kompletten Artikel - John+Bamberg
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1/2013<br />
1/2013 20. Jahrgang € 5,00<br />
B 59368<br />
Frühjahr 2013<br />
Alles, was uns bewegt!<br />
HANDICAP<br />
HANDICAP<br />
Das Magazin für Lebensqualität<br />
Berufungen<br />
Extremsportler,<br />
Politiker,<br />
Bauunternehmer<br />
Mobil im Rolli<br />
Tipps und Tricks<br />
für zu Hause<br />
Rollstuhltests<br />
Küschall Advance,<br />
Ottobock Ventus<br />
Sitz-Segways<br />
Flotte Flitzer<br />
im Fokus<br />
Rechtstipps<br />
Therapieräder,<br />
Mieterrechte<br />
Mit Volldampf in den Frühling<br />
Versorgungsnetzwerke<br />
für Kinder und Jugendliche
100<br />
Gesundheit & Rehabilitation / Orthopädie-Technik / Versorgungszentren<br />
<strong>John+Bamberg</strong> im Annastift in Hannover:<br />
Nachhaltigkeit<br />
von Anfang an<br />
In den heutigen, von Flexibilität und Wechsel, von Kostendruck<br />
und Standardversorgungen geprägten Zeiten, ist Nachhaltigkeit<br />
eher Mangelware. Wie fruchtbar und innovativ die kontinuierliche<br />
Zusammenarbeit interdisziplinärer Expertenteams aber<br />
gerade für behinderte Menschen, zumal Kinder, sein kann,<br />
verdeutlicht das orthopädietechnische Zentrum <strong>John+Bamberg</strong><br />
im traditionsreichen Annastift, der heutigen orthopädischen<br />
Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover.<br />
„<br />
Schau mal! Da drin schlaf ich! Hübsch<br />
nicht? Die Sterne hab ich selber ausgesucht,<br />
passen nachts besser als<br />
Herzchen oder Schmetterlinge. Samstags<br />
hab ich frei, da schlaf ich ohne, und wenn ich<br />
bei Oma und Opa bin auch – die besuch ich<br />
gerne!“ Es dauert keine zwei Minuten, bis<br />
die quirlige Jana aufgetaut ist, bereitwillig<br />
und offen Auskunft gibt und mir ihre Nachtlagerungsschiene,<br />
die Unterschenkelorthesen<br />
und ihre Gehorthese zeigt. Die 7-Jährige<br />
Familie Bozek: Jana ist mit Unterschenkelorthesen,<br />
Rolli, Gehorthese und<br />
Nachtlagerungsschiene ausgestattet<br />
ist heute mit ihren Eltern Britta und Ingo Bozek aus Bremen nach<br />
Hannover gekommen. Jana hat Spina bifida mit einer Läsionshöhe von<br />
L3/L4. Sie ist ein richtiger Profi im Zusammenhang mit ihrem Handicap,<br />
bereits im Alter von zwei Monaten bekam sie ihre ersten Orthesen, um<br />
Sichelfüßen vorzubeugen. 2006 erhielt sie ihre erste reziproke Gehorthese,<br />
kurz RGO, mit der sie zunächst stehen lernte und im Alter von<br />
zwei Jahren auch am Rollator zu gehen begann.<br />
„Es ist entscheidend, dass Kinder mit Spina bifida oder Cerebralparesen<br />
von Anfang an medizinisch und orthopädietechnisch gut versorgt und<br />
betreut werden, damit Folgeschäden vermieden werden können“, betont<br />
Dr. Stephan Martin, Oberarzt an der Orthopädischen Klinik der Medizinischen<br />
Hochschule Hannover (MHH) im Annastift. „Behinderte Kinder<br />
entwicklungsgerecht und damit frühzeitig auf die Beine zu stellen, ist<br />
historisch innerhalb des Fachs der Orthopädie noch gar nicht so lange<br />
richtungsweisend. Um der Entwicklung der Muskulatur, der Sehnen und<br />
vor allem des Knochenbaus die richtigen Impulse geben zu können, ist<br />
das Stehen und Gehen besonders wichtig“, erklärt der Sektionsleiter des<br />
Departments Kinderorthopädie und Neuroorthopädie an der MHH.<br />
Körperbehinderte Kinder im Mittelpunkt<br />
1989 fing Dr. Stephan Martin hier als junger Orthopäde an, seit 1993<br />
arbeitet er schwerpunktmäßig im Kinderbereich und hat die zu dem Zeitpunkt<br />
neu eingerichtete Ambulanz für Kinder mit Behinderungen mit<br />
begründet. Seitdem wurde der Bereich Kinderorthopädie und Neuroorthopädie<br />
immer weiter institutionalisiert. Der 51-jährige Mediziner hat<br />
gerade die Betreuung und Versorgung von Kindern mit Spina bifida<br />
und Cerebralparesen weiter vorangetrieben und mit den dazugehörigen<br />
Disziplinen vernetzt. Sprechstunden mit Orthopädietechnikern, Orthopäden,<br />
Neuroorthopäden, Physiotherapeuten und Chirurgen werden für<br />
HANDICAP 1/2013
den gesamten Bereich der Kinderorthopädie durchgeführt. So arbeitet<br />
Dr. Stephan Martin eng mit Reinhard Kaumkötter zusammen, Bufa-<br />
Meister und Leiter der Orthopädietechnik bei <strong>John+Bamberg</strong>. Wie Martin<br />
hat auch Kaumkötter 1989 im Annastift mit seiner Tätigkeit begonnen.<br />
Zunächst noch als junger Geselle, der nach seiner Meisterprüfung<br />
bereits 1995 zu einem der vier Gesellschafter und zum Mitglied der<br />
Geschäftsführung von <strong>John+Bamberg</strong> aufstieg.<br />
Der enge Kontakt zwischen Reinhard Kaumkötter und Dr. Stephan<br />
Martin hat sich früh entwickelt in dem beiderseitigen Bestreben, den<br />
Kleinsten mit körperlichen Behinderungen die traditionell im Annastift<br />
festgeschriebene Versorgung zu<br />
erbringen und weiter voranzutreiben.<br />
Das Annastift wurde<br />
1897 von Anna von Borries als<br />
Ort zum Leben, Lernen, Arbeiten<br />
und zur medizinischen Versorgung<br />
für Menschen mit Behinderungen<br />
geschaffen. Seit dieser<br />
Zeit wurden hier allen politischen,<br />
wirtschaftlichen und<br />
gesellschaftlichen Umbrüchen<br />
zum Trotz körperbehinderte Kinder<br />
betreut und medizinisch versorgt.<br />
So, wie beide heute die Hilfsmittel von Jana überprüfen, gehen<br />
der Mediziner und der Techniker mit ihren Teams alle Versorgungen<br />
gemeinsam an: im Rahmen der interdisziplinären Sprechstunde, beim<br />
Begutachten der halb fertigen Produkte während der Zwischenanprobe,<br />
bei der Überprüfung, ob das Hilfsmittel noch passt, oder bei der Suche<br />
nach der Ursache für eine Druckstelle.<br />
Alles im Blick: Reinhard Kaumkötter (links)<br />
und Dr. Stephan Martin kontrollieren<br />
den Sitz der Gehorthese bei der quirligen<br />
Siebenjährigen<br />
Die 7-jährige Jana geht auf die Regelschule<br />
und hat das Schwimmabzeichen in Gold<br />
„Am liebsten mag ich krabbeln, die Gehorthese mag ich nicht so“, sagt<br />
Jana, die außerhalb des häuslichen Bereichs alles mit ihrem Rolli macht<br />
und dabei ihre Unterschenkelorthesen trägt, die Achsfehlstellungen und<br />
Klumpfußbildungen vorbeugen. Mit ihnen kann sie auch stehen, wenn<br />
HANDICAP 1/2013
102<br />
Gesundheit & Rehabilitation / Orthopädie-Technik / Versorgungszentren<br />
Feinabstimmung:<br />
Orthopädietechnikermeister<br />
Jens Zerth<br />
justiert noch die<br />
letzten Schrauben,<br />
bevor Jana mit ihrer<br />
reziproken<br />
Gehorthese läuft<br />
sie sich irgendwo festhalten<br />
kann. „Aber Hausaufgabenzeit<br />
ist Schienenzeit!<br />
Das erledigt Jana immer in<br />
der Gehorthese und steht<br />
dabei am Pult“, sagt Britta<br />
Bozek. Auch Kuchen und<br />
Kekse backen nennt sie in<br />
diesem Sinne „Therapie“.<br />
„Da darf ich nur mitmachen,<br />
wenn ich die anhab“,<br />
weiß das Mädchen. Ihr<br />
liebstes Fortbewegungsmittel<br />
ist ihr Rolli von 4ma<br />
3ma aus Dortmund, um<br />
den ihre Eltern ein halbes<br />
Jahr mit der Krankenkasse<br />
kämpfen mussten. Erst ein Vierteljahr nach der<br />
Einschulung stand Jana der passende Rolli dann<br />
zur Verfügung. Sie geht auf eine Regelschule, die<br />
einen Treppenlift eingebaut und einen separaten<br />
Raum fürs Kathetern mit Hilfe einer persönlichen<br />
Assistentin für Jana eingerichtet hat.<br />
„Die Schule war ein großer Einschnitt für uns alle“, sagt Ingo<br />
Bozek. „Jana hat eine tolle Klassenlehrerin und eine Sportlehrerin,<br />
die die Spiele einfach umstrukturiert, damit sie mitmachen<br />
kann. Wenn sie mit ihren Freundinnen auf dem Schulhof<br />
spielt, ist ihre Assistentin immer in Sichtweite.“ Schon bald<br />
nach der Geburt ihres behinderten Kindes schlossen sich Britta<br />
und Ingo Bozek der Bremer Ortsgruppe der Arbeitsgemeinschaft<br />
Spina bifida und Hydrocephallus e.V. (ASBH) an. Das war<br />
für die Familie sehr wichtig. Den ersten Rolli bekam Jana mit<br />
drei Jahren. Sie hat ihn sich selbst ausgesucht und sich sofort<br />
wohl gefühlt, weil sie mit ihm ihren Bewegungs- und Mobilitätsdrang<br />
ausleben konnte. „Wir haben ihr den Rolli aber auch<br />
immer als positive Option verkauft. Da treffen wir schon auf<br />
Eltern, die mehr Probleme damit haben, dass ihr Kind den Rolli<br />
nutzen will“, erzählt Britta Bozek. Die Eltern fördern und fordern<br />
ihre Tochter, jeden Donnerstag gibt es zum Beispiel<br />
Talentiert: Mit ihren sieben<br />
Jahren hat Jana<br />
schon das Schwimmabzeichen<br />
in Gold<br />
Rollisport mit Bewegungs-<br />
und Ballspielen.<br />
Die Sportgruppe<br />
leitet Britta Bozek<br />
selbst. Das Kräftemessen mit ähnlich behinderten<br />
Kindern ist für Jana ebenso wichtig wie die Treffen<br />
der ASBH-Gruppe, wo auch gemeinsame Unternehmungen<br />
und Spaß im Vordergrund stehen und nicht<br />
nur über Behinderung geredet wird.<br />
Jana ist so fit, dass sie mit dem Rolli alleine einen<br />
Berg hinauf fährt. Zur Schule kommt sie selbstständig<br />
mit dem Bus. Mit sieben Jahren hat Jana schon<br />
das Schwimmabzeichen in Gold: „Weißt Du, was ich<br />
da machen musste? Eine Bahn Kraul, zwei Bahnen<br />
Rücken, 24 Bahnen Brust, eine Bahn abschleppen,<br />
15 Meter tauchen und dann noch Ringe hochholen!<br />
Das kann ich alles schon richtig gut!“<br />
Da es in Bremen keine spezialisierte Versorgung von<br />
Kindern mit Spina bifida gibt, arbeitet das Krankenhaus<br />
in Bremen eng mit dem Annastift zusammen, so<br />
dass Jana frühzeitig in Hannover mit betreut wurde.<br />
Zu Hause ist für Jana einmal in der Woche Physiotherapie<br />
nach Bobath angesagt, morgens und abends<br />
werden die Gelenke von ihren Eltern gedehnt. Der<br />
behinderungsbedingte Mehraufwand, den ihre Eltern<br />
leisten, ist seit langem ein Fulltimejob. Dennoch<br />
wurde ihnen die zuvor immer umkämpfte Pflegestufe<br />
erst 2012 ohne Einspruch gewährt. Britta und Ingo<br />
Bozek arbeiten gemeinsam in demselben Büro als<br />
Bauzeichner, Britta halbtags. „Unser Arbeitgeber ist<br />
sehr zuvorkommend und gibt uns die nötigen Freiräume,<br />
ohne die Arbeit und Familienleben mit behindertem<br />
Kind nicht vereinbar wären“, lobt Britta Bozek.<br />
Nach der Mittagspause im Annastift nutzen wir das<br />
schöne Wetter aus und machen einen Spaziergang<br />
durch den angrenzenden Park mit in der Sonne<br />
glitzerndem See. Orthopädietechniker Jens<br />
Zerth, der Janas Orthesen baut, ist mit von der<br />
Partie und assistiert ihr beim spielerischen<br />
Steinewerfen ins Wasser – auch ein Zeichen für<br />
den nachhaltigen Umgang mit den kleinen<br />
Patienten bei <strong>John+Bamberg</strong>.<br />
Kraftvoll: Jana beim spielerischen Steinewerfen<br />
mit Jens Zerth; mit dem Rolli meistert sie auch<br />
ansteigendes Gelände selbstständig und souverän<br />
HANDICAP 1/2013
Gesundheit & Rehabilitation / Orthopädie-Technik / Versorgungszentren<br />
103<br />
Mediziner und Orthopädietechniker<br />
arbeiten Hand in Hand<br />
„Wir sehen die Kinder heute wesentlich früher als noch<br />
vor zehn Jahren. Das ist eine sehr positive Entwicklung,<br />
die über lange Zeit eingeleitet werden musste“, berichtet<br />
Reinhard Kaumkötter. „Sehr schwer betroffene<br />
Cerebralparetiker kommen spätestens mit eineinhalb<br />
Jahren zu uns. In der Regel sehen wir die Kinder dann<br />
mindestens zwei Mal im Jahr zur Kontrolle.“ Zwischen<br />
Orthopädietechniker und Arzt hat sich in der jahrzehntelangen<br />
gemeinsamen Tätigkeit ein konstruktiver und<br />
kritischer Dialog auf Augenhöhe etabliert. „Ein Zahnarzt<br />
ist schließlich auch nichts ohne seine Zahntechniker“,<br />
zieht Dr. Martin einen treffenden Vergleich.<br />
„<strong>John+Bamberg</strong> ist handwerklich sehr gut aufgestellt,<br />
aber es kann auch nicht immer alles beim ersten Mal<br />
klappen.“ Und so geben beide Seiten ihren Input: „Der<br />
Orthopädietechniker sagt mir, wenn eine ärztliche<br />
Verordnung in der Praxis nicht sinnvoll ist, und ich lege<br />
den Finger in die Wunde, wenn ein angefertigtes<br />
Hilfsmittel noch nicht richtig passt.“ Wenn Hilfsmittel<br />
von den Krankenkassen abgelehnt werden, die<br />
Reinhard Kaumkötter und seine Orthopädietechniker<br />
für wichtig halten, bittet <strong>John+Bamberg</strong> die Ärzte<br />
hinzu, um die Kostenübernahme dennoch zu erreichen.<br />
Wirtschaftliche Zwänge seien natürlich gegeben.<br />
„Aber gut vorbereitet, mit einem stimmigen Konzept<br />
und gewissenhafter Dokumentation kann man die<br />
für die Patienten notwendige Versorgung auch durchsetzen“,<br />
sagt Reinhard Kaumkötter.<br />
Traditionsreich: Das Annastift wurde<br />
1897 geschaffen; der Eingang zu<br />
<strong>John+Bamberg</strong> befindet sich in einem<br />
neueren Trakt<br />
Dr. Martin führt zusammen mit<br />
einem Orthopädietechniker auch<br />
Visiten in Behindertenheimen<br />
und Wohngruppen durch. Die<br />
Erfahrungen sind gut, denn so können sie sich gleich gemeinsam<br />
mit den betreuenden Kinderärzten, Pflegekräften, Erziehern,<br />
Physio- und Ergotherapeuten ein Bild machen und<br />
entscheiden, ob jemand beispielsweise in einem Stehständer<br />
stehen kann oder nicht – und die Versorgung dementsprechend<br />
gleich einleiten. Eine enge Zusammenarbeit besteht auch<br />
mit Sozialpädiatrischen Zentren; interdisziplinäre Sprechstunden<br />
werden etwa in den SPZs in Hannover, Wolfsburg, Oldenburg,<br />
Bremen und Hamburg durchgeführt. Weiterbildung<br />
wird im Annastift ebenso wie bei <strong>John+Bamberg</strong> seit jeher<br />
groß geschrieben: So wurde 2012 beispielsweise wieder ein<br />
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Gesundheit & Rehabilitation / Orthopädie-Technik / Versorgungszentren<br />
104<br />
Handwerkskunst: Bei <strong>John+Bamberg</strong> wird die ganze Bandbreite der Orthopädietechnik,<br />
der Orthopädieschuhtechnik und der Reha-Technik angeboten<br />
dreitägiger Kurs unter der Leitung des „Orthesengurus“ Prof.<br />
Dr. Adriano Ferrari durchgeführt, nach dessen Konzepten die<br />
heutige orthetische Versorgung von Kindern in Hannover durchgeführt<br />
wird. Seit 2007 veranstaltet <strong>John+Bamberg</strong> eine kostenfreie<br />
Seminarreihe, die interdisziplinär und praxisorientiert<br />
aufgebaut ist und kinderorthopädische und neuroorthopädische<br />
Themen unter Beteiligung von Ärzten, Physiotherapeuten<br />
und Orthopädietechnikern bietet.<br />
Ambulante und stationäre Orthesenversorgungen<br />
im Annastift<br />
Das Annastift ist ein diakonisches Krankenhaus im Auftrag der<br />
MHH und in verschiedene Departments unterteilt. Die ambulante<br />
Versorgung der Kinder ist über die Institutsambulanz für<br />
Kinder- und Neuroorthopädie organisiert. In diesem Department<br />
werden etwa 3.000 Kinder pro Quartal betreut und versorgt,<br />
darunter Indikationen wie Klumpfüße, Skoliosen, Amputationen<br />
und Dysmelien. Im neuroorthopädischen Bereich<br />
gehören neben vielen Kindern mit Spina bifida und spastischen<br />
Lähmungen, von der leichten Hemiparese bis zur schwersten<br />
Laufgarten im Innenhof: Für Prothesenträger<br />
wie Silke Meyer bietet<br />
der Gehparcours Herausforderungen<br />
verschiedenster Art<br />
Mehrfachbehinderung, auch Muskeldystrophiker<br />
und Querschnittgelähmte<br />
zu den kleinen Patienten, die<br />
aus dem gesamten norddeutschen<br />
Raum nach Hannover kommen.<br />
26 Betten stehen der Kinderorthopädie für<br />
den stationären Aufenthalt zur Verfügung.<br />
Orthesenversorgungen werden häufig im<br />
Zusammenhang mit Operationen durchgeführt.<br />
„Wir kommen oft nicht weiter mit der<br />
Orthesenversorgung, wenn etwa keine Sehnenverlängerung<br />
durchgeführt wird“, erklärt<br />
Reinhard Kaumkötter. Vorteilhaft an einem<br />
stationären Aufenthalt sei zudem, dass die<br />
Akzeptanz, das Hilfsmittel im Alltag tatsächlich<br />
auch zu tragen, bei den Kindern erhöht<br />
werden könne. „Die Physiotherapeuten leisten<br />
hier wichtige Motivationsarbeit.“ Aber auch die<br />
technische Entwicklung hat zu deutlich mehr Akzeptanz<br />
beigetragen. Die dynamischen Nancy-Hilton-<br />
Orthesen sowie leichte und flexible Kunststoff- und<br />
Karbonmaterialien waren in diesem Zusammenhang<br />
sicher Meilensteine“, sagt Reinhard Kaumkötter.<br />
Durch eine funktionelle Orthesenversorgung im Kindesalter<br />
sei es für viele erwachsene Cerebralparetiker<br />
dann etwa möglich, allein mit maßgefertigten orthopädischen<br />
Schuhen auszukommen, auf die man sich<br />
bei <strong>John+Bamberg</strong> spezialisiert hat.<br />
Bewegungsanalyse und Know-how<br />
in der technischen Orthopädie<br />
Das Unternehmen beschäftigt 134 Mitarbeiter und ist<br />
seit 39 Jahren im Annastift tätig, daneben gibt es drei<br />
weitere Sanitätshäuser in Hannover und Hameln. Das<br />
Tätigkeitsfeld ist umfassend und reicht von der Prothetik<br />
und Orthetik für alle Gliedmaßen über die<br />
Orthopädieschuhtechnik bis zur Rehatechnik und<br />
zum Reha-Sonderbau.<br />
2008 hat <strong>John+Bamberg</strong> die Außenanlagen komplett<br />
neu gestaltet und den Innenhof zu einem großen Laufgarten<br />
umgeformt, wo vor allem Prothesenträger das<br />
Gehen üben können. Mit unterschiedlich beschaffenen<br />
Untergründen, Treppen und<br />
Rampen bietet der Gehparcours viele<br />
Trainingsbereiche, um alltägliche<br />
Herausforderungen zu meistern. Ein<br />
hochmodernes Ganglabor, OrthoGo,<br />
in dem die Bewegungen instrumentell<br />
mit Kraftmessplatten und Highspeed-Kameras<br />
analysiert werden<br />
können, steht ebenfalls im Annastift<br />
zur Verfügung. Als Institut für orthopädische<br />
Bewegungsdiagnostik der<br />
MHH bietet „OrthoGo“ die Möglich-<br />
HANDICAP 1/2013
OrthoGo: Im Annastift ist auch das Institut für orthopädische Bewegungsdiagnostik<br />
angesiedelt, das durch modernste Messtechniken besonders die<br />
beinprothetische Versorgung objektiv erfassen kann und sie optimieren hilft<br />
keit, Versorgungen und klinische Ergebnisse objektiv zu erfassen und<br />
sowohl qualitativ wie quantitativ aufzuarbeiten und zu dokumentieren.<br />
Einen Schwerpunkt bildet dabei die Nutzung der Messtechnik für<br />
die individuelle Versorgung von ober- und unterschenkelamputierten<br />
Menschen. So lässt sich der Aufbau einer Prothese auch unter dynamischen<br />
Bedingungen beurteilen. Im Rahmen von Gutachten können die<br />
Gebrauchsvorteile von modernen Prothesensystemen wie dem Genium<br />
oder von speziellen Orthesenversorgungen bei Hemiparesen dokumentiert<br />
werden. Der Biomechaniker Dr. Frank Seehaus leitet das Bewegungsanalysezentrum,<br />
das interdisziplinär etwa mit der Techniker Krankenkasse<br />
und Professor Kraft von der TU Berlin zusammenarbeitet.<br />
Das Problem, dass es immer weniger Ärzte gibt, die sich mit der technischen<br />
Orthopädie auseinandersetzen, ist bekannt. Umso mehr freut<br />
man sich bei <strong>John+Bamberg</strong>, dass mit Dr. Kiriakos Daniilidis nun ein<br />
kompetenter Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie im Annastift<br />
zur Verfügung steht, der als Leiter und Ansprechpartner der Sektion<br />
Technische Orthopädie die interdisziplinäre Expertise in der Prothetik<br />
beflügelt. Um auch die physiotherapeutische<br />
Perspektive stärker<br />
einzubeziehen, hat <strong>John+Bamberg</strong><br />
zwei Physiotherapeuten eingestellt,<br />
die für die Gehschulung und<br />
die Betreuung von Schlaganfallpatienten<br />
sowie Cerebralparetikern<br />
zuständig sind. Dieser Bereich soll<br />
weiter ausgebaut werden und mit<br />
Kassenzulassung in das Unternehmen<br />
integriert werden, da die<br />
Zusammenarbeit von Physiotherapie<br />
und Orthopädietechnik einen<br />
immer höheren Stellenwert hat,<br />
die Versorgung optimieren hilft und somit am Ende Kosten reduziert.<br />
Auch das Wissen der Betroffenen selbst findet Berücksichtigung:<br />
<strong>John+Bamberg</strong> hat vier Orthopädietechniker mit Handicap ausgebildet<br />
und übernommen, darunter ein Rollifahrer und drei Beinamputierte.<br />
Dafür hat das Unternehmen einen mit 5.000 Euro dotierten Förderpreis<br />
für Inklusion in der Wirtschaft erhalten, der selbstverständlich für einen<br />
gemeinnützigen Zweck gespendet wurde.<br />
HANDICAP 1/2013<br />
Gehen auf der schrägen Ebene: Silke Meyer<br />
und ihr Orthopädietechniker Rainer Neddermeier<br />
überprüfen die Einstellungen des Genium;<br />
die Alltagsprothese mit Silikon-Schaft und<br />
Harmony-System
Gesundheit & Rehabilitation / Orthopädie-Technik / Versorgungszentren<br />
106<br />
Vom Hobby zum Leistungssport: Silke Meyer<br />
ist Dressurreiterin und gehört dem Landeskader<br />
von Rheinland-Pfalz an<br />
Fotos: Natasha Zocher<br />
und nicht im Schaft. Silke Meyer reitet auch oft ohne<br />
Sattel, was gut für das Gleichgewichtstraining ist. Für<br />
ihre Alltagsprothese nutzt sie neben dem Genium<br />
einen Rahmenschaft mit Silikon-Innenschaft, den<br />
Seal-In-Liner und das Harmony-Unterdrucksystem.<br />
„Was am Genium genial ist, weiß ich gar nicht, ich<br />
finde es einfach nur gut. Ich trage viel, gehe einkaufen,<br />
schleppe Sättel, dabei muss ich auch auf<br />
unebenem und sandigem Gelände sicher stehen können,<br />
und das kann ich damit“, sagt Silke Meyer. Sie<br />
trägt bewusst keine kosmetische Verkleidung, weil<br />
sie offensiv mit ihrer Amputation umgehen möchte,<br />
die auch alle Menschen sehen dürfen.<br />
Mit Prothese fest im Sattel<br />
Silke Meyer ist seit 10 Jahren oberschenkelamputiert.<br />
Nach einer Knieinfektion<br />
bildete sich eine chronische Osteomyelitis,<br />
die eine Amputation erforderlich<br />
machte. Die 45-jährige Hannoveranerin<br />
ging von Anfang an aktiv mit ihrem Handicap<br />
um, rief noch im Krankenbett verschiedene Ärzte und<br />
Orthopädietechniker an, um Informationen einzuholen – und<br />
fand mit Rainer Neddermeier einen engagierten Techniker, der<br />
sie heute bei <strong>John+Bamberg</strong> betreut. „Die ersten zwei Jahre<br />
waren sehr bewegt durch zahlreiche Nachamputationen, so<br />
wurde vor allem viel an den Schäften gearbeitet“, berichtet<br />
Silke Meyer. Seit 2011 ist sie mit dem Genium von Ottobock<br />
Motivierend: Silke Meyer<br />
bringt Frischamputierten<br />
positiven Schub<br />
versorgt, geht jetzt auch längere Strecken und behält die Prothese<br />
von morgens bis nachts an. <strong>John+Bamberg</strong><br />
gehörte zu den bereits vor Markteinführung<br />
eingeladenen orthopädietechnischen Unternehmen,<br />
die Genium-Versorgungen durchgeführt<br />
haben. Die Prothesenversorgung von Silke<br />
Meyer wurde im Gehlabor analysiert und optimiert,<br />
um ein gutes Gangbild zu erreichen.<br />
Nach Silkes Amputation hat ihre Freundin sie<br />
für therapeutische Zwecke zum Reiten mitgenommen.<br />
Aus dem anfänglich neuen Hobby ist<br />
mittlerweile professioneller Leistungssport<br />
geworden: Silkes Disziplin ist jetzt das Dressur-Reiten, sie<br />
gehört dem Landeskader von Rheinland-Pfalz an und trainiert<br />
für die Paralympics 2016 in Brasilien. Für das Reiten benötigt<br />
sie eine spezielle Prothese, mit der sie zwar nur die kürzesten<br />
Strecken gehen kann, dafür aber bestens im Sattel sitzt. Der<br />
Außenschaft ist so abgekürzt, dass der flexible Innenschaft<br />
weit übersteht. Mit dem Tuber sitzt sie direkt auf dem Sattel<br />
Silke Meyer ist nett<br />
Silke Meyer ist ein rundum aktiver Mensch, hat einen<br />
Sohn, arbeitet im Familienbetrieb mit, nimmt anderen<br />
Menschen die Angst vor Pferden und sorgt auch für<br />
Aufklärung bei den Berufsgenossenschaften: „Mir<br />
ist wichtig, dass die Sachbearbeiter von Mensch zu<br />
Mensch über die Thematik der Amputation informiert<br />
und aufgeklärt werden, denn dadurch verschieben<br />
sich oftmals die Entscheidungsgrundlagen, wenn sie<br />
die Sicht der Amputierten mit einbeziehen können.“<br />
Silke Meyer motiviert vor allem auch Frischamputierte,<br />
indem sie in die Kliniken geht und ihnen einen<br />
positiven Schub vermittelt. „Ich will zeigen, dass eine<br />
Amputation zwar eine Änderung des Lebens bedeutet,<br />
aber dass man alles und noch viel mehr machen kann,<br />
nur eben ein wenig anders.“ Der Name ihrer Homepage<br />
sagt eigentlich alles: www.silkemeyerist.net.<br />
Text und Fotos: Gunther Belitz<br />
Auskünfte:<br />
<strong>John+Bamberg</strong> GmbH & Co. KG,<br />
Anna-von-Borries-Straße 2, 30625 Hannover,<br />
Tel.: 0511/53584-0, Fax: 0511/53584-549,<br />
E-Mail: info@john-bamberg.de,<br />
Internet: www.john-bamberg.de<br />
Orthopädische Klinik der Medizinischen<br />
Hochschule Hannover im Diakoniekrankenhaus<br />
Annastift, Anna-von Borries-Straße 1-7,<br />
30625 Hannover, Department<br />
Kinderorthopädie und Neuroorthopädie,<br />
Anmeldung Tel.: 0511/5354-305,<br />
E-Mail: kinder.dka@ddh-gruppe.de,<br />
Internet: www.annastift-departments.de<br />
ASBH Bremen im Internet: www.asbh-bremen.de;<br />
ASBH bundesweit: www.asbh.de<br />
HANDICAP 1/2013