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Diakonie Texte | Positionspapier | 03.2010<br />

„Es sollte überhaupt kein<br />

Armer unter Euch sein“ 5.Mose 15,4<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ im Kontext sozialer<br />

Gerechtigkeit<br />

Diakonie für<br />

Menschen<br />

<strong>Tafel</strong>n in Kirche und<br />

Diakonie<br />

Stand März 2010


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort ........................................................................................................................................................... 3<br />

Zusammenfassung .......................................................................................................................................... 4<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Thesen................................................................................................................................................. 5<br />

Handlungsempfehlungen ................................................................................................................................ 7<br />

1. Einleitung .................................................................................................................................................... 9<br />

2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland ..................................................................................................................... 12<br />

2.1. I<strong>de</strong>e, Geschichte und Grundstrukturen ............................................................................................. 12<br />

2.2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Zahlen ....................................................................................................................... 12<br />

2.3 Die strukturelle Vielfalt <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Landschaft .............................................................................. 13<br />

3. Abwesenheit von Armut als Min<strong>de</strong>stkriterium sozialer Gerechtigkeit und weitere sozialethische<br />

Bewertungs kriterien zu „<strong>Tafel</strong>n“ ...............................................................................................................16<br />

4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und -überwindung? ............................................................. 19<br />

4.1. „<strong>Tafel</strong>n“ verschaffen einen notwendigen, existenzsichern<strong>de</strong>n finanziellen Spielraum ..................... 19<br />

4.2. „<strong>Tafel</strong>n“ bieten Möglichkeiten <strong>de</strong>r Begegnung und eines gesellschaftlich notwendigen<br />

sozialen Miteinan<strong>de</strong>rs ........................................................................................................................ 20<br />

4.3. Engagement schafft Bestätigung ....................................................................................................... 20<br />

4.4. „<strong>Tafel</strong>n“ bieten ,mehr‘ als Nahrung – Angebote rund um Ernährung und Lebensmittel ................ 20<br />

4.5. „<strong>Tafel</strong>n“ als Raum für Sozialarbeit .................................................................................................... 20<br />

4.6. „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit als Chance zur Solidarisierung .................................................................................. 21<br />

4.7. Die Lebenslage Armut skandalisieren ............................................................................................... 21<br />

4.8. „<strong>Tafel</strong>n“ als Motor <strong>de</strong>r Gemeinwesenentwicklung ............................................................................ 21<br />

4.9. Sozialpolitischer Einsatz <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ ............................................................................................... 21<br />

4.10. Die beson<strong>de</strong>re Integrität einer Initiative nutzen .............................................................................. 22<br />

5. (Sozial-)Politische Paradoxien <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit .................................................................................... 23<br />

5.1. Professionalisierungsfalle .................................................................................................................. 23<br />

5.2. Wie viel politische Unterstützung darf es sein? Nähe und Distanz <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />

zur (Kommunal-)Politik .................................................................................................................... 23<br />

5.3. „<strong>Tafel</strong>n“ und ihre Sponsoren – Unterstützung o<strong>de</strong>r Instrumentalisierung <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit ............... 24<br />

5.4. Das Dilemma von Armutslin<strong>de</strong>rung als Armutsverfestigung ......................................................... 25<br />

5.5. Was stützt die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r von Armut Betroffenen? .......................................................................... 25<br />

6. Spezifische Auswirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf Kirche und Diakonie .......................................................... 27<br />

6.1. „<strong>Tafel</strong>n“ als Brücke zwischen Diakonie und Kirche ......................................................................... 27<br />

6.2. Rückwirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf ein kirchliches Armutsverständnis und Bereiche<br />

kirchlich-diakonischer Sozialarbeit ................................................................................................... 28<br />

6.3. Das Verhältnis von diakonischem Selbstverständnis und <strong>de</strong>m Selbst verständnis<br />

<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. ........................................................................................ 28<br />

Impressum .....................................................................................................................................................31<br />

2 Diakonie Texte 03.2010


Vorwort<br />

Kaum ein Phänomen hat die wachsen<strong>de</strong> Armut in<br />

Deutschland so ins öffentliche Bewusstsein gebracht<br />

wie die Existenz <strong>de</strong>r Lebensmittelausgabestellen.<br />

Unter welchem Namen – ob <strong>Tafel</strong>, Vesperkirche,<br />

Suppenküche etc. – die einzelnen Initiativen auch<br />

erscheinen, eines ist ihnen gemeinsam: Die Arbeit<br />

geht ihnen nicht aus und die Zahl <strong>de</strong>rer, die ihre<br />

Unterstützung benötigen, wächst. Evangelische Kirchengemein<strong>de</strong>n,<br />

diakonische Einrichtungen und<br />

Werke sind in diese Initiativen vielfältig eingebun<strong>de</strong>n<br />

und wer<strong>de</strong>n dabei durch eine große Zahl Freiwilliger<br />

unterstützt.<br />

Die Diakonie setzt sich vor <strong>de</strong>m Hintergrund ihrer<br />

christlichen Verantwortung und Tradition für die<br />

Gestaltung einer gerechten Gesellschaft ein, in <strong>de</strong>r<br />

Menschen solidarisch – ohne Stigmatisierung –<br />

zusammen leben. Ziel <strong>de</strong>r Diakonie ist die Überwindung<br />

<strong>de</strong>r Gegensätze von Arm und Reich. Die<br />

Diakonie versteht sich – nicht nur im Europäischen<br />

Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung<br />

– als Partnerin aller, die eine gerechte<br />

Gesellschaft gestalten wollen. Sie ist daher auch aufgerufen,<br />

ihr eigenes Engagement immer wie<strong>de</strong>r<br />

daraufhin zu überprüfen, ob es langfristig Armut<br />

überwin<strong>de</strong>t und Menschen befähigt, selbst Verantwortung<br />

zu übernehmen. Die vorliegen<strong>de</strong> Handreichung<br />

möchte in diesem Sinne Diskussionen in Kirche,<br />

Diakonie und Politik anregen: Um die<br />

Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung<br />

in Kirche und Diakonie zu verstärken, aber auch um<br />

nachhaltige Strukturen zur Prävention von Armut<br />

und für mehr Chancen und Teilhabe aller Menschen<br />

zu schaffen.<br />

Kerstin Griese<br />

Vorstand Sozialpolitik <strong>de</strong>s Diakonischen Werkes<br />

<strong>de</strong>r Evangelischen Kirche in Deutschland<br />

Die vorliegen<strong>de</strong> Handreichung wur<strong>de</strong> im Rahmen eines Projektes erarbeitet von:<br />

Susanne Alms <strong>de</strong> Ocana, Stadtteil-Diakonie Sülldorf-Iserbrook<br />

Matthias Bruckdorfer, Diakonisches Werk <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong> e. V. (Projektleitung)<br />

Reiner Engel, Diakonisches Werk Eichsfeld-Mühlhausen e.V.<br />

Wilfried Kehr, Diakonisches Werk im Westerwaldkreis<br />

Michael König, Sozialberatungsstelle Soest, Evangelisches Perthes-Werk e. V.<br />

Dr. Silke Köser, Diakonisches Werk <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong> e. V. (Projektleitung)<br />

Klaus Wanka, Diakonisches Werk Schweinfurt e. V.<br />

03.2010 Diakonie Texte 3


Zusammenfassung<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ sind in erster Linie ein Mittel <strong>de</strong>r Armutslin<strong>de</strong>rung<br />

einer solidarisch han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Zivilgesellschaft.<br />

Die Diakonie begrüßt dieses armutslin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />

Engagement von Menschen in „<strong>Tafel</strong>n“. Dafür<br />

gebührt Ihnen Anerkennung und Dank. „<strong>Tafel</strong>n“<br />

können aber aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n kein wirksames<br />

Instrument zur Überwindung gesellschaftlicher<br />

Armut sein. Die Überwindung von Armut ist<br />

Ziel und Aufgabe <strong>de</strong>s Staates. Der Sozialstaat muss<br />

<strong>de</strong>r Garant dafür sein, dass Armut strukturell und<br />

nachhaltig bekämpft und verhin<strong>de</strong>rt wird. Die Diakonie<br />

betrachtet die Abwesenheit von Armut als das<br />

Min<strong>de</strong>stkriterium für die Verwirklichung sozialstaatlicher<br />

Zielsetzungen <strong>de</strong>r sozialen Sicherheit und<br />

sozialen Gerechtigkeit.<br />

Die „<strong>Tafel</strong>n“ zeigen über<strong>de</strong>utlich, dass trotz staatlicher<br />

Sozialpolitik Armen eine menschenwürdige<br />

Existenz verweigert wird. Insbeson<strong>de</strong>re politische<br />

Akteure instrumentalisieren und missbrauchen in<br />

einigen Fällen die Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“, um eigene<br />

Untätigkeit und Versäumnisse bei <strong>de</strong>r Überwindung<br />

von Armut zu ver<strong>de</strong>cken.<br />

Um diese Instrumentalisierung und <strong>de</strong>n Missbrauch<br />

von „<strong>Tafel</strong>n“ zu verhin<strong>de</strong>rn, unterstützt die Diakonie<br />

alle Ehrenamtlichen darin, über ihr karitatives<br />

Engagement hinaus sozialanwaltschaftlich zu han<strong>de</strong>ln<br />

und sozialpolitische Verantwortung zu übernehmen.<br />

Sozialanwaltschaftliches Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ besteht im Wesentlichen in einer doppelten<br />

Skandalisierung. Zum einen <strong>de</strong>r Skandalisierung<br />

wachsen<strong>de</strong>r Armut und Ungleichheit und <strong>zum</strong> an<strong>de</strong>ren<br />

<strong>de</strong>r Skandalisierung staatlicher Versuche, Rechtsansprüche<br />

mit <strong>de</strong>m Verweis auf „<strong>Tafel</strong>n“ nicht zu<br />

gewähren bzw. abzubauen. Das sozialanwaltschaftliche<br />

Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ ist i<strong>de</strong>altypisch eingebettet<br />

in eine abgestimmte Handlungsstrategie mit<br />

Netzwerkpartnern im Sozialraum.<br />

Ziel <strong>de</strong>r Diakonie ist nicht die Selbstauflösung <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>n“, son<strong>de</strong>rn eine nachhaltige Armutsüberwindung<br />

durch Sozialpolitik.<br />

4 Diakonie Texte 03.2010


„<strong>Tafel</strong>“-Thesen<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Die Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“ verkoppelt zwei gänzlich<br />

unterschiedliche Problemstellungen: Zum<br />

einen die Vernichtung einmal produzierter überschüssiger<br />

Lebensmittel, <strong>zum</strong> an<strong>de</strong>ren die relative<br />

Armut vieler Menschen in unserer Gesellschaft.<br />

Die Diakonie erkennt in „<strong>Tafel</strong>n“ kreative zivilgesellschaftliche<br />

Initiativen, die auf bei<strong>de</strong> Problemstellungen<br />

gleichermaßen reagieren wollen.<br />

Die „<strong>Tafel</strong>n“ dürfen nicht <strong>zum</strong> Bestandteil einer<br />

staatlichen Strategie zur Überwindung von Armut<br />

(Armutsbekämpfung) wer<strong>de</strong>n. Unabhängig davon,<br />

ob und in welchem Umfang „<strong>Tafel</strong>n“ existieren,<br />

ist es ausschließlich die Aufgabe <strong>de</strong>s Staates, auf<br />

<strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Unantastbarkeit <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong><br />

in § 1 <strong>de</strong>s Grundgesetzes die Daseinsvorsorge<br />

nach sozialstaatlichen Zielsetzungen <strong>de</strong>r<br />

sozialen Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit zu<br />

gestalten. Notwendige (nicht hinreichen<strong>de</strong>) Bedingung<br />

ist dabei die Abwesenheit von Armut.<br />

Der Sozialstaat muss <strong>de</strong>r Garant dafür sein, dass<br />

Armut strukturell und nachhaltig aus <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

verbannt wird. Diesen armutsfreien Zustand<br />

hat die Sozialpolitik noch nicht verwirklicht. Die<br />

Grundsicherungssysteme <strong>de</strong>r Sozialhilfe, <strong>de</strong>r<br />

Grundsicherung für Arbeitssuchen<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s<br />

Asylbewerberleistungsgesetzes müssen bedarfs<strong>de</strong>ckend<br />

gestaltet wer<strong>de</strong>n. Auch bedarf es staatlicherseits<br />

weiterer Anstrengungen insbeson<strong>de</strong>re<br />

in <strong>de</strong>n Bereichen Bildung, Wohnen, soziale Integration,<br />

soziale Infrastruktur und Gesundheit, um<br />

Armut vor <strong>de</strong>m Hintergrund einer Lebenslagen<strong>de</strong>finition<br />

wirksam und dauerhaft zu überwin<strong>de</strong>n.<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ können kein wirksames Instrument zur<br />

Überwindung gesellschaftlicher Armut sein. Sie<br />

sind eine Praxis <strong>de</strong>r Barmherzigkeit und tätiger<br />

Nächstenliebe. Sie können keine bedarfsgerechte,<br />

verlässliche, nachhaltige und ursachenüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Hilfe bieten. „<strong>Tafel</strong>n“ sind, unabhängig von<br />

ihrer jeweiligen konzeptionellen Ausdifferenzierung,<br />

in erster Linie ein Mittel <strong>de</strong>r Armutslin<strong>de</strong>rung.<br />

Die Diakonie macht die Erfahrung, dass das Sammeln<br />

und Weiterleiten sogenannter überschüssiger<br />

Lebensmittel durch „<strong>Tafel</strong>n“ einen Nutzen für von<br />

Armut Betroffene hat. Die zusätzlichen Nahrungsmittel<br />

verschaffen <strong>de</strong>n Menschen oftmals existentiell<br />

be<strong>de</strong>utsame materielle Spielräume. Das trifft<br />

natürlich nur für diejenigen zu, die zur „<strong>Tafel</strong>“<br />

gehen. Der größte Teil <strong>de</strong>r Armutsbevölkerung<br />

nimmt das Angebot <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“ aber gar nicht in<br />

Anspruch.<br />

Die Diakonie begrüßt uneingeschränkt das armutslin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />

Engagement <strong>de</strong>r Menschen in „<strong>Tafel</strong>n“.<br />

Dafür gebührt ihnen Lob, Anerkennung, Wertschätzung<br />

und Dank. Die Diakonie unterstützt die<br />

Freiwillig Engagierten in ihrer Arbeit und bestärkt<br />

sie darin, ihr Engagement fortzusetzen.<br />

Freiwillig Engagierte in „<strong>Tafel</strong>n“ können er kennen,<br />

dass sie einer inzwischen erfolgreichen sozial en<br />

Bewegung angehören, die sozialstrukturell<br />

be<strong>de</strong>utsam ist und <strong>de</strong>shalb von allen relevanten<br />

meinungsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und entscheidungstragen<strong>de</strong>n<br />

Gruppen wahrgenommen wird. Damit ist die<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Bewegung auch Objekt von Begehrlichkeiten,<br />

Interessen und Instrumentalisierungen, bis<br />

hin <strong>zum</strong> Missbrauch, gewor<strong>de</strong>n.<br />

Die „<strong>Tafel</strong>n“ als Objekt in <strong>de</strong>r sozialpolitischen<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung um Armutsfragen stehen<br />

aktuell in <strong>de</strong>r Gefahr, von Politikkonzepten vereinnahmt<br />

zu wer<strong>de</strong>n, die in ihrer Zielsetzung nicht<br />

die Armutsüberwindung und die Stärkung <strong>de</strong>r<br />

sozialen Gerechtigkeit haben. Solche Politikkonzepte<br />

würdigen einerseits das „<strong>Tafel</strong>“-Engagement<br />

überschwänglich, versuchen aber an<strong>de</strong>rerseits<br />

03.2010 Diakonie Texte 5


„<strong>Tafel</strong>“-Thesen<br />

<br />

<br />

<br />

auch die Verantwortung für die Armutsüberwindung<br />

mehr und mehr in <strong>de</strong>n zivilgesellschaftlichprivaten<br />

Raum abzuschieben<br />

Dies führt dazu, dass sich für viele Menschen die<br />

Lebenslage Armut verfestigt, da ihnen <strong>de</strong>r gesicherte<br />

Zugang zu armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Leistungen<br />

erschwert wird beziehungsweise das Verbleiben<br />

in <strong>de</strong>r Armut geför<strong>de</strong>rt wird.<br />

Die „<strong>Tafel</strong>n“ sind <strong>de</strong>nnoch kein ‚Problemfall‘ <strong>de</strong>r<br />

Armutsüberwindung, son<strong>de</strong>rn die interessengeleitete<br />

Instrumentalisierung und <strong>de</strong>r Missbrauch<br />

<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ im Armutsdiskurs durch politische<br />

und an<strong>de</strong>re Akteure erschwert es, armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Lösungen umzusetzen. Von daher ist die<br />

For<strong>de</strong>rung, <strong>Tafel</strong>n müssten sich überflüssig<br />

machen, nicht plausibel. Es wird wahrscheinlich<br />

immer Menschen mit niedrigem Einkommen o<strong>de</strong>r<br />

in Mangelsituationen geben (auch bei einem<br />

bedarfsgerechten Regelsatz o<strong>de</strong>r bei einem bedingungslosen<br />

Grun<strong>de</strong>inkommen/soziokulturellen<br />

Existenzminimum), die froh über zusätzliche Mittel<br />

in Form von Lebensmitteln sind und bis zu<br />

einem gewissen Grad wer<strong>de</strong>n auch in Zukunft –<br />

trotz verbesserter Waren- und Logistik-Konzepte<br />

– ‚überschüssige‘ Lebensmittel produziert wer<strong>de</strong>n.<br />

Solange es also Menschen gibt, die die Weitergabe<br />

dieser überschüssigen Lebensmittel organisieren<br />

wollen und dafür auch Nutzerinnen und<br />

Nutzer fin<strong>de</strong>n, ist die Existenz von „<strong>Tafel</strong>n“ durchaus<br />

sinnvoll und unterstützenswert. „<strong>Tafel</strong>n“ befin<strong>de</strong>n<br />

sich damit in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Spannungsfel<strong>de</strong>s,<br />

<strong>de</strong>ssen Grenzen bereits in <strong>de</strong>r Bibel mit „Es sollte<br />

überhaupt kein Armer unter Euch sein“ 1 und<br />

„Denn Arme habt ihr allezeit bei euch“ 2 gekennzeichnet<br />

sind.<br />

Die Diakonie unterstützt, dass Freiwillig Engagierte<br />

auf allen Ebenen gegenüber <strong>de</strong>n politischen<br />

Entscheidungsträgern auf kommunaler, Lan<strong>de</strong>sund<br />

Bun<strong>de</strong>sebene als selbstbewusste sozialpolitische<br />

Akteure auftreten und mit <strong>de</strong>r ihnen zugewiesenen<br />

sozialpolitischen Be<strong>de</strong>utung ver-<br />

1 5.Mose 15,4<br />

2 Mt 26,11<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

antwortlich umgehen – über die zweifelsfrei gute<br />

Einzeltat einer je<strong>de</strong>n/eines je<strong>de</strong>n hinaus<br />

Sozialpolitische Verantwortung <strong>de</strong>r Freiwillig<br />

Engagierten heißt auch, dass sie aktiv und bewusst<br />

ihre Arbeit in <strong>de</strong>r Lebensmittelausgabe <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ hinsichtlich <strong>de</strong>r Fragen nach Menschenwür<strong>de</strong>,<br />

sozialer Gerechtigkeit, ökonomischer und<br />

ökologischer Nachhaltigkeit so gestalten, dass<br />

mögliche negative Effekte minimiert o<strong>de</strong>r vermie<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n. Kirche und Diakonie tragen als Träger<br />

solcher Initiativen eine beson<strong>de</strong>re Verantwortung,<br />

<strong>de</strong>r sie durch Schulung, (sozialpolitische)<br />

Qualifizierung und (seelsorgerliche) Begleitung<br />

<strong>de</strong>r Freiwillig Engagierten gerecht wer<strong>de</strong>n.<br />

Je<strong>de</strong> Form von über die Lebensmittelausgabe<br />

hinausgehen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en und Handlungsalternativen<br />

sollten im Rahmen von Kooperationen mit bestehen<strong>de</strong>n<br />

sozialen Einrichtungen und sozialen Diensten<br />

(<strong>de</strong>r Diakonie) organisiert wer<strong>de</strong>n. Es macht<br />

keinen Sinn, dass „<strong>Tafel</strong>n“ in eigener Regie und<br />

in Konkurrenz <strong>zum</strong> bestehen<strong>de</strong>n Hilfesystem<br />

Angebote <strong>de</strong>r Sozialen Arbeit (Beratung, Begleitung<br />

etc.) „neu erfin<strong>de</strong>n“ und damit einer De-Professionalisierung<br />

<strong>de</strong>r Sozialen Arbeit Vorschub<br />

leis ten.<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ erreichen häufig von Diakonie und Kirche<br />

eher schwer erreichbare Menschen in Armut.<br />

Diese Beobachtung sollte Anlass für die Einrichtungen<br />

und Dienste <strong>de</strong>r Diakonie sein, ihre Konzeptionen<br />

auf Niedrigschwelligkeit und aufsuchen<strong>de</strong><br />

Elemente hin zu überprüfen.<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ sind Ausdruck einer sozialen Spaltung<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft in zwei Konsumptionsbereiche.<br />

Sie stehen in Gefahr, dies ungewollt zu unterstützen.<br />

Die einen verfügen über ausreichend beziehungsweise<br />

reichlich Mittel, sich frei auf <strong>de</strong>m<br />

Markt als Konsumentinnen beziehungsweise Konsumenten<br />

zu bedienen, während ein an<strong>de</strong>rer Teil<br />

<strong>de</strong>r Bevölkerung in „Soziallä<strong>de</strong>n“ auf verbilligte<br />

(Gebraucht)Waren o<strong>de</strong>r Almosen angewiesen<br />

ist.<br />

6 Diakonie Texte 03.2010


Handlungsempfehlungen<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ konzentrieren sich auf ihre originäre<br />

Grundi<strong>de</strong>e – Verteilung von überschüssigen<br />

Lebensmitteln an Bedürftige, richten ihr Han<strong>de</strong>ln<br />

daraufhin aus und begrenzen es. Das be<strong>de</strong>utet insbeson<strong>de</strong>re<br />

auf <strong>de</strong>n Zukauf von Lebensmitteln zu<br />

verzichten.<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ müssen grundsätzlich ihre Arbeit unter<br />

<strong>de</strong>m Vorzeichen <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> planen,<br />

durchführen und reflektieren. Achtsamkeit, Respekt<br />

und Wertschätzung prägen die Kommunikation<br />

mit <strong>de</strong>n Nutzerinnen und Nutzern. Eine Begegnung<br />

auf Augenhöhe ist nötig, um Gefühle <strong>de</strong>r<br />

Scham, <strong>de</strong>r Schuld und <strong>de</strong>r Erniedrigung möglichst<br />

gering zu halten.<br />

Eine Vernetzung <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ mit <strong>de</strong>m bereits<br />

bestehen<strong>de</strong>n Hilfesystem ist unverzichtbar. I<strong>de</strong>en,<br />

die über die Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>n hinausgehen,<br />

können in Kooperation mit Netzwerkpartnern<br />

reflektiert und gegebenenfalls realisiert wer<strong>de</strong>n.<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ sollten nicht die Trägerschaft für Zusatzangebote<br />

anstreben.<br />

Bei <strong>de</strong>r Gründung, <strong>de</strong>m Betrieb o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schließung<br />

von „<strong>Tafel</strong>n“ arbeiten Kirchengemein<strong>de</strong>n<br />

und verfasste Diakonie zusammen und beraten<br />

sich gegenseitig. Bei<strong>de</strong> Seiten verfügen über spezifische<br />

Kompetenzen und Möglichkeiten und profitieren<br />

gegenseitig davon.<br />

Gemeinwesenorientierte und vernetzte „<strong>Tafel</strong>n“<br />

achten darauf, dass die Nutzerinnen und Nutzer<br />

<strong>de</strong>n Weg zu einer individuellen und qualitativ<br />

guten sozialen Beratung fin<strong>de</strong>n. Die einschlägigen<br />

professionellen Netzwerkpartner <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />

haben insbeson<strong>de</strong>re die Aufgabe, über materielle<br />

Rechtsansprüche und ihre Durchsetzungsmöglichkeiten<br />

zu beraten.<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Obwohl „<strong>Tafel</strong>n“ für die Nutzerinnen und Nutzer<br />

zunächst ein System <strong>de</strong>r Fremdbestimmung darstellen,<br />

können „<strong>Tafel</strong>n“ im Netzwerk mit an<strong>de</strong>ren<br />

sozialen Dienstleistern in Richtung einer Befähigung<br />

<strong>de</strong>r Betroffenen arbeiten. „<strong>Tafel</strong>n“ als Orte<br />

<strong>de</strong>r Begegnung von Gleichbetroffenen können<br />

zunächst zu einer psychischen Entlastung führen.<br />

Wenn zusätzlich die Chance zur Bildung von<br />

Gruppen genutzt wird, die die Selbsthilfe und<br />

Selbstorganisation <strong>de</strong>r Nutzerinnen und Nutzer<br />

unterstützen, kann das einen Schritt hin zur Überwindung<br />

von Ohnmachts- und Abhängigkeitserfahrungen<br />

be<strong>de</strong>uten.<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ müssen von ihren Nutzerinnen und<br />

Nutzern im Gespräch in Erfahrung bringen, ob<br />

Sozial leistungsträger mit <strong>de</strong>m Verweis auf das<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Angebot materielle Rechtsansprüche<br />

nicht o<strong>de</strong>r nur unzureichend gewähren. Diese<br />

Informationen müssen zeitnah <strong>de</strong>n Kooperationspartnern<br />

beziehungsweise <strong>de</strong>m Netzwerk<br />

übermittelt wer<strong>de</strong>n.<br />

Diese Defizite in <strong>de</strong>r Rechtsverwirklichung bil<strong>de</strong>n<br />

zusammen mit <strong>de</strong>r grundsätzlichen Armutsproblematik,<br />

die in <strong>Tafel</strong>n augenscheinlich wird, <strong>de</strong>n<br />

Ausgangspunkt für gesellschafts- und sozialpolitisches<br />

Engagement <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“. Hier bedarf es<br />

einer ‚doppelten Skandalisierung‘. Mit diesem<br />

sozialanwaltschaftlichen Han<strong>de</strong>ln übernehmen die<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ sozialpolitische Verantwortung. Es verhin<strong>de</strong>rt,<br />

dass die Unterstützungsleistung <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />

von staatlicher Seite missbraucht wird. Die sozialanwaltschaftlichen<br />

Aktivitäten wer<strong>de</strong>n i<strong>de</strong>altypisch<br />

eingebun<strong>de</strong>n in eine gemeinsame Strategie<br />

mit (diakonischen) Kooperations partnern.<br />

Die Begleitung, Qualifizierung und Fortbildung<br />

Freiwillig Engagierter in „<strong>Tafel</strong>n“ durch haupt-<br />

03.2010 Diakonie Texte 7


Handlungsempfehlungen<br />

<br />

<br />

amtlich Mitarbeiten<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Diakonie ist ein obligatorischer<br />

Qualitätsstandard. 3<br />

Bestandteil und Spezifikum <strong>de</strong>r hauptamtlichen<br />

Begleitung <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ ist eine sozialpolitische Bildungsarbeit,<br />

die Ehrenamtliche über die Kritik an<br />

ihrer Arbeit umfassend informiert, über mögliche<br />

nichtbeabsichtigte nachteilige Effekte für die Nutzerinnen<br />

und Nutzer aufklärt und über angemessene<br />

sozialanwaltschaftliche Aktivitäten berät.<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ achten auf die Realisierung „interner<br />

Verteilungsgerechtigkeit“. Die weiterzugeben<strong>de</strong><br />

Menge an Lebensmitteln sollte insbeson<strong>de</strong>re<br />

3 DW <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong>, 2006: Freiwilliges Engagement in Kirche<br />

und Diakonie, 20<br />

<br />

<br />

danach bemessen sein, ob die Nutzerin o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Nutzer eine Einzelperson ist o<strong>de</strong>r ob mehrere Personen,<br />

wie etwa ein Haushalt mit Kin<strong>de</strong>rn, im<br />

Hintergrund stehen.<br />

Wenn „<strong>Tafel</strong>n“ die Arbeit nicht mehr ausschließlich<br />

mit Freiwillig Engagierten bewältigen können,<br />

stellt die Beschäftigung von Mitarbeiten<strong>de</strong>n<br />

über „Ein-Euro-Jobs“/Arbeitsgelegenheiten in <strong>de</strong>r<br />

Mehraufwandsvariante (AG-MAE) keine i<strong>de</strong>ale<br />

Lösung dar. Statt<strong>de</strong>ssen sollten Möglichkeiten <strong>de</strong>r<br />

För<strong>de</strong>rung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse<br />

geprüft wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Integrität <strong>de</strong>r Spen<strong>de</strong>r und Sponsoren in<br />

sozial er, ökologischer und ökonomischer Perspektive<br />

ist zu beachten.<br />

8 Diakonie Texte 03.2010


1. Einleitung<br />

Die Bibel hat eine klare Option für die Armen, für<br />

Menschen in materieller Not und Menschen, <strong>de</strong>ren<br />

Recht missachtet wird. Die Kirche steht damit solidarisch<br />

an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>rjenigen, die Not lei<strong>de</strong>n. Sie<br />

macht daher aufmerksam auf die Ursachen von<br />

Armut. Das biblische Bild von Armut ist ein realistisches.<br />

Es steht in <strong>de</strong>r Spannung von „Es sollte überhaupt<br />

kein Armer unter euch sein“ 4 und „Denn Arme<br />

habt ihr allezeit bei euch“ 5 . Zwischen diesem Anspruch<br />

und Realismus bewegt sich diakonisches Han<strong>de</strong>ln<br />

im Kampf gegen Armut auch heute noch.<br />

Hilfe für die Armen in <strong>de</strong>r Welt ist ein urchristlicher<br />

Topos und grundlegen<strong>de</strong>s Element diakonischen<br />

Han<strong>de</strong>lns. Helfen ist Ausdruck menschlicher Einfühlungsgabe<br />

und tätiger Barmherzigkeit. Mit <strong>de</strong>m<br />

helfen<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>ln wird zunächst an<strong>de</strong>ren Menschen<br />

Gutes getan. Im direkten zwischenmensch lichen<br />

Kontakt soll das Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren überwun<strong>de</strong>n,<br />

min<strong>de</strong>stens aber gelin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Mit einer anwachsen<strong>de</strong>n<br />

Summe unterstützen<strong>de</strong>r Aktivitäten ist dann<br />

durchaus die Hoffnung und die Intention verbun<strong>de</strong>n,<br />

mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen und Armut<br />

zu beseitigen. In <strong>de</strong>r biblischen Tradition ist bei<strong>de</strong>s<br />

eng verknüpft: Konkretes Hilfehan<strong>de</strong>ln und <strong>de</strong>r Einsatz<br />

für gerechte Strukturen.<br />

Eine von vielen <strong>de</strong>nkbaren Formen helfen<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lns<br />

als Reaktion auf (wachsen<strong>de</strong>) Armut hat quantitativ<br />

seit 1993 in Deutschland ein erstaunlich hohes<br />

Ausmaß erreicht: Gemeint ist die Arbeit vieler überwiegend<br />

Freiwillig Engagierter in sogenannten<br />

„<strong>Tafel</strong>n“.<br />

Im <strong>de</strong>utschen Sprachgebrauch hat sich die Verwendung<br />

<strong>de</strong>s Begriffes „<strong>Tafel</strong>“ für alle Formen bürgerschaftlichen<br />

Engagements in Lebensmittelausgabestellen<br />

für Bedürftige eingebürgert, auch wenn diese<br />

4 5.Mose 15,4<br />

5 Mt 26,11<br />

Initiativen sich selbst nicht immer „<strong>Tafel</strong>n“ nennen.<br />

Der folgen<strong>de</strong> Text greift diesen Sprachgebrauch auf<br />

und verwen<strong>de</strong>t ebenfalls <strong>de</strong>n Begriff „<strong>Tafel</strong>“ zur<br />

Beschreibung dieses Phänomens, macht aber durch<br />

die Verwendung von Anführungszeichen <strong>de</strong>utlich,<br />

dass auch Initiativen gemeint sind, die sich selbst<br />

Vesperkirche, Suppenküche etc. nennen. 6<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ sind und waren dabei nie die einzigen von<br />

<strong>de</strong>r Zivilgesellschaft getragenen Formen von Hilfe,<br />

welche die mit einem Rechtsanspruch versehenen<br />

sozialstaatlichen Hilfen ergänzt haben. Solche sozialstaatsergänzen<strong>de</strong>n<br />

Hilfeformen, die insbeson<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>r von Armut betroffenen Bevölkerung Entlastungen<br />

und Spielräume bei <strong>de</strong>r alltäglichen Lebensbewältigung<br />

eröffnen sollen, gab es in Deutschland<br />

über Jahrzehnte hinweg in unterschiedlichen Formen<br />

und Ausmaßen: Vesperkirchen, Suppenküchen,<br />

Mittagstische, Essensausgabestellen, Diakonielä<strong>de</strong>n,<br />

Lebensmittellä<strong>de</strong>n, Sozialkaufhäuser, Klei<strong>de</strong>rkammern,<br />

Gebrauchtmöbellä<strong>de</strong>n etc.<br />

Keine dieser vielfältigen sozialstaatsergänzen<strong>de</strong>n<br />

Hilfeformen ist aber so rasant gewachsen wie die<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ und hat so viel öffentliche Aufmerksamkeit<br />

für das <strong>Thema</strong> Armut in unserer Gesellschaft erzeugt.<br />

Die „<strong>Tafel</strong>n“ avancieren fast schon zur prägen<strong>de</strong>n<br />

Kraft für das Bild von Armut und für <strong>de</strong>n Umgang<br />

mit ihr in unserer Gesellschaft. Insofern können die<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ als erfolgreich bezeichnet wer<strong>de</strong>n.<br />

6 Dort wo auf die Anführungszeichen verzichtet wird, wird<br />

von Initiativen gesprochen, die <strong>de</strong>n Namen <strong>Tafel</strong> führen und<br />

Mitglied im Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. sind. Die<br />

Bezeichnung „<strong>Tafel</strong>“ für eine Lebensmittelausgabe wird von<br />

vielen als problematisch betrachtet, da hier ein Begriff <strong>de</strong>r<br />

Fest- und Feierkultur mit <strong>de</strong>m Sammeln und Verteilen von<br />

Lebensmitteln in Verbindung gebracht wird. Vgl. dazu:<br />

Lorenz, Stephan: Die <strong>Tafel</strong>n zwischen Konsumismus und<br />

‚Überflüssigkeit‘. Zur Perspektive einer Soziologie <strong>de</strong>s Überflusses.<br />

In: Selke, Stefan (Hrsg.): <strong>Tafel</strong>n in Deutschland.<br />

Wiesba<strong>de</strong>n 2009, 75-78.<br />

03.2010 Diakonie Texte 9


1 Einleitung<br />

Durch diesen Erfolg sind „<strong>Tafel</strong>n“ sozialstrukturell<br />

be<strong>de</strong>utsam gewor<strong>de</strong>n. Verbän<strong>de</strong>, Wissenschaft, Politik,<br />

Medien, Wirtschaft etc. äußern, verhalten und<br />

positionieren sich zur Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“. Sie wer<strong>de</strong>n<br />

als wichtiges gesellschaftliches Phänomen von<br />

allen Seiten bewertet, benutzt und interessengeleitet<br />

verwertet. „<strong>Tafel</strong>n“ verlieren damit ihre ‚sozialpolitische<br />

Unschuld‘ und sind als gewichtiges Argument<br />

im gesellschafts- und sozialpolitischen Diskurs angekommen.<br />

Ausgerechnet diese Erfolgsgeschichte <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />

gerät aber zunehmend ins Kreuzfeuer <strong>de</strong>r Kritik.<br />

Was aber soll falsch sein an einer ‚millionenfachen<br />

Summe an guten Taten‘ je<strong>de</strong>n Tag? Leis ten die „<strong>Tafel</strong>n“<br />

nicht ihren spezifischen Beitrag zur Armutsbekämpfung<br />

und realisieren so ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit?<br />

Auch die evangelischen Kirchen und ihre Diakonie,<br />

die sich als Grün<strong>de</strong>r beziehungsweise Träger von<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ o<strong>de</strong>r als Einzelpersonen in zivilgesellschaftlichen<br />

Gruppen und Netzwerken in „<strong>Tafel</strong>n“ engagieren,<br />

fin<strong>de</strong>n sich inmitten einer gesellschaftlichen<br />

Kontroverse wie<strong>de</strong>r, die sich durch ein hohes Maß<br />

an Ambivalenz gegenüber <strong>de</strong>m Phänomen „<strong>Tafel</strong>“<br />

auszeichnet.<br />

Grundsätzlich wird an <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit bemängelt,<br />

dass die Versorgung von Armen mit Nahrungsmitteln<br />

zwar einerseits helfe, die soziale Notlage kurzfristig<br />

erträglicher zu machen. Sie stelle aber an<strong>de</strong>rerseits<br />

noch keinen Weg zur Überwindung <strong>de</strong>r<br />

sozialen Notlage an sich dar. Angetreten, um etwas<br />

gegen die wachsen<strong>de</strong> Armut zu tun, sehen sich hoch<br />

engagierte Bürger und Bürgerinnen <strong>de</strong>m Vorwurf<br />

ausgesetzt, eben diese wachsen<strong>de</strong> Armut und Hilfebedürftigkeit<br />

durch ihr Engagement zu verfestigen.<br />

So nähmen beispielsweise einschlägige Sozialleistungsträger<br />

die Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ <strong>zum</strong> Anlass,<br />

rechtswidrig materielle Rechtsansprüche mit <strong>de</strong>m<br />

Verweis auf <strong>de</strong>ren Versorgungsleistung zu kürzen<br />

o<strong>de</strong>r gar zu verweigern.<br />

„<strong>Tafel</strong>n“, so die Kritiker, seien inzwischen nicht ein<br />

Teil <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>s Armutsproblems, son<strong>de</strong>rn<br />

selbst ein Teil <strong>de</strong>s Armutsproblems. Die „Vertafelung<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft“ führe nicht zu weniger,<br />

son<strong>de</strong>rn mittel- bis langfristig zu mehr und größerer<br />

Armut.<br />

Insbeson<strong>de</strong>re bestehe die Gefahr, dass auch die<br />

Sozial gesetzgebung auf Bun<strong>de</strong>s- und Lan<strong>de</strong>sebene –<br />

etwa im Bereich <strong>de</strong>r Grundsicherung – die Versorgungsleistung<br />

<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ immer mehr ins Kalkül<br />

ziehe und originär sozialstaatsorientierte Kriterien<br />

wie Bedarfs- o<strong>de</strong>r Teilhabegerechtigkeit zunehmend<br />

unberücksichtigt lasse.<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ sind für manche wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>r Beleg für<br />

ein längst überfälliges aber notwendiges Wachstum<br />

<strong>de</strong>r Zivilgesellschaft; für <strong>de</strong>n Schritt hin zu einer<br />

zunehmend vom Staat unabhängigen echten Bürgergesellschaft.<br />

Für an<strong>de</strong>re stellt das Engagement in<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ lediglich einen gut gemeinten, sozialpolitisch<br />

aber unaufgeklärten Akt naiver Nächstenliebe<br />

dar, <strong>de</strong>ssen unintendierte Nebenwirkungen eher<br />

weniger statt mehr soziale Gerechtigkeit schaffen.<br />

Im Gegensatz dazu schreiben manche diesen Aktivitäten<br />

eine zentrale Rolle bei <strong>de</strong>r Armutsbekämpfung<br />

zu, halten die „<strong>Tafel</strong>n“ gar für das Instrument<br />

<strong>de</strong>r Armutsbekämpfung.<br />

Für an<strong>de</strong>re ist genau diese Einschätzung ein Beweis<br />

dafür, dass die gesellschaftliche Debatte über<br />

Lösungen <strong>de</strong>s Armutsproblems durch die Existenz<br />

von „<strong>Tafel</strong>n“ und ihre kritiklose Stilisierung <strong>zum</strong><br />

Königsweg <strong>de</strong>r Armutsbekämpfung, <strong>de</strong>n ernsthaften<br />

Diskurs <strong>de</strong>r Armutsüberwindung behin<strong>de</strong>rt. Das<br />

erleichtere einen Rückfall in Zeiten <strong>de</strong>s Almosenwesens<br />

und damit seien „<strong>Tafel</strong>n“ nichts an<strong>de</strong>res als ein<br />

Ausdruck und Begleitphänomen einer Politik, die<br />

die errungenen sozialstaatlichen Rechtsansprüche<br />

sukzessive rückbauen und allgemeine Lebensrisiken<br />

weiter (re-)privatisieren will.<br />

Der vorliegen<strong>de</strong> Text leistet einen Beitrag zur sozialpolitischen<br />

und sozialethischen Einordnung und<br />

Bewertung <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“. Die dabei im Folgen<strong>de</strong>n<br />

entwickelten Argumentationen gelten analog<br />

auch für an<strong>de</strong>re Formen sozialstaatsergänzen<strong>de</strong>r<br />

Hilfen, die ohne materiellen Rechtsanspruch von<br />

Bürgerinnen und Bürgern im Freiwilligen Engagement<br />

erbracht wer<strong>de</strong>n. Damit wird auch das Bedürfnis<br />

vieler engagierter Menschen in Kirche und Diakonie<br />

nach Klärung <strong>de</strong>r sozialpolitischen und<br />

10 Diakonie Texte 03.2010


1 Einleitung<br />

sozialethischen Chancen und Risiken ihres Engagements<br />

in „<strong>Tafel</strong>n“ zur Unterstützung <strong>de</strong>r alltäglichen<br />

Lebensbewältigung einkommensarmer Menschen<br />

aufgegriffen.<br />

Es folgt nach einer kurzen Einführung in I<strong>de</strong>e,<br />

Geschichte und Organisationsformen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“,<br />

die Entwicklung von Bewertungskriterien für ihre<br />

Betrachtung im Kontext sozialer Gerechtigkeit. Diesen<br />

schließt sich eine differenzierte Bewertung <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Arbeit hinsichtlich ihrer armutslin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n<br />

und armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Funktionen an. Die<br />

(sozial-) politischen Paradoxien, in welche diese<br />

Initiativen mit zunehmen<strong>de</strong>m Wachstum und Fortbestehen<br />

geraten, wer<strong>de</strong>n im folgen<strong>de</strong>n Kapitel<br />

beschrieben, um im Anschluss daran, die beson<strong>de</strong>ren<br />

Auswirkungen und Umstän<strong>de</strong> von kirchlich/diakonisch<br />

verantworteten „<strong>Tafel</strong>n“ zu beschreiben.<br />

03.2010 Diakonie Texte 11


2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland<br />

2.1. I<strong>de</strong>e, Geschichte und<br />

Grundstrukturen<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ sind zunächst in <strong>de</strong>n USA auf Initiative engagierter<br />

Frauen für Wohnungslose entstan<strong>de</strong>n. Das Projekt<br />

„City Harvest“ in New York gilt als Vorläufer <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utschen „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit. Die Grundi<strong>de</strong>e ist bestechend<br />

einfach und einleuchtend: Die im normalen<br />

Warenverkehr am Markt als unverkäuflich eingestuften<br />

Lebensmittel wer<strong>de</strong>n eingesammelt und an bedürftige<br />

Menschen weitergegeben. So wird <strong>zum</strong> einen<br />

vermie<strong>de</strong>n, dass noch essbare Nahrungsmittel weggeworfen<br />

und vernichtet wer<strong>de</strong>n. Zum an<strong>de</strong>ren kommen<br />

materiell bedürftige Menschen in <strong>de</strong>n Genuss<br />

kostenloser o<strong>de</strong>r stark verbilligter Lebensmittel.<br />

Sabine Werth grün<strong>de</strong>te mit an<strong>de</strong>ren Bürgerinnen und<br />

Bürgern 1993 in Berlin die erste <strong>Tafel</strong> in Deutschland.<br />

Schon zwei Jahre nach dieser Gründung entstand<br />

1995 <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.<br />

Er erhebt <strong>de</strong>n Anspruch, die Interessen <strong>de</strong>r in ihm<br />

organisierten Lebensmittelausgabestellen bun<strong>de</strong>sweit<br />

zu bün<strong>de</strong>ln und zu vertreten. Als Grundlage zur<br />

Realisierung dieser Interessenvertretung hat <strong>de</strong>r<br />

Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. erstens ein<br />

grundsätzliches Regelwerk erstellt, die sogenannten<br />

„<strong>Tafel</strong>-Grundsätze“. Zweitens ist <strong>de</strong>r Name <strong>Tafel</strong> als<br />

„eingetragenes Markenzeichen durch <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>sverband<br />

Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. rechtlich geschützt“ 7 .<br />

Wer sich <strong>Tafel</strong> nennen will, muss sich <strong>de</strong>n Grundsätzen<br />

<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Deutschen <strong>Tafel</strong><br />

e. V. verpflichten. Der Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong><br />

e. V. steht aktuell unter <strong>de</strong>r Schirmherrschaft <strong>de</strong>r<br />

Bun<strong>de</strong>sministerin für Arbeit und Soziales. Er ist Mitglied<br />

im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband<br />

und sieht seine Hauptaufgaben in <strong>de</strong>r Vermittlung<br />

von überregionalen Partnern und Sponsoren für seine<br />

lokalen <strong>Tafel</strong>n. Darüber hinaus vertritt er die <strong>Tafel</strong>-<br />

Interessen gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft<br />

sowie unterstützt seine Mitglie<strong>de</strong>r hinsichtlich<br />

Austausch, Beratung und durch die Hilfestellung<br />

bei Neugründungen.<br />

2.2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Zahlen<br />

Wie viele Initiativen, Vereine o<strong>de</strong>r ähnliches sich<br />

nicht <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. angeschlossen<br />

haben und daher auch einen an<strong>de</strong>ren<br />

Namen führen, prinzipiell aber nichts an<strong>de</strong>res<br />

machen als die im Bun<strong>de</strong>sverband organisierten<br />

<strong>Tafel</strong>n, lässt sich statistisch nicht erfassen. Daher hat<br />

<strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong> Blick in die Statistik <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverband<br />

Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. auch nur eine begrenzte<br />

Aussagekraft für das Phänomen <strong>de</strong>r bürgerschaftlich<br />

organisierten Lebensmittelausgabestellen. Es<br />

muss jedoch davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n, dass ein<br />

großer Teil <strong>de</strong>r Initiativen sich in dieser Form organisiert<br />

hat, da die Mitgliedschaft im Bun<strong>de</strong>sverband<br />

die Beschaffung <strong>de</strong>r Lebensmittel durch Rahmenverträge<br />

zwischen Bun<strong>de</strong>sverband und Lebensmitteldiscounter<br />

für die einzelnen örtlichen Initiativen<br />

wesentlich erleichtert.<br />

Aktuell sind 861 <strong>Tafel</strong>n 8 mit mehr als 2.000 Ausgabestellen<br />

im Bun<strong>de</strong>sverband organisiert. Ungefähr<br />

sechzig Prozent dieser <strong>Tafel</strong> befin<strong>de</strong>n sich in Trägerschaft,<br />

<strong>zum</strong> Beispiel <strong>de</strong>r Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong>. Schätzungen<br />

gehen von ungefähr 40.000 Freiwillig Engagierten<br />

aus. Ungefähr neunzig Prozent <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>-<br />

Aktiven sind ehrenamtlich und unentgeltlich in <strong>de</strong>n<br />

<strong>Tafel</strong>n aktiv. Zehn Prozent erhalten ein Entgelt im<br />

Rahmen einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung,<br />

einer geringfügig entlohnten<br />

Beschäftigung („400 Euro Jobs“), als Zivildienstleisten<strong>de</strong><br />

beziehungsweise als Teil- und Vollzeit Ange-<br />

7 Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.: <strong>Tafel</strong>-Grundsätze,<br />

Hintergrundinformation, Dezember 2009.<br />

8 Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.: Hintergrundinformationen,<br />

Januar 2010.<br />

12 Diakonie Texte 03.2010


2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland<br />

stellte. Die Zahl <strong>de</strong>r Vollzeitangestellten wird als sehr<br />

gering eingestuft. 9<br />

Repräsentative Daten auf Bun<strong>de</strong>sebene über das Phänomen<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ und seine Akteure sind aktuell nicht<br />

vorhan<strong>de</strong>n. So können <strong>zum</strong> Beispiel keine zuverlässigen<br />

Aussagen getroffen wer<strong>de</strong>n über die Ausbildung<br />

<strong>de</strong>r haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiten<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r die Sozialstruktur <strong>de</strong>r Nutzer und Nutzerinnen<br />

(Zahl <strong>de</strong>r Alleinerziehen<strong>de</strong>n, Verhältnis von Hartz<br />

IV-Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherung<br />

im Alter, Geschlechterverhältnisse etc.). 10<br />

Hochrechnungen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s ergeben, dass<br />

die in ihm organisierten Initiativen regelmäßig ungefähr<br />

eine Million bedürftige Personen versorgen. 11<br />

An<strong>de</strong>re Schätzungen gehen davon aus, dass nur ein<br />

Bruchteil <strong>de</strong>r von Armut Betroffenen die Institution<br />

„<strong>Tafel</strong>“ nutzt. Dieses Phänomen wird dadurch verstärkt,<br />

dass das Vorhan<strong>de</strong>nsein von Sponsoren, Spen<strong>de</strong>rn<br />

und Freiwilligem Engagement maßgeblich darüber<br />

bestimmt, wo eine „<strong>Tafel</strong>“ entsteht – nicht<br />

unbedingt die Armut vor Ort.<br />

Auch in Kirche und Diakonie ist das Phänomen <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ vielgestaltig und damit kaum empirisch erfassbar.<br />

Schätzungen gehen davon aus, dass ungefähr fünfzig<br />

Prozent <strong>de</strong>r Initiativen, die im Bun<strong>de</strong>sverband<br />

Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. organisiert sind, in kirchlicher<br />

(evangelisch und katholisch) Trägerschaft sind.<br />

Zu <strong>de</strong>n konfessionell gebun<strong>de</strong>nen Lebensmittelausgaben,<br />

die sich im Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong><br />

e. V. organisiert haben, kommen zahlreiche Initiativen,<br />

die <strong>de</strong>n <strong>Tafel</strong>-Namen nicht führen wollen o<strong>de</strong>r<br />

aus rechtlichen Grün<strong>de</strong>n nicht führen dürfen, die<br />

9 Im Jahr 2007 waren dies – laut einer Umfrage <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s<br />

Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. – bei 696 <strong>Tafel</strong>n ca. 3.200<br />

Personen.<br />

10 Die Diakonischen Werke Ba<strong>de</strong>n und Württemberg haben<br />

eine „<strong>Tafel</strong>befragung“ durchgeführt und diese sozialwissenschaftlich<br />

auswerten lassen. Damit liegen <strong>zum</strong> ersten Mal<br />

regionale Daten zur sozio<strong>de</strong>mografischen Nutzung <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong><br />

vor. Der Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. geht davon aus,<br />

dass sich die <strong>Tafel</strong>-Kun<strong>de</strong>n wie folgt zusammensetzen:<br />

23,5 Prozent Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche, 64,2 Prozent Erwachsene<br />

und 12,3 Prozent Rentnerinnen und Rentner. Vgl. Bun<strong>de</strong>sverband<br />

Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.: Zahlen und Fakten. Hintergrundinformationen,<br />

Juli 2009.<br />

11 Ebenda.<br />

aber gleiche o<strong>de</strong>r verwandte Konzepte haben. Über<br />

diese kirchlichen und diakonischen Initiativen liegen<br />

aktuell keinerlei Zahlen vor. Die Frage nach <strong>de</strong>r<br />

verbandlichen Anbindung beziehungsweise <strong>de</strong>r Trägerschaft<br />

<strong>de</strong>r Initiativen hilft allerdings hinsichtlich<br />

<strong>de</strong>r Klärung <strong>de</strong>r Präsenz <strong>de</strong>s evangelischen Engagements<br />

nur bedingt weiter, da es zahlreiche Initiativen<br />

in- und außerhalb <strong>de</strong>r verbandlichen Strukturen<br />

<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. gibt, in<br />

<strong>de</strong>nen Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakone und Diakoninnen,<br />

Kirchenvorstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong> Mitarbeiten<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Diakonie maßgeblich beteiligt sind o<strong>de</strong>r<br />

als Schirmherrinnen o<strong>de</strong>r Schirmherr fungieren.<br />

Diese personellen Verflechtungen wer<strong>de</strong>n ergänzt<br />

durch räumliche Verbindungen, wenn Initiativen<br />

kirchliche o<strong>de</strong>r diakonische Räumlichkeiten als Ausgabestellen<br />

nutzen. So muss davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n,<br />

dass gera<strong>de</strong> im Rahmen einer gemeinwesenorientierten<br />

Diakonie, die Einbindung <strong>de</strong>r<br />

Kirchengemein<strong>de</strong>n und diakonischen Dienste und<br />

Einrichtungen in die <strong>Tafel</strong>bewegung sehr hoch ist.<br />

2.3. Die strukturelle Vielfalt <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-<br />

Landschaft<br />

<strong>Tafel</strong>, Suppenküche, Lebensmittelausgabe, Tischlein-Deck-Dich,<br />

Vesperkirche – die Namen für Ausgabestellen<br />

von Lebensmitteln beziehungsweise<br />

zubereiteten Mahlzeiten – spiegeln die Vielfalt <strong>de</strong>r<br />

Initiativen und ihrer Organisationsformen wi<strong>de</strong>r. Das<br />

Wachstum <strong>de</strong>r Bewegung, die überschüssige Lebensmittel<br />

an Bedürftige verteilen will, ist mit einer<br />

starken Ausdifferenzierung <strong>de</strong>r einzelnen Angebote<br />

und ihrer Organisationsformen einhergegangen.<br />

Neue Initiativen suchen dabei gezielt nach Nischen,<br />

die von bereits bestehen<strong>de</strong>n Angeboten noch nicht<br />

abge<strong>de</strong>ckt sind.<br />

Diese Vielfalt fin<strong>de</strong>t sich auch im Raum von Kirche<br />

und Diakonie wie<strong>de</strong>r. Zahlreiche Kirchengemein<strong>de</strong>n,<br />

diakonische Einrichtungen und Werke engagieren sich<br />

gegen Armut, in<strong>de</strong>m sie einen Mittagstisch anbieten<br />

beziehungsweise eine Lebensmittelausgabe betreiben<br />

und/o<strong>de</strong>r Räumlichkeiten, Personal, Know-how und<br />

logistische Unterstützung zur Verfügung stellen.<br />

Das Engagement <strong>de</strong>r Freiwillig Engagierten, die<br />

offensichtliche Notwendigkeit <strong>de</strong>r Unterstützung und<br />

03.2010 Diakonie Texte 13


2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland<br />

die Spen<strong>de</strong>nfreudigkeit <strong>de</strong>r Lebensmittelindustrie<br />

haben nicht nur dazu geführt, dass mittlerweile fast<br />

je<strong>de</strong> Kleinstadt ein <strong>de</strong>rartiges Angebot besitzt, son<strong>de</strong>rn<br />

auch, dass einige <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Initiativen<br />

zu ‚Unternehmen‘ gewachsen sind: Diese versorgen<br />

nicht nur regelmäßig eine große Zahl von Bedürftigen,<br />

son<strong>de</strong>rn sind zur Erfüllung dieses selbstgewählten<br />

Auftrages zahlreiche Verpflichtungen –<br />

i<strong>de</strong>eller und finanzieller Art – eingegangen, um<br />

Anschaffung und Unterhalt von Lieferwagen 12 , Kühlhäusern,<br />

die regelmäßige Bereitstellung <strong>de</strong>r Lebensmittel<br />

etc. sicherzustellen.<br />

Obwohl <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. für<br />

seine Mitglie<strong>de</strong>r verpflichten<strong>de</strong> Grundsätze aufgestellt<br />

hat, die es nahe legen, dass die hier organisierten<br />

<strong>Tafel</strong>n in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>utschen Städten<br />

eine einheitliche Struktur aufweisen, zeigt sich auch<br />

hier ein buntes Bild. Denn die Realität belegt, dass<br />

diese Grundsätze genug Spielraum bieten, so dass<br />

auch diese <strong>Tafel</strong>n ihre Aufgaben sehr unterschiedlich<br />

wahrnehmen. So gibt es in Ba<strong>de</strong>n-Württemberg<br />

als Son<strong>de</strong>rform <strong>Tafel</strong>-Lä<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen Bedürftige als<br />

„Kun<strong>de</strong>n“ zu stark reduzierten Preisen Lebensmittel<br />

einkaufen. Der Schwerpunkt liegt üblicherweise<br />

jedoch auf <strong>de</strong>r Lebensmittelausgabe. Ob jedoch<br />

bereits vorgepackte Tüten verteilt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die<br />

Bedürftigen sich selber eine gewisse Anzahl von<br />

Lebensmitteln aussuchen können, variiert. Aus <strong>de</strong>n<br />

Grundsätzen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s Deutsche<br />

<strong>Tafel</strong> e. V. (insbeson<strong>de</strong>re Grundsatz 1) lässt sich ableiten,<br />

dass Initiativen keine Lebensmittel zukaufen<br />

dürfen 13 , die Bedürftigkeit ihrer Kun<strong>de</strong>n durch einen<br />

schriftlichen Nachweis kontrolliert wird (Rentenbescheid,<br />

Hartz IV-Bescheid etc.) und die Lebensmittel<br />

unentgeltlich o<strong>de</strong>r gegen eine Münze ausgegeben<br />

wer<strong>de</strong>n. Die Höhe <strong>de</strong>s Beitrags legen die einzelnen<br />

Initiativen selber fest 14 , so dass auch hier eine große<br />

Spannbreite gegeben ist: So gibt es ebenso Initiati-<br />

12 Der Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. geht davon aus,<br />

dass die 861 <strong>Tafel</strong>n ungefähr 4.700 Fahrzeuge im Einsatz<br />

haben. Vgl. Feedback 1/10.<br />

13 Dieser Grundsatz wird von einzelnen <strong>Tafel</strong>-Initiativen<br />

unterschiedlich ausgelegt, so dass auch Lebensmittel zugekauft<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

14 In einigen Regionen gibt es auch Verabredungen <strong>de</strong>r örtlichen<br />

<strong>Tafel</strong>n einen einheitlichen Beitrag zu erheben (Beispiel<br />

Thüringen).<br />

ven, die Lebensmittel kostenfrei abgeben o<strong>de</strong>r solche,<br />

die zwei Euro verlangen. Hinzu kommt, dass in<br />

manchen Ausgabestellen die Einzelperson, in an<strong>de</strong>ren<br />

<strong>de</strong>r Haushalt die zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong> Berechnungsgröße<br />

ist. Um zu verhin<strong>de</strong>rn, dass Bedürftige mehrere<br />

<strong>Tafel</strong>n in einer Region aufsuchen, wird teilweise<br />

die Zuständigkeit <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>n für die Bedürftigen<br />

durch die Bestimmung eines gekennzeichneten<br />

Gebietes festgelegt. Ein Wechsel zu einer an<strong>de</strong>ren<br />

<strong>Tafel</strong>, außerhalb <strong>de</strong>s eigenen Bezirkes, ist damit für<br />

die von Armut Betroffenen nur nach Absprache und<br />

in Ausnahmefällen möglich.<br />

Das schnelle Wachstum <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s Deutsche<br />

<strong>Tafel</strong> e. V. und seiner Lan<strong>de</strong>sverbän<strong>de</strong> erschwert<br />

zu<strong>de</strong>m die Kontrolle <strong>de</strong>r Grundsätze in <strong>de</strong>n einzelnen<br />

<strong>Tafel</strong>n und ihren Ausgabestellen durch <strong>de</strong>n Verband,<br />

so dass auch hier Abweichungen möglich sind.<br />

Neben Lebensmittelausgaben und Mittagstischen<br />

gibt es aktuell vermehrt Initiativen, die sich zusätzlich<br />

zur allgemeinen Klientel auf Kin<strong>de</strong>r als beson<strong>de</strong>re<br />

Zielgruppe spezialisiert haben. Sie unterbreiten<br />

unter <strong>de</strong>n Namen „Kin<strong>de</strong>r-<strong>Tafel</strong>“ o<strong>de</strong>r „Kin<strong>de</strong>r-Restaurant“<br />

ein beson<strong>de</strong>res Angebot. Dieses wachsen<strong>de</strong><br />

Angebot weicht vor Ort meistens vom Nachweis <strong>de</strong>r<br />

Bedürftigkeit ab. Einige Anbieter setzen sich als<br />

erklärtes Ziel, alle Kin<strong>de</strong>r mit einem ernährungspädagogischen<br />

Profil erreichen zu wollen – unabhängig<br />

von <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Bedürftigkeit.<br />

Es existieren inzwischen auch „<strong>Tafel</strong>n“, die ihr Angebot<br />

um Medikamente erweitert haben o<strong>de</strong>r als „Medikamententafel“<br />

firmieren. Vorreiter war hier das 2007<br />

in Stuttgart aufgelegte Projekt „Medikamente für die<br />

Schwäbische <strong>Tafel</strong>“. Eine ähnliche Einrichtung gibt<br />

es seit 2009 in <strong>de</strong>r Stadt Dülmen. Dort bekommen<br />

Dülmener Bürger, die Grundsicherungsleistungen<br />

erhalten, Medikamente <strong>zum</strong> halben Preis. 15<br />

15 Deutsche Apotheker-Zeitung vom 10.2.2010: „Patienten,<br />

die diese Hilfe in Anspruch nehmen wollen, lassen sich ein<br />

GRÜNES Rezept beim Hausarzt ausstellen, gehen zur <strong>Tafel</strong>,<br />

wo sie nachweisen, dass sie von <strong>de</strong>r Sozialhilfe leben. Sie<br />

lassen dann das Rezept von <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong> abstempeln und gehen<br />

damit in eine <strong>de</strong>r Dülmener Apotheken, wo sie das benö tigte<br />

Arzneimittel fünfzig Prozent günstiger bekommen. Die<br />

an<strong>de</strong>re Hälfte übernimmt die Schirmherrin <strong>de</strong>r Dülmener<br />

<strong>Tafel</strong>, Gabrielle Herzogin von Croy.“<br />

14 Diakonie Texte 03.2010


2. Die „<strong>Tafel</strong>n“ in Deutschland<br />

Eine beson<strong>de</strong>rs umstrittene Übertragung <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>i<strong>de</strong>e<br />

auf an<strong>de</strong>re Bereiche sind die sogenannten „Tiertafeln“,<br />

die in immer mehr Städten immer mehr Tierhalter<br />

mit Futter versorgen. Hier wird an <strong>de</strong>m<br />

Grundsatz festgehalten, dass die Tierhalter ihre<br />

Bedürftigkeit nachweisen müssen. 16<br />

Größere Lebensmittelausgabestellen setzen nicht<br />

mehr nur auf eine Komm-Struktur, son<strong>de</strong>rn beliefern<br />

auch soziale Institutionen wie Einrichtungen <strong>de</strong>r<br />

Wohnungslosenhilfe, Frauenhäuser, Kin<strong>de</strong>rgärten<br />

und Schulen mit Lebensmitteln beziehungsweise<br />

Paketen zur Pausenverpflegung.<br />

Dieses umfangreiche Angebot kann an vielen Stellen<br />

nicht mehr nur von Freiwillig Engagierten geleistet<br />

wer<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong> größere Einrichtungen arbeiten<br />

mit hauptamtlich Mitarbeiten<strong>de</strong>n, Zivildienstleisten<strong>de</strong>n,<br />

Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung<br />

o<strong>de</strong>r Jugendlichen, die Sozialdienststun<strong>de</strong>n<br />

leis ten.<br />

16 Im 2007 gegrün<strong>de</strong>ten „Tiertafel Deutschland e. V.“ haben<br />

sich 25 Ausgabestellen zusammengeschlossen. Weitere 23<br />

sind in Planung. Auch hier gibt es weitere „<strong>Tafel</strong>n“, die sich<br />

nicht im Verband organisiert haben. (Stand: Februar 2010)<br />

Auch hinsichtlich <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>r ‚klassischen<br />

Ausgabe‘ <strong>de</strong>r Lebensmittel hat sich eine breite Vielfalt<br />

eingebürgert: So gibt es „<strong>Tafel</strong>n“, die ihre Kun<strong>de</strong>n<br />

in <strong>de</strong>r Reihenfolge <strong>de</strong>s Ankommens bedienen,<br />

an<strong>de</strong>re teilen Lose aus, arbeiten mit einem Rotationsprinzip<br />

o<strong>de</strong>r nutzen an<strong>de</strong>re Zufallssysteme.<br />

Die wachsen<strong>de</strong> Vielzahl <strong>de</strong>r Angebote und Organisationsformen,<br />

das positive Image <strong>de</strong>r Bewegung,<br />

<strong>de</strong>r starke Zulauf und die breite gesellschaftliche<br />

Zustimmung machen es jedoch nötiger <strong>de</strong>nn je, genau<br />

zu prüfen, welche Angebote welche Aufgaben erfüllen<br />

können, wo die Grenzen solcher Angebote liegen<br />

und wo sie für eine nachhaltige Armutsüberwindung<br />

sogar kontraproduktiv sein können. Ebenso ist<br />

zu reflektieren, in wieweit das Engagement in dieser<br />

Bewegung mit nicht intendierten Nebenwirkungen<br />

in sozialer, ökologischer und ökonomischer<br />

Perspektive verbun<strong>de</strong>n ist. Notwendige Bedingung<br />

aller Initiativen im evangelischen Raum ist darüber<br />

hinaus die Frage nach <strong>de</strong>r Ethik <strong>de</strong>s Helfens und <strong>de</strong>r<br />

Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen.<br />

03.2010 Diakonie Texte 15


3. Abwesenheit von Armut als Min<strong>de</strong>stkriterium sozialer<br />

Gerechtigkeit und weitere sozialethische Bewertungskriterien<br />

zu „<strong>Tafel</strong>n“<br />

Die Bewertung <strong>de</strong>r Chancen und Risiken <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-<br />

Arbeit im Kontext <strong>de</strong>r Frage von sozialer Gerechtigkeit<br />

muss vor <strong>de</strong>m Hintergrund allgemeiner sozialpolitischer<br />

Zielsetzungen vorgenommen wer<strong>de</strong>n.<br />

Grundlegend ist hier die im Grundgesetz fixierte<br />

Sozialstaatsklausel: „Die Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland<br />

ist ein <strong>de</strong>mokratischer und sozialer Bun<strong>de</strong>sstaat“<br />

17 . Das Grundgesetz schreibt also vor, dass das<br />

Gemeinwesen nach sozialen Grundsätzen auszugestalten<br />

ist. Dies be<strong>de</strong>utet beispielsweise, dass soziale<br />

Unterschie<strong>de</strong> möglichst ausgeglichen wer<strong>de</strong>n und<br />

alle sozial teilhaben sollen.<br />

Das <strong>de</strong>utsche Sozialrecht konkretisiert das Sozialstaatsgebot<br />

dadurch, dass es in §1 SGB I zwei grundsätzliche<br />

sozialstaatliche Ziele formuliert, die es zu<br />

verwirklichen gilt: Soziale Gerechtigkeit und soziale<br />

Sicherheit.<br />

An dieser Stelle soll nicht <strong>de</strong>r Versuch unternommen<br />

wer<strong>de</strong>n, die komplexen Begriffe <strong>de</strong>r sozialen Gerechtigkeit<br />

und <strong>de</strong>r sozialen Sicherheit umfassend und<br />

abschließend zu <strong>de</strong>finieren. Es soll aber pragmatisch<br />

ein Min<strong>de</strong>stkriterium für diese sozialstaatlichen Zielsetzungen<br />

eingeführt wer<strong>de</strong>n, das verständlich und<br />

allgemein konsensfähig ist: Die notwendige Bedingung<br />

für die Verwirklichung <strong>de</strong>r Ziele soziale Sicherheit<br />

und soziale Gerechtigkeit ist die Abwesenheit<br />

von Armut.<br />

Armutsberichte, wissenschaftliche Studien und<br />

Denk schriften zu Themen wie Armut und Ausgrenzung<br />

erreichen eine interessierte Fachöffentlichkeit.<br />

Aber anscheinend tragen Warteschlangen vor „<strong>Tafel</strong>n“<br />

wesentlich stärker dazu bei, dass Armutsprobleme<br />

vor Ort von einer breiten Öffentlichkeit bewusst<br />

wahrgenommen wer<strong>de</strong>n.<br />

17 „Die verfassungsmäßige Ordnung in <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn muss<br />

<strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>s republikanischen, <strong>de</strong>mokratischen und<br />

sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“<br />

(GG Art. 28 [1]).<br />

Durch die bloße Existenz von „<strong>Tafel</strong>n“ wird vielen<br />

Menschen erstmals bewusst, dass die <strong>de</strong>rzeitigen<br />

staatlichen Grundsicherungsleistungen offensichtlich<br />

nicht ausreichen, um eine materielle Grundversorgung<br />

zu sichern und vor Armut zu schützen. 18<br />

Was jedoch einerseits zur notwendigen öffentlichen<br />

Wahrnehmung <strong>de</strong>r Armutsproblematik beiträgt,<br />

muss an<strong>de</strong>rerseits auch kritisch betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />

Denn es führt dazu, dass nicht nur Armut in <strong>de</strong>n<br />

Warteschlangen vor <strong>de</strong>n Ausgabestellen sichtbar<br />

wird, son<strong>de</strong>rn dass sich die Armen öffentlich zu<br />

erkennen geben (müssen). Gleichzeitig darf nicht <strong>de</strong>r<br />

Fehler gemacht wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n starken Zulauf und<br />

damit vermeintlichen Erfolg <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />

einer erfolgreichen Armutsüberwindung kausal in<br />

Verbindung zu bringen. Fatal wäre die Auffassung,<br />

die „<strong>Tafel</strong>n“ seien die Lösung <strong>de</strong>s Armutsproblems,<br />

nach <strong>de</strong>m Prinzip: ‚Wenn ‚die Armen‘ zu <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“<br />

gehen, dann sind diese für die Lösung <strong>de</strong>s Armutsproblems<br />

<strong>de</strong>r richtige Ansatz o<strong>de</strong>r sogar die zuständigen<br />

Einrichtungen‘.<br />

Es wird also zu fragen sein, welchen Beitrag „<strong>Tafel</strong>n“<br />

dazu leis ten können, dass Armut in dieser Gesellschaft<br />

nicht mehr existent ist. Um diese Frage zu<br />

beantworten, müssen entsprechen<strong>de</strong> Kriterien für<br />

<strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Abwesenheit von Armut formuliert<br />

wer<strong>de</strong>n. Diese hinreichen<strong>de</strong>n Bedingungen lassen<br />

sich aus <strong>de</strong>r Definition und <strong>de</strong>m Bild von Armut<br />

gewinnen, das hier zugrun<strong>de</strong> gelegt wird.<br />

Armut wird entwe<strong>de</strong>r als absolute o<strong>de</strong>r als relative<br />

Armut benannt. Absolute Armut liegt vor, wenn die<br />

<strong>zum</strong> Überleben notwendigsten Grundbedürfnisse<br />

für Nahrung, Kleidung, Wohnung o<strong>de</strong>r gesundheitliche<br />

Versorgung nicht ausreichend ge<strong>de</strong>ckt sind.<br />

18 Vgl. dazu auch das Urteil <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichts:<br />

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010. http://www.bverfg.<strong>de</strong>/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html<br />

16 Diakonie Texte 03.2010


3. Abwesenheit von Armut als Min<strong>de</strong>stkriterium sozialer Gerechtigkeit<br />

Auch diese absolute Form von Armut existiert in<br />

Deutschland. Der große Teil <strong>de</strong>r von Armut betroffenen<br />

Personen lei<strong>de</strong>t jedoch unter relativer Armut.<br />

Hierunter wird eine Lebenssituation verstan<strong>de</strong>n, in<br />

<strong>de</strong>r die betroffenen Menschen so weit unterhalb <strong>de</strong>r<br />

durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebensverhältnisse<br />

leben müssen, dass sie vom normalen Lebensalltag<br />

ausgegrenzt wer<strong>de</strong>n. Nach diesen Definitionen<br />

sind Menschen nicht erst dann arm, wenn ihre physische<br />

Existenz nicht mehr als gesichert betrachtet<br />

wer<strong>de</strong>n kann, son<strong>de</strong>rn schon dann, wenn sie mit ihren<br />

Lebensbedingungen weit unterhalb <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />

Durchschnitts leben müssen und ihnen die<br />

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im erheblichen<br />

Maße nicht mehr möglich ist.<br />

Zur Festlegung von Einkommensarmut liegt die<br />

Grenze bei einem nur fünfzigprozentigen Erreichen<br />

<strong>de</strong>s durchschnittlichen Nettoeinkommens (OECD)<br />

beziehungsweise bei einem sechzigprozentigen Erreichen<br />

(EU). Das heißt Haushalte, <strong>de</strong>nen nur fünfzig<br />

Prozent beziehungsweise sechzig Prozent <strong>de</strong>s für ihre<br />

Haushaltsgröße typischen Einkommens zur Verfügung<br />

stehen, gelten als arm.<br />

Der dritte Armutsbericht <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung (2008)<br />

stellt fest, dass dreizehn Prozent <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sbürger<br />

von Armut betroffen sind und weitere dreizehn<br />

Prozent nur durch staatliche Transfers vor <strong>de</strong>m<br />

Abrutschen in die Armut bewahrt wer<strong>de</strong>n. Insgesamt<br />

habe sich die soziale Kluft in Deutschland weiterhin<br />

vertieft. 19<br />

Da Armut aber mehr als das Fehlen von ausreichen<strong>de</strong>n<br />

finanziellen Mitteln und Lebensmitteln ist,<br />

wird als Basis für die folgen<strong>de</strong>n Überlegungen zu<br />

<strong>de</strong>n Bewertungskriterien <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit nicht nur<br />

das Konzept relativer Einkommensarmut samt entsprechen<strong>de</strong>r<br />

Armutsgrenzen, son<strong>de</strong>rn die Lebenslagen<strong>de</strong>finition<br />

20 von Armut hinzugezogen. Sie stellt<br />

ein komplexes Konzept relativer Armut dar. Dieses<br />

Armutsverständnis schließt neben einer mangelhaften<br />

materiellen Versorgung selbstverständlich<br />

19 Vgl. Bun<strong>de</strong>sministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.):<br />

Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht<br />

<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung. Berlin 2008.<br />

20 Opielka, Michael: Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichen<strong>de</strong><br />

Perspektiven. Reinbeck bei Hamburg 2004; 76 ff.<br />

auch eine unzureichen<strong>de</strong> Versorgung in nicht-materiellen<br />

Bereichen (<strong>zum</strong> Beispiel Zugang zu Bildungs-,<br />

Kultur- und Freizeitangeboten, medizinischer Versorgung,<br />

Arbeitsmöglichkeiten, Wohnsituation etc.)<br />

mit ein. Oft bedingen sich die unterschiedlichen<br />

Armutsaspekte gegenseitig. Eine unzureichen<strong>de</strong><br />

materielle Versorgung hat vielfach eine nicht mehr<br />

ausreichen<strong>de</strong> Versorgung in weiteren Bereichen zur<br />

Folge; <strong>de</strong>r schlechtere Zugang zu Bildungsangeboten<br />

führt zu <strong>de</strong>utlich schlechteren Chancen auf <strong>de</strong>m<br />

Arbeitsmarkt.<br />

Armut, drohen<strong>de</strong> Armut und die daraus resultieren<strong>de</strong>n<br />

Fragen nach mehr sozialer Gerechtigkeit<br />

sind somit für einen nicht unerheblichen Teil <strong>de</strong>r<br />

in Deutschland leben<strong>de</strong>n Menschen ein Alltagsproblem.<br />

Neben diesen objektiv beschreibbaren Lebenslagenmerkmalen<br />

berücksichtigt das Lebenslagenkonzept<br />

auch explizit die subjektive Einschätzung einer Person<br />

in Bezug auf Armut. Im Kontext einer evangelischen<br />

Sozialethik müssen weitere hinreichen<strong>de</strong><br />

Bedingungen erfüllt sein, damit soziale Initiativen<br />

nachhaltig <strong>de</strong>r Entwicklung von sozialer Gerechtigkeit<br />

dienen. Dazu gehört<br />

(1) die unbedingte Achtung <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> von<br />

Nutzerinnen und Nutzern und Mitarbeiten<strong>de</strong>n, insbeson<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>r nicht stigmatisieren<strong>de</strong> Umgang mit<br />

von Armut Betroffenen,<br />

(2) eine Arbeit, die sich selbst als menschenrechtsbasiert<br />

versteht und mit ihrem Han<strong>de</strong>ln, das Menschenrecht<br />

auf Nahrung 21 umzusetzen hilft,<br />

(3) die Unterstützung von Rechtsansprüchen <strong>de</strong>r<br />

Betroffenen auch hinsichtlich <strong>de</strong>r Kriterien Verlässlichkeit<br />

und Nachhaltigkeit,<br />

(4) die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Selbstbestimmung und <strong>de</strong>r<br />

Selbstwirksamkeit <strong>de</strong>r Betroffenen, auch wenn es<br />

langfristig dazu führt, dass das Hilfehan<strong>de</strong>ln überflüssig<br />

wird,<br />

21 Siehe Artikel 11 Internationaler Pakt über wirtschaftliche,<br />

soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 (UN-Sozialpakt)<br />

o<strong>de</strong>r Artikel 25 Allgemeine Erklärung <strong>de</strong>r Menschenrechte<br />

vom 10.12.1948.<br />

03.2010 Diakonie Texte 17


3. Abwesenheit von Armut als Min<strong>de</strong>stkriterium sozialer Gerechtigkeit<br />

(5) das Aufzeigen von Perspektiven für die Betroffenen,<br />

um ihren status quo zu verän<strong>de</strong>rn,<br />

(6) die För<strong>de</strong>rung einer Integration <strong>de</strong>r Betroffenen<br />

zur Teilhabe in allen Lebensbereichen.<br />

Es ist also anhand dieser Kriterien zu prüfen, welchen<br />

Beitrag die „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit zur sozialen Gerechtigkeit<br />

leistet und leis ten kann.<br />

18 Diakonie Texte 03.2010


4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und<br />

-überwindung?<br />

„<strong>Tafel</strong>n” sind Seismographen <strong>de</strong>r sozialen Situation:<br />

Hier spiegelt sich eine soziale Fehlentwicklung <strong>de</strong>utlich<br />

in <strong>de</strong>r Länge <strong>de</strong>r Warteschlangen vor <strong>de</strong>n Ausgabestellen<br />

wi<strong>de</strong>r. Menschen, die zu <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n”<br />

kommen, tun dies in <strong>de</strong>r Regel, weil ihre reale Not<br />

so groß ist, dass sie sonst nicht wissen, wie sie die<br />

Versorgung gewährleis ten können.<br />

Ob auf Grund von Arbeitslosigkeit, zu geringem Einkommen,<br />

von Überschuldung, unzureichen<strong>de</strong>n Sozialleistungen<br />

o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer mannigfaltiger Grün<strong>de</strong>,<br />

immer häufiger geraten private Haushalte in prekäre<br />

wirtschaftliche Situationen und sehen sich vielfältigen<br />

existenzbedrohen<strong>de</strong>n Problemen gegenüber<br />

gestellt. Obwohl staatliche Transferleistungen eine<br />

Grundsicherung ermöglichen sollen, fehlt es in vielen<br />

Familien am Notwendigsten. Es sind in <strong>de</strong>r Regel<br />

pragmatische Zwänge, welche eine zunehmen<strong>de</strong> Zahl<br />

armer Menschen zu <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ führen.<br />

Die „<strong>Tafel</strong>”-Bewegung ist damit eine Antwort auf<br />

eine gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklung unserer<br />

Zeit. Entstan<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n Initiativen zur Umverteilung<br />

<strong>de</strong>s Überflusses, sind die „<strong>Tafel</strong>n“ heute auf<br />

<strong>de</strong>m Weg, eine beständige Armenverpflegung zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Doch was können „<strong>Tafel</strong>n“ sowohl für die Armutslin<strong>de</strong>rung<br />

als auch die Armutsüberwindung leis ten?<br />

Unter Armutslin<strong>de</strong>rung wer<strong>de</strong>n dabei all jene Aktivitäten<br />

verstan<strong>de</strong>n, die Menschen helfen mit <strong>de</strong>r<br />

Armutssituation besser umzugehen, in<strong>de</strong>m akute Not<br />

gelin<strong>de</strong>rt wird beziehungsweise Anregungen für<br />

einen besseren Umgang mit <strong>de</strong>r Notlage gegeben<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Angebote haben das Ziel,<br />

Menschen zu helfen, sich aus <strong>de</strong>r Lebenslage Armut<br />

zu befreien, um so nicht mehr auf armutslin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong><br />

Angebote angewiesen zu sein. Die „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit,<br />

wie sie aktuell in zahlreichen Initiativen vor Ort<br />

betrieben wird, hat einen <strong>de</strong>utlichen und starken<br />

Schwerpunkt in <strong>de</strong>r Armutslin<strong>de</strong>rung. Dies ist das<br />

unbestrittene und verdienstvolle Kerngeschäft dieser<br />

Bewegung. Weiterhin wird die Frage eines nachhaltigen<br />

Umgangs mit <strong>de</strong>m <strong>Thema</strong> Armut vor Ort<br />

vielfach diskutiert und in unterschiedlichen Organisationsformen<br />

umgesetzt.<br />

Die Übergänge zwischen <strong>de</strong>n Bereichen Armutslin<strong>de</strong>rung<br />

und Armutsüberwindung sind vielfach fließend<br />

und lassen sich nicht immer trennscharf<br />

beschreiben. Denn was für <strong>de</strong>n einen Nutzer zunächst<br />

ganz praktische Hilfe zur Lebensbewältigung ist,<br />

bietet für die an<strong>de</strong>re Nutzerin bereits erste Chancen,<br />

Armut und ihre Ursachen zu überwin<strong>de</strong>n. Dennoch<br />

sollen hier einige wesentliche Funktionen von<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ anhand dieser bei<strong>de</strong>n Kategorien beschrieben<br />

wer<strong>de</strong>n. Die Schaffung eines finanziellen Spielraums,<br />

die Möglichkeit <strong>de</strong>s Engagements für von<br />

Armut Betroffene, Chancen <strong>de</strong>r Begegnung und das<br />

Angebot von Beratung und Kursen rund um das<br />

<strong>Thema</strong> Ernährung wer<strong>de</strong>n eher <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r<br />

Armutslin<strong>de</strong>rung zugerechnet (4.1. bis 4.4.). Die Vernetzung<br />

mit an<strong>de</strong>ren Angeboten <strong>de</strong>r Sozialarbeit, die<br />

Chance <strong>de</strong>r Solidarisierung mit Betroffenen, die<br />

Skandalisierung von Armut und das sozialpolitische<br />

Engagement auf lokaler und überregionaler Ebene<br />

(4.5. bis 4.10.) bieten Chancen <strong>de</strong>r Armutsüberwindung.<br />

4.1. „<strong>Tafel</strong>n“ verschaffen einen<br />

notwendigen, existenzsichern<strong>de</strong>n<br />

finanziellen Spielraum<br />

Hauptaufgabe <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>” ist die Ausgabe von überschüssigen<br />

Lebensmitteln an Bedürftige. Doch wird<br />

durch die Bereitstellung von Naturalien tatsächlich<br />

nicht nur <strong>de</strong>r Mangel an Lebensmitteln ausgeglichen.<br />

Vielmehr wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Haushalten Mittel frei, die<br />

für an<strong>de</strong>re Ausgaben eingesetzt wer<strong>de</strong>n können; für<br />

03.2010 Diakonie Texte 19


4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und -überwindung?<br />

manche „<strong>Tafel</strong>”-Nutzer ist aufgrund <strong>de</strong>r Bedarfsunter<strong>de</strong>ckung<br />

<strong>de</strong>r Regelsätze diese Unterstützung<br />

existenzsichernd. An<strong>de</strong>re können sich durch die Entlastung<br />

bei <strong>de</strong>n Lebensmittelkosten einen geringen<br />

notwendigen finanziellen Spielraum verschaffen und<br />

erweitern so ihre weitergehen<strong>de</strong>n Teilhabemöglichkeiten.<br />

4.2. „<strong>Tafel</strong>n“ bieten Möglichkeiten <strong>de</strong>r<br />

Begegnung und eines gesellschaftlich<br />

notwendigen sozialen Miteinan<strong>de</strong>rs<br />

Über die reine Versorgungsfunktion hinaus, haben<br />

die Lebensmittelausgabestellen für die Nutzerinnen<br />

und Nutzer auch weitere positive Seiten. Sie sind ein<br />

sozialer Treffpunkt zur gegenseitigen Unterstützung<br />

und für gemeinsame Aktivitäten.<br />

So erleben die in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n” Tätigen regelmäßig,<br />

dass manche Nutzer und Nutzerinnen weit vor <strong>de</strong>r<br />

Ausgabezeit kommen. Unter an<strong>de</strong>rem, weil ihnen<br />

die Begegnung mit Menschen in <strong>de</strong>r gleichen Lebenssituation<br />

wichtig ist. Denn nicht selten ist mit <strong>de</strong>r<br />

finanziellen Armut auch die soziale Ausgrenzung<br />

und Isolation verbun<strong>de</strong>n. Gespräche und soziale Kontakte<br />

mit an<strong>de</strong>ren Betroffenen ermöglichen eine<br />

Gemeinschaftserfahrung, die hilft, die eigene Situation<br />

besser bewältigen zu können.<br />

Zahlreiche Ausgabestellen haben in <strong>de</strong>n letzten Jahren<br />

daher Cafes und Begegnungsmöglichkeiten (<strong>zum</strong><br />

Beispiel Feierlichkeiten, Angebote <strong>de</strong>r Familienbildung<br />

etc.) eingerichtet, um diesem Bedarf zu entsprechen.<br />

Sie sind auch ein Ort, an <strong>de</strong>m Menschen<br />

mit unterschiedlichsten Biographien, sowohl Nutzer<br />

und Nutzerinnen als auch Freiwillig Engagierte und<br />

Hauptamtliche miteinan<strong>de</strong>r ins Gespräch kommen<br />

und sich gegenseitig unterstützen.<br />

4.3. Engagement schafft Bestätigung<br />

Eine wichtige sinnstiften<strong>de</strong> Funktion haben „<strong>Tafel</strong>n”<br />

auch für Freiwillig Engagierte, die mitunter selbst<br />

bedürftig sind. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement<br />

für an<strong>de</strong>re hilfesuchen<strong>de</strong> Menschen schafft<br />

Bestätigung und Erfolgserlebnisse. Teilweise ist es<br />

<strong>de</strong>r Anreiz zur Strukturierung <strong>de</strong>s Tagesablaufes,<br />

<strong>de</strong>r hilft, die eigenen Chancen auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt<br />

zu verbessern. Hinzu kommt auch hier <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r<br />

Begegnung in <strong>de</strong>r Gruppe und die Gesellschaft mit<br />

Menschen an<strong>de</strong>rer sozialer Millieus.<br />

„<strong>Tafel</strong>n”, die sich entschei<strong>de</strong>n, ihr Aufgabenspektrum<br />

zu erweitern und eine möglichst große Zahl<br />

von Nutzern und Nutzerinnen zu versorgen, stoßen<br />

schnell an die Grenzen <strong>de</strong>ssen, was im Rahmen von<br />

freiwilligem Engagement zu leis ten ist. In dieser<br />

Situation entschei<strong>de</strong>n sich manche Initiativen dafür,<br />

selbst zu Arbeitgebern zu wer<strong>de</strong>n und frühere<br />

„<strong>Tafel</strong>”-Nutzer und -Nutzerinnen als Mitarbeiten<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Einrichtung zu gewinnen. Aufgrund von sachlichen<br />

Erfor<strong>de</strong>rnissen und finanziellen Zwängen<br />

geschieht dies überwiegend nur im Rahmen von<br />

Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen<br />

(MAE). Initiativen, die diesen Weg gehen,<br />

sollten sich jedoch <strong>de</strong>r sozialpolitischen Nebenwirkungen<br />

und <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Kritik an diesem arbeitsmarktpolitischen<br />

Instrument bewusst sein.<br />

4.4. „<strong>Tafel</strong>n“ bieten ,mehr‘ als Nahrung –<br />

Angebote rund um Ernährung und<br />

Lebensmittel<br />

Zunehmend bemühen sich „<strong>Tafel</strong>n“ um Zusatzangebote,<br />

welche die Nutzer und Nutzerinnen unterstützen<br />

wollen, ihre eigenen Fähigkeiten im Umgang mit<br />

Lebensmitteln zu stärken. So gibt es mancherorts<br />

ernährungspädagogische Angebote, welche helfen<br />

sollen, sich (trotz <strong>de</strong>s Mangels) gesund und kostenbewusst<br />

zu ernähren. Kochkurse zeigen <strong>de</strong>n Umgang<br />

mit <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ ausgegebenen Lebensmitteln<br />

und wollen so vorbeugen, dass Lebensmittel aus<br />

Unkenntnis abgelehnt o<strong>de</strong>r vernichtet wer<strong>de</strong>n. Ziel<br />

dieser Angebote ist es, Menschen zu befähigen mit<br />

<strong>de</strong>m finanziellen Mangel besser umzugehen beziehungsweise<br />

die Angebote <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“ optimal zu nutzen.<br />

Damit tragen sie zur Lin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Mangelerfahrung<br />

bei. Diese Angebote tragen jedoch immer<br />

die Gefahr in sich, dass Betroffene lernen, ihre aktuelle<br />

Situation besser zu bewältigen, die Ursachen für<br />

ihre Armut jedoch unberührt bleiben.<br />

4.5. „<strong>Tafel</strong>n“ als Raum für Sozialarbeit<br />

Als nie<strong>de</strong>rschwelliges Angebot sind Lebensmittelausgabestellen<br />

häufig eine selbstverständliche Erst-<br />

20 Diakonie Texte 03.2010


4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und -überwindung?<br />

anlaufstelle und erreichen auch Menschen, zu <strong>de</strong>nen<br />

an<strong>de</strong>re Dienste und Einrichtungen keinen regelmäßigen<br />

Zugang haben. Hier vertrauen sie sich <strong>de</strong>n Mitarbeiten<strong>de</strong>n<br />

an, welche oftmals ihre Familiensituation<br />

und die persönlichen Verhältnisse sehr gut<br />

kennen. Allein dieses ,sich verstan<strong>de</strong>n fühlen’, schafft<br />

bisweilen eine große Vertrautheit und erfüllt damit<br />

eine Funktion von Sozialarbeit.<br />

In einigen Lebensmittelausgabestellen bemüht man<br />

sich daher auch um ergänzen<strong>de</strong> Beratungsangebote.<br />

Da hierzu aber ein hohes Maß an Fachlichkeit notwendig<br />

ist, wird sich die Unterstützung in <strong>de</strong>r Regel<br />

auf die Vermittlung professioneller Beratungsangebote<br />

beschränken. Die Beratung fin<strong>de</strong>t jedoch teilweise<br />

in <strong>de</strong>n Räumlichkeiten <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n” statt. Die<br />

Vernetzung mit weiteren Angeboten (<strong>zum</strong> Beispiel<br />

<strong>de</strong>r Familienbildung, <strong>de</strong>n Kultur- und Sportvereinen<br />

o<strong>de</strong>r auch Schulen) stärkt zu<strong>de</strong>m die soziale Infrastruktur<br />

und verbessert die Hilfsmöglichkeiten.<br />

Die Integration von Ausgabestellen in an<strong>de</strong>re sozialstaatsergänzen<strong>de</strong><br />

Angebote (wie Sozialkaufhäuser,<br />

Gebrauchtwarenbörsen, Klei<strong>de</strong>rkammern und Suppenküchen)<br />

ermöglicht eine weitergehen<strong>de</strong> materielle<br />

Unterstützung. Der Anschluss an Begegnungszentren<br />

bin<strong>de</strong>t die Nutzer und Nutzerinnen in das<br />

kommunale und gemeindliche Leben ein und för<strong>de</strong>rt<br />

das Miteinan<strong>de</strong>r und <strong>de</strong>n Austausch mit Personen<br />

an<strong>de</strong>rer gesellschaftlicher Gruppen. Mit ihrer Form<br />

<strong>de</strong>r Sozialarbeit erfüllen die „<strong>Tafel</strong>n“ somit eine<br />

wichtige Funktion armutsauslösen<strong>de</strong>n und armutsverfestigen<strong>de</strong>n<br />

Faktoren zu begegnen.<br />

4.6. „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit als Chance zur<br />

Solidarisierung<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Arbeit ist grundlegen<strong>de</strong>r Ausdruck von<br />

Menschlichkeit, Güte und Solidarität und beför<strong>de</strong>rt<br />

daher Werte, die in <strong>de</strong>r Gesellschaft häufig in <strong>de</strong>n<br />

Hintergrund gedrängt wer<strong>de</strong>n. Das Verständnis für<br />

die Arbeit und die Einsicht in die Notwendigkeit von<br />

Lebensmittelausgabestellen ist außeror<strong>de</strong>ntlich groß.<br />

In <strong>de</strong>r Organisation und praktischen Durchführung<br />

<strong>de</strong>r Lebensmittelausgaben engagieren sich Menschen<br />

in ihrem Alltag, neben <strong>de</strong>r beruflichen Tätigkeit,<br />

neben <strong>de</strong>r Arbeit in Haushalt und Familie o<strong>de</strong>r aus<br />

<strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>r Erwerbslosigkeit heraus. Die<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ geben Menschen die Chance zur Solidarisierung.<br />

Diese Solidarität kann in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ tagtäglich<br />

geübt wer<strong>de</strong>n. Denn Mitarbeiten<strong>de</strong> in „<strong>Tafel</strong>n“<br />

sind gefor<strong>de</strong>rt in <strong>de</strong>r Akzeptanz <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>rsseins und<br />

in <strong>de</strong>r Achtung vor <strong>de</strong>r Lebenspraxis an<strong>de</strong>rer. In dieser<br />

Funktion sind „<strong>Tafel</strong>n“ sowohl armutslin<strong>de</strong>rnd,<br />

haben jedoch auch durch die dadurch entstehen<strong>de</strong><br />

Öffentlichkeit armutsüberwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Funktion.<br />

4.7. Die Lebenslage Armut skandalisieren<br />

Menschen die bedürftig sind, erlei<strong>de</strong>n häufig nicht<br />

nur Mangel an materiellen Dingen. Vielmehr be<strong>de</strong>utet<br />

Armut oft auch einen Verlust an Menschenwür<strong>de</strong><br />

und <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Teilhabe. Mit <strong>de</strong>r materiellen<br />

Zwangslage geht eine soziale und kulturelle<br />

Notlage einher. Studien belegen, dass die Chancen<br />

von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen aus einkommensschwachen<br />

Familien, eine höhere Bildung zu erlangen<br />

<strong>de</strong>utlich geringer sind und sie auch stärker<br />

gesundheitlich belastet sind. Kin<strong>de</strong>rarmut tritt immer<br />

öfter in erschrecken<strong>de</strong>r Weise zu Tage. Armut grenzt<br />

aus und schafft Abhängigkeiten.<br />

Gera<strong>de</strong> „<strong>Tafel</strong>n“ dürfen nicht aufhören, auf <strong>de</strong>n Skandal<br />

ihrer Existenz und die <strong>de</strong>m zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n<br />

gesellschaftlichen Fehlentwicklungen hinzuweisen.<br />

Sie tragen damit dazu bei, dass die Lebenslage Armut<br />

ins politische Bewusstsein rückt und zur sozialpolitischen<br />

Aufgabe wird.<br />

4.8. „<strong>Tafel</strong>n“ als Motor <strong>de</strong>r<br />

Gemeinwesenentwicklung<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ können sich als Forum verstehen, in <strong>de</strong>m<br />

sich Menschen engagieren, welche die sozialen Verhältnisse<br />

im Stadtteil und in <strong>de</strong>r Region im Blick<br />

haben. Das heißt mit <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r gespen<strong>de</strong>ten<br />

Lebensmittel geht es nicht nur um die Hilfe im<br />

Einzelfall, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Blick richtet sich auf die<br />

Arbeit im Gemeinwesen. Vernetzt mit an<strong>de</strong>ren Initiativen<br />

und Institutionen geht es darum, sich in öffentliche<br />

Angelegenheiten ein<strong>zum</strong>ischen.<br />

4.9. Sozialpolitischer Einsatz <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“<br />

Im Sinne <strong>de</strong>r sozialanwaltschaftlichen Funktion, die<br />

Kirche und Diakonie für Menschen in beson<strong>de</strong>ren<br />

03.2010 Diakonie Texte 21


4. Was leis ten „<strong>Tafel</strong>n“ zur Armutslin<strong>de</strong>rung und -überwindung?<br />

Lebenslagen haben, ist es auch für „<strong>Tafel</strong>n“ eine<br />

dringliche Aufgabe, auf die Belange <strong>de</strong>r Bedürftigen<br />

aufmerksam zu machen. Da die Lebensmittelausgabestellen<br />

überwiegend eine hohe gesellschaftliche<br />

Anerkennung genießen, fin<strong>de</strong>n die Wahrnehmungen<br />

<strong>de</strong>r Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Gehör und<br />

Beachtung in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit. Damit haben die<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ durchaus die Möglichkeit, sich sozialpolitisch<br />

einzusetzen und Einfluss auf die Bedingungen<br />

zur Unterstützung sozial schwacher Menschen nehmen<br />

zu können. In diesem Sinne ist <strong>de</strong>r Einsatz <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Mitarbeiten<strong>de</strong>n für das Existenzminimum<br />

(<strong>zum</strong> Beispiel die Erhöhung <strong>de</strong>r Grundsicherungsleistungen),<br />

die Unterstützung eines gesetzlichen<br />

Min<strong>de</strong>stlohnes o<strong>de</strong>r die For<strong>de</strong>rung nach mehr Teilhabe<br />

auch ein Bemühen um soziale Gerechtigkeit.<br />

Häufig ist auch <strong>de</strong>r Einsatz gegen bürokratisches und<br />

technokratisches Verwaltungshan<strong>de</strong>ln in Bezug auf<br />

die Unterstützung bedürftiger Menschen gefragt. In<br />

Fortbildungen und Schulungen wird daher die Reflexion<br />

über die Motivation und Perspektive <strong>de</strong>r Mitarbeit<br />

in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ geför<strong>de</strong>rt und so <strong>de</strong>r Gefahr<br />

von nicht intendierten sozialpolitischen Nebenwirkungen<br />

entgegengewirkt.<br />

4.10. Die beson<strong>de</strong>re Integrität einer<br />

Initiative nutzen<br />

„<strong>Tafel</strong>n“, die sich entschei<strong>de</strong>n, möglichst unabhängig<br />

zu bleiben, <strong>zum</strong> Beispiel von kommunalen Gel<strong>de</strong>rn,<br />

politischer Unterstützung o<strong>de</strong>r Sponsoren, die<br />

nicht ihren ethischen Maßstäben entsprechen, besitzen<br />

eine beson<strong>de</strong>re Integrität. Diese können sie für<br />

ihr sozialpolitisches Engagement nutzen. „<strong>Tafel</strong>n“,<br />

in <strong>de</strong>nen sich Menschen in dieser Form engagieren,<br />

haben als Diskussionsforum und Ort <strong>de</strong>s Bürgerengagements<br />

ein beson<strong>de</strong>res sozialpolitisches Mandat,<br />

Fragen und For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r sozialen Gerechtigkeit,<br />

<strong>de</strong>r Überwindung von Armut und Ausgrenzung in<br />

<strong>de</strong>n gesellschaftlichen und sozialpolitischen Diskurs<br />

einzubringen.<br />

Das Agieren <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ vor Ort lin<strong>de</strong>rt in vielgestaltiger<br />

Weise die Folgen von finanzieller Mittellosigkeit<br />

und hat daher einen hohen Wert für Betroffene<br />

und Engagierte. „<strong>Tafel</strong>n“ können per se keinen<br />

nachhaltigen Rückgang von Armut erreichen. Dies<br />

geschieht nur durch die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />

und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.<br />

22 Diakonie Texte 03.2010


5. (Sozial-)Politische Paradoxien <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit<br />

Die gute I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit – Verteilung überzähliger<br />

Lebensmittel an Bedürftige durch Freiwillig<br />

Engagierte – ist durch die sozialpolitischen Entwicklungen<br />

in Deutschland und durch das schnelle<br />

Wachstum <strong>de</strong>r Bewegung mit seiner Vielzahl von<br />

Organisationsformen, Trägerschaften und <strong>de</strong>n dahinterliegen<strong>de</strong>n<br />

Motivationen <strong>de</strong>r unterschiedlichsten<br />

Akteure in verschie<strong>de</strong>ne Paradoxien geraten, die das<br />

Grundanliegen konterkarieren und <strong>de</strong>r Vision <strong>de</strong>r<br />

sozialen Gerechtigkeit im Wege stehen.<br />

5.1. Professionalisierungsfalle<br />

Seit <strong>de</strong>m Beginn im Jahr 1993 ging <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ die<br />

Arbeit nicht mehr aus. Je größer die Nachfrage nach<br />

Lebensmitteln aus <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ wur<strong>de</strong>, umso größer<br />

wur<strong>de</strong>n die Anstrengungen bei <strong>de</strong>r weiteren Sponsorensuche,<br />

Warenbeschaffung, Suche nach Mitarbeiten<strong>de</strong>n,<br />

größeren und geeigneteren Räumen etc.<br />

Die Zahl <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Nutzer und -Nutzerinnen, das<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Angebot und damit verbun<strong>de</strong>n die logistischen<br />

Anfor<strong>de</strong>rungen steigen auch weiterhin kontinuierlich.<br />

Der zunehmend enger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> ‚Markt‘<br />

<strong>de</strong>r Lebensmittelspen<strong>de</strong>r for<strong>de</strong>rt weitere Anstrengungen,<br />

die teilweise zu weiten Wegen auf <strong>de</strong>r Suche<br />

nach verteilbaren Lebensmitteln führen – Lan<strong>de</strong>sgrenzen<br />

bil<strong>de</strong>n dabei schon längst keine Schranken<br />

mehr. Fragen <strong>de</strong>r Nachhaltigkeit im ökologischen<br />

Sinne und <strong>de</strong>r Bewahrung <strong>de</strong>r Schöpfung geraten in<br />

<strong>de</strong>n Hintergrund, obwohl sie maßgeblich für die<br />

Ursprungsi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Bewegung waren.<br />

Wachstum und Ausweitung <strong>de</strong>r Arbeitsfel<strong>de</strong>r – Belieferung<br />

von sozialen Einrichtungen, „Pausenverpflegung“<br />

in Schulen etc. – führen dazu, dass bestimmte<br />

Lebensmittel <strong>de</strong>r Grundversorgung, wie <strong>zum</strong> Beispiel<br />

Brot, Milch etc. verlässlich gebraucht wer<strong>de</strong>n,<br />

diese Verlässlichkeit <strong>de</strong>r knapper wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Spen<strong>de</strong>nmarkt<br />

jedoch nicht garantieren kann. Diese Ausgangslage<br />

und das Vorhan<strong>de</strong>nsein finanzieller Spen<strong>de</strong>n<br />

führen teilweise dazu, dass vom Grundsatz <strong>de</strong>r<br />

Verteilung überschüssiger Lebensmittel abgewichen<br />

wird und Produkte hinzugekauft wer<strong>de</strong>n. Damit entstehen<br />

neue Abhängigkeiten auf Seiten <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-<br />

Nutzer und -Nutzerinnen und auf Seiten <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“<br />

<strong>zum</strong> Beispiel gegenüber lokalen Märkten. Lebensmittel-<br />

und Hygienegesetze erfor<strong>de</strong>rn eine ständig<br />

höhere Qualifizierung <strong>de</strong>r Freiwillig Engagierten für<br />

ihre Aufgaben und immer neue Schulungen.<br />

Das alles führt zu immer höheren Investitionen: In<br />

Transportmittel und Kühleinrichtungen, Räumlichkeiten<br />

und Know-how. Die „<strong>Tafel</strong>n“ sind längst keine<br />

spontanen Hilfsprojekte mehr und versuchen oftmals<br />

<strong>de</strong>n steigen<strong>de</strong>n Erwartungen ihrer Nutzer und Nutzerinnen<br />

gerecht zu wer<strong>de</strong>n. Ihr Problem besteht<br />

zu nehmend darin, immer besser wer<strong>de</strong>n zu wollen,<br />

zu müssen und damit in die Abhängigkeit von Sponsoren,<br />

politischer Unterstützung etc. zu geraten und<br />

die grundlegen<strong>de</strong>n Ziele aus <strong>de</strong>m Blick zu verlieren.<br />

5.2. Wie viel politische Unterstützung<br />

darf es sein? Nähe und Distanz <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ zur (Kommunal-)Politik<br />

Hunger nach Nahrung ist ein absolut zeitloses Phänomen.<br />

Schon in <strong>de</strong>r Römerzeit wur<strong>de</strong>n in Notzeiten<br />

die vorhan<strong>de</strong>nen Lebensmittel rationell geteilt,<br />

um psychisches und physisches Elend und damit<br />

auch <strong>de</strong>n Rückgang <strong>de</strong>r Arbeitsfähigkeit zu vermei<strong>de</strong>n.<br />

Im späten Mittelalter wur<strong>de</strong> die Almosenverteilung<br />

allmählich von <strong>de</strong>r Armenfürsorge <strong>de</strong>r mittelalterlichen<br />

Stän<strong>de</strong>gesellschaft abgelöst. Erst die<br />

Herausbildung <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaftsordnung<br />

führte zu tiefgreifen<strong>de</strong>m Wan<strong>de</strong>l im Umgang<br />

mit Armut. Nur noch Bedürftige sollten Almosen<br />

erhalten, wobei die Arbeitsfähigkeit <strong>zum</strong> zentralen<br />

Bedürftigkeitskriterium wur<strong>de</strong>. Es entstan<strong>de</strong>n kommunale<br />

Ämter, so genannte Bettelvögte o<strong>de</strong>r Armenwächter,<br />

aus <strong>de</strong>nen später Armenbehör<strong>de</strong>n als Vorläufer<br />

<strong>de</strong>r Fürsorge- o<strong>de</strong>r Sozialämter hervorgingen.<br />

03.2010 Diakonie Texte 23


5. (Sozial-) Politische Paradoxien <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit<br />

In <strong>de</strong>n 1880er Jahren entstand im Deutschen Kaiserreich<br />

die Absicherung dreier typischer Armutsrisiken<br />

von Lohnarbeitern: Krankheit, Alter und Arbeitsunfähigkeit<br />

infolge von Arbeitsunfällen. Nach <strong>de</strong>m<br />

zweiten Weltkrieg herrschte Konsens darüber, dass<br />

die erwähnten sozialstaatlichen Errungenschaften<br />

für <strong>de</strong>n sozialen Frie<strong>de</strong>n unverzichtbare Grundlagen<br />

<strong>de</strong>s politischen Systems sind. Mitte <strong>de</strong>r 1970er Jahre<br />

begann sich dann in bestimmten Kreisen die Auffassung<br />

durchzusetzen, <strong>de</strong>r Sozialstaat lebe über<br />

seine Verhältnisse und müsse wie<strong>de</strong>r abgebaut wer<strong>de</strong>n.<br />

Es war <strong>de</strong>r Beginn <strong>de</strong>s Paradigmenwechsels<br />

vom sorgen<strong>de</strong>n <strong>zum</strong> aktivieren<strong>de</strong>n Staat. An die<br />

Stelle <strong>de</strong>r Verantwortung <strong>de</strong>s Staates tritt nun unter<br />

Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip die Verantwortung<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft auf lokaler, gemeinschaftlicher<br />

und auch individueller Ebene. Die Bürgergesellschaft<br />

soll nun durch mehr Eigenverantwortung<br />

<strong>zum</strong> Gemeinwohl beitragen. Sie wird <strong>de</strong>r wichtigste<br />

Ort <strong>de</strong>r sozialen Teilhabe. Das soziale Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Mitarbeiten<strong>de</strong>n wird von einigen sozialpolitischen<br />

Akteuren als lokale Lösungsstrategie für<br />

soziale Probleme betrachtet, obwohl die ökonomischen<br />

Ursachen <strong>de</strong>r sozialen Desintegrationsprozesse<br />

primär auf nationaler und globaler Ebene liegen.<br />

Anstelle politischen Han<strong>de</strong>lns auf Basis eines gesellschaftlichen<br />

Konsens, tritt im bürgerschaftlichen<br />

Han<strong>de</strong>ln die sozialräumliche Intervention. Am Beispiel<br />

<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ ist erkennbar, dass sie soziale Spaltungsprozesse<br />

eventuell lokal befriedigen, aber keine<br />

Lösungen für soziale Probleme <strong>de</strong>r Gegenwart sein<br />

können. Das Engagement <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Helfer und<br />

-Helferinnen trägt nicht nur dazu bei, soziale Härten<br />

abzufe<strong>de</strong>rn, die durch die Rücknahme <strong>de</strong>s sozialen<br />

Sicherungssystems entstan<strong>de</strong>n sind, son<strong>de</strong>rn dient<br />

durch das Einsparen <strong>de</strong>r Entsorgungskosten und <strong>de</strong>m<br />

Imagegewinn <strong>de</strong>r abgeben<strong>de</strong>n Firmen auch <strong>de</strong>n ökonomischen<br />

Gewinninteressen.<br />

Immer mehr Politiker lassen sich gerne bei <strong>de</strong>n<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ sehen, loben <strong>de</strong>ren gesellschaftlich wichtige<br />

Arbeit, arbeiten für ein paar Tage mit o<strong>de</strong>r rufen<br />

zu Spen<strong>de</strong>n auf. Die lokalen Initiativen geraten<br />

da durch in Gefahr, einen Teil ihrer Autonomie zu<br />

verlieren und sich instrumentalisieren zu lassen. Teilweise<br />

wer<strong>de</strong>n ihre Leistungen <strong>zum</strong> Ausgleich von<br />

Versäumnissen auf gesellschaftlicher Ebene benutzt.<br />

Mit <strong>de</strong>m Engagement <strong>de</strong>r Politiker in <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“<br />

kann das Engagement <strong>de</strong>r Freiwillig Engagierten<br />

unter <strong>de</strong>r Hand das Vorzeichen wechseln: Die soziale<br />

Fürsorge wird zur Aufgabe <strong>de</strong>r lokalen Gemeinschaft<br />

und dadurch verliert die staatliche Absicherung<br />

im öffentlichen Bewusstsein immer mehr an<br />

Wert. Je mehr die erfolgreiche Armutsbewältigung<br />

mit <strong>de</strong>r Gewöhnung an „<strong>Tafel</strong>n“ in Verbindung<br />

gebracht wird, <strong>de</strong>sto mehr wird man sich an das Fehlen<br />

nachhaltiger Maßnahmen zur Armutsüberwindung<br />

gewöhnen.<br />

5.3. „<strong>Tafel</strong>n“ und ihre Sponsoren –<br />

Unterstützung o<strong>de</strong>r<br />

Instrumentalisierung <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit<br />

Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit ist verblüffend einfach<br />

und überzeugend: Lebensmittel, die ihren ökonomischen<br />

Tausch- aber nicht Gebrauchswert verloren<br />

haben, wer<strong>de</strong>n nicht vernichtet, son<strong>de</strong>rn durch Freiwillig<br />

Engagierte eingesammelt und an Bedürftige<br />

weitergegeben. So sparen Lebensmittelabgeber Entsorgungskosten,<br />

Menschen in Armut haben zu essen<br />

und die Freiwillig Engagierten erzielen einen<br />

Gewinn, in<strong>de</strong>m die Arbeit, die sie leis ten, in <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft ein hohes Ansehen genießt und somit<br />

ein hohes Maß an Sozialprestige mit sich bringt. Mit<br />

<strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Zahl von <strong>Tafel</strong>n stehen einige Initiativen<br />

vor <strong>de</strong>r Schwierigkeit, Lebensmittel zu akquirieren.<br />

Sie sind darauf angewiesen, verlässlich und<br />

regelmäßig Lebensmittel von Discountern, Supermärkten,<br />

Res taurants, Bäckereien etc. zu bekommen.<br />

Wer eine bestimmte Größe überschreitet, benötigt<br />

darüber hinaus die Unterstützung von Automobilherstellern,<br />

Druckereien etc., um günstig Lieferwagen,<br />

Flyer etc. zu beschaffen. Diese Abhängigkeiten<br />

wer<strong>de</strong>n dann problematisch, wenn sie so stark wer<strong>de</strong>n,<br />

dass die Frage nach <strong>de</strong>r Integrität <strong>de</strong>s Spen<strong>de</strong>rs<br />

nicht mehr gestellt wer<strong>de</strong>n kann. Für die Diskussion<br />

um Armut, im lokalen, globalen und nationalen Kontext<br />

sind aber die Fragen nach Produktionsbedingungen<br />

<strong>de</strong>r Waren, ökologischen Standards <strong>de</strong>r Herstellung<br />

und <strong>de</strong>s Transportes, Entlohnung von<br />

Mitarbeiten<strong>de</strong>n, Verhalten auf <strong>de</strong>m Markt von hoher<br />

Relevanz. Es ist also nur ein vermeintliches Win-<br />

Win-Geschäft, wenn sich Sponsoren durch eine<br />

Kooperation eine positive Reputation ihres Unternehmens<br />

und „<strong>Tafel</strong>“-Initiativen sich gesicherte<br />

24 Diakonie Texte 03.2010


5. (Sozial-) Politische Paradoxien <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit<br />

Lebensmittelspen<strong>de</strong>n erhoffen. Das Ausblen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Integrität <strong>de</strong>r Kooperationspartner kann langfristig<br />

zu einem Integritätsverlust <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ führen.<br />

5.4. Das Dilemma von Armutslin<strong>de</strong>rung<br />

als Armutsverfestigung<br />

Immer mehr sehen sich Mitarbeiten<strong>de</strong> in Lebensmittelausgabestellen<br />

mit <strong>de</strong>n Risiken und nicht intendierten<br />

Nebenwirkungen ihres Engagements für<br />

Menschen in Armut konfrontiert. Das, was als un -<br />

komplizierte Hilfe für Menschen in Armut begann,<br />

wird nun von Kritikern als „Vertafelung <strong>de</strong>r Gesellschaft“<br />

und gesellschaftliche Manifestation von<br />

Armut bezeichnet. Die sinnvolle I<strong>de</strong>e einer notwendigen<br />

Armutslin<strong>de</strong>rung und das Engagement zahlreicher<br />

Freiwilliger geraten dadurch in <strong>de</strong>n Ruf, am<br />

Abbau <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sozialstaats beteiligt zu sein.<br />

Plötzlich sehen sie sich mit <strong>de</strong>m Vorwurf konfrontiert,<br />

nicht zur Lösung son<strong>de</strong>rn zu <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r<br />

Armutsproblematik beizutragen.<br />

Der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi<br />

stellte schon vor gut zweihun<strong>de</strong>rt Jahren treffend fest<br />

“Wohltätigkeit ist das Ersaufen <strong>de</strong>s Rechts im Mistloch<br />

<strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>”. Diese Aussage ist immer dann<br />

zutreffend, wenn die bloße Weitergabe von Spen<strong>de</strong>n<br />

als Überwindung von Armut missverstan<strong>de</strong>n wird.<br />

Denn soziale Gerechtigkeit kann nicht durch zufällige<br />

und sporadische Spen<strong>de</strong>n und Almosen hergestellt<br />

wer<strong>de</strong>n. Fragen <strong>de</strong>s Wohnortes, <strong>de</strong>r Mobilität<br />

und <strong>de</strong>s Vorhan<strong>de</strong>nseins von Freiwilligem Engagement<br />

dürfen nicht abschließend entschei<strong>de</strong>n, ob Menschen<br />

Zugang zu Hilfe- und Unterstützungssystemen<br />

haben. Falsch ist die Aussage hingegen, wenn<br />

das wohltätige Han<strong>de</strong>ln – kurzfristig oft notwendig<br />

und Not lin<strong>de</strong>rnd – als eine Vorstufe o<strong>de</strong>r als Zwischenschritt<br />

zu mehr sozialer Gerechtigkeit verstan<strong>de</strong>n<br />

wird. Barmherzigkeit in diesem Sinne macht auf<br />

soziale Ungerechtigkeiten aufmerksam und zeigt auf,<br />

welche Schritte zur Beseitigung dieser Ungerechtigkeiten<br />

notwendig sind. Somit ist die Arbeit <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>n“ – wie auch viele an<strong>de</strong>re diakonische und<br />

soziale Tätigkeiten – immer eine Gratwan<strong>de</strong>rung<br />

zwischen <strong>de</strong>m vielleicht drohen<strong>de</strong>n, oft unbewussten<br />

und sicher immer ungewollten Ersatz von sozialen<br />

Rechtsansprüchen einerseits und einer Skandalisierung<br />

von Notlagen und Ungerechtigkeiten inklusive<br />

sozialpolitischer Lobbyarbeit für benachteiligte Personengruppen<br />

an<strong>de</strong>rerseits.<br />

Kirche und Diakonie haben die Aufgabe, diese Problemlage<br />

<strong>de</strong>n Initiativen vor Ort – und damit auch<br />

sich selbst! – <strong>de</strong>utlich aufzuzeigen. Träger und Praktiker,<br />

die realisieren, wie stark die einzelnen „<strong>Tafel</strong>n“<br />

vor Ort von armen Menschen in Anspruch genommen<br />

wer<strong>de</strong>n, sind auch in <strong>de</strong>r Pflicht, auf die bestehen<strong>de</strong><br />

Ausgrenzung und materielle Unterversorgung<br />

<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Nutzer und -Nutzerinnen hinzuweisen<br />

und politische Schritte zur Beseitigung dieser Notlagen<br />

einzufor<strong>de</strong>rn. Denn wer langfristig auf die<br />

Hilfe <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ angewiesen ist, wird sich in einer<br />

Parallelgesellschaft gleich Betroffener wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n.<br />

Die geringe soziale Mobilität und die geringe Interessenvertretung<br />

<strong>de</strong>r von Armut Betroffenen führen<br />

zur Verfestigung <strong>de</strong>r Spaltung in unserer Gesellschaft.<br />

Aufgabe <strong>de</strong>r örtlichen „<strong>Tafel</strong>n“ im Sinne eines Engagements<br />

für soziale Gerechtigkeit muss es daher sein,<br />

nicht bei <strong>de</strong>r bloßen Vergabe von Lebensmitteln stehen<br />

zu bleiben. Gemeinsam mit <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>sverband<br />

Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. und/o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren sozialen<br />

Akteuren und Initiativen können sie anwaltschaftlich<br />

für eine materielle Grundsicherung eintreten,<br />

die vor Armut schützt und nicht sozial ausgrenzt. So<br />

können „<strong>Tafel</strong>n“ dazu beitragen, dass Arme zu ihrem<br />

Recht kommen und nicht Empfänger von Almosen<br />

bleiben müssen.<br />

5.5. Was stützt die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r von Armut<br />

Betroffenen?<br />

Viele „<strong>Tafel</strong>n“ versuchen, so vielen Menschen wie<br />

möglich mit so vielen Lebensmitteln wie möglich zu<br />

helfen. Einige bemühen sich sogar, ihr Angebot auf<br />

sogenannte „Kin<strong>de</strong>rtafeln“ und Mittagstische auszuweiten.<br />

So wird systematisch ein ‚Kun<strong>de</strong>nstamm‘<br />

aufgebaut und erweitert. Der Begriff ‚Kun<strong>de</strong>‘, von<br />

vielen <strong>Tafel</strong>n explizit benutzt, verweist auf <strong>de</strong>n<br />

schwierigen Umgang mit <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Nutzerinnen<br />

und Nutzer. Durch diese Bezeichnung, die gewählt<br />

wur<strong>de</strong>, um Wür<strong>de</strong> zu geben, wer<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utungen<br />

von Inhalten <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit verklärt. Denn <strong>de</strong>m<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Kun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Regel zahlreiche<br />

Rechte abgesprochen, die üblicherweise die Konsu-<br />

03.2010 Diakonie Texte 25


5. (Sozial-) Politische Paradoxien <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit<br />

mentenrolle auszeichnen: Aus einem Vollsortiment<br />

frei zu wählen, bei Nichtgefallen eine an<strong>de</strong>re „<strong>Tafel</strong>“<br />

aufzusuchen, sich über fehlen<strong>de</strong> Artikel bei <strong>de</strong>r Leitung<br />

zu beschweren usw. Als Kun<strong>de</strong> muss er sich nur<br />

bedingt Regeln und Vorgaben <strong>de</strong>s „<strong>Tafel</strong>“-La<strong>de</strong>ns<br />

unterwerfen und muss sich nicht öffentlich als bedürftig<br />

outen. Obwohl die „<strong>Tafel</strong>n“ durch ihre Wortwahl<br />

genau das vermei<strong>de</strong>n wollen, führt das Erleben als<br />

„Un-Kun<strong>de</strong>n“ zu einer Selbstabwertung <strong>de</strong>r Betroffenen<br />

und stärkt nicht <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>r Betroffenen<br />

zur Armutsüberwindung.<br />

Zur Diskussion um die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Nutzer<br />

gehören auch die Fragen nach <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>r<br />

Öffnungszeiten und <strong>de</strong>s Warteverfahrens (mehrstündiges<br />

Schlangestehen in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit, Losverfahren,<br />

Bevorzugung von Müttern mit Kleinkin<strong>de</strong>rn,<br />

Gleichbehandlung aller Nutzerinnen und Nutzer),<br />

die Frage nach <strong>de</strong>n Wahlmöglichkeiten im Rahmen<br />

<strong>de</strong>s vorhan<strong>de</strong>nen Sortiments und die Frage nach<br />

Kommunikationsformen über die Ausgabetheke hinweg.<br />

26 Diakonie Texte 03.2010


6. Spezifische Auswirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf Kirche und<br />

Diakonie<br />

In <strong>de</strong>r Denkschrift <strong>de</strong>s Rates <strong>de</strong>r Evangelischen Kirche<br />

in Deutschland (<strong>EKD</strong>) zur Armut in Deutschland<br />

„Gerechte Teilhabe – Befähigung zur Eigenverantwortung<br />

und Solidarität“ (2006) heißt es: „Seit<br />

ihren Anfängen steht die christliche Kirche an <strong>de</strong>r<br />

Seite <strong>de</strong>r Armen“ 22 . Später folgt die Feststellung:<br />

„Ärmere Menschen sind in vielen christlichen<br />

Gemein<strong>de</strong>n in Deutschland wenig o<strong>de</strong>r gar nicht<br />

sichtbar“ 23 .<br />

In diesen bei<strong>de</strong>n Aussagen wird die Diskrepanz zwischen<br />

Anspruch und Wirklichkeit <strong>de</strong>s Miteinan<strong>de</strong>rs<br />

von Menschen in <strong>de</strong>r evangelischen Gemein<strong>de</strong><br />

ernüchternd <strong>de</strong>utlich. Die zehnte Syno<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong><br />

in Würzburg rief 2006 vor diesem Hintergrund alle<br />

evangelischen Gemein<strong>de</strong>n auf, sich durch ein Projekt<br />

zur Armutsüberwindung und -vermeidung zu<br />

profilieren. Auch <strong>de</strong>r ökumenische Kongress „Kirchen<br />

gegen Armut und Ausgrenzung“ widmete sich<br />

2008 intensiv <strong>de</strong>r Frage, wie Kirchengemein<strong>de</strong>n und<br />

diakonische Einrichtungen Armut bekämpfen und<br />

Ausgrenzung verhin<strong>de</strong>rn können.<br />

Dabei ist in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m <strong>Thema</strong><br />

Armut immer mehr die Arbeit <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ zur Reibungs-<br />

und Reflektionsfläche gewor<strong>de</strong>n. Durch die<br />

vielfache Beteiligung von Kirchengemein<strong>de</strong>n und<br />

diakonischen Einrichtungen an <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rzeit die praktischen Erfahrungen mit <strong>de</strong>n<br />

sozialwissenschaftlichen und theologischen Erkenntnissen<br />

reflektiert. In vielen Kirchenvorstän<strong>de</strong>n und<br />

Dienstbesprechungen diakonischer Einrichtungen<br />

wur<strong>de</strong> und wird die „<strong>Tafel</strong>“ <strong>zum</strong> – auch kontroversen<br />

– <strong>Thema</strong> und Diskussionspunkt. An ihr scheint<br />

sich Anspruch und Wirklichkeit <strong>de</strong>r Arbeit mit von<br />

Armut betroffenen Menschen in Kirche und Diako-<br />

22 Kirchenamt <strong>de</strong>r <strong>EKD</strong> (Hrsg.): Gerechte Teilhabe – Befähigung<br />

zu Eigenverantwortung und Solidarität. Gütersloh<br />

2006, 7.<br />

23 A.a.O., 75<br />

nie zu fokussieren. Die mittelschichtsorientierten<br />

Kirchengemein<strong>de</strong>n und die Diakonischen Werke mit<br />

hoch spezialisierten und hochschwelligen Angeboten<br />

sind dabei die Ausgangslage. Die Anstöße, Diskussionen<br />

und die Reflektion rund um das <strong>Thema</strong><br />

„<strong>Tafel</strong>n“ in Kirche und Diakonie leiteten hier einen<br />

Perspektivwechsel ein. Die Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s<br />

Freiwilligen Engagements und <strong>de</strong>r gemeinwesenorientierten<br />

Diakonie gehen damit einher.<br />

6.1. „<strong>Tafel</strong>n“ als Brücke zwischen<br />

Diakonie und Kirche<br />

Kirchengemein<strong>de</strong>n und (regionale) Diakonische<br />

Werke sind nicht nur aufgrund ihres gemeinsamen<br />

biblischen Auftrages eng miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n. In<br />

Satzungen, Geschäftsordnungen, gemeinsamen Gremien<br />

und in <strong>de</strong>r praktischen Zusammenarbeit schlägt<br />

sich dies strukturell nie<strong>de</strong>r. Das aktuelle Zusammenspiel<br />

von Diakonischen Werken und Kirchengemein<strong>de</strong>n<br />

im Rahmen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ erweitert jedoch die<br />

bisherigen Formen und Umfänge <strong>de</strong>r Zusammenarbeit<br />

in erheblichem Maße. Die Initiierung von<br />

Lebensmittelausgabestellen, die organisatorische<br />

Umsetzung, die Gewinnung und Begleitung <strong>de</strong>r Freiwillig<br />

Engagierten, die Suche nach Sponsoren und<br />

die finanzielle Absicherung dieser Arbeit, haben Kirchengemein<strong>de</strong>n<br />

und Diakonische Werke in bisher<br />

nicht da gewesener Form zusammengeführt. In Run<strong>de</strong>n<br />

Tischen, Netzwerken und Arbeitsgruppen wer<strong>de</strong>n<br />

die jeweiligen Kenntnisse und Potentiale eingebracht.<br />

Räumlichkeiten von Kirchengemein<strong>de</strong>n, das<br />

Bereitstellen von Fahrzeugen, das seelsorgerliche<br />

Engagement <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die Beratungs- und<br />

Fachkenntnisse <strong>de</strong>r diakonischen Mitarbeiten<strong>de</strong>n<br />

wur<strong>de</strong>n selbstverständlich in diese gemeinsame<br />

Arbeit eingebracht. Durch die aktive gemeinsame<br />

Gestaltung in <strong>de</strong>r <strong>Tafel</strong>arbeit sind teilweise neue Brücken<br />

entstan<strong>de</strong>n und bereits bestehen<strong>de</strong> Brücken zwischen<br />

Diakonie und Kirche gestärkt wor<strong>de</strong>n.<br />

03.2010 Diakonie Texte 27


6. Spezifische Auswirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf Kirche und Diakonie<br />

6.2. Rückwirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf ein<br />

kirchliches Armutsverständnis und<br />

Bereiche kirchlich-diakonischer<br />

Sozialarbeit<br />

Der sozialpolitische Hintergrund und die praktischen<br />

Erfahrungen, unter an<strong>de</strong>rem im Rahmen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-<br />

Arbeit in Bezug auf die aktuellen sozialen Missstän<strong>de</strong>,<br />

haben in kirchlichen und diakonischen Gremien<br />

eine intensive Diskussion <strong>zum</strong> <strong>Thema</strong> Armut<br />

ausgelöst. Diese Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen führten zu<br />

Fachvorträgen, Run<strong>de</strong>n Tischen o<strong>de</strong>r Arbeitskreisen,<br />

die sich mit <strong>de</strong>r Fragestellung, wie Kirche und Diakonie<br />

auf die aktuellen Herausfor<strong>de</strong>rungen reagieren<br />

sollen, beschäftigten. Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit<br />

sind hier ebenso <strong>Thema</strong>, wie die<br />

Fragestellung <strong>de</strong>r Möglichkeiten von seelsorgerlichen<br />

und gemeindlichen Angeboten für „<strong>Tafel</strong>“-Nutzerinnen<br />

und Nutzern. Durch die „<strong>Tafel</strong>n“ angestoßen,<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rzeit in <strong>de</strong>r diakonischen Beratungsarbeit<br />

differenzierte Angebote für Menschen in prekären<br />

Lebenssituationen einschließlich <strong>de</strong>n Nutzern und<br />

Nutzerinnen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“ entwickelt und umgesetzt.<br />

Dies beinhaltet eine stärkere lebenspraktische Ausrichtung<br />

<strong>de</strong>r Angebote und die Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung<br />

<strong>de</strong>r gemeinwesenorientierten Diakonie. Ein <strong>de</strong>utlicher<br />

Schwerpunkt zeigt sich <strong>de</strong>shalb immer stärker<br />

in <strong>de</strong>r Initiierung von Netzwerken mit an<strong>de</strong>ren<br />

Verbän<strong>de</strong>n und Einrichtungen; beispielsweise <strong>de</strong>m<br />

Kin<strong>de</strong>rschutzbund, <strong>de</strong>r Familien- und Erwachsenenbildung<br />

o<strong>de</strong>r auch mit Kultur- und Sportvereinen.<br />

Die starke Einbeziehung <strong>de</strong>r Begleitung von ehrenamtlichen<br />

Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in <strong>de</strong>r<br />

„<strong>Tafel</strong>“-Arbeit hat im kirchlich-diakonischen Bereich<br />

die Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Konzepte <strong>de</strong>s Freiwilligenmanagements<br />

vorangetrieben.<br />

In einigen Kirchengemein<strong>de</strong>n war die „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit<br />

Auslöser für einen diakonischen Gemein<strong>de</strong>aufbau,<br />

<strong>de</strong>r einhergeht mit weiteren nachhaltigen Angeboten<br />

für und mit Menschen in prekären Lebenslagen.<br />

Lei<strong>de</strong>r nicht flächen<strong>de</strong>ckend ist die finanzielle Unterstützung<br />

von Projekten zur Armutsüberwindung<br />

auch in Verbindung mit <strong>de</strong>n „<strong>Tafel</strong>n“ durch die evangelischen<br />

Lan<strong>de</strong>skirchen. Hier wur<strong>de</strong>n teilweise För<strong>de</strong>rmittel<br />

und Fonds für spezielle und neue Projekte<br />

<strong>de</strong>r Armutslin<strong>de</strong>rung und Armutsüberwindung zur<br />

Verfügung gestellt.<br />

Zu berücksichtigen ist, dass diese aufgezeigten Entwicklungen<br />

Prozesse darstellen, die längst nicht<br />

abgeschlossen sind. Der eingeschlagene Lernprozess<br />

von Kirche und Diakonie muss immer mehr in<br />

die Arbeit und Gemeinschaft mit <strong>de</strong>n Armen und<br />

nicht für die Armen einmün<strong>de</strong>n. Hier stehen, <strong>zum</strong>in<strong>de</strong>st<br />

außerhalb <strong>de</strong>r Projekte <strong>de</strong>r Sozialen Stadt und<br />

<strong>de</strong>r Brennpunktarbeit, die eigentlichen Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />

für Kirchengemein<strong>de</strong>n und diakonische<br />

Einrichtungen erst noch an. Eine Unterstützung<br />

durch entsprechen<strong>de</strong> finanzielle Mittel, unter an<strong>de</strong>rem<br />

für die Begleitung <strong>de</strong>r Ehrenamtlichen, durch<br />

die bereits erwähnten Beiträge <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skirchen,<br />

wäre hier flächen<strong>de</strong>ckend im höchsten Maße wünschenswert.<br />

6.3. Das Verhältnis von diakonischem<br />

Selbstverständnis und <strong>de</strong>m Selbstverständnis<br />

<strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s<br />

Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.<br />

Die Lin<strong>de</strong>rung und Überwindug von Armut ist in<br />

Kirche und Diakonie in ihrem diakonischen Han<strong>de</strong>ln<br />

in einer langen Tradition begrün<strong>de</strong>t. Vermutlich<br />

bil<strong>de</strong>n Kirchengemein<strong>de</strong>n und diakonische Einrichtungen<br />

die feinmaschigste Struktur unserer<br />

Gesellschaft. Kirche und Diakonie haben aufgrund<br />

ihres biblischen Fundamentes immer einen anwaltschaftlichen<br />

Auftrag, für und mit von Armut betroffenen<br />

Menschen, <strong>de</strong>r sich auch im politischen Engagement<br />

nie<strong>de</strong>rschlägt. Die Fragen nach <strong>de</strong>r Solidarität<br />

mit <strong>de</strong>n Betroffenen, <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r<br />

ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit<br />

sollten dabei die Richtschnur kirchlichen und diakonischen<br />

Han<strong>de</strong>lns sein.<br />

Die „<strong>Tafel</strong>“-Bewegung ist <strong>zum</strong>in<strong>de</strong>st in Deutschland<br />

eine sehr dynamische neue Form <strong>de</strong>s sozialen Engagements<br />

tausen<strong>de</strong>r ehrenamtlich tätiger Menschen.<br />

Darin eingebun<strong>de</strong>n ist gleichzeitig das Engagement<br />

vieler evangelischer Kirchengemein<strong>de</strong>n und diakonischer<br />

Einrichtungen. Diese haben sich trotz ihrer<br />

Eigenständigkeit als Körperschaft <strong>de</strong>s öffentlichen<br />

Rechts beziehungsweise als Wohlfahrtsverband teilweise<br />

in <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. eingebun<strong>de</strong>n:<br />

Einschließlich <strong>de</strong>r Befürwortung <strong>de</strong>r<br />

<strong>Tafel</strong>grundsätze und <strong>de</strong>r Unterstützung durch entsprechen<strong>de</strong><br />

Mitgliedschaften. Dies verschaffte <strong>de</strong>r<br />

28 Diakonie Texte 03.2010


6. Spezifische Auswirkungen <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>n“ auf Kirche und Diakonie<br />

Arbeit vor Ort Klarheit für das pragmatische Han<strong>de</strong>ln<br />

sowie auch organisatorische Vorteile im Hinblick<br />

auf die Darstellung und <strong>de</strong>r Nachvollziehbarkeit<br />

gegenüber <strong>de</strong>r Öffentlichkeit.<br />

Jedoch haben sich viele kirchliche und diakonische<br />

Initiativen um <strong>de</strong>r Wahrung ihrer Unabhängigkeit<br />

und ihres kirchlichen Profils willens gegen die Mitgliedschaft<br />

im Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V.<br />

entschie<strong>de</strong>n. Um hier ein gutes Miteinan<strong>de</strong>r im Interesse<br />

<strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Nutzer zu gestalten, gilt es die<br />

gemeinsamen Schnittmengen im jeweiligen Selbstverständnis<br />

<strong>de</strong>r Akteure herauszuarbeiten und gleichzeitig<br />

die originären Aufgaben von Kirchengemein<strong>de</strong>n,<br />

diakonischen Einrichtungen und <strong>de</strong>m<br />

Bun<strong>de</strong>sverband Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. zu würdigen und<br />

entsprechend zu berücksichtigen. Dies beinhaltet<br />

auch die klare Aufgabenteilung von Beratung, Seelsorge<br />

und praktischer Umsetzung <strong>de</strong>r „<strong>Tafel</strong>“-Arbeit.<br />

Beratungsarbeit und Seelsorge sind originäre Aufgaben<br />

von Kirche und Diakonie, wohingegen die<br />

organisatorische Umsetzung <strong>de</strong>r Verteilung von<br />

Lebensmitteln die Kompetenzen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s<br />

Deutsche <strong>Tafel</strong> e. V. betrifft.<br />

03.2010 Diakonie Texte 29


Eigene Notizen<br />

30 Diakonie Texte 03.2010


Auszug Diakonie Texte 2007/2008/2009/2010<br />

02.2010 IKÖ Zusammenstellung von Stellungnahmen und Arbeitshilfen<br />

01.2010 Bildung, Erziehung und Betreuung in <strong>de</strong>r Kindheit<br />

16.2009 Pflegestatistik <strong>zum</strong> 15.12.2007<br />

15.2009 Einrichtungsstatistik – Regional, Stand 1. Januar 2008<br />

14.2009 Vorstandsbericht:<br />

Gemeinsam in die Zukunft: „Weil wir es wert sind“<br />

13.2009 Verbesserung <strong>de</strong>r Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen<br />

mit Behin<strong>de</strong>rung außerhalb <strong>de</strong>r WfbM<br />

12.2009 Seelsorge in Palliative Care<br />

11.2009 Gesundheitspolitische Perspektiven <strong>de</strong>r Diakonie 2009<br />

10.2009 Stationäre medizinische Rehabilitation von Kin<strong>de</strong>rn und<br />

Jugendlichen<br />

09.2009 Einrichtungsstatistik <strong>zum</strong> 1. Januar 2008<br />

08.2009 Fehlerhafte Transparenzberichte – Rechtsmittel gegen eine<br />

Veröffentlichung<br />

07.2009 Zur Rechtsstellung einkommens armer Menschen und <strong>de</strong>n<br />

notwendigen Än<strong>de</strong>rungen im SGB II<br />

06.2009 Ziele, Indikatoren und Evaluation in Projekten <strong>de</strong>r<br />

Migrationsarbeit<br />

05.2009 Leistungs- und Qualitätsmerkmale im SGB XI<br />

04.2009 Zukunftssicherung <strong>de</strong>r Dienste in <strong>de</strong>r Familienpflege und<br />

Dorfhilfe<br />

03.2009 Bildungswege „Gesundheit und Soziales“ – attraktiv für<br />

Nachwuchskräfte<br />

02.2009 Jugend gewinnen<br />

01.2009 Krankheit als finanzielle Belastung<br />

18.2008 Die „insoweit erfahrene Fachkraft“ nach § 8a Abs. 2<br />

SGB VIII – eine neue fachdienliche Aufgabe?<br />

17.2008 Characteristics of Diaconal Culture<br />

16.2008 Vorstandsbericht Diakonisches Werk <strong>EKD</strong><br />

15.2008 Familien wirksam för<strong>de</strong>rn<br />

14.2008 Mobile Rehabilitation<br />

13.2008 Interkulturelle Öffnung in <strong>de</strong>n Arbeitsfel<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Diakonie<br />

12.2008 Integrationsarbeit von A-Z<br />

11.2008 Die Migrationserstberatung <strong>de</strong>r Diakonie 2007<br />

10.2008 Sucht im Alter – Herausfor<strong>de</strong>rungen und Lösungswege für<br />

diakonische Arbeitsfel<strong>de</strong>r<br />

09.2008 Sucht im Alter – Sozial- und gesundheitspolitische<br />

For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Diakonie<br />

08.2008 Gesetz zur Neuregelung <strong>de</strong>s Rechtsberatungsrechts RDG<br />

vom 12. Dezember 2007<br />

07.2008 Synopse <strong>zum</strong> Pflege-Weiterentwicklungsgesetz<br />

06.2008 Sucht im Alter<br />

05.2008 Die Allgemeine Sozialarbeit <strong>de</strong>r Diakonie im Wan<strong>de</strong>l<br />

04.2008 Gesun<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r – gesun<strong>de</strong> Zukunft? Zukunftsaufgabe<br />

Rehabilitation von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen<br />

03.2008 Zukunftswege Pflegeausbildung<br />

02.2008 Positionen <strong>de</strong>r Diakonie zur Finanzierung von<br />

Kin<strong>de</strong>rtageseinrichtungen<br />

01.2008 Charakteristika einer diakonischen Kultur<br />

23.2007 Statistik <strong>de</strong>r Allgemeinen Sozialarbeit <strong>de</strong>r Diakonie für das<br />

Jahr 2005<br />

22.2007 Hauswirtschaft – Gesicherte Qualität in <strong>de</strong>r stationären Pflege<br />

Die Texte, die wir in <strong>de</strong>r<br />

Publikationsreihe Diakonie<br />

Texte veröffentlichen, sind im<br />

Internet frei zugänglich.<br />

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© März 2010 · 1. Auflage<br />

ISBN 978-3-941458-12-3


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