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Prinzessin X"bong

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!<strong>Prinzessin</strong> X"<strong>bong</strong><br />

EIN MÄRCHEN DER SEMAI AUS MALAYSIA


Petaling Jaya, Mai 1995<br />

Copyright © 1995<br />

Eigenverlag:<br />

Albert Hoffmann<br />

No 18, SSI/lIA<br />

47300 Petaling Jaya<br />

Selangor, Malaysia<br />

Tel: 03-7746298<br />

Unterreuth 3<br />

94034 Passau<br />

Deutschland<br />

Tel: 0851-58704


!<strong>Prinzessin</strong> X"6ong<br />

EIN MÄRCHEN DER SEMAI AUS MALAYSIA<br />

HERAUSGEGEBEN VON<br />

Al.bert :H:o~~In..a~<br />

ILLUSTRIERT VON<br />

Clau..d.ia :H:eyer<br />

ÜBERSETZT VON<br />

Zai.n..ibin.:'ti Za.h.ari


Vor langer, langer Zeit lebte eine Frau mit sieben<br />

Kindern. Ihr Mann war bereits gestorben; so blieb<br />

ihr allein die Sorge um die Kinder.<br />

Unter den Geschwistern gab es viel Zwist. Vor allem aufdem<br />

jüngsten Bruder hackten die älteren herum. Keine Frage, sie<br />

liebten ihn nicht; schlimmer noch: sie haßten ihn.<br />

Es fiel ihnen schwer, den jüngsten Bruder auch nur<br />

anzusehen. Seine Haut war gerötet und unrein. Die Krätze hatte<br />

sich bei ihm breitgemacht und verunstaltete ihn. Mehr und mehr<br />

wandten sie sich von ihm ab. Eines Tages kündigten sie sogar<br />

an, aus ihrem Dorfwegziehen zu wollen, nur um seine Nähe<br />

nicht ertragen zu müssen; so abstoßend und ekelerregend wirkte<br />

er auf sie.


Diese offene Ablehnung verfehlte bei ihm die Wirkung nicht.<br />

Früher, ja da war er wie die anderen auch. Er konnte lachen und<br />

scherzen. Nun aber fraß der Schmerz in ihm; schon bei dem<br />

geringsten Anlaß geriet er außer sich vor Wut und schlug mit<br />

übergroßer Härte los.<br />

Gleichzeitig wurde sein äußeres Erscheinungsbild immer<br />

unansehlicher. Die Krätze, aber auch Warzen bedeckten bald<br />

seinen ganzen Körper. Es dauerte nicht lange, da gingen ihm<br />

auch die Nachbarn aus dem Weg.<br />

Lediglich seiner Mutter war er immer noch so lieb wie<br />

jedes andere ihrer Kinder.<br />

"Warum kannst du ihn noch immer gern haben?" fragten<br />

die sechs älteren Geschwister die Mutter vorwurfsvoll. Da<br />

antwortete sie: "Aber ist er nicht euer Bruder? Liebt ihr<br />

Geschwister denn euch nicht?" "Aber, Mutter, du wirst selbst


krank und aussätzig werden, wenn du dich zu sehr mit ihm<br />

abgibst", mahnten sie. Die Mutter jedoch ließ sich von ihnen<br />

nicht irremachen. Sie liebte alle ihre Kinder gleich.<br />

Eines Tages taten die sechs wirklich, was sie schon lange<br />

angedroht hatten: Sie packten ihre Sachen, nahmen etwas<br />

Wildreis, Tapioka und Wasser, auch das Blasrohr durfte nicht<br />

fehlen, und brachen auf. Es war noch sehr früh am Tage, als sie<br />

das Dorfverließen. Die Hähne fingen gerade an zu krähen.<br />

Sie kletterten aufBerge und stiegen wieder hinunter; sie<br />

kamen durch kleine und große Täler, sie wateten durch kleine<br />

Flüsse. Weit weg, ganz weit weg wollten sie: zu einem Platz,<br />

an dem sie sich wohlfiihlen könnten.<br />

Als sie ihn schließlich gefunden hatten, begannen sie<br />

sofort mit dem Bau von Hütten - sechs an der Zahl.<br />

Gleichzeitig legten sie sich einen kleinen Gemüsegarten an. Als


erste Früchte pflanzten sie Süßkartoffeln, Auberginen und<br />

weiteres Gemüse.<br />

Ihre Mutter lebte mit dem jüngsten Bruder weiterhin im<br />

Dorf. Sie führten ihr Leben so, wie sie es gewohnt waren. Drei<br />

Jahre gingen ins Land.<br />

Da sagte der jüngste Bruder eines Tages ganz<br />

überraschend: "Ich vermisse meine Geschwister sehr, ich liebe<br />

sie. Mutter, bereite mir Reis für die Wanderung vor. Ich will<br />

losgehen und sie suchen. Weißt du, wo sie sich aufhalten?"<br />

"Aber Kind", meinte hierauf die Mutter, "warum willst du denn<br />

gehen? Bei wem willst du denn essen? Bei wem übernachten?<br />

Hast du vergessen: deine Geschwister lieben dich doch gar<br />

nicht! Bleib doch hier!"<br />

Alles Reden der Mutter war vergebens. Sein Wunsch,<br />

wegzugehen, war übergroß. Nichts hätte ihn davon abbringen


können. Er begnügte sich mit einer Tasche voll Reis und<br />

Wasser als Proviant. Sein Hund, der genauso häßlich, voller<br />

Hautkrätze und mit Warzen um die Augen bedeckt war wie er<br />

selbst, liefhinter ihm drein. So stapfte er los.<br />

Er forschte nach dem Weg, den seine Geschwister vor<br />

etwa drei Jahren gegangen waren. Er suchte nach<br />

hinterlassenen Fußspuren im Erdreich, nach Zweigen, die bei<br />

der Wanderung abgebrochen waren, und folgte ihnen. Er stieg<br />

Berge hinaufund kletterte wieder hinunter, er schritt durch<br />

kleine und große Täler, er watete durch Wasserläufe und<br />

Bäche. Aufeinmal fing sein Hund aufgeregt zu bellen an. Der<br />

jüngste Bruder wunderte sich hierüber und fragte: "Aber was<br />

bellst du denn, Hund? Hast du was Eßbares gefunden?" Da<br />

sprang der Hund davon und hetzte mit einer Frucht im Maul


wieder heran. Erst jetzt erkannte der jüngste Bruder die Frucht<br />

des Ni<strong>bong</strong>-Baumes. ltWas willst du denn mit dieser Frucht,<br />

Hund?" meinte da der jüngste Bruder. "Wenn du sie ißt, wirst<br />

du hiervon berauscht!" Er nahm sie ihm weg und schleuderte<br />

sie weit von sich. Doch der Hund sprang kläffend der Frucht<br />

hinterher und brachte sie zurück. Ein weiteres Mal warfsie der<br />

jüngste Bruder in den dichten Dschungel. Auch diesmal spielte<br />

sich dasselbe Schauspiel ab. Der Hund brachte sie ihm<br />

aufgeregt wieder. Das ging dreimal so. Dann gab der jüngste


Bruder nach und steckte sie in seinen Sack.<br />

Kaum hatte er sie hineingelegt, geschah Seltsames mit<br />

ihm. Er fühlte sich plötzlich wie verändert, als ob er nun über<br />

eine magische Kraft verfügte.<br />

Gegen Abend fing er an, sich eine Hütte zu bauen. Als sie<br />

fertig war, sammelte er Feuerholz und kochte sich sein<br />

Nachtmahl.<br />

Die magische Kraft, die er tatsächlich von nun an besaß,<br />

verriet ihm, daß er sich in nächster Nähe zu seinen<br />

Geschwistern aufhielt. Sie waren nur ein halbes Gebirge von<br />

ihm entfernt. Doch ihnen ahnte hiervon nichts.<br />

Regelmäßig gingen seine Geschwister aufdie Suche nach<br />

Eßbarem. Die Beute jedoch fiel nie überwältigend aus. Seine<br />

Brüder erwischten mit dem Blasrohr lediglich Eichhörnchen<br />

oder andere kleine Tiere, seine Schwestern mußten sich mit


darüberhinaus eine echte <strong>Prinzessin</strong>. "Wo ist dein Herr?" fragte<br />

sie den Hund. Da liefdieser schnell zum Eingang, blickte weit<br />

in die Feme und wedelte mit dem Schwanz. Jetzt wußte sie, daß<br />

er weit draußen unterwegs war. Sie überlegte einen Moment,<br />

wie sie sich nützlich machen könnte. Schon hatte sie eine Idee:<br />

Da der Tag gerade anbrach, fing sie an, Holz zu holen und<br />

Feuer zu entfachen. Sie machte Wasser heiß und kochte kleine<br />

Gerichte. Kaum war sie fertig, spürte sie, daß er gleich<br />

zurückkehren würde. So begab sie sich wieder in ihre Frucht<br />

zurück.<br />

Als der jüngste Bruder müde in die Hütte trat, hatte er nur<br />

den einen Wunsch, sich auszuruhen. Er legte sich rur eine Weile<br />

aufdie Matte. Sodann suchte er in die Kochstelle auf. Er war<br />

nicht wenig überrascht, als er das fertige Essen erblickte. "Wer<br />

hat das alles gemacht?" fragte er verwundert.


Da wedelte der Hund mit seinem Schwanz und schaute nach<br />

dem Wandersack. "Was guckst du denn da hinauf?" meinte der<br />

jüngste Bruder. Er konnte sich unter dieser Gestik nichts<br />

vorstellen.<br />

Nach zehn Tagen stieß durch Zufall die jüngste Schwester<br />

auf seine Hütte. Sie fand alles schön gerichtet und gepflegt vor.<br />

Schnell hatte sie erkannt, daß dies die Hütte des jüngsten<br />

Bruders sein mußte. Hier lebte er also, der jüngste Bruder,<br />

dachte sie sich. Ein Geruhl des Neides stieg in ihr hoch. Nach<br />

kurzem Überlegen raffte sie alles Essen, das sie finden konnte,<br />

zusammen und rannte damit zur Hüttensiedlung ihrer<br />

Geschwister. "Seht mal, was ich alles mit dem Blasrohr<br />

geschossen habe", log sie lauthals. Freudestrahlend gingen sie<br />

in ihre Hütten hinein, bereiteten die Speisen und aßen.<br />

Nach ein paar Tagen kehrte er wieder zu seiner Hütte


zurück - und siehe da: Wieder stand gekochtes Essen fertig fiir<br />

ihn auf dem Tisch. Da wuchs natürlich die Neugier in ihm noch<br />

mehr: Wer kann das nur gewesen sein? dachte er sich. War das<br />

meine Mutter? Waren das vielleicht meine Geschwister? Und<br />

immer wieder fragte er auch den Hund. Einmal liefdieser nach<br />

oben zu dem Sack. Er stellte sich vor ihm aufund starrte ihn an.<br />

"Was schaust du denn pausenlos dorthin?" fragte er.<br />

Das ging mehrere Tage so; zwei, drei, vielleicht auch<br />

zwanzig Tage lang. In dieser Zeit hatte er einmal einen<br />

seltsamen Traum. Es erschien ihm eine Person, die ihm<br />

eigenartige Dinge sagte: "Bei dir zuhause, in deiner Hütte,<br />

jüngster Bruder, da lebt eine <strong>Prinzessin</strong>. Sie ist wunderschön ­<br />

und sie hält sich in deiner Ni<strong>bong</strong>-Frucht versteckt. Willst du<br />

sie sehen, so mußt du sieben Betelnußblätter, süße und bittere,<br />

sammeln. Diese sollen einen Menschen berauschend machen


und ihm Kopfschmerzen verursachen können. Nimm sieben<br />

davon und falte sie. Dasselbe sollst du mit Tabakblättem<br />

machen. Rolle sieben davon ein."<br />

Da wachte er plötzlich auf. Und er erinnerte sich deutlich<br />

des Traumes. Er sagte zu sich: "Hier in meiner Hütte also soll<br />

eine <strong>Prinzessin</strong> leben? Nun ja!" Da kam ihm gleich wieder in<br />

den Sinn, was er alles tun müsse, um sie sehen zu können.<br />

Sogleich ging er los, um all das zu suchen, was hierrur


gebraucht würde. Kaum hatte er seine Hütte verlassen, kam die<br />

<strong>Prinzessin</strong> wieder aus ihrer Frucht hervor und erledigte<br />

dieselben Aufgaben wie immer: Holz holen, Feuer entfachen,<br />

Essen vorbereiten, saubermachen.<br />

Als er zurückkam und wiederum das alles sah, war ihm<br />

klar, daß das nicht seine Geschwister gewesen sein können,<br />

denn er wußte ja: sie haßten ihn und würden unter keinen<br />

Umständen so etwas rur ihn tun. Er war ja so häßlich rur sie.<br />

Doch plötzlich kam er sich selber gar nicht mehr so<br />

verunstaltet vor. Seine Haut, sein Gesicht schien von Tag zu Tag<br />

reiner und schöner zu werden.<br />

Die Sache mit dem Traum, mit dem Essen und der<br />

<strong>Prinzessin</strong> ließ ihn nicht mehr in Ruhe. Eines Morgens griff er<br />

zu einer List. Er legte die gefalteten Betelnußblätter in seiner<br />

Hütte zurecht, ebenso die gerollten Tabakblätter, alles, was er


schon vor Tagen vorbereitet hatte - und sagte<br />

zu seinem Hund: "Ich gehe heute weit, weit<br />

fort und komme erst sehr spät wieder!" Er<br />

nahm sein Blasrohr und ging. Es war drei<br />

Uhr morgens. Er hatte Bambusrohr, das in<br />

kleine Stückehen geschnitten war, bei sich.<br />

Dies brauchte er zum Feuermachen.<br />

Der <strong>Prinzessin</strong> blieb nichts verborgen.<br />

Aus ihrer Frucht heraus beobachte sie alles<br />

sehr genau. Auch bekam sie alles mit, was gesagt wurde.<br />

Er ging also weg, weit weg, wie er sagte. Bevor er seine<br />

Hütte verließ, hatte er das Feuer ausgemacht, so daß kein<br />

Lichtschein die Dunkelheit durchdrang. Nun setzte er seine<br />

magische Kraft ein, die er noch immer besaß, und verwandelte<br />

sich in eine Kakerlake. Schnell kehrte er zur Hütte zurück und


versteckte sich in einer Wand. Und nun erlebte er mit, wie sich<br />

aus der Ni<strong>bong</strong>-Frucht etwas herausschälte: es war das<br />

wunderschöne Mädchen, von dem ihm im Traum berichtet<br />

worden war. 0, so sieht sie aus, dachte er sich. Sie hat lange<br />

Haare und ist bezaubernd und reizend. Sie sprach: "Nun, heute,<br />

sagte der jüngste Bruder, würde er einen weiten Weg<br />

zurücklegen und erst sehr spät wiederkommen; und da es noch<br />

sehr früh ist, kann ich mich noch ein bißchen hinlegen." Als es<br />

Tag wurde, stand sie aufund tat alles das, was sie auch sonst<br />

erledigt hatte. Sie holte Feuerholz, machte sauber und stellte<br />

den Reistopfaufdas Feuer. Auch vergaß sie nicht, die Matten<br />

auszuschütteln.<br />

Als sie fertig war, kam ihr der Gedanke, sich wieder ein<br />

bißchen auszuruhen. Sie legte ihren Kopfaufdas Kissen des<br />

jüngsten Bruders. Doch diesmal spürte sie etwas


darunterliegen. Sie hob das Kissen hoch und gab ein erstauntes<br />

"aah!" von sich. Vor sich sah sie Betelnußblätter. "Wer hat das<br />

alles so schön bereitet? Die möchte ich liebend gerne essen",<br />

meinte sie. Und schon fing sie an, sie zu essen.<br />

Sie spürte den cremigen Geschmack auf ihrer Zunge. Er<br />

behagte ihr. Als sie sodann auch noch Tabakblätter entdeckte,<br />

fing sie an, diese zu rauchen.<br />

Der jüngste Bruder beobachtete als Kakerlake mit großer<br />

Aufmerksamkeit jede ihrer Bewegungen.<br />

Beim Essen der zweiten Betelnuß begann es in ihrem Kopf<br />

zu rumoren. Trotz Kopfschmerzen aß sie weiter. Bald fand sie<br />

heraus, daß die zweite Betelnuß auf einmal süß schmeckte, die<br />

nächste aber wieder cremig. Abwechselnd ging es so dahin: mal<br />

süß, mal cremig.<br />

Plötzlich hatte sie das Gefühl, daß sich alles um sie


herum drehte. Sie legte sich aufdas Bett des jüngsten Bruders<br />

und fand sich in einer Traumwelt wieder.<br />

Das war die Situation, aufdie der jüngste Bruder gewartet<br />

hatte. In großer Eile verwandelte er sich wieder aus der<br />

Kakerlake in einen Menschen zurück und versuchte, die<br />

<strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong> zu erhaschen. Als sie dies bemerkte, suchte<br />

sie ihm zu entkommen, indem sie in verschiedene Gestalten und<br />

Formen schlüpfte. So verwandelte sie sich in Wasser, in einen<br />

Hund oder in ein Eichhörnchen. Sehr unangenehm und<br />

geradezu todbringend wirkte sie auf ihn, als sie aufeinmal in<br />

der Gestalt einer Schlange in Erscheinung trat.<br />

Da riefer ihr zu: "Genug jetzt! Du hast mich reichlich<br />

leiden lassen. Nimm Rücksicht aufmeine Gefühle. So etwas<br />

darfst du mit mir nicht machen. Zeige dich nun als Mensch!"<br />

Doch sie tat, als ob sie ihn nicht hören würde. Sie


verwandelte sich weiterhin in alle möglichen Formen: in Tiere<br />

und in leblose Gegenstände.<br />

Daraufhin erinnerte er sich der Kraft von magischen<br />

Sprüchen und sprach sie feierlich aus. Gleichzeitig bereitete er<br />

glühende Kohle, gab sie in eine kleine Messingschale und blies<br />

den Rauch in alle Winkel und Ecken des Hauses. Als der Rauch<br />

sie umfing, verwandelte sie sich in einen Stein. Er aber sprach<br />

weiterhin seine magischen Worte. Er rezitierte und rezitierte.<br />

Da plötzlich vollzog sich bei ihr die Verwandlung zu<br />

einem Menschen. Er war fast geblendet, als er sie erblickte. Sie<br />

war bildhübsch. Erstaunlicherweise geschah auch bei ihm eine<br />

Veränderung. Sein Körper, sein Gesicht, seine Haut wurde nun<br />

vollends glatt und rein. Nun sah er schöner aus als seine<br />

Brüder. Und nicht nur das passierte in diesem Moment. Auch


sein mit Narben übersähter Hund verlor aB seine Häßlichkeit.<br />

Glücklich lebten sie für einige Zeit zusammen in ihrer<br />

Hütte.<br />

Seine Geschwister aber ließen sich immer noch nicht bei ihm<br />

blicken, obwohl ihnen inzwischen bekannt war, daß er in ihrer<br />

Nähe lebte. Für sie war er ja noch immer der dreckige, der<br />

unreine Bruder. Ihn haßten sie immer noch. Stattdessen gingen


sie wieder zu ihrer Mutter in das Dorfzurück.<br />

Einmal fragte <strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong> den jüngsten Bruder:<br />

"Hast du noch Vater, Mutter und Verwandte?" "Oh ja, es könnte<br />

schon sein, daß ich noch jemanden habe, der mit mir verwandt<br />

ist. Vielleicht ist es so", gab er zögernd zur Antwort.<br />

Da meinte sie: "So laß uns doch deinen Verwandten einen<br />

Besuch abstatten. Ich möchte sie kennenlernen."<br />

Also machten sie sich eines Tages in sein Dorfauf. Seine<br />

Mutter saß gerade aufder Treppe zu ihrer Hütte und schaute<br />

den Ni<strong>bong</strong>-Palmen zu, wie sie im Winde hin- und herwogten.<br />

Als sie so gedankenverloren ihren Blick schweifen ließ, tauchte<br />

plötzlich in ihrer Vorstellung das Bild von ihrem jüngsten Sohn<br />

auf, wie er mit seiner Frau aus dem Dschungel nach Hause<br />

kommt.<br />

Aufeinmal sah sie tatsächlich vier Beine vor sich. Schnell


nahm sie Safranreis und verstreute ihn über die zwei<br />

Menschen. "Willkommen in meiner Hütte!" sagte sie. Da erst<br />

fiel ihr auf, daß ihr jüngster Sohn tatsächlich mit seiner Frau<br />

eingetroffen war. Die Mutter zeigte sich überglücklich. Lange<br />

Zeit verbrachte sie damit, ihre Schwiegertochter zu begrüßen.<br />

Auch ihre anderen Kinder kamen der Reihe nach und hießen<br />

die Schwägerin willkommen. Doch riefNi<strong>bong</strong> bei ihnen<br />

aufgrund ihrer Schönheit auch Gefiihle der Eifersucht wach.<br />

Die Brüder zupften sich gegenseitig an den Armen und<br />

flüsterten einander zu: "Ach, wenn wir nur auch so eine<br />

hübsche Frau hätten!"<br />

Der jüngste Bruder und Ni<strong>bong</strong> blieben rur die nächste<br />

Zeit hier wohnen.<br />

Bald war sich die Mutter sicher, daß <strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong><br />

kein normaler Mensch sein könne. Ihr erschien sie so


eigenartig, so außergewöhnlich, so<br />

anders. Als sie dies ihrem jüngsten<br />

Sohn sagte, bestätigte dies jener und<br />

erzählte ihr von ihrer Herkunft; meinte<br />

aber hierbei: "Mutter, du darfst sie aber<br />

nicht mit "<strong>Prinzessin</strong>", vor allem nicht<br />

mit "Ni<strong>bong</strong>" anreden! Erwähne diesen<br />

Namen, der ihre Herkunft verrät,<br />

niemals!" Die Mutter tat so, wie ihr<br />

geheißen.<br />

Eines Tages brachte der jüngste Bruder den Wunsch vor,<br />

mit dem Boot aufdas Meer hinauszufahren. Gleichzeitig<br />

übergab er Ni<strong>bong</strong> und seiner Mutter je eine Blume. Eine<br />

weitere behielt er rur sich. Er sagte: "Dies hier sind besondere<br />

Blumen. Wenn eine Blume zu welken beginnt, so wissen die<br />

anderen, daß es dem einen schlecht ergeht. Wenn meine Blume


-----<br />

welken sollte, während ich aufdem Meer draußen bin, weiß ich,<br />

daß zuhause etwas passiert ist. Welken eure Blumen, so wißt<br />

ihr, daß ich in Not bin." Dann schritt er zum Boot, sprang hinein<br />

und stieß sich vom Land ab.


Kaum war er den Blicken entschwunden, näherten sich Ni<strong>bong</strong><br />

all ihre Schwager und Schwägerinnen und meinten: "Komm,<br />

laß uns ein wenig tanzen!"<br />

"Nein", meinte sie ablehnend, "mein Mann ist nicht da".<br />

Nun schaltete sich auch die Mutter ein und beruhigte sie:<br />

"Wenn du gern tanzt, so schließ dich ihnen nur an. Das ist schon<br />

in Ordnung."<br />

Ni<strong>bong</strong> war sich unsicher. Sie überlegte: Wenn ich nicht<br />

mitmache, so fragen sich alle bestimmt, warum ich mich so<br />

verhalte. In ihren Augen erscheine ich dann als eigensinnig.<br />

Schließlich entschloß sie sich mitzumachen. Die anderen<br />

begannen mit dem Tanz. Sie schaute zunächst nur zu. Doch als<br />

die anderen ihr zuriefen: "Komm, laßt uns zusammen tanzen!",<br />

gesellte sie sich hinzu.<br />

Und siehe da, sie tanzte anmutiger und kunstvoller als die


anderen alle. Und wie sie ihre Hände bewegte, wie ihre Haare<br />

flogen - einfach wunderbar! Sie tanzte länger als die anderen;<br />

sie tanzte wie der Wind. Als die Mutter sie hierbei beobachtete,<br />

meinte sie für sich: "Wenn sie so tanzt, gleicht sie einem<br />

Ni<strong>bong</strong>-Bäumchen, besonders dann, wenn der Wind ihr Haar'<br />

hin- und herfliegen läßt. Sie sieht so wundervoll aus."<br />

Das erste Mal hörte Ni<strong>bong</strong> nichts von alledem, was<br />

Mutter sprach. Wieder äußerte die Mutter diesselben Worte: Sie<br />

ist so schön, so schön wie eine Ni<strong>bong</strong>-Palme! Wenn sie tanzt,<br />

und wenn der Wind ihr Haar hin- und herweht, dann ist sie ganz<br />

Ni<strong>bong</strong>-Palme. Auch das zweite Mal hörte Ni<strong>bong</strong> diese Worte<br />

nicht. Doch als sie das dritte Mal gesprochen hatte, rief ihr<br />

Ni<strong>bong</strong> zu: "Mutter, was hast du gesagt?" Da meinte sie: "Also,<br />

Kind, beim Tanzen siehst du aus wie ein Ni<strong>bong</strong>-Bäumchen,<br />

das im Wind hin- und herschaukelt."


Augenblicklich hörte Ni<strong>bong</strong> mit dem Tanzen auf. Ihr Gesicht<br />

verfinsterte sich. Traurig sagte sie: "Am Ende berührt es mich<br />

nicht sehr, wenn du, Mutter, und ihr, Geschwister, mich nicht<br />

mögt. Sie fühlte sich an ihre Herkunft erinnert und erkannt. Ich<br />

kann wieder zu meinem Ursprung zurückkehren. In diesem<br />

Moment klatschte sie laut die Hände zusammen und wurde vor<br />

ihren Augen zu einem Ni<strong>bong</strong>-Baum. In der Mitte des Hofes<br />

war sie gestanden; an dem Platz fand sich nun eine Ni<strong>bong</strong>­<br />

Palme.<br />

"0 ich Unglückliche, das war, das ist meine<br />

Schwiegertochter! Nicht mehr lebt sie als Mensch unter<br />

Menschen; sie wurde wieder zu dem, was sie früher war: ein<br />

Ni<strong>bong</strong>-Baum! Wie wird mich mein Sohn tadeln, wenn er<br />

zurückkehrt! Ich habe ihre Abstammung verraten!" jammerte<br />

die Mutter.


Als der jüngste Bruder, der noch immer auf seinem Boot war,<br />

einen Blick in sein Tuch warf, in dem er die Blume<br />

aufbewahrte, bemerkte er, daß sie welk war. Er erschrak. "Sollte<br />

jemand gestorben sein?" fragte er sich. Aufdem schnellsten<br />

Wege eilte er nach Hause. Beim Eintreten schon fragte er seine<br />

Mutter: "Wo ist deine Schwiegertochter?" Statt einer Antwort<br />

brach diese in Tränen aus. Nach einer langen Pause meinte sie<br />

traurig: "Sie ist wieder in ihr Ni<strong>bong</strong>-Wesen zurückgekehrt."<br />

Da sah er seine Mutter fest an und meinte: "Du, Mutter, du<br />

hast unser Geheimnis gebrochen! Magst du mich wirklich<br />

nicht? Wenn es denn so ist, so will ich auch nicht mehr bei euch<br />

bleiben. Ich verlasse euch."<br />

Im Gehen noch stieß er eine Verwünschung aus: seine<br />

Geschwister sollten zu Steinen, Vögeln und Schweinen werden,


seine Mutter aber zu einem Affen. Und tatsächlich erfüllte sich<br />

sein Fluch.<br />

Er selbst betrat die Welt von Ni<strong>bong</strong> und wurde wie seine<br />

Frau zu einem Ni<strong>bong</strong>-Baum. Als sie ihn kommen sah, sagte<br />

sie: "Warum kommst du? Zwischen dir und mir scheint keine<br />

Liebe zu bestehen, auch deine<br />

Mutter liebt mich nicht." "Doch<br />

Ni<strong>bong</strong>", erwiderte er bittend,<br />

"ich liebe dich und werde dich<br />

weiter lieben. Laß mich nicht<br />

alleine." Da erbarmte sie sich<br />

seiner und blieb für immer<br />

seine Frau.<br />

Bis daher geht die Erzählung.


Märchen sind bekanntlich mehr in der Traumwelt angesiedelt als in der<br />

Wirklichkeit. Sie beschreiben tief im Unbewußten des Menschen sitzende<br />

Urängste und bringen sie - was sehr wichtig ist - zu einer Lösung, die<br />

entspannend wirkt. Zu solcherart Ängsten zählen beispielsweise die<br />

Vorstellung, nicht geliebt zu werden, von der Gemeinschaft<br />

ausgeschlossen zu sein und allein bleiben zu müssen. Kann eine solche<br />

Situation generell schon als existenzbedrohend empfunden werden, um<br />

wieviel mehr mag dann eine derartige Szenerie - wie in <strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong><br />

beschrieben - im Dschungel alptraumhaft wirken, der Einzelgängern<br />

grundsätzlich kaum eine Chance zum Überleben läßt.<br />

"<strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong>" enthält alle Elemente eines klassischen<br />

Märchens. Die Probleme, denen der jüngste Bruder ausgesetzt ist,<br />

erdrücken ihn fast. Er kommt sich als Verstoßener vor, da ihn (mit<br />

Ausnahme seiner Mutter) all seine Mitmenschen meiden, im besonderen<br />

seine engsten Verwandten: seine Geschwister. Sie verlassen lieber das<br />

Dorf, als daß sie seine Nähe auszuhalten gewillt sind. Doch er erweist sich<br />

als stark genug, diese Zeit des Leidens und der Prüfungen zu durchstehen.<br />

Er verläßt nach einer Zeit des Nachdenkens Elternhaus und Dorf, um in<br />

der Feme auf sich selbst gestellt, zu bestehen. Für seine Entwicklung ist es


wichtig, daß er diesen großen Schritt wagt. Nur so kann er gewinnen. Eine<br />

typisch pubertäre Situation: Selbstzweifel, alptraumhafte Phantastereien,<br />

Zukunftsängste plagen die jugendliche Seele. Sie tauchen nicht zuletzt in<br />

Tagträumen auf. Doch dies kann dem Jugendlichen nicht erspart bleiben.<br />

Diese Zeit der Reife mag bisweilen sehr schmerzhaft sein, dennoch muß<br />

sie durchlebt und durchstanden werden. Oft erscheint gerade die Trennung<br />

vom Elternhaus als absolut notwendig und heilsam. Der innere<br />

Reifeprozeß erfahrt dadurch den letzten Anstoß. Am Ende steht ein<br />

innerlich gestärktes und gefestigtes Individuum.<br />

In unserer Geschichte bewährt sich der jüngste Bruder im femen<br />

Dschungel. Hineinversetzt in eine bedrohliche Umwelt wird aus dem<br />

verunsicherten Kind der Mann, der sein Leben zu meistern in der Lage ist.<br />

Doch wie oft im Märchen üblich ergreift eine überirdische, magische Kraft<br />

Partei fur den getretenen und geschundenen Hauptakteur. Gleichzeitig<br />

bahnt sich die Lösung der ganzen Problematik an. Nach dem Überwinden<br />

aller Gefahren und Alpträume, dem Bestehen aller Prüfungen neigt sich<br />

der Entwicklungsprozeß des Helden dem Ende zu. Was jetzt noch fehlt, ist<br />

überreiche Belohnung. Die Braut übertrifft alle anderen an Schönheit.<br />

Außerdem kann sie eine königliche Abstammung nachweisen. Und da das<br />

Märchen Mitleid oder Nachsicht mit den Bösewichtem nicht kennt,<br />

werden diese einer harten Bestrafung zugefiihrt.<br />

Vergleicht man dieses Semai-Märchen mit dem deutschen<br />

Märchenschatz, so fällt die Ähnlichkeit mit "Aschenputtel" auf. Hier wie<br />

dort wird die Hauptperson von den Geschwistern aufs heftigste


angefeindet. Die Urängste "nicht geliebt zu werden" und "von der<br />

Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein" sind dieselben. Hier wie dort ist der<br />

Prozeß des Reifens eine Zeit, die durchlitten werden muß. In beiden Fällen<br />

löst sich das Behütetsein durch das Elternhaus auf. Hier wie dort greifen<br />

überirdische Kräfte unterstützend ein. In beiden Fällen spielt der Tanz im<br />

Hinblick auf die Lösung eine wichtige Rolle. Die Bösen werden bestraft,<br />

der Hauptakteur erfährt am Ende alle Wonnen auf Erden.<br />

Aschenputtel sowie der jüngste Bruder gehen beide gestärkt und nun<br />

wirklich aufs Leben vorbereitet aus diesen Widrigkeiten hervor.<br />

Selbstverständlich ist die Au~schmückung bei "Aschenputtel" eine<br />

andere als bei "<strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong>". Man denke nur an "Reicher Mann",<br />

"Tanzschuhe", "Linsen lesen". Sie muß auch so sein, lebte doch dieses<br />

Märchen (als es aufgezeichnet wurde) in einer europäischen, deutschen,<br />

hessischen Umwelt. Das Semai-Märchen ist demgegenüber mit "Urwald",<br />

"Hütten", "Dschungelfrüchten" und "Palmen" ausstaffiert. Gegenstände<br />

aus der Lebenswelt der Orang Asli.<br />

Betrachten wir jedoch das Grundgerüst beider Geschichten<br />

miteinander, so erscheinen sie fast identisch: Ausgangssituation<br />

(Geschwisterrivalität), Weg des Helden (Überwinden des Bösen) und<br />

Lösung (Heirat). Derselbe Archetyp.<br />

Lediglich der Schluß von Ni<strong>bong</strong> erschien mir, als ich mit diesem<br />

Märchen vertraut wurde, etwas merkwürdig. Muß die Mutter des jüngsten<br />

Bruders wirklich so hart bestraft werden. Nun gut, sie hat das Geheimnis<br />

ausgeplaudert, wenn auch unbeabsichtigt - aber dafiir gleich ein Leben


lang Affe sein? Mein Gerechtigkeitsempfinden meldete sich zu Wort. Also<br />

teilte ich meine Bedenken dem Semai-Märchenerzähler mit. Doch dieser<br />

schaute mich betreten, vielleicht ein wenig entrüstet an und meinte: "Was<br />

soll die Frage? Das ist einfach so! Und so ist es richtig. Diese Geschichte<br />

wird schon seit ewigen Zeiten so erzählt!"<br />

Ich vermied es von da an, weitere Fragen dieser Art zu stellen.<br />

Wahrscheinlich war diese schon zuviel. Märchen sind sicherlich nicht<br />

primär dazu da, allzu kritisch hinterfragt zu werden; sie sprechen , wie<br />

bereits zu Anfang gesagt, das Unbewußte an - und damit soll es sein<br />

Bewenden haben. Hätten nicht auch die Gebrüder Grimm ihrem<br />

Geschichtenerzähler ähnliche "intelligente" Fragen stellen können, wie<br />

z.B.: Warum verhält sich Aschenputtels Vater eigentlich so passiv?<br />

Der wohl bessere Weg: Hören wir dem Märchenerzähler andächtig<br />

zu und erfreuen uns seiner Geschichte!<br />

AlbertHof/mann


Akau(Roslan bin Malek)<br />

Drang Asli(Ureinwohner Malaysias), vom Stamm der Semai.<br />

Dorf: Pos Buntu, Pahang<br />

Dieses Bild werde ich nie vergessen: Ich wanderte mit meiner Familie in<br />

den Cameron Highlands, als urplötzlich ein jüngerer Mann aus dem<br />

dichten Dschungel trat, stehenblieb und uns anstarrte. Keine Frage, er war<br />

ein Ureinwohner Malaysias, ein Orang Asli. In der Hand hielt er eine<br />

Steinschleuder. Vielleicht mögen wir noch überraschter ausgesehen haben,<br />

als er uns mit ein paar englischen Worten ansprach. Doch schnell war der


Bann gebrochen; in radebrechendem Englisch kamen wir uns näher. Als er<br />

unser großes Interesse für sein Volk wahrnahm, führte er uns vor, wie er<br />

mit seiner einfachen Gummischleuder Vögel vom Himmel herunterholen<br />

konnte. Er brauche sie, wie er uns erklärte, für eine schmackvolle<br />

Vogelsuppe. Und einige Vögel hatte er bereits in seiner Umhängetasche.<br />

Von dieser ersten Begegnung an entwickelte sich unsere Beziehung<br />

beständig fort. Gegenseitige Besuche und eine Vielzahl von Gesprächen<br />

folgten, nicht wenige davon mit Hilfe von Freunden in Malaiisch.<br />

Akau besuchte nie in seinem Leben eine Schule, dennoch kann er<br />

lesen und schreiben. Sein Vater lehrte es ihm. Er spricht neben der Semai­<br />

Sprache zwei weitere Orang Asli Dialekte. Auch in Bahasa Malaysia ist er<br />

sehr gewandt. Und etwas Englisch hat er von einem englischen Arzt<br />

gelernt, der vor Jahren in seinem DorfDienst tat.<br />

Außerdem ist Akau ein solider Kenner von alten Geschichten, die in<br />

seinem Stamm von Generation zu Generation weitergegeben werden.<br />

Obwohl erst 30 Jahre alt, ruft er einige Male im Jahr das ganze Dorf<br />

zusammen, um u.a. die Geschichten seiner Groß- und Urgroßmutter zum<br />

besten zu geben.<br />

Im Semai-Dorf Pos Buntu, im Dschungel Pahangs, vollzieht sich<br />

eine derartige Unternehmung nach einem bestimmten Ritus, der peinlichst<br />

genau eingehalten wird:<br />

Zunächst muß Akau die Genehmigung hierfür vom Dorfvorsteher<br />

(Tok batim) erbitten. Hierbei läßt dieser sich die geplante Geschichte(n)<br />

alleine erzählen. Er berät und korrigiert hier und da, achtet auf


Empfindlichkeiten der Tradition und gibt Tips fiir die Kunst des Vortrags.<br />

Ist die Erlaubnis erteilt, so macht sich der Erzähler auf die Suche nach<br />

Zuhörern. Jeder, der die Geschichte(n) hören will, hat 'einen Obulus zu<br />

entrichten, deren Höhe er jedoch selbst festsetzen darf. Erst wenn der<br />

Erzähler auf diese Weise 50 Ringgit gesammelt hat, kann der<br />

Geschichtenabend auch stattfinden. Für dieses Geld kauft der Erzähler<br />

zusammen mit dem Tok batim im Dorfladen Getränke und Nüsse. Sie<br />

werden den Zuhörern (kostenlos) angeboten. Grundsätzlich wird im Haus<br />

des Tok batim erzählt. Erzähler wie Zuhörer sitzen auf dem Boden. Die<br />

Tageszeit hierfiir ist immer die einbrechende Nacht. Würde ein Erzähler es<br />

wagen, seine Geschichte bei Tageslicht vorzustellen, müßte er mit<br />

Verwünschungen seitens des Tok batim rechnen, der gleichzeitig auch der<br />

Halak(Medizinmann, Zauberer) im Dorfe ist. Und diese Verwünschungen<br />

würden als eigenartige, nicht heilende Krankheiten in Erscheinung treten.<br />

Der Geschichtenerzähler formt seine Sätze in der Art, wie es immer<br />

gemacht worden ist. Wehe ihm, wenn er vom überlieferten Text<br />

abweichen würde oder auch nur eine Sentenz vergäße. Der Kenner der<br />

Geschichte unter seinen Zuhörern würde von ihm Strafgeld einfordern.<br />

Auf diese Weise bleiben die Semai-Geschichten wohl jahrhundertelang<br />

unverändert.<br />

Nicht alle Geschichten, die Akau vorträgt, stammen aus dem uralten<br />

Erzählschatz des Dorfes Pos Buntu. Er geht auch in benachbarte Semai­<br />

Dörfer und hört den dortigen Erzählern zu; so kann er sein Repertoire


erweitern. Im Gegenzug gibt er dort Geschichten semes Dorfes zum<br />

besten.<br />

Wenn die Zuhörer müde werden, bricht der Erzähler ab und bittet<br />

sie, am nächsten Abend wieder zu kommen. So gibt es Geschichten, die<br />

sich grundsätzlich über mehrere Abende erstrecken.<br />

"Welche Geschichten hören die Leute von Pos Buntu am liebsten?"<br />

fragte ich ihn. "Ich glaube, am meisten lieben sie Tiger-Geschichten, auch<br />

wenn ihnen hierbei der Schauder über den Rücken läuft und sie deutlich<br />

enger aneinandeITÜcken. Aber sie hören auch ganz gerne Geschichten, die<br />

von Liebe und Freundschaft handeln."<br />

Bisweilen greift der Geist von Geschichten in die Alltagswelt der<br />

Semai über. So bei "<strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong>": Nach Semai-Glauben soll man<br />

keinesfalls ausgiebig an die <strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong> denken, wenn man das<br />

(eßbare) Innere des Stammes der Ni<strong>bong</strong>-Palme zu sich nimmt. Die<br />

<strong>Prinzessin</strong> könnte sich herausgefordert fuhlen und Verwünschungen<br />

ausstoßen, was zu Krankheiten oder sogar zum Tod fuhren könnte.<br />

Akau hat mir liebenswerterweise schon eine ganze Reihe von Semai­<br />

Geschichten auf Tonband gesprochen, wiewohl er hiervon nicht ganz<br />

begeistert ist. Er fuhlt sich beim Anblick der "Maschine" gehemmt. Nicht<br />

zuletzt furchtet er, könnte er durch diese künstliche Situation so verwirrt<br />

werden und Fehler machen. Das wäre das Schlimmste fur ihn. Doch ich<br />

konnte ihn in dieser Hinsicht beruhigen. Gemeinsam sprechen wir<br />

später,d.h. wenn die Geschichte aufgeschrieben ist, den Inhalt durch und<br />

korrigieren mögliche Fehler. Im übrigen muß Akau auch fur diese Sache


die Erlaubnis des Dorfvorstehers haben. Für "<strong>Prinzessin</strong> Ni<strong>bong</strong>" liegt sie<br />

ebenso vor.<br />

Akau lebt in einem Dschungelhaus, das er sich selbst gebaut hat. Das<br />

Material hierfiir hat er ohne fremde Hilfe aus dem Dschungel gezogen,<br />

bearbeitet und zusammengesetzt. Alle zwei Jahre muß er seine Hütte<br />

erneuern. Er ist vor allem Jäger. Mit zwei, drei Dorfbewohnern zusammen<br />

jagt er Wildschweine, Affen, Dschungelratten und Rehwild.<br />

Wildschweine, soweit sie nicht zum Eigenverzehr bestimmt sind, werden<br />

verkauft. Der Markt hierfür ist nicht schlecht. Außerdem bekommt er<br />

seinen Anteil von dem Früchteverkauf von einhundert Durianbäumen, die<br />

seinem Vater gehören.<br />

Akau findet das Leben, so wie er es führt, im allgemeinen herrlich.<br />

Nie möchte er in der Stadt wohnen, so sagt er.<br />

Albert Hof/mann

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