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Journal

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Carnevale di Venezia<br />

Venedig im Karneval<br />

Sie fluchen vor Ungeduld, die Fotohandy-Besitzer und die<br />

Tagestouristen mit ihren Wegwerf-Kameras aus Pappe.<br />

Was für ein Motiv! Welche Gelegenheit! Maskenträger in<br />

den prachtvollsten Kostümen stehen plaudernd auf dem<br />

Markusplatz, vom Zufall zu einer losen Gruppe arrangiert,<br />

die den Umstehenden momentan leider den Rücken zeigt.<br />

Wenn sie sich doch nur umdrehen würden! Aber sie kümmern<br />

sich nicht um das Gedränge der Masse, die in groteskem<br />

Sprach-Kauderwelsch auf sie einredet. „Hallo! Allooooo!<br />

S’il vous plait! Posso? Posso??“ Umsonst alles Rufen.<br />

Was mögen sie wohl zu besprechen haben, diese exzentrischen<br />

Paradiesvögel? Ein paar neugierige Österreicher<br />

treten näher heran, lauschen gespannt auf die Stimmen,<br />

die dumpf aus den Augenlöchern der Masken klingen. Und<br />

weichen dann verblüfft zurück. „Das gibt’s doch nicht! Die<br />

sprechen ja Deutsch!“ Es sind also gar keine Venezianer,<br />

die sich den staunenden Blicken von Hunderttausenden<br />

präsentieren? Keine Italiener, die von der Commune di Venezia<br />

dafür bezahlt werden, stundenlang Schau zu laufen<br />

und für Fotografen zu posieren? Nein?<br />

So fragen sie häufig, die Touristen aus dem Tal der Ahnungslosen.<br />

Sie können es schier nicht fassen, dass der berühmte<br />

Karneval von<br />

Venedig kaum zentral organisiert<br />

ist, sondern vom<br />

Privat-Vergnügen ausländischer<br />

Verkleidungs-<br />

Fetischisten lebt. Es sind<br />

vorwiegend Deutsche<br />

und Franzosen, Schweizer,<br />

Österreicher und<br />

vereinzelt auch Italiener,<br />

die sich da in Szene<br />

setzen. Menschen, die<br />

verrückt genug sind,<br />

aufwendige Kostüme<br />

zu entwerfen und<br />

größtenteils selbst<br />

zu schneidern, die<br />

in mühsamer Hand-<br />

arbeit tausende<br />

von Perlen und Accessoires aufnähen.<br />

Die zum Teil weite Anreisen mit schwerem Gepäck in<br />

Kauf nehmen und eine Unterkunft in Venedig bezahlen, nur<br />

um sich beim stundenlangen Stillstehen in der empfindlich<br />

kalten Februar-Witterung der Lagune durchfrieren zu lassen.<br />

Viele von ihnen reisen seit Jahren zum Karneval nach<br />

Venedig und investieren viel Zeit und Mühe in ihr Hobby,<br />

dass mancher sich kopfschüttelnd fragt, ob sie nebenher<br />

(!) vielleicht auch noch berufstätig sein können – alles frei<br />

nach dem Motto : „Glaube nicht, dass es normale Menschen<br />

gibt. Suche dir die Verrückten, die zu dir passen!“<br />

Natürlich ist das Maskentreiben auch ein Wettbewerb<br />

der Eitelkeiten: Eine Jagd nach dem schönsten Kostüm,<br />

der kreativsten Idee, dem gelungensten Foto, der besten<br />

Pose. Von den Venezianern werden die Masken nicht<br />

gerade geliebt. Schließlich geschieht es ihretwegen, dass<br />

die Stadt im Winter von einer beispiellosen Tourismuswelle<br />

überschwemmt wird. So dicht wird das Gedränge<br />

kurz vor Faschingsdienstag, dass uniformierte Carabinieri<br />

die schmalen Gässchen zu Einbahnstraßen für Fußgänger<br />

machen, weil sonst nichts und niemand mehr ginge. Die<br />

Touristen lieben Venedig fast zu Tode. Dabei begrüßten<br />

die Einwohner es zunächst durchaus, als Künstler den Carnevale<br />

im Jahr 1980 wieder zum Leben erweckten. Das<br />

geschah nach einem rund 200 Jahre währenden Dornröschenschlaf.<br />

Denn nachdem der letzte Doge von Venedig<br />

1797 zurücktrat und die Franzosen in der Lagunenstadt<br />

einzogen, schaffte Napoleon den Carnevale kurzerhand<br />

ab. Zutiefst suspekt war ihm das Treiben der Masken, hinter<br />

denen sich eine niedere Herkunft ebenso gut verbergen<br />

ließ wie eine niedere Absicht. Das anonyme zweite<br />

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