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JAY HAZE //<br />
TONNENWEISE LIEBE //<br />
JETZT SINGT ER. DAS MACHT DEN MINIMALPRO-<br />
DUZENTEN AUS DEM TRAILERPARK MIT EINEM<br />
SCHLAG ZUM EMINEM DES TECHNO. AUF SEINEM<br />
ALBUM “LOVE FOR A STRANGE WORLD” LÄSST ER<br />
ALLES RAUS, WAS SEIT LANGEM IN IHM BRODELT.<br />
Das kleine rote Büchlein war für Jay Haze damals<br />
der einzige Halt. Er zog obdachlos durch die<br />
Straßen von San Francisco. Auf der Suche nach<br />
ein wenig Glück, dem kleinen Hoffnungsschimmer,<br />
angetrieben von den vielen Tiefen seines<br />
noch jungen Lebens. “Ich schrieb viele Gedanken<br />
und Erlebnisse auf, oft auch in Songstruktur - wie<br />
in ein Tagebuch.” Zu jener Zeit konnte Jay kaum<br />
ahnen, dass diese Fragmente einsamer Jahre<br />
der Existenzangst ihm später zu einem unsterblich<br />
schönen Album verhelfen würden.<br />
Nun erscheint “Love for a strange world”,<br />
das erste Vocal-Album von Jay Haze, und ist von<br />
der ersten Sekunde an eine klanggewordene<br />
Aufarbeitung, eine schmerzende musikalische<br />
Erinnerung. Ungewohnt feinfühlig zwischen<br />
der bewährten Minimal-Federführung und der<br />
brüchigen Bassline-Dominanz des Produzenten<br />
und Labelmachers Haze (Textone, Contexterrior,<br />
Tuningspork) und ungemein warm in seiner<br />
grundehrlichen Offenherzigkeit.<br />
<strong>De</strong>nn Jay hat alle Vocals selber eingesungen,<br />
hat das kleine rote Buch hervorgekramt, was er<br />
nur ungern tut und hat sich über zwei Jahre hinweg<br />
immer wieder ins Studio gesetzt, hat an den<br />
Verzweifl ungsschriften seiner jugendlichen Vergangenheit<br />
gefeilt und all das, was er längst hinter<br />
sich, hinter dem Atlantik gelassen hatte, einfach<br />
ausgesprochen. Das überrascht zunächst.<br />
Noch überraschender jedoch ist: Jay Haze zeigt<br />
damit Schwäche.<br />
WEIT OFFEN ...<br />
Nicht, dass er ein Schwächling wäre. Im Gegenteil:<br />
Seit Jahren herrscht er mit einem beeindruckenden<br />
Gespür für Glücksgriffe über<br />
sein mannigfaltiges Label-Imperium und ist von<br />
den exaltierten Dancefl oors Berlins längst nicht<br />
mehr wegzudenken. Nicht, dass Jay Haze wie ein<br />
Schwächling aussieht. Im Gegenteil: Er zwängt<br />
seine imposante Statur hinter den kleinen Cafétisch<br />
und sieht mit der obligatorischen Mütze auf<br />
dem Kopf unverschämt vital aus, dafür dass die<br />
Samstagnacht erst wenige Stunden zurückliegt.<br />
Die Schwäche, die Jay Haze auf “Love for a strange<br />
world” zeigt, ist, dass er ganz Persönliches<br />
nach außen lässt.<br />
“Ich brauchte ganz schön lange, um zu entdecken,<br />
dass tonnenweise Liebe in meinem Herzen<br />
lagert, dass ich das Leben liebe, auch wenn das<br />
Leben mich nicht liebt.” Ähnlich lange brauchte<br />
er, um seine Angst vor dem Gesang zu überwinden:<br />
“Ich hatte lange nicht genug Selbstvertrauen,<br />
meine Stimme zu präsentieren. Mittlerweile wollen<br />
total viele Leute meine Vocals für ihre Tracks!”<br />
Nun schwebt seine Stimme zwischen epischen<br />
Bassfl ächen, zerrt sich durch vertrackte Beatsackgassen<br />
und strahlt hell über all den Tracks,<br />
die von den “Troubles I’ve Seen” erzählen oder<br />
kämpferisch fordern: “Feel the pain”. Manchmal<br />
klingt es, als hätte Curtis Mayfi eld Lawrence<br />
geküsst und im nächsten Moment ist aus der<br />
nachdenklichen Monotonie optimistischer Cut-<br />
Up-HipHop geworden. Mal klickert und schwelgt<br />
pure Liebe, wie im softesten Monster-Hit diesen<br />
Jahres “I can love you” mit <strong>De</strong>:xter, mal wird aus<br />
dem ständig unruhigen Minimal-Soul eine verstörende<br />
Soundcollage. Markant ist vor allem der<br />
kantige Klang der Produktion, Jay ließ das Album<br />
auf Half-Inch-Tapes mastern.<br />
“Das ist ganz sicher die komplexeste Musik,<br />
die ich je gemacht habe”, sagt er und klopft sich<br />
zum wiederholten Male mit der Faust auf seinen<br />
Brustkasten: “Das ganze Album war ein Gefühl.<br />
Ich liebte es, weil es echt war, weil es von hier<br />
kam.” Eine Geste, die auch Eminem gut stehen<br />
würde. Jay selber ist es kurze Zeit später, der<br />
diese Parallele ausspricht: “Ich bin purer White<br />
Trash.” Was Eminem in “8 Mile” gemacht habe,<br />
das sei ihm nun mit “Love for a strange world”<br />
gelungen, nämlich diese unvorstellbare Enge des<br />
tiefsten US-Elends zu beschreiben, nachdem die<br />
Flucht von dort gelungen ist.<br />
... UND NICHT, WIE MAN DENKT<br />
Es wäre vielleicht nahe liegend, zu glauben,<br />
die “strange world”, die Jay Haze liebt, sei der Moment<br />
zwischen Rausch und Sonnenaufgang, der<br />
Berliner Wahnsinn eben. Dann würde Jay Haze<br />
aber nur seinen grundsätzlich skeptischen Blick<br />
senken und erzählen. Von dem kleinen Dorf mit<br />
den großen Bergminen in Pennsylvania, wo das<br />
gefährlich verseuchte Gelände einer chemischen<br />
Verarbeitungsanlage nur 300 Meter von seinem<br />
Elternhaus liegt. Viele im Dorf sind an Krebs erkrankt,<br />
auch seine Eltern. Seine Kindheit war<br />
geprägt von Alkohol, Misshandlungen, Armut.<br />
Freunde von Jay starben an Heroin oder nahmen<br />
sich das Leben. Er selbst machte sich mit sechzehn<br />
Jahren davon, außer der Leidenschaft für<br />
Dub und Bob Marley sowie dem Wunsch, einen<br />
Ort zu fi nden, an dem er “sein konnte, wie ich<br />
wollte”, nichts im Gepäck.<br />
“Musik war immer da. Als Kind habe ich mir<br />
zu den Talking Heads den Arsch abgetanzt, aber<br />
nach Tanzen war mir zu Hause längst nicht mehr<br />
zumute.” Es begann eine Odyssee kreuz und quer<br />
durch die USA. “Ich lebte auf der Straße, verkaufte<br />
Weed, um mein Leben zurückzubekommen.<br />
Ich raffte mich auf, jobbte, nur um dann in das<br />
nächste Loch zu fallen.” 1998 kehrte er in sein<br />
Heimatdorf zurück. Die Mutter wollte von ihrem<br />
Sohn zwar nichts mehr wissen, aber er half ihr im<br />
Kampf gegen die Metastasen. In der elterlichen<br />
Garage brachte er sich mithilfe eines Buches das<br />
Glasblasen bei und brachte so Konstanz in sein<br />
Leben.<br />
FUCKING HAPPY EUROPA<br />
Mit seiner Kunst machte er sich fortan einen<br />
Namen und begann gleichzeitig, in Philadelphia<br />
aufzulegen. Längst hatte er den charakteristischen<br />
Sound seiner Tuningspork-Posse geprägt,<br />
als er 2003 über den Umweg Amsterdam nach<br />
Berlin kam. Jay atmet durch: Gegenwart. “Berlin<br />
gibt mir ein Gefühl von Leichtigkeit, ich bin hier<br />
nicht mit allzu viel Bullshit konfrontiert, man lässt<br />
mich in Ruhe.” Aber so unbelastet, wie Jay Haze<br />
sich von Projekt zu Projekt zu stürzen scheint,<br />
ist er nicht. “Die Vergangenheit lässt mich einfach<br />
nicht los, ich habe keine guten Erinnerungen.<br />
An Schicksal glaube ich schon lange nicht mehr,<br />
T PATRICK BAUER, PATRICK@DE-BUG.DE<br />
F BROX+1<br />
denn was wäre sonst jeden Morgen meine Motivation<br />
aufzustehen?”<br />
Und so ist “Love for a strange World” das<br />
Werk eines oft Gestrauchelten, der die Welt eben<br />
doch liebt, obwohl sie ihm immer wieder gerne<br />
die Faust ins Gesicht schlägt. “Die Leute hier um<br />
mich herum achten aber nur auf meine Musik. Die<br />
können mich nicht verstehen, weil sie eben einen<br />
ganz anderen Background haben. Die können sich<br />
nicht vorstellen, dass nicht jeder in fucking happy<br />
Europa aufgewachsen ist!” Die permanente<br />
Oberfl ächlichkeit, die ihn umgibt, lässt Jay trotz<br />
aller Vorzüge zweifeln. Gute Freunde hat er nur<br />
wenige, Ricardo Villalobos, den er früh in New<br />
York kennen lernte und mit dem er auch musikalisch<br />
harmoniert, gehört dazu. “Aber das meiste<br />
ist eben nur Fassade und Attitüde. Elektronische<br />
Musik ist einfach nicht persönlich, es ist vor allem<br />
ein Produkt, die Hits sind nur Tools. Ich könnte<br />
auch schnell einen 909-Hit schreiben, ich könnte<br />
auch schnell so ein Farce-Album machen, wie<br />
es jetzt so viele tun. Aber ich will nicht nur an den<br />
Dancefl oor denken und ich kann nun mal auch etwas<br />
transportieren, weil da etwas da ist. Michael<br />
Mayer könnte das nicht.”<br />
Vielleicht beweist Jay Haze ja, dass nur<br />
der über Dreck schreiben kann, der mal auf die<br />
Schnauze fi el. Vielleicht ist er für die wohl behüteten<br />
Zuhörer der merkwürdige Gossenjunge, der<br />
uns mit seinen Schauertracks Gänsehaut macht.<br />
Jedenfalls tuschelt man, Jay Haze sei ein Freak.<br />
“Ich weiß, dass ich ein Freak bin”, sagt Jay, “aber<br />
ich mache nichts, um diesen Eindruck entstehen<br />
zu lassen. Mein Gehirn funktioniert einfach anders!”<br />
Und dann spricht er von der Welt, die verändert<br />
werden muss, vom Egoismus, vom Geiz,<br />
vom Kapitalismus. Er redet von der Tsunami-Charity-CD,<br />
die er initiierte, und irgendwann sind wir<br />
wieder in Pensylvannia, wo seine Schwester im<br />
Gefängnis und sein Bruder in der Entziehungsklinik<br />
sitzt: “Die wissen nicht mal, wo <strong>De</strong>utschland<br />
liegt ...”<br />
Jay Haze wirkt rastlos, er sagt: “Ich bin jetzt<br />
trotz allem zu 85 Prozent happy, aber ich werde<br />
nie aufhören, ein Aktivist zu sein, bis ich sterbe!<br />
Genauso wird meine musikalische Reise nicht<br />
hier enden, sie geht ständig weiter. Alles von mir<br />
muss existentiell neu klingen.” <strong>De</strong>shalb ist auch<br />
Berlin nur ein Kapitel von vielen, wenn vielleicht<br />
auch das bedeutendste. Aber so richtig sein Style<br />
seien diese up-tight <strong>De</strong>utschen eh nicht, sagt<br />
Jay, er könne ja nicht mal mit dem Fahrrad auf<br />
dem Gehweg fahren. Möglich, dass er dieses geregelte<br />
Leben gebraucht hat, um seine Projekte<br />
zu starten und nun die ersten 26 Jahre seines<br />
Lebens in tränentreibenster Weise auf einem Album<br />
zu komprimieren. Soweit die Vergangenheit.<br />
Mit dreißig sieht sich Jay Haze als Entwicklungshelfer<br />
in Afrika. Vorsichtshalber hat er sich schon<br />
mal ein neues Notizbuch gekauft. Es ist rot.<br />
JAY HAZE, LOVE FOR A STRANGE WORLD,<br />
IST AUF KITTY-YO ERSCHIENEN<br />
WWW.KITTY-YO.COM<br />
DARK SOUL<br />
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