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DETROIT. BART AB. - De:bug

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JAY HAZE //<br />

TONNENWEISE LIEBE //<br />

JETZT SINGT ER. DAS MACHT DEN MINIMALPRO-<br />

DUZENTEN AUS DEM TRAILERPARK MIT EINEM<br />

SCHLAG ZUM EMINEM DES TECHNO. AUF SEINEM<br />

ALBUM “LOVE FOR A STRANGE WORLD” LÄSST ER<br />

ALLES RAUS, WAS SEIT LANGEM IN IHM BRODELT.<br />

Das kleine rote Büchlein war für Jay Haze damals<br />

der einzige Halt. Er zog obdachlos durch die<br />

Straßen von San Francisco. Auf der Suche nach<br />

ein wenig Glück, dem kleinen Hoffnungsschimmer,<br />

angetrieben von den vielen Tiefen seines<br />

noch jungen Lebens. “Ich schrieb viele Gedanken<br />

und Erlebnisse auf, oft auch in Songstruktur - wie<br />

in ein Tagebuch.” Zu jener Zeit konnte Jay kaum<br />

ahnen, dass diese Fragmente einsamer Jahre<br />

der Existenzangst ihm später zu einem unsterblich<br />

schönen Album verhelfen würden.<br />

Nun erscheint “Love for a strange world”,<br />

das erste Vocal-Album von Jay Haze, und ist von<br />

der ersten Sekunde an eine klanggewordene<br />

Aufarbeitung, eine schmerzende musikalische<br />

Erinnerung. Ungewohnt feinfühlig zwischen<br />

der bewährten Minimal-Federführung und der<br />

brüchigen Bassline-Dominanz des Produzenten<br />

und Labelmachers Haze (Textone, Contexterrior,<br />

Tuningspork) und ungemein warm in seiner<br />

grundehrlichen Offenherzigkeit.<br />

<strong>De</strong>nn Jay hat alle Vocals selber eingesungen,<br />

hat das kleine rote Buch hervorgekramt, was er<br />

nur ungern tut und hat sich über zwei Jahre hinweg<br />

immer wieder ins Studio gesetzt, hat an den<br />

Verzweifl ungsschriften seiner jugendlichen Vergangenheit<br />

gefeilt und all das, was er längst hinter<br />

sich, hinter dem Atlantik gelassen hatte, einfach<br />

ausgesprochen. Das überrascht zunächst.<br />

Noch überraschender jedoch ist: Jay Haze zeigt<br />

damit Schwäche.<br />

WEIT OFFEN ...<br />

Nicht, dass er ein Schwächling wäre. Im Gegenteil:<br />

Seit Jahren herrscht er mit einem beeindruckenden<br />

Gespür für Glücksgriffe über<br />

sein mannigfaltiges Label-Imperium und ist von<br />

den exaltierten Dancefl oors Berlins längst nicht<br />

mehr wegzudenken. Nicht, dass Jay Haze wie ein<br />

Schwächling aussieht. Im Gegenteil: Er zwängt<br />

seine imposante Statur hinter den kleinen Cafétisch<br />

und sieht mit der obligatorischen Mütze auf<br />

dem Kopf unverschämt vital aus, dafür dass die<br />

Samstagnacht erst wenige Stunden zurückliegt.<br />

Die Schwäche, die Jay Haze auf “Love for a strange<br />

world” zeigt, ist, dass er ganz Persönliches<br />

nach außen lässt.<br />

“Ich brauchte ganz schön lange, um zu entdecken,<br />

dass tonnenweise Liebe in meinem Herzen<br />

lagert, dass ich das Leben liebe, auch wenn das<br />

Leben mich nicht liebt.” Ähnlich lange brauchte<br />

er, um seine Angst vor dem Gesang zu überwinden:<br />

“Ich hatte lange nicht genug Selbstvertrauen,<br />

meine Stimme zu präsentieren. Mittlerweile wollen<br />

total viele Leute meine Vocals für ihre Tracks!”<br />

Nun schwebt seine Stimme zwischen epischen<br />

Bassfl ächen, zerrt sich durch vertrackte Beatsackgassen<br />

und strahlt hell über all den Tracks,<br />

die von den “Troubles I’ve Seen” erzählen oder<br />

kämpferisch fordern: “Feel the pain”. Manchmal<br />

klingt es, als hätte Curtis Mayfi eld Lawrence<br />

geküsst und im nächsten Moment ist aus der<br />

nachdenklichen Monotonie optimistischer Cut-<br />

Up-HipHop geworden. Mal klickert und schwelgt<br />

pure Liebe, wie im softesten Monster-Hit diesen<br />

Jahres “I can love you” mit <strong>De</strong>:xter, mal wird aus<br />

dem ständig unruhigen Minimal-Soul eine verstörende<br />

Soundcollage. Markant ist vor allem der<br />

kantige Klang der Produktion, Jay ließ das Album<br />

auf Half-Inch-Tapes mastern.<br />

“Das ist ganz sicher die komplexeste Musik,<br />

die ich je gemacht habe”, sagt er und klopft sich<br />

zum wiederholten Male mit der Faust auf seinen<br />

Brustkasten: “Das ganze Album war ein Gefühl.<br />

Ich liebte es, weil es echt war, weil es von hier<br />

kam.” Eine Geste, die auch Eminem gut stehen<br />

würde. Jay selber ist es kurze Zeit später, der<br />

diese Parallele ausspricht: “Ich bin purer White<br />

Trash.” Was Eminem in “8 Mile” gemacht habe,<br />

das sei ihm nun mit “Love for a strange world”<br />

gelungen, nämlich diese unvorstellbare Enge des<br />

tiefsten US-Elends zu beschreiben, nachdem die<br />

Flucht von dort gelungen ist.<br />

... UND NICHT, WIE MAN DENKT<br />

Es wäre vielleicht nahe liegend, zu glauben,<br />

die “strange world”, die Jay Haze liebt, sei der Moment<br />

zwischen Rausch und Sonnenaufgang, der<br />

Berliner Wahnsinn eben. Dann würde Jay Haze<br />

aber nur seinen grundsätzlich skeptischen Blick<br />

senken und erzählen. Von dem kleinen Dorf mit<br />

den großen Bergminen in Pennsylvania, wo das<br />

gefährlich verseuchte Gelände einer chemischen<br />

Verarbeitungsanlage nur 300 Meter von seinem<br />

Elternhaus liegt. Viele im Dorf sind an Krebs erkrankt,<br />

auch seine Eltern. Seine Kindheit war<br />

geprägt von Alkohol, Misshandlungen, Armut.<br />

Freunde von Jay starben an Heroin oder nahmen<br />

sich das Leben. Er selbst machte sich mit sechzehn<br />

Jahren davon, außer der Leidenschaft für<br />

Dub und Bob Marley sowie dem Wunsch, einen<br />

Ort zu fi nden, an dem er “sein konnte, wie ich<br />

wollte”, nichts im Gepäck.<br />

“Musik war immer da. Als Kind habe ich mir<br />

zu den Talking Heads den Arsch abgetanzt, aber<br />

nach Tanzen war mir zu Hause längst nicht mehr<br />

zumute.” Es begann eine Odyssee kreuz und quer<br />

durch die USA. “Ich lebte auf der Straße, verkaufte<br />

Weed, um mein Leben zurückzubekommen.<br />

Ich raffte mich auf, jobbte, nur um dann in das<br />

nächste Loch zu fallen.” 1998 kehrte er in sein<br />

Heimatdorf zurück. Die Mutter wollte von ihrem<br />

Sohn zwar nichts mehr wissen, aber er half ihr im<br />

Kampf gegen die Metastasen. In der elterlichen<br />

Garage brachte er sich mithilfe eines Buches das<br />

Glasblasen bei und brachte so Konstanz in sein<br />

Leben.<br />

FUCKING HAPPY EUROPA<br />

Mit seiner Kunst machte er sich fortan einen<br />

Namen und begann gleichzeitig, in Philadelphia<br />

aufzulegen. Längst hatte er den charakteristischen<br />

Sound seiner Tuningspork-Posse geprägt,<br />

als er 2003 über den Umweg Amsterdam nach<br />

Berlin kam. Jay atmet durch: Gegenwart. “Berlin<br />

gibt mir ein Gefühl von Leichtigkeit, ich bin hier<br />

nicht mit allzu viel Bullshit konfrontiert, man lässt<br />

mich in Ruhe.” Aber so unbelastet, wie Jay Haze<br />

sich von Projekt zu Projekt zu stürzen scheint,<br />

ist er nicht. “Die Vergangenheit lässt mich einfach<br />

nicht los, ich habe keine guten Erinnerungen.<br />

An Schicksal glaube ich schon lange nicht mehr,<br />

T PATRICK BAUER, PATRICK@DE-BUG.DE<br />

F BROX+1<br />

denn was wäre sonst jeden Morgen meine Motivation<br />

aufzustehen?”<br />

Und so ist “Love for a strange World” das<br />

Werk eines oft Gestrauchelten, der die Welt eben<br />

doch liebt, obwohl sie ihm immer wieder gerne<br />

die Faust ins Gesicht schlägt. “Die Leute hier um<br />

mich herum achten aber nur auf meine Musik. Die<br />

können mich nicht verstehen, weil sie eben einen<br />

ganz anderen Background haben. Die können sich<br />

nicht vorstellen, dass nicht jeder in fucking happy<br />

Europa aufgewachsen ist!” Die permanente<br />

Oberfl ächlichkeit, die ihn umgibt, lässt Jay trotz<br />

aller Vorzüge zweifeln. Gute Freunde hat er nur<br />

wenige, Ricardo Villalobos, den er früh in New<br />

York kennen lernte und mit dem er auch musikalisch<br />

harmoniert, gehört dazu. “Aber das meiste<br />

ist eben nur Fassade und Attitüde. Elektronische<br />

Musik ist einfach nicht persönlich, es ist vor allem<br />

ein Produkt, die Hits sind nur Tools. Ich könnte<br />

auch schnell einen 909-Hit schreiben, ich könnte<br />

auch schnell so ein Farce-Album machen, wie<br />

es jetzt so viele tun. Aber ich will nicht nur an den<br />

Dancefl oor denken und ich kann nun mal auch etwas<br />

transportieren, weil da etwas da ist. Michael<br />

Mayer könnte das nicht.”<br />

Vielleicht beweist Jay Haze ja, dass nur<br />

der über Dreck schreiben kann, der mal auf die<br />

Schnauze fi el. Vielleicht ist er für die wohl behüteten<br />

Zuhörer der merkwürdige Gossenjunge, der<br />

uns mit seinen Schauertracks Gänsehaut macht.<br />

Jedenfalls tuschelt man, Jay Haze sei ein Freak.<br />

“Ich weiß, dass ich ein Freak bin”, sagt Jay, “aber<br />

ich mache nichts, um diesen Eindruck entstehen<br />

zu lassen. Mein Gehirn funktioniert einfach anders!”<br />

Und dann spricht er von der Welt, die verändert<br />

werden muss, vom Egoismus, vom Geiz,<br />

vom Kapitalismus. Er redet von der Tsunami-Charity-CD,<br />

die er initiierte, und irgendwann sind wir<br />

wieder in Pensylvannia, wo seine Schwester im<br />

Gefängnis und sein Bruder in der Entziehungsklinik<br />

sitzt: “Die wissen nicht mal, wo <strong>De</strong>utschland<br />

liegt ...”<br />

Jay Haze wirkt rastlos, er sagt: “Ich bin jetzt<br />

trotz allem zu 85 Prozent happy, aber ich werde<br />

nie aufhören, ein Aktivist zu sein, bis ich sterbe!<br />

Genauso wird meine musikalische Reise nicht<br />

hier enden, sie geht ständig weiter. Alles von mir<br />

muss existentiell neu klingen.” <strong>De</strong>shalb ist auch<br />

Berlin nur ein Kapitel von vielen, wenn vielleicht<br />

auch das bedeutendste. Aber so richtig sein Style<br />

seien diese up-tight <strong>De</strong>utschen eh nicht, sagt<br />

Jay, er könne ja nicht mal mit dem Fahrrad auf<br />

dem Gehweg fahren. Möglich, dass er dieses geregelte<br />

Leben gebraucht hat, um seine Projekte<br />

zu starten und nun die ersten 26 Jahre seines<br />

Lebens in tränentreibenster Weise auf einem Album<br />

zu komprimieren. Soweit die Vergangenheit.<br />

Mit dreißig sieht sich Jay Haze als Entwicklungshelfer<br />

in Afrika. Vorsichtshalber hat er sich schon<br />

mal ein neues Notizbuch gekauft. Es ist rot.<br />

JAY HAZE, LOVE FOR A STRANGE WORLD,<br />

IST AUF KITTY-YO ERSCHIENEN<br />

WWW.KITTY-YO.COM<br />

DARK SOUL<br />

5

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