlich erleichtert.<br />
Aktuell sind 861 <strong>Tafel</strong>n 8 mit mehr als 2.000 Ausgabestellen<br />
im Bun<strong>de</strong>sverband organisiert. Ungefähr<br />
sechzig Prozent dieser <strong>Tafel</strong> befin<strong>de</strong>n sich in Trägerschaft,<br />
<strong>zum</strong> Beispiel <strong>de</strong>r Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>. Schätzungen<br />
gehen von ungefähr 40.000 Freiwillig Engagierten<br />
aus. Ungefähr neunzig Prozent <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>-<br />
Aktiven sind ehrenamtlich und unentgeltlich in <strong>de</strong>n<br />
<strong>Tafel</strong>n aktiv. Zehn Prozent erhalten ein Entgelt im<br />
Rahmen einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung,<br />
einer geringfügig entlohnten<br />
Beschäftigung („400 Euro Jobs“), als Zivildienstleisten<strong>de</strong><br />
beziehungsweise als Teil- und Vollzeit Ange-<br />
7 Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.: <strong>Tafel</strong>-Grundsätze,<br />
Hintergrundinformation, Dezember 2009.<br />
8 Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.: Hintergrundinformationen,<br />
Januar 2010.<br />
12 Diakonie Texte 03.2010
2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland<br />
stellte. Die Zahl <strong>de</strong>r Vollzeitangestellten wird als sehr<br />
gering eingestuft. 9<br />
Repräsentative Daten auf Bun<strong>de</strong>sebene über das Phänomen<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ und seine Akteure sind aktuell nicht<br />
vorhan<strong>de</strong>n. So können <strong>zum</strong> Beispiel keine zuverlässigen<br />
Aussagen getroffen wer<strong>de</strong>n über die Ausbildung<br />
<strong>de</strong>r haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiten<strong>de</strong>n<br />
o<strong>de</strong>r die Sozialstruktur <strong>de</strong>r Nutzer und Nutzerinnen<br />
(Zahl <strong>de</strong>r Alleinerziehen<strong>de</strong>n, Verhältnis von Hartz<br />
IV-Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherung<br />
im Alter, Geschlechterverhältnisse etc.). 10<br />
Hochrechnungen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s ergeben, dass<br />
die in ihm organisierten Initiativen regelmäßig ungefähr<br />
eine Million bedürftige Personen versorgen. 11<br />
An<strong>de</strong>re Schätzungen gehen davon aus, dass nur ein<br />
Bruchteil <strong>de</strong>r von Armut Betroffenen die Institution<br />
„<strong>Tafel</strong>“ nutzt. Dieses Phänomen wird dadurch verstärkt,<br />
dass das Vorhan<strong>de</strong>nsein von Sponsoren, Spen<strong>de</strong>rn<br />
und Freiwilligem Engagement maßgeblich darüber<br />
bestimmt, wo eine „<strong>Tafel</strong>“ entsteht – nicht<br />
unbedingt die Armut vor Ort.<br />
Auch in Kirche und Diakonie ist das Phänomen <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ vielgestaltig und damit kaum empirisch erfassbar.<br />
Schätzungen gehen davon aus, dass ungefähr fünfzig<br />
Prozent <strong>de</strong>r Initiativen, die im Bun<strong>de</strong>sverband<br />
Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. organisiert sind, in kirchlicher<br />
(evangelisch und katholisch) Trägerschaft sind.<br />
Zu <strong>de</strong>n konfessionell gebun<strong>de</strong>nen Lebensmittelausgaben,<br />
die sich im Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong><br />
e. V. organisiert haben, kommen zahlreiche Initiativen,<br />
die <strong>de</strong>n <strong>Tafel</strong>-Namen nicht führen wollen o<strong>de</strong>r<br />
aus rechtlichen Grün<strong>de</strong>n nicht führen dürfen, die<br />
9 Im Jahr 2007 waren dies – laut einer Umfrage <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s<br />
Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. – bei 696 <strong>Tafel</strong>n ca. 3.200<br />
Personen.<br />
10 Die Diakonischen Werke Ba<strong>de</strong>n und Württemberg haben<br />
eine „<strong>Tafel</strong>befragung“ durchgeführt und diese sozialwissenschaftlich<br />
auswerten lassen. Damit liegen <strong>zum</strong> ersten Mal<br />
regionale Daten zur sozio<strong>de</strong>mografischen Nutzung <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong><br />
vor. Der Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. geht davon aus,<br />
dass sich die <strong>Tafel</strong>-Kun<strong>de</strong>n wie folgt zusammensetzen:<br />
23,5 Prozent Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche, 64,2 Prozent Erwachsene<br />
und 12,3 Prozent Rentnerinnen und Rentner. Vgl. Bun<strong>de</strong>sverband<br />
Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.: Zahlen und Fakten. Hintergrundinformationen,<br />
Juli 2009.<br />
11 Ebenda.<br />
aber gleiche o<strong>de</strong>r verwandte Konzepte haben. Über<br />
diese kirchlichen und diakonischen Initiativen liegen<br />
aktuell keinerlei Zahlen vor. Die Frage nach <strong>de</strong>r<br />
verbandlichen Anbindung beziehungsweise <strong>de</strong>r Trägerschaft<br />
<strong>de</strong>r Initiativen hilft allerdings hinsichtlich<br />
<strong>de</strong>r Klärung <strong>de</strong>r Präsenz <strong>de</strong>s evangelischen Engagements<br />
nur bedingt weiter, da es zahlreiche Initiativen<br />
in- und außerhalb <strong>de</strong>r verbandlichen Strukturen<br />
<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. gibt, in<br />
<strong>de</strong>nen Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakone und Diakoninnen,<br />
Kirchenvorstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong> Mitarbeiten<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Diakonie maßgeblich beteiligt sind o<strong>de</strong>r<br />
als Schirmherrinnen o<strong>de</strong>r Schirmherr fungieren.<br />
Diese personellen Verflechtungen wer<strong>de</strong>n ergänzt<br />
durch räumliche Verbindungen, wenn Initiativen<br />
kirchliche o<strong>de</strong>r diakonische Räumlichkeiten als Ausgabestellen<br />
nutzen. So muss davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n,<br />
dass gera<strong>de</strong> im Rahmen einer gemeinwesenorientierten<br />
Diakonie, die Einbindung <strong>de</strong>r<br />
Kirchengemein<strong>de</strong>n und diakonischen Dienste und<br />
Einrichtungen in die <strong>Tafel</strong>bewegung sehr hoch ist.<br />
2.3. Die strukturelle Vielfalt <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-<br />
Landschaft<br />
<strong>Tafel</strong>, Suppenküche, Lebensmittelausgabe, Tischlein-Deck-Dich,<br />
Vesperkirche – die Namen für Ausgabestellen<br />
von Lebensmitteln beziehungsweise<br />
zubereiteten Mahlzeiten – spiegeln die Vielfalt <strong>de</strong>r<br />
Initiativen und ihrer Organisationsformen wi<strong>de</strong>r. Das<br />
Wachstum <strong>de</strong>r Bewegung, die überschüssige Lebensmittel<br />
an Bedürftige verteilen will, ist mit einer<br />
starken Ausdifferenzierung <strong>de</strong>r einzelnen Angebote<br />
und ihrer Organisationsformen einhergegangen.<br />
Neue Initiativen suchen dabei gezielt nach Nischen,<br />
die von bereits bestehen<strong>de</strong>n Angeboten noch nicht<br />
abge<strong>de</strong>ckt sind.<br />
Diese Vielfalt fin<strong>de</strong>t sich auch im Raum von Kirche<br />
und Diakonie wie<strong>de</strong>r. Zahlreiche Kirchengemein<strong>de</strong>n,<br />
diakonische Einrichtungen und Werke engagieren sich<br />
gegen Armut, in<strong>de</strong>m sie einen Mittagstisch anbieten<br />
beziehungsweise eine Lebensmittelausgabe betreiben<br />
und/o<strong>de</strong>r Räumlichkeiten, Personal, Know-how und<br />
logistische Unterstützung zur Verfügung stellen.<br />
Das Engagement <strong>de</strong>r Freiwillig Engagierten, die<br />
offensichtliche Notwendigkeit <strong>de</strong>r Unterstützung und<br />
03.2010 Diakonie Texte 13
2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland<br />
die Spen<strong>de</strong>nfreudigkeit <strong>de</strong>r Lebensmittelindustrie<br />
haben nicht nur dazu geführt, dass mittlerweile fast<br />
je<strong>de</strong> Kleinstadt ein <strong>de</strong>rartiges Angebot besitzt, son<strong>de</strong>rn<br />
auch, dass einige <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Initiativen<br />
zu ‚Unternehmen‘ gewachsen sind: Diese versorgen<br />
nicht nur regelmäßig eine große Zahl von Bedürftigen,<br />
son<strong>de</strong>rn sind zur Erfüllung dieses selbstgewählten<br />
Auftrages zahlreiche Verpflichtungen –<br />
i<strong>de</strong>eller und finanzieller Art – eingegangen, um<br />
Anschaffung und Unterhalt von Lieferwagen 12 , Kühlhäusern,<br />
die regelmäßige Bereitstellung <strong>de</strong>r Lebensmittel<br />
etc. sicherzustellen.<br />
Obwohl <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. für<br />
seine Mitglie<strong>de</strong>r verpflichten<strong>de</strong> Grundsätze aufgestellt<br />
hat, die es nahe legen, dass die hier organisierten<br />
<strong>Tafel</strong>n in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>utschen Städten<br />
eine einheitliche Struktur aufweisen, zeigt sich auch<br />
hier ein buntes Bild. Denn die Realität belegt, dass<br />
diese Grundsätze genug Spielraum bieten, so dass<br />
auch diese <strong>Tafel</strong>n ihre Aufgaben sehr unterschiedlich<br />
wahrnehmen. So gibt es in Ba<strong>de</strong>n-Württemberg<br />
als Son<strong>de</strong>rform <strong>Tafel</strong>-Lä<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen Bedürftige als<br />
„Kun<strong>de</strong>n“ zu stark reduzierten Preisen Lebensmittel<br />
einkaufen. Der Schwerpunkt liegt üblicherweise<br />
jedoch auf <strong>de</strong>r Lebensmittelausgabe. Ob jedoch<br />
bereits vorgepackte Tüten verteilt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die<br />
Bedürftigen sich selber eine gewisse Anzahl von<br />
Lebensmitteln aussuchen können, variiert. Aus <strong>de</strong>n<br />
Grundsätzen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s Deutsche<br />
<strong>Tafel</strong> e. V. (insbeson<strong>de</strong>re Grundsatz 1) lässt sich ableiten,<br />
dass Initiativen keine Lebensmittel zukaufen<br />
dürfen 13 , die Bedürftigkeit ihrer Kun<strong>de</strong>n durch einen<br />
schriftlichen Nachweis kontrolliert wird (Rentenbescheid,<br />
Hartz IV-Bescheid etc.) und die Lebensmittel<br />
unentgeltlich o<strong>de</strong>r gegen eine Münze ausgegeben<br />
wer<strong>de</strong>n. Die Höhe <strong>de</strong>s Beitrags legen die einzelnen<br />
Initiativen selber fest 14 , so dass auch hier eine große<br />
Spannbreite gegeben ist: So gibt es ebenso Initiati-<br />
12 Der Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. geht davon aus,<br />
dass die 861 <strong>Tafel</strong>n ungefähr 4.700 Fahrzeuge im Einsatz<br />
haben. Vgl. Feedback 1/10.<br />
13 Dieser Grundsatz wird von einzelnen <strong>Tafel</strong>-Initiativen<br />
unterschiedlich ausgelegt, so dass auch Lebensmittel zugekauft<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
14 In einigen Regionen gibt es auch Verabredungen <strong>de</strong>r örtlichen<br />
<strong>Tafel</strong>n einen einheitlichen Beitrag zu erheben (Beispiel<br />
Thüringen).<br />
ven, die Lebensmittel kostenfrei abgeben o<strong>de</strong>r solche,<br />
die zwei Euro verlangen. Hinzu kommt, dass in<br />
manchen Ausgabestellen die Einzelperson, in an<strong>de</strong>ren<br />
<strong>de</strong>r Haushalt die zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong> Berechnungsgröße<br />
ist. Um zu verhin<strong>de</strong>rn, dass Bedürftige mehrere<br />
<strong>Tafel</strong>n in einer Region aufsuchen, wird teilweise<br />
die Zuständigkeit <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>n für die Bedürftigen<br />
durch die Bestimmung eines gekennzeichneten<br />
Gebietes festgelegt. Ein Wechsel zu einer an<strong>de</strong>ren<br />
<strong>Tafel</strong>, außerhalb <strong>de</strong>s eigenen Bezirkes, ist damit für<br />
die von Armut Betroffenen nur nach Absprache und<br />
in Ausnahmefällen möglich.<br />
Das schnelle Wachstum <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s Deutsche<br />
<strong>Tafel</strong> e. V. und seiner Lan<strong>de</strong>sverbän<strong>de</strong> erschwert<br />
zu<strong>de</strong>m die Kontrolle <strong>de</strong>r Grundsätze in <strong>de</strong>n einzelnen<br />
<strong>Tafel</strong>n und ihren Ausgabestellen durch <strong>de</strong>n Verband,<br />
so dass auch hier Abweichungen möglich sind.<br />
Neben Lebensmittelausgaben und Mittagstischen<br />
gibt es aktuell vermehrt Initiativen, die sich zusätzlich<br />
zur allgemeinen Klientel auf Kin<strong>de</strong>r als beson<strong>de</strong>re<br />
Zielgruppe spezialisiert haben. Sie unterbreiten<br />
unter <strong>de</strong>n Namen „Kin<strong>de</strong>r-<strong>Tafel</strong>“ o<strong>de</strong>r „Kin<strong>de</strong>r-Restaurant“<br />
ein beson<strong>de</strong>res Angebot. Dieses wachsen<strong>de</strong><br />
Angebot weicht vor Ort meistens vom Nachweis <strong>de</strong>r<br />
Bedürftigkeit ab. Einige Anbieter setzen sich als<br />
erklärtes Ziel, alle Kin<strong>de</strong>r mit einem ernährungspädagogischen<br />
Profil erreichen zu wollen – unabhängig<br />
von <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Bedürftigkeit.<br />
Es existieren inzwischen auch „<strong>Tafel</strong>n“, die ihr Angebot<br />
um Medikamente erweitert haben o<strong>de</strong>r als „Medikamententafel“<br />
firmieren. Vorreiter war hier das 2007<br />
in Stuttgart aufgelegte Projekt „Medikamente für die<br />
Schwäbische <strong>Tafel</strong>“. Eine ähnliche Einrichtung gibt<br />
es seit 2009 in <strong>de</strong>r Stadt Dülmen. Dort bekommen<br />
Dülmener Bürger, die Grundsicherungsleistungen<br />
erhalten, Medikamente <strong>zum</strong> halben Preis. 15<br />
15 Deutsche Apotheker-Zeitung vom 10.2.2010: „Patienten,<br />
die diese Hilfe in Anspruch nehmen wollen, lassen sich ein<br />
GRÜNES Rezept beim Hausarzt ausstellen, gehen zur <strong>Tafel</strong>,<br />
wo sie nachweisen, dass sie von <strong>de</strong>r Sozialhilfe leben. Sie<br />
lassen dann das Rezept von <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong> abstempeln und gehen<br />
damit in eine <strong>de</strong>r Dülmener Apotheken, wo sie das benö tigte<br />
Arzneimittel fünfzig Prozent günstiger bekommen. Die<br />
an<strong>de</strong>re Hälfte übernimmt die Schirmherrin <strong>de</strong>r Dülmener<br />
<strong>Tafel</strong>, Gabrielle Herzogin von Croy.“<br />
14 Diakonie Texte 03.2010
2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland<br />
Eine beson<strong>de</strong>rs umstrittene Übertragung <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>i<strong>de</strong>e<br />
auf an<strong>de</strong>re Bereiche sind die sogenannten „Tiertafeln“,<br />
die in immer mehr Städten immer mehr Tierhalter<br />
mit Futter versorgen. Hier wird an <strong>de</strong>m<br />
Grundsatz festgehalten, dass die Tierhalter ihre<br />
Bedürftigkeit nachweisen müssen. 16<br />
Größere Lebensmittelausgabestellen setzen nicht<br />
mehr nur auf eine Komm-Struktur, son<strong>de</strong>rn beliefern<br />
auch soziale Institutionen wie Einrichtungen <strong>de</strong>r<br />
Wohnungslosenhilfe, Frauenhäuser, Kin<strong>de</strong>rgärten<br />
und Schulen mit Lebensmitteln beziehungsweise<br />
Paketen zur Pausenverpflegung.<br />
Dieses umfangreiche Angebot kann an vielen Stellen<br />
nicht mehr nur von Freiwillig Engagierten geleistet<br />
wer<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong> größere Einrichtungen arbeiten<br />
mit hauptamtlich Mitarbeiten<strong>de</strong>n, Zivildienstleisten<strong>de</strong>n,<br />
Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung<br />
o<strong>de</strong>r Jugendlichen, die Sozialdienststun<strong>de</strong>n<br />
leis ten.<br />
16 Im 2007 gegrün<strong>de</strong>ten „Tiertafel Deutschland e. V.“ haben<br />
sich 25 Ausgabestellen zusammengeschlossen. Weitere 23<br />
sind in Planung. Auch hier gibt es weitere „<strong>Tafel</strong>n“, die sich<br />
nicht im Verband organisiert haben. (Stand: Februar 2010)<br />
Auch hinsichtlich <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>r ‚klassischen<br />
Ausgabe‘ <strong>de</strong>r Lebensmittel hat sich eine breite Vielfalt<br />
eingebürgert: So gibt es „<strong>Tafel</strong>n“, die ihre Kun<strong>de</strong>n<br />
in <strong>de</strong>r Reihenfolge <strong>de</strong>s Ankommens bedienen,<br />
an<strong>de</strong>re teilen Lose aus, arbeiten mit einem Rotationsprinzip<br />
o<strong>de</strong>r nutzen an<strong>de</strong>re Zufallssysteme.<br />
Die wachsen<strong>de</strong> Vielzahl <strong>de</strong>r Angebote und Organisationsformen,<br />
das positive Image <strong>de</strong>r Bewegung,<br />
<strong>de</strong>r starke Zulauf und die breite gesellschaftliche<br />
Zustimmung machen es jedoch nötiger <strong>de</strong>nn je, genau<br />
zu prüfen, welche Angebote welche Aufgaben erfüllen<br />
können, wo die Grenzen solcher Angebote liegen<br />
und wo sie für eine nachhaltige Armutsüberwindung<br />
sogar kontraproduktiv sein können. Ebenso ist<br />
zu reflektieren, in wieweit das Engagement in dieser<br />
Bewegung mit nicht intendierten Nebenwirkungen<br />
in sozialer, ökologischer und ökonomischer<br />
Perspektive verbun<strong>de</strong>n ist. Notwendige Bedingung<br />
aller Initiativen im evangelischen Raum ist darüber<br />
hinaus die Frage nach <strong>de</strong>r Ethik <strong>de</strong>s Helfens und <strong>de</strong>r<br />
Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen.<br />
03.2010 Diakonie Texte 15
3. Abwesenheit von Armut als Min<strong>de</strong>stkriterium sozialer<br />
Gerechtigkeit und weitere sozialethische Bewertungskriterien<br />
zu „<strong>Tafel</strong>n“<br />
Die Bewertung <strong>de</strong>r Chancen und Risiken <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-<br />
Arbeit im Kontext <strong>de</strong>r Frage von sozialer Gerechtigkeit<br />
muss vor <strong>de</strong>m Hintergrund allgemeiner sozialpolitischer<br />
Zielsetzungen vorgenommen wer<strong>de</strong>n.<br />
Grundlegend ist hier die im Grundgesetz fixierte<br />
Sozialstaatsklausel: „Die Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland<br />
ist ein <strong>de</strong>mokratischer und sozialer Bun<strong>de</strong>sstaat“<br />
17 . Das Grundgesetz schreibt also vor, dass das<br />
Gemeinwesen nach sozialen Grundsätzen auszugestalten<br />
ist. Dies be<strong>de</strong>utet beispielsweise, dass soziale<br />
Unterschie<strong>de</strong> möglichst ausgeglichen wer<strong>de</strong>n und<br />
alle sozial teilhaben sollen.<br />
Das <strong>de</strong>utsche Sozialrecht konkretisiert das Sozialstaatsgebot<br />
dadurch, dass es in §1 SGB I zwei grundsätzliche<br />
sozialstaatliche Ziele formuliert, die es zu<br />
verwirklichen gilt: Soziale Gerechtigkeit und soziale<br />
Sicherheit.<br />
An dieser Stelle soll nicht <strong>de</strong>r Versuch unternommen<br />
wer<strong>de</strong>n, die komplexen Begriffe <strong>de</strong>r sozialen Gerechtigkeit<br />
und <strong>de</strong>r sozialen Sicherheit umfassend und<br />
abschließend zu <strong>de</strong>finieren. Es soll aber pragmatisch<br />
ein Min<strong>de</strong>stkriterium für diese sozialstaatlichen Zielsetzungen<br />
eingeführt wer<strong>de</strong>n, das verständlich und<br />
allgemein konsensfähig ist: Die notwendige Bedingung<br />
für die Verwirklichung <strong>de</strong>r Ziele soziale Sicherheit<br />
und soziale Gerechtigkeit ist die Abwesenheit<br />
von Armut.<br />
Armutsberichte, wissenschaftliche Studien und<br />
Denk schriften zu Themen wie Armut und Ausgrenzung<br />
erreichen eine interessierte Fachöffentlichkeit.<br />
Aber anscheinend tragen Warteschlangen vor „<strong>Tafel</strong>n“<br />
wesentlich stärker dazu bei, dass Armutsprobleme<br />
vor Ort von einer breiten Öffentlichkeit bewusst<br />
wahrgenommen wer<strong>de</strong>n.<br />
17 „Die verfassungsmäßige Ordnung in <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn muss<br />
<strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>s republikanischen, <strong>de</strong>mokratischen und<br />
sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“<br />
(GG Art. 28 [1]).<br />
Durch die bloße Existenz von „<strong>Tafel</strong>n“ wird vielen<br />
Menschen erstmals bewusst, dass die <strong>de</strong>rzeitigen<br />
staatlichen Grundsicherungsleistungen offensichtlich<br />
nicht ausreichen, um eine materielle Grundversorgung<br />
zu sichern und vor Armut zu schützen. 18<br />
Was jedoch einerseits zur notwendigen öffentlichen<br />
Wahrnehmung <strong>de</strong>r Armutsproblematik beiträgt,<br />
muss an<strong>de</strong>rerseits auch kritisch betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />
Denn es führt dazu, dass nicht nur Armut in <strong>de</strong>n<br />
Warteschlangen vor <strong>de</strong>n Ausgabestellen sichtbar<br />
wird, son<strong>de</strong>rn dass sich die Armen öffentlich zu<br />
erkennen geben (müssen). Gleichzeitig darf nicht <strong>de</strong>r<br />
Fehler gemacht wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n starken Zulauf und<br />
damit vermeintlichen Erfolg <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />
einer erfolgreichen Armutsüberwindung kausal in<br />
Verbindung zu bringen. Fatal wäre die Auffassung,<br />
die „<strong>Tafel</strong>n“ seien die Lösung <strong>de</strong>s Armutsproblems,<br />
nach <strong>de</strong>m Prinzip: ‚Wenn ‚die Armen‘ zu <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“<br />
gehen, dann sind diese für die Lösung <strong>de</strong>s Armutsproblems<br />
<strong>de</strong>r richtige Ansatz o<strong>de</strong>r sogar die zuständigen<br />
Einrichtungen‘.<br />
Es wird also zu fragen sein, welchen Beitrag „<strong>Tafel</strong>n“<br />
dazu leis ten können, dass Armut in dieser Gesellschaft<br />
nicht mehr existent ist. Um diese Frage zu<br />
beantworten, müssen entsprechen<strong>de</strong> Kriterien für<br />
<strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Abwesenheit von Armut formuliert<br />
wer<strong>de</strong>n. Diese hinreichen<strong>de</strong>n Bedingungen lassen<br />
sich aus <strong>de</strong>r Definition und <strong>de</strong>m Bild von Armut<br />
gewinnen, das hier zugrun<strong>de</strong> gelegt wird.<br />
Armut wird entwe<strong>de</strong>r als absolute o<strong>de</strong>r als relative<br />
Armut benannt. Absolute Armut liegt vor, wenn die<br />
<strong>zum</strong> Überleben notwendigsten Grundbedürfnisse<br />
für Nahrung, Kleidung, Wohnung o<strong>de</strong>r gesundheitliche<br />
Versorgung nicht ausreichend ge<strong>de</strong>ckt sind.<br />
18 Vgl. dazu auch das Urteil <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichts:<br />
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010. http://www.bverfg.<strong>de</strong>/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html<br />
16 Diakonie Texte 03.2010
3. Abwesenheit von Armut als Min<strong>de</strong>stkriterium sozialer Gerechtigkeit<br />
Auch diese absolute Form von Armut existiert in<br />
Deutschland. Der große Teil <strong>de</strong>r von Armut betroffenen<br />
Personen lei<strong>de</strong>t jedoch unter relativer Armut.<br />
Hierunter wird eine Lebenssituation verstan<strong>de</strong>n, in<br />
<strong>de</strong>r die betroffenen Menschen so weit unterhalb <strong>de</strong>r<br />
durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse<br />
leben müssen, dass sie vom normalen Lebensalltag<br />
ausgegrenzt wer<strong>de</strong>n. Nach diesen Definitionen<br />
sind Menschen nicht erst dann arm, wenn ihre physische<br />
Existenz nicht mehr als gesichert betrachtet<br />
wer<strong>de</strong>n kann, son<strong>de</strong>rn schon dann, wenn sie mit ihren<br />
Lebensbedingungen weit unterhalb <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Durchschnitts leben müssen und ihnen die<br />
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im erheblichen<br />
Maße nicht mehr möglich ist.<br />
Zur Festlegung von Einkommensarmut liegt die<br />
Grenze bei einem nur fünfzigprozentigen Erreichen<br />
<strong>de</strong>s durchschnittlichen Nettoeinkommens (OECD)<br />
beziehungsweise bei einem sechzigprozentigen Erreichen<br />
(EU). Das heißt Haushalte, <strong>de</strong>nen nur fünfzig<br />
Prozent beziehungsweise sechzig Prozent <strong>de</strong>s für ihre<br />
Haushaltsgröße typischen Einkommens zur Verfügung<br />
stehen, gelten als arm.<br />
Der dritte Armutsbericht <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung (2008)<br />
stellt fest, dass dreizehn Prozent <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sbürger<br />
von Armut betroffen sind und weitere dreizehn<br />
Prozent nur durch staatliche Transfers vor <strong>de</strong>m<br />
Abrutschen in die Armut bewahrt wer<strong>de</strong>n. Insgesamt<br />
habe sich die soziale Kluft in Deutschland weiterhin<br />
vertieft. 19<br />
Da Armut aber mehr als das Fehlen von ausreichen<strong>de</strong>n<br />
finanziellen Mitteln und Lebensmitteln ist,<br />
wird als Basis für die folgen<strong>de</strong>n Überlegungen zu<br />
<strong>de</strong>n Bewertungskriterien <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit nicht nur<br />
das Konzept relativer Einkommensarmut samt entsprechen<strong>de</strong>r<br />
Armutsgrenzen, son<strong>de</strong>rn die Lebenslagen<strong>de</strong>finition<br />
20 von Armut hinzugezogen. Sie stellt<br />
ein komplexes Konzept relativer Armut dar. Dieses<br />
Armutsverständnis schließt neben einer mangelhaften<br />
materiellen Versorgung selbstverständlich<br />
19 Vgl. Bun<strong>de</strong>sministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.):<br />
Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht<br />
<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung. Berlin 2008.<br />
20 Opielka, Michael: Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichen<strong>de</strong><br />
Perspektiven. Reinbeck bei Hamburg 2004; 76 ff.<br />
auch eine unzureichen<strong>de</strong> Versorgung in nicht-materiellen<br />
Bereichen (<strong>zum</strong> Beispiel Zugang zu Bildungs-,<br />
Kultur- und Freizeitangeboten, medizinischer Versorgung,<br />
Arbeitsmöglichkeiten, Wohnsituation etc.)<br />
mit ein. Oft bedingen sich die unterschiedlichen<br />
Armutsaspekte gegenseitig. Eine unzureichen<strong>de</strong><br />
materielle Versorgung hat vielfach eine nicht mehr<br />
ausreichen<strong>de</strong> Versorgung in weiteren Bereichen zur<br />
Folge; <strong>de</strong>r schlechtere Zugang zu Bildungsangeboten<br />
führt zu <strong>de</strong>utlich schlechteren Chancen auf <strong>de</strong>m<br />
Arbeitsmarkt.<br />
Armut, drohen<strong>de</strong> Armut und die daraus resultieren<strong>de</strong>n<br />
Fragen nach mehr sozialer Gerechtigkeit<br />
sind somit für einen nicht unerheblichen Teil <strong>de</strong>r<br />
in Deutschland leben<strong>de</strong>n Menschen ein Alltagsproblem.<br />
Neben diesen objektiv beschreibbaren Lebenslagenmerkmalen<br />
berücksichtigt das Lebenslagenkonzept<br />
auch explizit die subjektive Einschätzung einer Person<br />
in Bezug auf Armut. Im Kontext einer evangelischen<br />
Sozialethik müssen weitere hinreichen<strong>de</strong><br />
Bedingungen erfüllt sein, damit soziale Initiativen<br />
nachhaltig <strong>de</strong>r Entwicklung von sozialer Gerechtigkeit<br />
dienen. Dazu gehört<br />
(1) die unbedingte Achtung <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> von<br />
Nutzerinnen und Nutzern und Mitarbeiten<strong>de</strong>n, insbeson<strong>de</strong>re<br />
<strong>de</strong>r nicht stigmatisieren<strong>de</strong> Umgang mit<br />
von Armut Betroffenen,<br />
(2) eine Arbeit, die sich selbst als menschenrechtsbasiert<br />
versteht und mit ihrem Han<strong>de</strong>ln, das Menschenrecht<br />
auf Nahrung 21 umzusetzen hilft,<br />
(3) die Unterstützung von Rechtsansprüchen <strong>de</strong>r<br />
Betroffenen auch hinsichtlich <strong>de</strong>r Kriterien Verlässlichkeit<br />
und Nachhaltigkeit,<br />
(4) die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Selbstbestimmung und <strong>de</strong>r<br />
Selbstwirksamkeit <strong>de</strong>r Betroffenen, auch wenn es<br />
langfristig dazu führt, dass das Hilfehan<strong>de</strong>ln überflüssig<br />
wird,<br />
21 Siehe Artikel 11 Internationaler Pakt über wirtschaftliche,<br />
soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 (UN-Sozialpakt)<br />
o<strong>de</strong>r Artikel 25 Allgemeine Erklärung <strong>de</strong>r Menschenrechte<br />
vom 10.12.1948.<br />
03.2010 Diakonie Texte 17
3. Abwesenheit von Armut als Min<strong>de</strong>stkriterium sozialer Gerechtigkeit<br />
(5) das Aufzeigen von Perspektiven für die Betroffenen,<br />
um ihren status quo zu verän<strong>de</strong>rn,<br />
(6) die För<strong>de</strong>rung einer Integration <strong>de</strong>r Betroffenen<br />
zur Teilhabe in allen Lebensbereichen.<br />
Es ist also anhand dieser Kriterien zu prüfen, welchen<br />
Beitrag die „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit zur sozialen Gerechtigkeit<br />
leistet und leis ten kann.<br />
18 Diakonie Texte 03.2010
4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und<br />
-überwindung?<br />
„<strong>Tafel</strong>n” sind Seismographen <strong>de</strong>r sozialen Situation:<br />
Hier spiegelt sich eine soziale Fehlentwicklung <strong>de</strong>utlich<br />
in <strong>de</strong>r Länge <strong>de</strong>r Warteschlangen vor <strong>de</strong>n Ausgabestellen<br />
wi<strong>de</strong>r. Menschen, die zu <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n”<br />
kommen, tun dies in <strong>de</strong>r Regel, weil ihre reale Not<br />
so groß ist, dass sie sonst nicht wissen, wie sie die<br />
Versorgung gewährleis ten können.<br />
Ob auf Grund von Arbeitslosigkeit, zu geringem Einkommen,<br />
von Überschuldung, unzureichen<strong>de</strong>n Sozialleistungen<br />
o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer mannigfaltiger Grün<strong>de</strong>,<br />
immer häufiger geraten private Haushalte in prekäre<br />
wirtschaftliche Situationen und sehen sich vielfältigen<br />
existenzbedrohen<strong>de</strong>n Problemen gegenüber<br />
gestellt. Obwohl staatliche Transferleistungen eine<br />
Grundsicherung ermöglichen sollen, fehlt es in vielen<br />
Familien am Notwendigsten. Es sind in <strong>de</strong>r Regel<br />
pragmatische Zwänge, welche eine zunehmen<strong>de</strong> Zahl<br />
armer Menschen zu <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ führen.<br />
Die „<strong>Tafel</strong>”-Bewegung ist damit eine Antwort auf<br />
eine gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklung unserer<br />
Zeit. Entstan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n Initiativen zur Umverteilung<br />
<strong>de</strong>s Überflusses, sind die „<strong>Tafel</strong>n“ heute auf<br />
<strong>de</strong>m Weg, eine beständige Armenverpflegung zu<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Doch was können „<strong>Tafel</strong>n“ sowohl für die Armutslin<strong>de</strong>rung<br />
als auch die Armutsüberwindung leis ten?<br />
Unter Armutslin<strong>de</strong>rung wer<strong>de</strong>n dabei all jene Aktivitäten<br />
verstan<strong>de</strong>n, die Menschen helfen mit <strong>de</strong>r<br />
Armutssituation besser umzugehen, in<strong>de</strong>m akute Not<br />
gelin<strong>de</strong>rt wird beziehungsweise Anregungen für<br />
einen besseren Umgang mit <strong>de</strong>r Notlage gegeben<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Angebote haben das Ziel,<br />
Menschen zu helfen, sich aus <strong>de</strong>r Lebenslage Armut<br />
zu befreien, um so nicht mehr auf armutslin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />
Angebote angewiesen zu sein. Die „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit,<br />
wie sie aktuell in zahlreichen Initiativen vor Ort<br />
betrieben wird, hat einen <strong>de</strong>utlichen und starken<br />
Schwerpunkt in <strong>de</strong>r Armutslin<strong>de</strong>rung. Dies ist das<br />
unbestrittene und verdienstvolle Kerngeschäft dieser<br />
Bewegung. Weiterhin wird die Frage eines nachhaltigen<br />
Umgangs mit <strong>de</strong>m <strong>Thema</strong> Armut vor Ort<br />
vielfach diskutiert und in unterschiedlichen Organisationsformen<br />
umgesetzt.<br />
Die Übergänge zwischen <strong>de</strong>n Bereichen Armutslin<strong>de</strong>rung<br />
und Armutsüberwindung sind vielfach fließend<br />
und lassen sich nicht immer trennscharf<br />
beschreiben. Denn was für <strong>de</strong>n einen Nutzer zunächst<br />
ganz praktische Hilfe zur Lebensbewältigung ist,<br />
bietet für die an<strong>de</strong>re Nutzerin bereits erste Chancen,<br />
Armut und ihre Ursachen zu überwin<strong>de</strong>n. Dennoch<br />
sollen hier einige wesentliche Funktionen von<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ anhand dieser bei<strong>de</strong>n Kategorien beschrieben<br />
wer<strong>de</strong>n. Die Schaffung eines finanziellen Spielraums,<br />
die Möglichkeit <strong>de</strong>s Engagements für von<br />
Armut Betroffene, Chancen <strong>de</strong>r Begegnung und das<br />
Angebot von Beratung und Kursen rund um das<br />
<strong>Thema</strong> Ernährung wer<strong>de</strong>n eher <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r<br />
Armutslin<strong>de</strong>rung zugerechnet (4.1. bis 4.4.). Die Vernetzung<br />
mit an<strong>de</strong>ren Angeboten <strong>de</strong>r Sozialarbeit, die<br />
Chance <strong>de</strong>r Solidarisierung mit Betroffenen, die<br />
Skandalisierung von Armut und das sozialpolitische<br />
Engagement auf lokaler und überregionaler Ebene<br />
(4.5. bis 4.10.) bieten Chancen <strong>de</strong>r Armutsüberwindung.<br />
4.1. „<strong>Tafel</strong>n“ verschaffen einen<br />
notwendigen, existenzsichern<strong>de</strong>n<br />
finanziellen Spielraum<br />
Hauptaufgabe <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>” ist die Ausgabe von überschüssigen<br />
Lebensmitteln an Bedürftige. Doch wird<br />
durch die Bereitstellung von Naturalien tatsächlich<br />
nicht nur <strong>de</strong>r Mangel an Lebensmitteln ausgeglichen.<br />
Vielmehr wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Haushalten Mittel frei, die<br />
für an<strong>de</strong>re Ausgaben eingesetzt wer<strong>de</strong>n können; für<br />
03.2010 Diakonie Texte 19
4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und -überwindung?<br />
manche „<strong>Tafel</strong>”-Nutzer ist aufgrund <strong>de</strong>r Bedarfsunter<strong>de</strong>ckung<br />
<strong>de</strong>r Regelsätze diese Unterstützung<br />
existenzsichernd. An<strong>de</strong>re können sich durch die Entlastung<br />
bei <strong>de</strong>n Lebensmittelkosten einen geringen<br />
notwendigen finanziellen Spielraum verschaffen und<br />
erweitern so ihre weitergehen<strong>de</strong>n Teilhabemöglichkeiten.<br />
4.2. „<strong>Tafel</strong>n“ bieten Möglichkeiten <strong>de</strong>r<br />
Begegnung und eines gesellschaftlich<br />
notwendigen sozialen Miteinan<strong>de</strong>rs<br />
Über die reine Versorgungsfunktion hinaus, haben<br />
die Lebensmittelausgabestellen für die Nutzerinnen<br />
und Nutzer auch weitere positive Seiten. Sie sind ein<br />
sozialer Treffpunkt zur gegenseitigen Unterstützung<br />
und für gemeinsame Aktivitäten.<br />
So erleben die in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n” Tätigen regelmäßig,<br />
dass manche Nutzer und Nutzerinnen weit vor <strong>de</strong>r<br />
Ausgabezeit kommen. Unter an<strong>de</strong>rem, weil ihnen<br />
die Begegnung mit Menschen in <strong>de</strong>r gleichen Lebenssituation<br />
wichtig ist. Denn nicht selten ist mit <strong>de</strong>r<br />
finanziellen Armut auch die soziale Ausgrenzung<br />
und Isolation verbun<strong>de</strong>n. Gespräche und soziale Kontakte<br />
mit an<strong>de</strong>ren Betroffenen ermöglichen eine<br />
Gemeinschaftserfahrung, die hilft, die eigene Situation<br />
besser bewältigen zu können.<br />
Zahlreiche Ausgabestellen haben in <strong>de</strong>n letzten Jahren<br />
daher Cafes und Begegnungsmöglichkeiten (<strong>zum</strong><br />
Beispiel Feierlichkeiten, Angebote <strong>de</strong>r Familienbildung<br />
etc.) eingerichtet, um diesem Bedarf zu entsprechen.<br />
Sie sind auch ein Ort, an <strong>de</strong>m Menschen<br />
mit unterschiedlichsten Biographien, sowohl Nutzer<br />
und Nutzerinnen als auch Freiwillig Engagierte und<br />
Hauptamtliche miteinan<strong>de</strong>r ins Gespräch kommen<br />
und sich gegenseitig unterstützen.<br />
4.3. Engagement schafft Bestätigung<br />
Eine wichtige sinnstiften<strong>de</strong> Funktion haben „<strong>Tafel</strong>n”<br />
auch für Freiwillig Engagierte, die mitunter selbst<br />
bedürftig sind. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement<br />
für an<strong>de</strong>re hilfesuchen<strong>de</strong> Menschen schafft<br />
Bestätigung und Erfolgserlebnisse. Teilweise ist es<br />
<strong>de</strong>r Anreiz zur Strukturierung <strong>de</strong>s Tagesablaufes,<br />
<strong>de</strong>r hilft, die eigenen Chancen auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt<br />
zu verbessern. Hinzu kommt auch hier <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r<br />
Begegnung in <strong>de</strong>r Gruppe und die Gesellschaft mit<br />
Menschen an<strong>de</strong>rer sozialer Millieus.<br />
„<strong>Tafel</strong>n”, die sich entschei<strong>de</strong>n, ihr Aufgabenspektrum<br />
zu erweitern und eine möglichst große Zahl<br />
von Nutzern und Nutzerinnen zu versorgen, stoßen<br />
schnell an die Grenzen <strong>de</strong>ssen, was im Rahmen von<br />
freiwilligem Engagement zu leis ten ist. In dieser<br />
Situation entschei<strong>de</strong>n sich manche Initiativen dafür,<br />
selbst zu Arbeitgebern zu wer<strong>de</strong>n und frühere<br />
„<strong>Tafel</strong>”-Nutzer und -Nutzerinnen als Mitarbeiten<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Einrichtung zu gewinnen. Aufgrund von sachlichen<br />
Erfor<strong>de</strong>rnissen und finanziellen Zwängen<br />
geschieht dies überwiegend nur im Rahmen von<br />
Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen<br />
(MAE). Initiativen, die diesen Weg gehen,<br />
sollten sich jedoch <strong>de</strong>r sozialpolitischen Nebenwirkungen<br />
und <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Kritik an diesem arbeitsmarktpolitischen<br />
Instrument bewusst sein.<br />
4.4. „<strong>Tafel</strong>n“ bieten ,mehr‘ als Nahrung –<br />
Angebote rund um Ernährung und<br />
Lebensmittel<br />
Zunehmend bemühen sich „<strong>Tafel</strong>n“ um Zusatzangebote,<br />
welche die Nutzer und Nutzerinnen unterstützen<br />
wollen, ihre eigenen Fähigkeiten im Umgang mit<br />
Lebensmitteln zu stärken. So gibt es mancherorts<br />
ernährungspädagogische Angebote, welche helfen<br />
sollen, sich (trotz <strong>de</strong>s Mangels) gesund und kostenbewusst<br />
zu ernähren. Kochkurse zeigen <strong>de</strong>n Umgang<br />
mit <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ ausgegebenen Lebensmitteln<br />
und wollen so vorbeugen, dass Lebensmittel aus<br />
Unkenntnis abgelehnt o<strong>de</strong>r vernichtet wer<strong>de</strong>n. Ziel<br />
dieser Angebote ist es, Menschen zu befähigen mit<br />
<strong>de</strong>m finanziellen Mangel besser umzugehen beziehungsweise<br />
die Angebote <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“ optimal zu nutzen.<br />
Damit tragen sie zur Lin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Mangelerfahrung<br />
bei. Diese Angebote tragen jedoch immer<br />
die Gefahr in sich, dass Betroffene lernen, ihre aktuelle<br />
Situation besser zu bewältigen, die Ursachen für<br />
ihre Armut jedoch unberührt bleiben.<br />
4.5. „<strong>Tafel</strong>n“ als Raum für Sozialarbeit<br />
Als nie<strong>de</strong>rschwelliges Angebot sind Lebensmittelausgabestellen<br />
häufig eine selbstverständliche Erst-<br />
20 Diakonie Texte 03.2010
4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und -überwindung?<br />
anlaufstelle und erreichen auch Menschen, zu <strong>de</strong>nen<br />
an<strong>de</strong>re Dienste und Einrichtungen keinen regelmäßigen<br />
Zugang haben. Hier vertrauen sie sich <strong>de</strong>n Mitarbeiten<strong>de</strong>n<br />
an, welche oftmals ihre Familiensituation<br />
und die persönlichen Verhältnisse sehr gut<br />
kennen. Allein dieses ,sich verstan<strong>de</strong>n fühlen’, schafft<br />
bisweilen eine große Vertrautheit und erfüllt damit<br />
eine Funktion von Sozialarbeit.<br />
In einigen Lebensmittelausgabestellen bemüht man<br />
sich daher auch um ergänzen<strong>de</strong> Beratungsangebote.<br />
Da hierzu aber ein hohes Maß an Fachlichkeit notwendig<br />
ist, wird sich die Unterstützung in <strong>de</strong>r Regel<br />
auf die Vermittlung professioneller Beratungsangebote<br />
beschränken. Die Beratung fin<strong>de</strong>t jedoch teilweise<br />
in <strong>de</strong>n Räumlichkeiten <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n” statt. Die<br />
Vernetzung mit weiteren Angeboten (<strong>zum</strong> Beispiel<br />
<strong>de</strong>r Familienbildung, <strong>de</strong>n Kultur- und Sportvereinen<br />
o<strong>de</strong>r auch Schulen) stärkt zu<strong>de</strong>m die soziale Infrastruktur<br />
und verbessert die Hilfsmöglichkeiten.<br />
Die Integration von Ausgabestellen in an<strong>de</strong>re sozialstaatsergänzen<strong>de</strong><br />
Angebote (wie Sozialkaufhäuser,<br />
Gebrauchtwarenbörsen, Klei<strong>de</strong>rkammern und Suppenküchen)<br />
ermöglicht eine weitergehen<strong>de</strong> materielle<br />
Unterstützung. Der Anschluss an Begegnungszentren<br />
bin<strong>de</strong>t die Nutzer und Nutzerinnen in das<br />
kommunale und gemeindliche Leben ein und för<strong>de</strong>rt<br />
das Miteinan<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>n Austausch mit Personen<br />
an<strong>de</strong>rer gesellschaftlicher Gruppen. Mit ihrer Form<br />
<strong>de</strong>r Sozialarbeit erfüllen die „<strong>Tafel</strong>n“ somit eine<br />
wichtige Funktion armutsauslösen<strong>de</strong>n und armutsverfestigen<strong>de</strong>n<br />
Faktoren zu begegnen.<br />
4.6. „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit als Chance zur<br />
Solidarisierung<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Arbeit ist grundlegen<strong>de</strong>r Ausdruck von<br />
Menschlichkeit, Güte und Solidarität und beför<strong>de</strong>rt<br />
daher Werte, die in <strong>de</strong>r Gesellschaft häufig in <strong>de</strong>n<br />
Hintergrund gedrängt wer<strong>de</strong>n. Das Verständnis für<br />
die Arbeit und die Einsicht in die Notwendigkeit von<br />
Lebensmittelausgabestellen ist außeror<strong>de</strong>ntlich groß.<br />
In <strong>de</strong>r Organisation und praktischen Durchführung<br />
<strong>de</strong>r Lebensmittelausgaben engagieren sich Menschen<br />
in ihrem Alltag, neben <strong>de</strong>r beruflichen Tätigkeit,<br />
neben <strong>de</strong>r Arbeit in Haushalt und Familie o<strong>de</strong>r aus<br />
<strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit heraus. Die<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ geben Menschen die Chance zur Solidarisierung.<br />
Diese Solidarität kann in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ tagtäglich<br />
geübt wer<strong>de</strong>n. Denn Mitarbeiten<strong>de</strong> in „<strong>Tafel</strong>n“<br />
sind gefor<strong>de</strong>rt in <strong>de</strong>r Akzeptanz <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>rsseins und<br />
in <strong>de</strong>r Achtung vor <strong>de</strong>r Lebenspraxis an<strong>de</strong>rer. In dieser<br />
Funktion sind „<strong>Tafel</strong>n“ sowohl armutslin<strong>de</strong>rnd,<br />
haben jedoch auch durch die dadurch entstehen<strong>de</strong><br />
Öffentlichkeit armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Funktion.<br />
4.7. Die Lebenslage Armut skandalisieren<br />
Menschen die bedürftig sind, erlei<strong>de</strong>n häufig nicht<br />
nur Mangel an materiellen Dingen. Vielmehr be<strong>de</strong>utet<br />
Armut oft auch einen Verlust an Menschenwür<strong>de</strong><br />
und <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Teilhabe. Mit <strong>de</strong>r materiellen<br />
Zwangslage geht eine soziale und kulturelle<br />
Notlage einher. Studien belegen, dass die Chancen<br />
von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen aus einkommensschwachen<br />
Familien, eine höhere Bildung zu erlangen<br />
<strong>de</strong>utlich geringer sind und sie auch stärker<br />
gesundheitlich belastet sind. Kin<strong>de</strong>rarmut tritt immer<br />
öfter in erschrecken<strong>de</strong>r Weise zu Tage. Armut grenzt<br />
aus und schafft Abhängigkeiten.<br />
Gera<strong>de</strong> „<strong>Tafel</strong>n“ dürfen nicht aufhören, auf <strong>de</strong>n Skandal<br />
ihrer Existenz und die <strong>de</strong>m zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n<br />
gesellschaftlichen Fehlentwicklungen hinzuweisen.<br />
Sie tragen damit dazu bei, dass die Lebenslage Armut<br />
ins politische Bewusstsein rückt und zur sozialpolitischen<br />
Aufgabe wird.<br />
4.8. „<strong>Tafel</strong>n“ als Motor <strong>de</strong>r<br />
Gemeinwesenentwicklung<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ können sich als Forum verstehen, in <strong>de</strong>m<br />
sich Menschen engagieren, welche die sozialen Verhältnisse<br />
im Stadtteil und in <strong>de</strong>r Region im Blick<br />
haben. Das heißt mit <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r gespen<strong>de</strong>ten<br />
Lebensmittel geht es nicht nur um die Hilfe im<br />
Einzelfall, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Blick richtet sich auf die<br />
Arbeit im Gemeinwesen. Vernetzt mit an<strong>de</strong>ren Initiativen<br />
und Institutionen geht es darum, sich in öffentliche<br />
Angelegenheiten ein<strong>zum</strong>ischen.<br />
4.9. Sozialpolitischer Einsatz <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />
Im Sinne <strong>de</strong>r sozialanwaltschaftlichen Funktion, die<br />
Kirche und Diakonie für Menschen in beson<strong>de</strong>ren<br />
03.2010 Diakonie Texte 21
4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und -überwindung?<br />
Lebenslagen haben, ist es auch für „<strong>Tafel</strong>n“ eine<br />
dringliche Aufgabe, auf die Belange <strong>de</strong>r Bedürftigen<br />
aufmerksam zu machen. Da die Lebensmittelausgabestellen<br />
überwiegend eine hohe gesellschaftliche<br />
Anerkennung genießen, fin<strong>de</strong>n die Wahrnehmungen<br />
<strong>de</strong>r Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Gehör und<br />
Beachtung in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit. Damit haben die<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ durchaus die Möglichkeit, sich sozialpolitisch<br />
einzusetzen und Einfluss auf die Bedingungen<br />
zur Unterstützung sozial schwacher Menschen nehmen<br />
zu können. In diesem Sinne ist <strong>de</strong>r Einsatz <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Mitarbeiten<strong>de</strong>n für das Existenzminimum<br />
(<strong>zum</strong> Beispiel die Erhöhung <strong>de</strong>r Grundsicherungsleistungen),<br />
die Unterstützung eines gesetzlichen<br />
Min<strong>de</strong>stlohnes o<strong>de</strong>r die For<strong>de</strong>rung nach mehr Teilhabe<br />
auch ein Bemühen um soziale Gerechtigkeit.<br />
Häufig ist auch <strong>de</strong>r Einsatz gegen bürokratisches und<br />
technokratisches Verwaltungshan<strong>de</strong>ln in Bezug auf<br />
die Unterstützung bedürftiger Menschen gefragt. In<br />
Fortbildungen und Schulungen wird daher die Reflexion<br />
über die Motivation und Perspektive <strong>de</strong>r Mitarbeit<br />
in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ geför<strong>de</strong>rt und so <strong>de</strong>r Gefahr<br />
von nicht intendierten sozialpolitischen Nebenwirkungen<br />
entgegengewirkt.<br />
4.10. Die beson<strong>de</strong>re Integrität einer<br />
Initiative nutzen<br />
„<strong>Tafel</strong>n“, die sich entschei<strong>de</strong>n, möglichst unabhängig<br />
zu bleiben, <strong>zum</strong> Beispiel von kommunalen Gel<strong>de</strong>rn,<br />
politischer Unterstützung o<strong>de</strong>r Sponsoren, die<br />
nicht ihren ethischen Maßstäben entsprechen, besitzen<br />
eine beson<strong>de</strong>re Integrität. Diese können sie für<br />
ihr sozialpolitisches Engagement nutzen. „<strong>Tafel</strong>n“,<br />
in <strong>de</strong>nen sich Menschen in dieser Form engagieren,<br />
haben als Diskussionsforum und Ort <strong>de</strong>s Bürgerengagements<br />
ein beson<strong>de</strong>res sozialpolitisches Mandat,<br />
Fragen und For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r sozialen Gerechtigkeit,<br />
<strong>de</strong>r Überwindung von Armut und Ausgrenzung in<br />
<strong>de</strong>n gesellschaftlichen und sozialpolitischen Diskurs<br />
einzubringen.<br />
Das Agieren <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ vor Ort lin<strong>de</strong>rt in vielgestaltiger<br />
Weise die Folgen von finanzieller Mittellosigkeit<br />
und hat daher einen hohen Wert für Betroffene<br />
und Engagierte. „<strong>Tafel</strong>n“ können per se keinen<br />
nachhaltigen Rückgang von Armut erreichen. Dies<br />
geschieht nur durch die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.<br />
22 Diakonie Texte 03.2010
5. (Sozial-)Politische Paradoxien <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit<br />
Die gute I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit – Verteilung überzähliger<br />
Lebensmittel an Bedürftige durch Freiwillig<br />
Engagierte – ist durch die sozialpolitischen Entwicklungen<br />
in Deutschland und durch das schnelle<br />
Wachstum <strong>de</strong>r Bewegung mit seiner Vielzahl von<br />
Organisationsformen, Trägerschaften und <strong>de</strong>n dahinterliegen<strong>de</strong>n<br />
Motivationen <strong>de</strong>r unterschiedlichsten<br />
Akteure in verschie<strong>de</strong>ne Paradoxien geraten, die das<br />
Grundanliegen konterkarieren und <strong>de</strong>r Vision <strong>de</strong>r<br />
sozialen Gerechtigkeit im Wege stehen.<br />
5.1. Professionalisierungsfalle<br />
Seit <strong>de</strong>m Beginn im Jahr 1993 ging <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ die<br />
Arbeit nicht mehr aus. Je größer die Nachfrage nach<br />
Lebensmitteln aus <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ wur<strong>de</strong>, umso größer<br />
wur<strong>de</strong>n die Anstrengungen bei <strong>de</strong>r weiteren Sponsorensuche,<br />
Warenbeschaffung, Suche nach Mitarbeiten<strong>de</strong>n,<br />
größeren und geeigneteren Räumen etc.<br />
Die Zahl <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Nutzer und -Nutzerinnen, das<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Angebot und damit verbun<strong>de</strong>n die logistischen<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen steigen auch weiterhin kontinuierlich.<br />
Der zunehmend enger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> ‚Markt‘<br />
<strong>de</strong>r Lebensmittelspen<strong>de</strong>r for<strong>de</strong>rt weitere Anstrengungen,<br />
die teilweise zu weiten Wegen auf <strong>de</strong>r Suche<br />
nach verteilbaren Lebensmitteln führen – Lan<strong>de</strong>sgrenzen<br />
bil<strong>de</strong>n dabei schon längst keine Schranken<br />
mehr. Fragen <strong>de</strong>r Nachhaltigkeit im ökologischen<br />
Sinne und <strong>de</strong>r Bewahrung <strong>de</strong>r Schöpfung geraten in<br />
<strong>de</strong>n Hintergrund, obwohl sie maßgeblich für die<br />
Ursprungsi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Bewegung waren.<br />
Wachstum und Ausweitung <strong>de</strong>r Arbeitsfel<strong>de</strong>r – Belieferung<br />
von sozialen Einrichtungen, „Pausenverpflegung“<br />
in Schulen etc. – führen dazu, dass bestimmte<br />
Lebensmittel <strong>de</strong>r Grundversorgung, wie <strong>zum</strong> Beispiel<br />
Brot, Milch etc. verlässlich gebraucht wer<strong>de</strong>n,<br />
diese Verlässlichkeit <strong>de</strong>r knapper wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Spen<strong>de</strong>nmarkt<br />
jedoch nicht garantieren kann. Diese Ausgangslage<br />
und das Vorhan<strong>de</strong>nsein finanzieller Spen<strong>de</strong>n<br />
führen teilweise dazu, dass vom Grundsatz <strong>de</strong>r<br />
Verteilung überschüssiger Lebensmittel abgewichen<br />
wird und Produkte hinzugekauft wer<strong>de</strong>n. Damit entstehen<br />
neue Abhängigkeiten auf Seiten <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-<br />
Nutzer und -Nutzerinnen und auf Seiten <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“<br />
<strong>zum</strong> Beispiel gegenüber lokalen Märkten. Lebensmittel-<br />
und Hygienegesetze erfor<strong>de</strong>rn eine ständig<br />
höhere Qualifizierung <strong>de</strong>r Freiwillig Engagierten für<br />
ihre Aufgaben und immer neue Schulungen.<br />
Das alles führt zu immer höheren Investitionen: In<br />
Transportmittel und Kühleinrichtungen, Räumlichkeiten<br />
und Know-how. Die „<strong>Tafel</strong>n“ sind längst keine<br />
spontanen Hilfsprojekte mehr und versuchen oftmals<br />
<strong>de</strong>n steigen<strong>de</strong>n Erwartungen ihrer Nutzer und Nutzerinnen<br />
gerecht zu wer<strong>de</strong>n. Ihr Problem besteht<br />
zu nehmend darin, immer besser wer<strong>de</strong>n zu wollen,<br />
zu müssen und damit in die Abhängigkeit von Sponsoren,<br />
politischer Unterstützung etc. zu geraten und<br />
die grundlegen<strong>de</strong>n Ziele aus <strong>de</strong>m Blick zu verlieren.<br />
5.2. Wie viel politische Unterstützung<br />
darf es sein? Nähe und Distanz <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ zur (Kommunal-)Politik<br />
Hunger nach Nahrung ist ein absolut zeitloses Phänomen.<br />
Schon in <strong>de</strong>r Römerzeit wur<strong>de</strong>n in Notzeiten<br />
die vorhan<strong>de</strong>nen Lebensmittel rationell geteilt,<br />
um psychisches und physisches Elend und damit<br />
auch <strong>de</strong>n Rückgang <strong>de</strong>r Arbeitsfähigkeit zu vermei<strong>de</strong>n.<br />
Im späten Mittelalter wur<strong>de</strong> die Almosenverteilung<br />
allmählich von <strong>de</strong>r Armenfürsorge <strong>de</strong>r mittelalterlichen<br />
Stän<strong>de</strong>gesellschaft abgelöst. Erst die<br />
Herausbildung <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaftsordnung<br />
führte zu tiefgreifen<strong>de</strong>m Wan<strong>de</strong>l im Umgang<br />
mit Armut. Nur noch Bedürftige sollten Almosen<br />
erhalten, wobei die Arbeitsfähigkeit <strong>zum</strong> zentralen<br />
Bedürftigkeitskriterium wur<strong>de</strong>. Es entstan<strong>de</strong>n kommunale<br />
Ämter, so genannte Bettelvögte o<strong>de</strong>r Armenwächter,<br />
aus <strong>de</strong>nen später Armenbehör<strong>de</strong>n als Vorläufer<br />
<strong>de</strong>r Fürsorge- o<strong>de</strong>r Sozialämter hervorgingen.<br />
03.2010 Diakonie Texte 23
5. (Sozial-) Politische Paradoxien <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit<br />
In <strong>de</strong>n 1880er Jahren entstand im Deutschen Kaiserreich<br />
die Absicherung dreier typischer Armutsrisiken<br />
von Lohnarbeitern: Krankheit, Alter und Arbeitsunfähigkeit<br />
infolge von Arbeitsunfällen. Nach <strong>de</strong>m<br />
zweiten Weltkrieg herrschte Konsens darüber, dass<br />
die erwähnten sozialstaatlichen Errungenschaften<br />
für <strong>de</strong>n sozialen Frie<strong>de</strong>n unverzichtbare Grundlagen<br />
<strong>de</strong>s politischen Systems sind. Mitte <strong>de</strong>r 1970er Jahre<br />
begann sich dann in bestimmten Kreisen die Auffassung<br />
durchzusetzen, <strong>de</strong>r Sozialstaat lebe über<br />
seine Verhältnisse und müsse wie<strong>de</strong>r abgebaut wer<strong>de</strong>n.<br />
Es war <strong>de</strong>r Beginn <strong>de</strong>s Paradigmenwechsels<br />
vom sorgen<strong>de</strong>n <strong>zum</strong> aktivieren<strong>de</strong>n Staat. An die<br />
Stelle <strong>de</strong>r Verantwortung <strong>de</strong>s Staates tritt nun unter<br />
Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip die Verantwortung<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft auf lokaler, gemeinschaftlicher<br />
und auch individueller Ebene. Die Bürgergesellschaft<br />
soll nun durch mehr Eigenverantwortung<br />
<strong>zum</strong> Gemeinwohl beitragen. Sie wird <strong>de</strong>r wichtigste<br />
Ort <strong>de</strong>r sozialen Teilhabe. Das soziale Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Mitarbeiten<strong>de</strong>n wird von einigen sozialpolitischen<br />
Akteuren als lokale Lösungsstrategie für<br />
soziale Probleme betrachtet, obwohl die ökonomischen<br />
Ursachen <strong>de</strong>r sozialen Desintegrationsprozesse<br />
primär auf nationaler und globaler Ebene liegen.<br />
Anstelle politischen Han<strong>de</strong>lns auf Basis eines gesellschaftlichen<br />
Konsens, tritt im bürgerschaftlichen<br />
Han<strong>de</strong>ln die sozialräumliche Intervention. Am Beispiel<br />
<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ ist erkennbar, dass sie soziale Spaltungsprozesse<br />
eventuell lokal befriedigen, aber keine<br />
Lösungen für soziale Probleme <strong>de</strong>r Gegenwart sein<br />
können. Das Engagement <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Helfer und<br />
-Helferinnen trägt nicht nur dazu bei, soziale Härten<br />
abzufe<strong>de</strong>rn, die durch die Rücknahme <strong>de</strong>s sozialen<br />
Sicherungssystems entstan<strong>de</strong>n sind, son<strong>de</strong>rn dient<br />
durch das Einsparen <strong>de</strong>r Entsorgungskosten und <strong>de</strong>m<br />
Imagegewinn <strong>de</strong>r abgeben<strong>de</strong>n Firmen auch <strong>de</strong>n ökonomischen<br />
Gewinninteressen.<br />
Immer mehr Politiker lassen sich gerne bei <strong>de</strong>n<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ sehen, loben <strong>de</strong>ren gesellschaftlich wichtige<br />
Arbeit, arbeiten für ein paar Tage mit o<strong>de</strong>r rufen<br />
zu Spen<strong>de</strong>n auf. Die lokalen Initiativen geraten<br />
da durch in Gefahr, einen Teil ihrer Autonomie zu<br />
verlieren und sich instrumentalisieren zu lassen. Teilweise<br />
wer<strong>de</strong>n ihre Leistungen <strong>zum</strong> Ausgleich von<br />
Versäumnissen auf gesellschaftlicher Ebene benutzt.<br />
Mit <strong>de</strong>m Engagement <strong>de</strong>r Politiker in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“<br />
kann das Engagement <strong>de</strong>r Freiwillig Engagierten<br />
unter <strong>de</strong>r Hand das Vorzeichen wechseln: Die soziale<br />
Fürsorge wird zur Aufgabe <strong>de</strong>r lokalen Gemeinschaft<br />
und dadurch verliert die staatliche Absicherung<br />
im öffentlichen Bewusstsein immer mehr an<br />
Wert. Je mehr die erfolgreiche Armutsbewältigung<br />
mit <strong>de</strong>r Gewöhnung an „<strong>Tafel</strong>n“ in Verbindung<br />
gebracht wird, <strong>de</strong>sto mehr wird man sich an das Fehlen<br />
nachhaltiger Maßnahmen zur Armutsüberwindung<br />
gewöhnen.<br />
5.3. „<strong>Tafel</strong>n“ und ihre Sponsoren –<br />
Unterstützung o<strong>de</strong>r<br />
Instrumentalisierung <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit ist verblüffend einfach<br />
und überzeugend: Lebensmittel, die ihren ökonomischen<br />
Tausch- aber nicht Gebrauchswert verloren<br />
haben, wer<strong>de</strong>n nicht vernichtet, son<strong>de</strong>rn durch Freiwillig<br />
Engagierte eingesammelt und an Bedürftige<br />
weitergegeben. So sparen Lebensmittelabgeber Entsorgungskosten,<br />
Menschen in Armut haben zu essen<br />
und die Freiwillig Engagierten erzielen einen<br />
Gewinn, in<strong>de</strong>m die Arbeit, die sie leis ten, in <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft ein hohes Ansehen genießt und somit<br />
ein hohes Maß an Sozialprestige mit sich bringt. Mit<br />
<strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Zahl von <strong>Tafel</strong>n stehen einige Initiativen<br />
vor <strong>de</strong>r Schwierigkeit, Lebensmittel zu akquirieren.<br />
Sie sind darauf angewiesen, verlässlich und<br />
regelmäßig Lebensmittel von Discountern, Supermärkten,<br />
Res taurants, Bäckereien etc. zu bekommen.<br />
Wer eine bestimmte Größe überschreitet, benötigt<br />
darüber hinaus die Unterstützung von Automobilherstellern,<br />
Druckereien etc., um günstig Lieferwagen,<br />
Flyer etc. zu beschaffen. Diese Abhängigkeiten<br />
wer<strong>de</strong>n dann problematisch, wenn sie so stark wer<strong>de</strong>n,<br />
dass die Frage nach <strong>de</strong>r Integrität <strong>de</strong>s Spen<strong>de</strong>rs<br />
nicht mehr gestellt wer<strong>de</strong>n kann. Für die Diskussion<br />
um Armut, im lokalen, globalen und nationalen Kontext<br />
sind aber die Fragen nach Produktionsbedingungen<br />
<strong>de</strong>r Waren, ökologischen Standards <strong>de</strong>r Herstellung<br />
und <strong>de</strong>s Transportes, Entlohnung von<br />
Mitarbeiten<strong>de</strong>n, Verhalten auf <strong>de</strong>m Markt von hoher<br />
Relevanz. Es ist also nur ein vermeintliches Win-<br />
Win-Geschäft, wenn sich Sponsoren durch eine<br />
Kooperation eine positive Reputation ihres Unternehmens<br />
und „<strong>Tafel</strong>“-Initiativen sich gesicherte<br />
24 Diakonie Texte 03.2010
5. (Sozial-) Politische Paradoxien <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit<br />
Lebensmittelspen<strong>de</strong>n erhoffen. Das Ausblen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Integrität <strong>de</strong>r Kooperationspartner kann langfristig<br />
zu einem Integritätsverlust <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ führen.<br />
5.4. Das Dilemma von Armutslin<strong>de</strong>rung<br />
als Armutsverfestigung<br />
Immer mehr sehen sich Mitarbeiten<strong>de</strong> in Lebensmittelausgabestellen<br />
mit <strong>de</strong>n Risiken und nicht intendierten<br />
Nebenwirkungen ihres Engagements für<br />
Menschen in Armut konfrontiert. Das, was als un -<br />
komplizierte Hilfe für Menschen in Armut begann,<br />
wird nun von Kritikern als „Vertafelung <strong>de</strong>r Gesellschaft“<br />
und gesellschaftliche Manifestation von<br />
Armut bezeichnet. Die sinnvolle I<strong>de</strong>e einer notwendigen<br />
Armutslin<strong>de</strong>rung und das Engagement zahlreicher<br />
Freiwilliger geraten dadurch in <strong>de</strong>n Ruf, am<br />
Abbau <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sozialstaats beteiligt zu sein.<br />
Plötzlich sehen sie sich mit <strong>de</strong>m Vorwurf konfrontiert,<br />
nicht zur Lösung son<strong>de</strong>rn zu <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r<br />
Armutsproblematik beizutragen.<br />
Der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi<br />
stellte schon vor gut zweihun<strong>de</strong>rt Jahren treffend fest<br />
“Wohltätigkeit ist das Ersaufen <strong>de</strong>s Rechts im Mistloch<br />
<strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>”. Diese Aussage ist immer dann<br />
zutreffend, wenn die bloße Weitergabe von Spen<strong>de</strong>n<br />
als Überwindung von Armut missverstan<strong>de</strong>n wird.<br />
Denn soziale Gerechtigkeit kann nicht durch zufällige<br />
und sporadische Spen<strong>de</strong>n und Almosen hergestellt<br />
wer<strong>de</strong>n. Fragen <strong>de</strong>s Wohnortes, <strong>de</strong>r Mobilität<br />
und <strong>de</strong>s Vorhan<strong>de</strong>nseins von Freiwilligem Engagement<br />
dürfen nicht abschließend entschei<strong>de</strong>n, ob Menschen<br />
Zugang zu Hilfe- und Unterstützungssystemen<br />
haben. Falsch ist die Aussage hingegen, wenn<br />
das wohltätige Han<strong>de</strong>ln – kurzfristig oft notwendig<br />
und Not lin<strong>de</strong>rnd – als eine Vorstufe o<strong>de</strong>r als Zwischenschritt<br />
zu mehr sozialer Gerechtigkeit verstan<strong>de</strong>n<br />
wird. Barmherzigkeit in diesem Sinne macht auf<br />
soziale Ungerechtigkeiten aufmerksam und zeigt auf,<br />
welche Schritte zur Beseitigung dieser Ungerechtigkeiten<br />
notwendig sind. Somit ist die Arbeit <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>n“ – wie auch viele an<strong>de</strong>re diakonische und<br />
soziale Tätigkeiten – immer eine Gratwan<strong>de</strong>rung<br />
zwischen <strong>de</strong>m vielleicht drohen<strong>de</strong>n, oft unbewussten<br />
und sicher immer ungewollten Ersatz von sozialen<br />
Rechtsansprüchen einerseits und einer Skandalisierung<br />
von Notlagen und Ungerechtigkeiten inklusive<br />
sozialpolitischer Lobbyarbeit für benachteiligte Personengruppen<br />
an<strong>de</strong>rerseits.<br />
Kirche und Diakonie haben die Aufgabe, diese Problemlage<br />
<strong>de</strong>n Initiativen vor Ort – und damit auch<br />
sich selbst! – <strong>de</strong>utlich aufzuzeigen. Träger und Praktiker,<br />
die realisieren, wie stark die einzelnen „<strong>Tafel</strong>n“<br />
vor Ort von armen Menschen in Anspruch genommen<br />
wer<strong>de</strong>n, sind auch in <strong>de</strong>r Pflicht, auf die bestehen<strong>de</strong><br />
Ausgrenzung und materielle Unterversorgung<br />
<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Nutzer und -Nutzerinnen hinzuweisen<br />
und politische Schritte zur Beseitigung dieser Notlagen<br />
einzufor<strong>de</strong>rn. Denn wer langfristig auf die<br />
Hilfe <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ angewiesen ist, wird sich in einer<br />
Parallelgesellschaft gleich Betroffener wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n.<br />
Die geringe soziale Mobilität und die geringe Interessenvertretung<br />
<strong>de</strong>r von Armut Betroffenen führen<br />
zur Verfestigung <strong>de</strong>r Spaltung in unserer Gesellschaft.<br />
Aufgabe <strong>de</strong>r örtlichen „<strong>Tafel</strong>n“ im Sinne eines Engagements<br />
für soziale Gerechtigkeit muss es daher sein,<br />
nicht bei <strong>de</strong>r bloßen Vergabe von Lebensmitteln stehen<br />
zu bleiben. Gemeinsam mit <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>sverband<br />
Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. und/o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren sozialen<br />
Akteuren und Initiativen können sie anwaltschaftlich<br />
für eine materielle Grundsicherung eintreten,<br />
die vor Armut schützt und nicht sozial ausgrenzt. So<br />
können „<strong>Tafel</strong>n“ dazu beitragen, dass Arme zu ihrem<br />
Recht kommen und nicht Empfänger von Almosen<br />
bleiben müssen.<br />
5.5. Was stützt die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r von Armut<br />
Betroffenen?<br />
Viele „<strong>Tafel</strong>n“ versuchen, so vielen Menschen wie<br />
möglich mit so vielen Lebensmitteln wie möglich zu<br />
helfen. Einige bemühen sich sogar, ihr Angebot auf<br />
sogenannte „Kin<strong>de</strong>rtafeln“ und Mittagstische auszuweiten.<br />
So wird systematisch ein ‚Kun<strong>de</strong>nstamm‘<br />
aufgebaut und erweitert. Der Begriff ‚Kun<strong>de</strong>‘, von<br />
vielen <strong>Tafel</strong>n explizit benutzt, verweist auf <strong>de</strong>n<br />
schwierigen Umgang mit <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Nutzerinnen<br />
und Nutzer. Durch diese Bezeichnung, die gewählt<br />
wur<strong>de</strong>, um Wür<strong>de</strong> zu geben, wer<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utungen<br />
von Inhalten <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit verklärt. Denn <strong>de</strong>m<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Kun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Regel zahlreiche<br />
Rechte abgesprochen, die üblicherweise die Konsu-<br />
03.2010 Diakonie Texte 25
5. (Sozial-) Politische Paradoxien <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit<br />
mentenrolle auszeichnen: Aus einem Vollsortiment<br />
frei zu wählen, bei Nichtgefallen eine an<strong>de</strong>re „<strong>Tafel</strong>“<br />
aufzusuchen, sich über fehlen<strong>de</strong> Artikel bei <strong>de</strong>r Leitung<br />
zu beschweren usw. Als Kun<strong>de</strong> muss er sich nur<br />
bedingt Regeln und Vorgaben <strong>de</strong>s „<strong>Tafel</strong>“-La<strong>de</strong>ns<br />
unterwerfen und muss sich nicht öffentlich als bedürftig<br />
outen. Obwohl die „<strong>Tafel</strong>n“ durch ihre Wortwahl<br />
genau das vermei<strong>de</strong>n wollen, führt das Erleben als<br />
„Un-Kun<strong>de</strong>n“ zu einer Selbstabwertung <strong>de</strong>r Betroffenen<br />
und stärkt nicht <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>r Betroffenen<br />
zur Armutsüberwindung.<br />
Zur Diskussion um die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Nutzer<br />
gehören auch die Fragen nach <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>r<br />
Öffnungszeiten und <strong>de</strong>s Warteverfahrens (mehrstündiges<br />
Schlangestehen in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit, Losverfahren,<br />
Bevorzugung von Müttern mit Kleinkin<strong>de</strong>rn,<br />
Gleichbehandlung aller Nutzerinnen und Nutzer),<br />
die Frage nach <strong>de</strong>n Wahlmöglichkeiten im Rahmen<br />
<strong>de</strong>s vorhan<strong>de</strong>nen Sortiments und die Frage nach<br />
Kommunikationsformen über die Ausgabetheke hinweg.<br />
26 Diakonie Texte 03.2010
6. Spezifische Auswirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf Kirche und<br />
Diakonie<br />
In <strong>de</strong>r Denkschrift <strong>de</strong>s Rates <strong>de</strong>r Evangelischen Kirche<br />
in Deutschland (<strong>EKD</strong>) zur Armut in Deutschland<br />
„Gerechte Teilhabe – Befähigung zur Eigenverantwortung<br />
und Solidarität“ (2006) heißt es: „Seit<br />
ihren Anfängen steht die christliche Kirche an <strong>de</strong>r<br />
Seite <strong>de</strong>r Armen“ 22 . Später folgt die Feststellung:<br />
„Ärmere Menschen sind in vielen christlichen<br />
Gemein<strong>de</strong>n in Deutschland wenig o<strong>de</strong>r gar nicht<br />
sichtbar“ 23 .<br />
In diesen bei<strong>de</strong>n Aussagen wird die Diskrepanz zwischen<br />
Anspruch und Wirklichkeit <strong>de</strong>s Miteinan<strong>de</strong>rs<br />
von Menschen in <strong>de</strong>r evangelischen Gemein<strong>de</strong><br />
ernüchternd <strong>de</strong>utlich. Die zehnte Syno<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong><br />
in Würzburg rief 2006 vor diesem Hintergrund alle<br />
evangelischen Gemein<strong>de</strong>n auf, sich durch ein Projekt<br />
zur Armutsüberwindung und -vermeidung zu<br />
profilieren. Auch <strong>de</strong>r ökumenische Kongress „Kirchen<br />
gegen Armut und Ausgrenzung“ widmete sich<br />
2008 intensiv <strong>de</strong>r Frage, wie Kirchengemein<strong>de</strong>n und<br />
diakonische Einrichtungen Armut bekämpfen und<br />
Ausgrenzung verhin<strong>de</strong>rn können.<br />
Dabei ist in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m <strong>Thema</strong><br />
Armut immer mehr die Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ zur Reibungs-<br />
und Reflektionsfläche gewor<strong>de</strong>n. Durch die<br />
vielfache Beteiligung von Kirchengemein<strong>de</strong>n und<br />
diakonischen Einrichtungen an <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit<br />
wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rzeit die praktischen Erfahrungen mit <strong>de</strong>n<br />
sozialwissenschaftlichen und theologischen Erkenntnissen<br />
reflektiert. In vielen Kirchenvorstän<strong>de</strong>n und<br />
Dienstbesprechungen diakonischer Einrichtungen<br />
wur<strong>de</strong> und wird die „<strong>Tafel</strong>“ <strong>zum</strong> – auch kontroversen<br />
– <strong>Thema</strong> und Diskussionspunkt. An ihr scheint<br />
sich Anspruch und Wirklichkeit <strong>de</strong>r Arbeit mit von<br />
Armut betroffenen Menschen in Kirche und Diako-<br />
22 Kirchenamt <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong> (Hrsg.): Gerechte Teilhabe – Befähigung<br />
zu Eigenverantwortung und Solidarität. Gütersloh<br />
2006, 7.<br />
23 A.a.O., 75<br />
nie zu fokussieren. Die mittelschichtsorientierten<br />
Kirchengemein<strong>de</strong>n und die Diakonischen Werke mit<br />
hoch spezialisierten und hochschwelligen Angeboten<br />
sind dabei die Ausgangslage. Die Anstöße, Diskussionen<br />
und die Reflektion rund um das <strong>Thema</strong><br />
„<strong>Tafel</strong>n“ in Kirche und Diakonie leiteten hier einen<br />
Perspektivwechsel ein. Die Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s<br />
Freiwilligen Engagements und <strong>de</strong>r gemeinwesenorientierten<br />
Diakonie gehen damit einher.<br />
6.1. „<strong>Tafel</strong>n“ als Brücke zwischen<br />
Diakonie und Kirche<br />
Kirchengemein<strong>de</strong>n und (regionale) Diakonische<br />
Werke sind nicht nur aufgrund ihres gemeinsamen<br />
biblischen Auftrages eng miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n. In<br />
Satzungen, Geschäftsordnungen, gemeinsamen Gremien<br />
und in <strong>de</strong>r praktischen Zusammenarbeit schlägt<br />
sich dies strukturell nie<strong>de</strong>r. Das aktuelle Zusammenspiel<br />
von Diakonischen Werken und Kirchengemein<strong>de</strong>n<br />
im Rahmen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ erweitert jedoch die<br />
bisherigen Formen und Umfänge <strong>de</strong>r Zusammenarbeit<br />
in erheblichem Maße. Die Initiierung von<br />
Lebensmittelausgabestellen, die organisatorische<br />
Umsetzung, die Gewinnung und Begleitung <strong>de</strong>r Freiwillig<br />
Engagierten, die Suche nach Sponsoren und<br />
die finanzielle Absicherung dieser Arbeit, haben Kirchengemein<strong>de</strong>n<br />
und Diakonische Werke in bisher<br />
nicht da gewesener Form zusammengeführt. In Run<strong>de</strong>n<br />
Tischen, Netzwerken und Arbeitsgruppen wer<strong>de</strong>n<br />
die jeweiligen Kenntnisse und Potentiale eingebracht.<br />
Räumlichkeiten von Kirchengemein<strong>de</strong>n, das<br />
Bereitstellen von Fahrzeugen, das seelsorgerliche<br />
Engagement <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die Beratungs- und<br />
Fachkenntnisse <strong>de</strong>r diakonischen Mitarbeiten<strong>de</strong>n<br />
wur<strong>de</strong>n selbstverständlich in diese gemeinsame<br />
Arbeit eingebracht. Durch die aktive gemeinsame<br />
Gestaltung in <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit sind teilweise neue Brücken<br />
entstan<strong>de</strong>n und bereits bestehen<strong>de</strong> Brücken zwischen<br />
Diakonie und Kirche gestärkt wor<strong>de</strong>n.<br />
03.2010 Diakonie Texte 27
6. Spezifische Auswirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf Kirche und Diakonie<br />
6.2. Rückwirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf ein<br />
kirchliches Armutsverständnis und<br />
Bereiche kirchlich-diakonischer<br />
Sozialarbeit<br />
Der sozialpolitische Hintergrund und die praktischen<br />
Erfahrungen, unter an<strong>de</strong>rem im Rahmen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-<br />
Arbeit in Bezug auf die aktuellen sozialen Missstän<strong>de</strong>,<br />
haben in kirchlichen und diakonischen Gremien<br />
eine intensive Diskussion <strong>zum</strong> <strong>Thema</strong> Armut<br />
ausgelöst. Diese Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen führten zu<br />
Fachvorträgen, Run<strong>de</strong>n Tischen o<strong>de</strong>r Arbeitskreisen,<br />
die sich mit <strong>de</strong>r Fragestellung, wie Kirche und Diakonie<br />
auf die aktuellen Herausfor<strong>de</strong>rungen reagieren<br />
sollen, beschäftigten. Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit<br />
sind hier ebenso <strong>Thema</strong>, wie die<br />
Fragestellung <strong>de</strong>r Möglichkeiten von seelsorgerlichen<br />
und gemeindlichen Angeboten für „<strong>Tafel</strong>“-Nutzerinnen<br />
und Nutzern. Durch die „<strong>Tafel</strong>n“ angestoßen,<br />
wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rzeit in <strong>de</strong>r diakonischen Beratungsarbeit<br />
differenzierte Angebote für Menschen in prekären<br />
Lebenssituationen einschließlich <strong>de</strong>n Nutzern und<br />
Nutzerinnen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“ entwickelt und umgesetzt.<br />
Dies beinhaltet eine stärkere lebenspraktische Ausrichtung<br />
<strong>de</strong>r Angebote und die Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung<br />
<strong>de</strong>r gemeinwesenorientierten Diakonie. Ein <strong>de</strong>utlicher<br />
Schwerpunkt zeigt sich <strong>de</strong>shalb immer stärker<br />
in <strong>de</strong>r Initiierung von Netzwerken mit an<strong>de</strong>ren<br />
Verbän<strong>de</strong>n und Einrichtungen; beispielsweise <strong>de</strong>m<br />
Kin<strong>de</strong>rschutzbund, <strong>de</strong>r Familien- und Erwachsenenbildung<br />
o<strong>de</strong>r auch mit Kultur- und Sportvereinen.<br />
Die starke Einbeziehung <strong>de</strong>r Begleitung von ehrenamtlichen<br />
Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in <strong>de</strong>r<br />
„<strong>Tafel</strong>“-Arbeit hat im kirchlich-diakonischen Bereich<br />
die Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Konzepte <strong>de</strong>s Freiwilligenmanagements<br />
vorangetrieben.<br />
In einigen Kirchengemein<strong>de</strong>n war die „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit<br />
Auslöser für einen diakonischen Gemein<strong>de</strong>aufbau,<br />
<strong>de</strong>r einhergeht mit weiteren nachhaltigen Angeboten<br />
für und mit Menschen in prekären Lebenslagen.<br />
Lei<strong>de</strong>r nicht flächen<strong>de</strong>ckend ist die finanzielle Unterstützung<br />
von Projekten zur Armutsüberwindung<br />
auch in Verbindung mit <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ durch die evangelischen<br />
Lan<strong>de</strong>skirchen. Hier wur<strong>de</strong>n teilweise För<strong>de</strong>rmittel<br />
und Fonds für spezielle und neue Projekte<br />
<strong>de</strong>r Armutslin<strong>de</strong>rung und Armutsüberwindung zur<br />
Verfügung gestellt.<br />
Zu berücksichtigen ist, dass diese aufgezeigten Entwicklungen<br />
Prozesse darstellen, die längst nicht<br />
abgeschlossen sind. Der eingeschlagene Lernprozess<br />
von Kirche und Diakonie muss immer mehr in<br />
die Arbeit und Gemeinschaft mit <strong>de</strong>n Armen und<br />
nicht für die Armen einmün<strong>de</strong>n. Hier stehen, <strong>zum</strong>in<strong>de</strong>st<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Projekte <strong>de</strong>r Sozialen Stadt und<br />
<strong>de</strong>r Brennpunktarbeit, die eigentlichen Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />
für Kirchengemein<strong>de</strong>n und diakonische<br />
Einrichtungen erst noch an. Eine Unterstützung<br />
durch entsprechen<strong>de</strong> finanzielle Mittel, unter an<strong>de</strong>rem<br />
für die Begleitung <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen, durch<br />
die bereits erwähnten Beiträge <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skirchen,<br />
wäre hier flächen<strong>de</strong>ckend im höchsten Maße wünschenswert.<br />
6.3. Das Verhältnis von diakonischem<br />
Selbstverständnis und <strong>de</strong>m Selbstverständnis<br />
<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s<br />
Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.<br />
Die Lin<strong>de</strong>rung und Überwindug von Armut ist in<br />
Kirche und Diakonie in ihrem diakonischen Han<strong>de</strong>ln<br />
in einer langen Tradition begrün<strong>de</strong>t. Vermutlich<br />
bil<strong>de</strong>n Kirchengemein<strong>de</strong>n und diakonische Einrichtungen<br />
die feinmaschigste Struktur unserer<br />
Gesellschaft. Kirche und Diakonie haben aufgrund<br />
ihres biblischen Fundamentes immer einen anwaltschaftlichen<br />
Auftrag, für und mit von Armut betroffenen<br />
Menschen, <strong>de</strong>r sich auch im politischen Engagement<br />
nie<strong>de</strong>rschlägt. Die Fragen nach <strong>de</strong>r Solidarität<br />
mit <strong>de</strong>n Betroffenen, <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r<br />
ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit<br />
sollten dabei die Richtschnur kirchlichen und diakonischen<br />
Han<strong>de</strong>lns sein.<br />
Die „<strong>Tafel</strong>“-Bewegung ist <strong>zum</strong>in<strong>de</strong>st in Deutschland<br />
eine sehr dynamische neue Form <strong>de</strong>s sozialen Engagements<br />
tausen<strong>de</strong>r ehrenamtlich tätiger Menschen.<br />
Darin eingebun<strong>de</strong>n ist gleichzeitig das Engagement<br />
vieler evangelischer Kirchengemein<strong>de</strong>n und diakonischer<br />
Einrichtungen. Diese haben sich trotz ihrer<br />
Eigenständigkeit als Körperschaft <strong>de</strong>s öffentlichen<br />
Rechts beziehungsweise als Wohlfahrtsverband teilweise<br />
in <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. eingebun<strong>de</strong>n:<br />
Einschließlich <strong>de</strong>r Befürwortung <strong>de</strong>r<br />
<strong>Tafel</strong>grundsätze und <strong>de</strong>r Unterstützung durch entsprechen<strong>de</strong><br />
Mitgliedschaften. Dies verschaffte <strong>de</strong>r<br />
28 Diakonie Texte 03.2010
6. Spezifische Auswirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf Kirche und Diakonie<br />
Arbeit vor Ort Klarheit für das pragmatische Han<strong>de</strong>ln<br />
sowie auch organisatorische Vorteile im Hinblick<br />
auf die Darstellung und <strong>de</strong>r Nachvollziehbarkeit<br />
gegenüber <strong>de</strong>r Öffentlichkeit.<br />
Jedoch haben sich viele kirchliche und diakonische<br />
Initiativen um <strong>de</strong>r Wahrung ihrer Unabhängigkeit<br />
und ihres kirchlichen Profils willens gegen die Mitgliedschaft<br />
im Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.<br />
entschie<strong>de</strong>n. Um hier ein gutes Miteinan<strong>de</strong>r im Interesse<br />
<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Nutzer zu gestalten, gilt es die<br />
gemeinsamen Schnittmengen im jeweiligen Selbstverständnis<br />
<strong>de</strong>r Akteure herauszuarbeiten und gleichzeitig<br />
die originären Aufgaben von Kirchengemein<strong>de</strong>n,<br />
diakonischen Einrichtungen und <strong>de</strong>m<br />
Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. zu würdigen und<br />
entsprechend zu berücksichtigen. Dies beinhaltet<br />
auch die klare Aufgabenteilung von Beratung, Seelsorge<br />
und praktischer Umsetzung <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit.<br />
Beratungsarbeit und Seelsorge sind originäre Aufgaben<br />
von Kirche und Diakonie, wohingegen die<br />
organisatorische Umsetzung <strong>de</strong>r Verteilung von<br />
Lebensmitteln die Kompetenzen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s<br />
Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. betrifft.<br />
03.2010 Diakonie Texte 29
Eigene Notizen<br />
30 Diakonie Texte 03.2010
Auszug Diakonie Texte 2007/2008/2009/2010<br />
02.2010 IKÖ Zusammenstellung von Stellungnahmen und Arbeitshilfen<br />
01.2010 Bildung, Erziehung und Betreuung in <strong>de</strong>r Kindheit<br />
16.2009 Pflegestatistik <strong>zum</strong> 15.12.2007<br />
15.2009 Einrichtungsstatistik – Regional, Stand 1. Januar 2008<br />
14.2009 Vorstandsbericht:<br />
Gemeinsam in die Zukunft: „Weil wir es wert sind“<br />
13.2009 Verbesserung <strong>de</strong>r Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen<br />
mit Behin<strong>de</strong>rung außerhalb <strong>de</strong>r WfbM<br />
12.2009 Seelsorge in Palliative Care<br />
11.2009 Gesundheitspolitische Perspektiven <strong>de</strong>r Diakonie 2009<br />
10.2009 Stationäre medizinische Rehabilitation von Kin<strong>de</strong>rn und<br />
Jugendlichen<br />
09.2009 Einrichtungsstatistik <strong>zum</strong> 1. Januar 2008<br />
08.2009 Fehlerhafte Transparenzberichte – Rechtsmittel gegen eine<br />
Veröffentlichung<br />
07.2009 Zur Rechtsstellung einkommens armer Menschen und <strong>de</strong>n<br />
notwendigen Än<strong>de</strong>rungen im SGB II<br />
06.2009 Ziele, Indikatoren und Evaluation in Projekten <strong>de</strong>r<br />
Migrationsarbeit<br />
05.2009 Leistungs- und Qualitätsmerkmale im SGB XI<br />
04.2009 Zukunftssicherung <strong>de</strong>r Dienste in <strong>de</strong>r Familienpflege und<br />
Dorfhilfe<br />
03.2009 Bildungswege „Gesundheit und Soziales“ – attraktiv für<br />
Nachwuchskräfte<br />
02.2009 Jugend gewinnen<br />
01.2009 Krankheit als finanzielle Belastung<br />
18.2008 Die „insoweit erfahrene Fachkraft“ nach § 8a Abs. 2<br />
SGB VIII – eine neue fachdienliche Aufgabe?<br />
17.2008 Characteristics of Diaconal Culture<br />
16.2008 Vorstandsbericht Diakonisches Werk <strong>EKD</strong><br />
15.2008 Familien wirksam för<strong>de</strong>rn<br />
14.2008 Mobile Rehabilitation<br />
13.2008 Interkulturelle Öffnung in <strong>de</strong>n Arbeitsfel<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Diakonie<br />
12.2008 Integrationsarbeit von A-Z<br />
11.2008 Die Migrationserstberatung <strong>de</strong>r Diakonie 2007<br />
10.2008 Sucht im Alter – Herausfor<strong>de</strong>rungen und Lösungswege für<br />
diakonische Arbeitsfel<strong>de</strong>r<br />
09.2008 Sucht im Alter – Sozial- und gesundheitspolitische<br />
For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Diakonie<br />
08.2008 Gesetz zur Neuregelung <strong>de</strong>s Rechtsberatungsrechts RDG<br />
vom 12. Dezember 2007<br />
07.2008 Synopse <strong>zum</strong> Pflege-Weiterentwicklungsgesetz<br />
06.2008 Sucht im Alter<br />
05.2008 Die Allgemeine Sozialarbeit <strong>de</strong>r Diakonie im Wan<strong>de</strong>l<br />
04.2008 Gesun<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r – gesun<strong>de</strong> Zukunft? Zukunftsaufgabe<br />
Rehabilitation von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen<br />
03.2008 Zukunftswege Pflegeausbildung<br />
02.2008 Positionen <strong>de</strong>r Diakonie zur Finanzierung von<br />
Kin<strong>de</strong>rtageseinrichtungen<br />
01.2008 Charakteristika einer diakonischen Kultur<br />
23.2007 Statistik <strong>de</strong>r Allgemeinen Sozialarbeit <strong>de</strong>r Diakonie für das<br />
Jahr 2005<br />
22.2007 Hauswirtschaft – Gesicherte Qualität in <strong>de</strong>r stationären Pflege<br />
Die Texte, die wir in <strong>de</strong>r<br />
Publikationsreihe Diakonie<br />
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