Philosophie 3 Erkenntnis und Wahrheit
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phi3_09_Reader<br />
Sinneswahrnehmung beruhenden Erfahrungserkenntnis<br />
gegenübergestellt.<br />
Begründet wurde der neuzeitliche Rationalismus<br />
von René Descartes (1596-1650). Bei der<br />
5 Suche nach einem zweifelsfreien F<strong>und</strong>ament<br />
aller <strong>Erkenntnis</strong> gelangte Descartes schließlich<br />
zu der absolut gewissen Einsicht: »Ich denke,<br />
also bin ich.« Damit erhielt das denkende Ich<br />
mit seinen Bewusstseinserlebnissen eine bevor-<br />
10 zugte Stellung in der neuzeitlichen <strong>Philosophie</strong>.<br />
Baruch de Spinoza (1632-1677) entwickelte ein<br />
philosophisches System nach dem Vorbild der<br />
Mathematik mit Definitionen, Lehrsätzen <strong>und</strong><br />
Folgesätzen. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-<br />
15 1716) bemühte sich besonders darum, »Vernunftwahrheiten«<br />
gegenüber bloßen »Tatsachenwahrheiten«<br />
herauszustellen.<br />
Die Gegner der Rationalisten waren die an den<br />
Naturwissenschaften orientierten Empiristen. Sie<br />
20 leugneten, dass es so etwas wie »angeborene<br />
Ideen« gibt <strong>und</strong> die Welt durch reine Vernunft<br />
erkannt werden kann. Dagegen stellten sie die<br />
These, dass alle Wirklichkeitserkenntnis auf Erfahrung<br />
beruht.<br />
25 Begründet wurde der Empirismus von John<br />
Locke (1632-1704). Für ihn waren jedoch nur<br />
bestimmte, an den Dingen wahrnehmbare<br />
Qualitäten wie Ausdehnung, Gestalt <strong>und</strong> Undurchdringlichkeit<br />
auch Eigenschaften der Din-<br />
30 ge selbst. Er nannte sie primäre Qualitäten <strong>und</strong><br />
unterschied sie von sek<strong>und</strong>ären Qualitäten wie<br />
Farben <strong>und</strong> Wärme, die unsere Wahrnehmung<br />
auf die Dinge projiziert. George Berkeley<br />
(1685-1753) radikalisierte den Empirismus, in-<br />
35 dem er auch die primären Qualitäten lediglich<br />
als Empfindungen der Sinne gelten ließ <strong>und</strong><br />
damit die ganze Welt der Materie als bloße<br />
Vorstellung deutete. Nicht ganz so radikal,<br />
aber doch ausgesprochen skeptisch waren die<br />
40 Konsequenzen, die David Hume (1711-1776)<br />
aus dem Empirismus zog. Er zeigte, wie wenig<br />
unser vermeintliches Wissen von der Welt unmittelbar<br />
auf Sinneswahrnehmungen beruht.<br />
Bereits unsere Überzeugung, dass morgen die<br />
45 Sonne aufgehen wird, kann nach Hume nicht<br />
durch Erfahrung begründet werden.<br />
Eine Theorie der <strong>Erkenntnis</strong>, die Rationalismus,<br />
<strong>und</strong> Empirismus in gewisser Weise miteinander<br />
verbindet, hat Immanuel Kant (1724-1804)<br />
50 entwickelt. Kant gibt den Empiristen darin<br />
Recht, dass es vor aller Wahrnehmung <strong>und</strong><br />
Erfahrung keine <strong>Erkenntnis</strong> gibt. Mit den Rationalisten<br />
hält Kant aber gleichwohl an der<br />
Auffassung fest, dass es von einigen Gr<strong>und</strong>-<br />
55 prinzipien der Welt erfahrungsunabhängige,<br />
zweifelsfreie <strong>Erkenntnis</strong>se gibt. Die Verknüpfung<br />
dieser beiden anscheinend unvereinbaren<br />
Thesen erreicht Kant durch die Annahme, dass<br />
die Vorstellungen von Raum <strong>und</strong> Zeit sowie<br />
60 verschiedene Gr<strong>und</strong>begriffe wie z. B. die von<br />
Ursache <strong>und</strong> Wirkung zur ursprünglichen Ausrüstung<br />
des menschlichen <strong>Erkenntnis</strong>vermögens<br />
gehören, mit denen die Welt immer interpretiert<br />
wird. Sie sind gewissermaßen eine »Brille«,<br />
65 durch die der Mensch die Welt sieht. Sind die<br />
Brillengläser blau, erscheint die Welt blau. Wie<br />
die Welt »an sich« ist, können wir daher nach<br />
Kant nicht wissen.<br />
Die Konzeption Kants hat die erkenntnistheore-<br />
70 tische Diskussion bis in die Gegenwart maßgeblich<br />
geprägt. Es<br />
gab eine<br />
ganze Rei-<br />
75 he von<br />
Philosophen,<br />
die<br />
sich eng an<br />
Kant an-<br />
80 schlossen<br />
<strong>und</strong> seine<br />
Auffassungen<br />
wei-<br />
terentwi-<br />
85 ckelten. Zu<br />
diesen<br />
Neukantianern<br />
gehört auch Ernst Cassirer (1874-1945),<br />
der Kants Lehre an die modernen Naturwissen-<br />
90 schaften anzupassen versuchte. Demgegenüber<br />
wurde Kants Lehre besonders von modernen<br />
Empiristen wie Bertrand Russell (1872-1970)<br />
oder Rudolf Carnap (1891-1970) entschieden<br />
abgelehnt. Sie wiesen darauf hin, dass einige<br />
95 der von Kant als zweifelsfrei betrachteten Prinzipien<br />
durch die modernen Naturwissenschaften<br />
als falsch nachgewiesen worden seien. Insbesondere<br />
die allgemeine Geltung von Ursache<br />
<strong>und</strong> Wirkung sahen sie durch die Quantenphy-<br />
100 sik widerlegt. Dies ist in der Tat der Hauptgr<strong>und</strong><br />
dafür, dass die Möglichkeit absolut gewisser<br />
<strong>Erkenntnis</strong> in der <strong>Philosophie</strong> des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts zunehmend weniger vertreten<br />
wird. Vor allem Karl Popper (1902-1994) <strong>und</strong><br />
105 der von ihm vertretene Kritische Rationalismus<br />
betonen, dass alle menschliche <strong>Erkenntnis</strong> fehlbar<br />
<strong>und</strong> hypothetisch ist <strong>und</strong> durch Erfahrung<br />
jederzeit widerlegt werden kann. Die von dem<br />
Biologen <strong>und</strong> Verhaltensforscher Konrad Lorenz<br />
110 (1902-1989) begründete Evolutionäre <strong>Erkenntnis</strong>theorie<br />
vertritt eine moderne Version der<br />
Lehre von den »angeborenen Ideen«. Sie rechnet<br />
bestimmte Vorstellungen zur genetischen<br />
Ausstattung des menschlichen <strong>Erkenntnis</strong>appa-<br />
115 rats, doch behauptet sie damit nicht, dass diese<br />
Vorstellungen völlig auf die Realität zutreffen<br />
würden.<br />
Aus: Martin Morgenstern, Robert Zimmer: Treffpunkt <strong>Philosophie</strong>.<br />
Bd. 1 Gr<strong>und</strong>erfahrungen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>fragen. Düsseldorf:<br />
Patmos 1998. S.139-141<br />
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