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Philosophie 3 Erkenntnis und Wahrheit

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<strong>Erkenntnis</strong> <strong>und</strong> <strong>Wahrheit</strong><br />

Textsammlung für den <strong>Philosophie</strong>unterricht<br />

im dritten Kurshalbjahr der Qualifikationsphase<br />

phi-3<br />

(Schuljahr 2010/11)


phi3_09_Reader<br />

Inhalt<br />

1 Einführung in das Thema <strong>Erkenntnis</strong> / GWG-Definition ....................... 4<br />

Moritz Schlick: Die ursprüngliche Aufgabe der <strong>Erkenntnis</strong>.............................. 4<br />

Urteilsformen <strong>und</strong> Arbeitsaufträge................................................................... 6<br />

GWG-Definition von Wissen ............................................................................. 6<br />

2 Probleme der Rechtfertigung 1: Die sinnliche Gewissheit .................. 7<br />

2.1 John Locke: Über <strong>Erkenntnis</strong> (1690) ................................................................ 7<br />

2.2 David Hume: Vom Skeptizismus in Bezug auf die Sinne (1739)..................... 8<br />

2.3 Bertrand Russell: Erscheinung <strong>und</strong> Wirklichkeit (1912).................................... 9<br />

3 Probleme der Rechtfertigung 2: Evidenz <strong>und</strong> Verstand..................... 10<br />

3.1 Platon: Über Vernunfterkenntnis .................................................................... 10<br />

3.2 Francis Bacon: Die wahre <strong>Philosophie</strong> (1620) ................................................ 11<br />

3.3 René Descartes: Cogito sum (1637) ............................................................... 11<br />

3.4 Immanuel Kant: Die kopernikanische Wende (1787) ..................................... 12<br />

3.5 Brief von Immanuel Kant an Markus HerzFehler! Textmarke nicht definiert.<br />

4 Probleme der Rechtfertigung 3: Erklären <strong>und</strong> Verstehen, Sprache . 14<br />

4.1 Erklären <strong>und</strong> Verstehen .................................................................................. 14<br />

4.2 Otto Bollnow: Die Unmöglichkeit eines absoluten Anfangs (1970) .............. 14<br />

4.3 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik (1974) ................................................... 15<br />

4.4 Ludwig Wittgenstein: Sprachspiele (1939) ..................................................... 15<br />

5 Glauben / Fürwahrhalten ..................................................................... 18<br />

David Hume: Vernunft <strong>und</strong> Glaube (1740).................................................... 18<br />

Charles Peirce: Das Fürwahrhalten (1893)...................................................... 18<br />

6 <strong>Wahrheit</strong>.................................................................................................. 19<br />

Ernst von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit <strong>und</strong> des Begriffs der<br />

Objektivität (1998) .......................................................................................... 21<br />

7 Portfolioarbeit (David Hume) ............................................................. 22<br />

David Hume: Abriss eines neuen Buches, betitelt Ein Traktat über die<br />

menschliche Natur etc. worin dessen Hauptgedanken weiter erläutert <strong>und</strong><br />

erklärt werden (1740)..................................................................................... 22<br />

Immanuel Kant: Prolegomena (1783)............................................................. 32<br />

8 Ergänzungen ................................................................................................ 34<br />

Platon: Sonnengleichnis .................................................................................. 34<br />

Ernst Cassirer: Über <strong>Erkenntnis</strong> (1944)........................................................... 35<br />

Das Thema <strong>Erkenntnis</strong> in der <strong>Philosophie</strong>...................................................... 35<br />

Titelbild: Robert Bresson, Bruxelles, 1932<br />

2


phi3_09_Reader<br />

1 Einführung in das Thema <strong>Erkenntnis</strong> / GWG-Definition<br />

Ein künstlerisches Projekt nach den vier Kantschen Fragen ´(http://www.weltfragen.de)<br />

Nach Auffassung von Rainer Adolphi (TU Berlin) hat Kant mit seinen vier Fragen keine<br />

neuen Fragen gestellt, sondern Fragen formuliert, die zu allen Zeiten gestellt <strong>und</strong> beantwortet<br />

wurden.<br />

1. Formulieren Sie plausible Antworten auf die Frage „Was kann ich wissen?“<br />

Entwerfen Sie ein Tafelbild (z. B. Mind Map) zur Systematisierung Ihrer Antworten.<br />

Definieren Sie, was man unter „wissen“ versteht.<br />

2. Formulieren Sie mögliche Bedenken zu diesen Antworten.<br />

3. Wie könnten philosophisch befriedigende Antworten auf die Frage Kants aussehen?<br />

4. Die vier Kantfragen bedingen sich gegeneinander. Inwiefern kann die erste<br />

Kant-Frage als Unterfrage der übrigen drei Fragen verstanden werden?<br />

Hinweis: Stillste St<strong>und</strong> - Marsch in Unschärfe Verlorener<br />

Song zu den vier Kantfragen unter: http://www.youtube.com/watch?v=PZVPGODP6no <strong>und</strong><br />

auf der Kursseite<br />

Projekt 1 (Prüfungssimulation)<br />

Jede bzw. jeder hält einen fünfminütigen Kurzvortrag zu einem vorgegebenen Thema (Textauszug,<br />

Zitat, Frage, Bild) in der Form einer philosophischen Problemreflexion (Übung für mündliche<br />

Prüfung). Im Anschluss an den Vortrag findet ein fünfminütiges Gespräch mit dem Vortragenden<br />

statt.<br />

3


phi3_09_Reader<br />

Moritz Schlick: Die ursprüngliche Aufgabe der <strong>Erkenntnis</strong><br />

Moritz Schlick (1882-<br />

1936) war Mitbegründer<br />

des sogenannten<br />

Wiener Kreises, einer<br />

5 Gruppe aus Philosophen,<br />

Naturwissenschaftlern<br />

<strong>und</strong> Mathematikern,<br />

die eine wissenschaftliche<br />

Weltauf-<br />

10 fassung vertraten <strong>und</strong><br />

ihre Ideen in einer Zeitschrift<br />

mit dem Namen<br />

„<strong>Erkenntnis</strong>“ veröffentlichten.<br />

Er wurde 1936<br />

15 von einem ehemaligen Studenten auf der Treppe<br />

der Wiener Universität ermordet.<br />

Wir fragen uns, was wir meinen, wenn wir im<br />

täglichen Leben, besonders aber in der Wissenschaft<br />

von „<strong>Erkenntnis</strong>“ sprechen, welchen Prozess<br />

20 man so zu bezeichnen pflegt.<br />

Die <strong>Erkenntnis</strong> in den Wissenschaften ist nicht<br />

prinzipiell von dem verschieden, was man schon<br />

im täglichen Leben als <strong>Erkenntnis</strong> zu bezeichnen<br />

pflegt. Das Leben, das der Mensch führt, weicht<br />

25 nach dem Plane, nach dem es aufgebaut ist, von<br />

dem der Tiere ab. Ein Tier antwortet auf Reize<br />

durch entsprechende Handlungen vermöge seines<br />

Instinktes. Diese Instinkte sind nichts anderes als<br />

Dispositionen 1 , <strong>und</strong> zwar starre Dispositionen,<br />

30 denn die Instinkte sind nur auf das Eintreten bestimmter<br />

Tatsachen eingestellt, was zur Folge hat,<br />

dass leicht Täuschungen eintreten können (der<br />

Fisch kann nicht überlegen, beißt in den Angelhaken).<br />

Das menschliche Leben unterscheidet sich<br />

35 von dieser Art Einstellung durch eine bessere Anpassung<br />

an die Außenwelt. Der Mensch hat weniger<br />

Instinkte, die ihn im täglichen Leben führen,<br />

doch ist ihm durch den Verstand oder die Vernunft<br />

ein besseres Mittel gegeben. Das ist zu-<br />

40 nächst nichts anderes als eine größere Anpassungsfähigkeit<br />

an eine Mannigfaltigkeit von Umständen.<br />

Wir müssen eine gewisse Einsicht <strong>und</strong><br />

Übersicht über die Ordnung der Welt haben, um<br />

uns in ihr zurechtzufinden. Der Mensch kann auf<br />

45 längere Zeit hinaus planen, voraussehen, um sich<br />

der Umwelt geschmeidiger anzupassen, sich auf<br />

Unvorhergesehenes einzustellen. Sich dem Unvorhergesehenen<br />

gegenüber <strong>und</strong> allen beliebigen<br />

Umständen gegenüber richtig zu verhalten, ist die<br />

50 ursprüngliche Aufgabe der <strong>Erkenntnis</strong>. Aus diesem<br />

Zwecke der <strong>Erkenntnis</strong> können wir ablesen, worin<br />

<strong>Erkenntnis</strong> in jedem einzelnen Falle besteht.<br />

Es ist für das Leben notwendig, dass wir auf alle<br />

Situationen, die uns im Leben entgegentreten,<br />

55 gefasst sind, von neuen nicht überrascht werden;<br />

dass sich ein Mensch so auf unvorhergesehene<br />

Umstände einstellen kann, geschieht selbstverständlich<br />

nicht durch eine besondere Gabe der<br />

1<br />

Disposition: Anlage, Anordnung<br />

Divination 2 , sondern diese Anpassung findet auf<br />

60 Gr<strong>und</strong> früherer Erfahrungen statt. Aus Erfahrungen<br />

kann der Mensch eine Anleitung entnehmen,<br />

wie er sich in anderen, noch nicht erfahrenen<br />

Fällen zu verhalten hat; es ist dies eine Angelegenheit<br />

der Analogie. Wenn die neuen Umstände<br />

65 tatsächlich völlig neu sind, mit nichts verglichen<br />

werden können, dann ist der Mensch tatsächlich<br />

hilflos. Dies tritt im Leben des Erwachsenen aber<br />

fast nie oder gar nie ein. Der Mensch weiß also,<br />

dass er in dem Neuen etwas schon Dagewesenes<br />

70 findet, nur in anderem Zusammenhang, in neuer<br />

Kombination. Das Wesen der Vernunft besteht<br />

nun darin, das Neue zu analysieren <strong>und</strong> dadurch<br />

Ähnlichkeiten in Verschiedenem zu entdecken, im<br />

Neuen das Alte wiederzufinden. Der Mensch zer-<br />

75 gliedert also die neuen Erfahrungen in bestimmte,<br />

ihm schon vertraute Bestandteile, um sich dann<br />

passend verhalten zu können; das ist der eigentliche<br />

Kern der ratio, des Vernunft-Vermögens (womit<br />

keine dogmatische Bestimmung getroffen sein<br />

80 soll, worin die Vernunft eigentlich besteht). Zunächst<br />

ist der <strong>Erkenntnis</strong>prozess also eine biologische<br />

Funktion; später geht der <strong>Erkenntnis</strong>prozess<br />

vor sich, auch ohne dass er zum Leben notwendig<br />

ist. Im täglichen Leben gebraucht, bedeutet das<br />

85 Wort „<strong>Erkenntnis</strong>“ immer den Vorgang, dem Unbekannten<br />

seine Fremdheit zu nehmen <strong>und</strong> aus<br />

ihm etwas Bekanntes, Vertrautes zu machen. Diese<br />

Tätigkeit, im Unbekannten das Bekannte aufzufinden,<br />

bereitet dem Menschen Freude; die wis-<br />

90 senschaftliche Neugierde, der <strong>Erkenntnis</strong>trieb, wird<br />

zu einer lustvollen Tätigkeit, zum Selbstzweck, zu<br />

einer Art Spiel. Die wissenschaftlichen <strong>Erkenntnis</strong>se<br />

unterscheiden sich von denen des täglichen Lebens<br />

dadurch, dass sie um ihrer selbst willen ge-<br />

95 sucht werden. Wenn sie nachher auch einem<br />

praktischen Zwecke zugeführt werden, so werden<br />

sie doch ursprünglich um der Freude an der <strong>Erkenntnis</strong><br />

willen erstrebt.<br />

Aus: Hubert Schleichert (Hg.): Von Platon bis Wittgenstein.<br />

Ein philosophisches Lesebuch. München: C.H. Beck<br />

1998. S.57-59<br />

1. Fertigen Sie einen Train of Thought an.<br />

2. Formulieren Sie die zentrale(n) These(n) von<br />

Moritz Schlick.<br />

3. Welches Menschenbild liegt Schlicks Thesen<br />

zugr<strong>und</strong>e?<br />

4. Nehmen Sie begründet Stellung zu den zentralen<br />

Thesen von Moritz Schlick.<br />

2<br />

Divination: Ahnung, Ahnungsvermögen, Vorherrschung<br />

4


GWG-Definition von Wissen<br />

In einem platonischen Dialog verständigen sich Sokrates <strong>und</strong> einer seiner Gesprächspartner auf<br />

die Vorstellung, „wahre Meinung verb<strong>und</strong>en mit Erklärung sei Wissen“ (Platon, Theäthet 201c).<br />

Diese Auffassung wird von den meisten Philosophen vertreten. Moderner formuliert heißt das:<br />

Wissen ist erechtfertigter ahrer laube<br />

(GWG-Definition von Herbert Schnädelbach (*1936)).<br />

Die Bedeutung von Sätzen wie „Schmidt weiß, dass es heute geregnet hat“ könne also durch<br />

die folgenden notwendigen -- <strong>und</strong> zusammen hinreichenden Bedingungen gegeben werden:<br />

Ein Subjekt S weiß, dass eine Proposition P wahr ist genau dann, wenn:<br />

(a) S glaubt, dass P wahr ist<br />

G<br />

(b) P ist wahr<br />

W<br />

(c) S hat gute Gründe zu glauben, dass P wahr ist G<br />

Edm<strong>und</strong> Gettier (*1937) hat in einem Essay 1963 mit Hilfe von Gegenbeispielen<br />

nachgewiesen, dass diese Bedingungen notwendig, aber nicht hinreichend<br />

sind.<br />

(s. http://de.wikipedia.org/wiki/Gettier-Problem)<br />

Erläutern Sie die drei Bedingungen an konkreten Beispielen <strong>und</strong> formulieren Sie Fragen <strong>und</strong><br />

Einwände dagegen. Entwerfen Sie ein Plakat zur GWG-Definition.<br />

Projekt 2 (Portfolio)<br />

Ein Portfolio war lange Zeit (seit der Renaissance) nichts anderes als eine Art Mappe, in der sich<br />

eine Auswahl von Texten oder Bildern bef<strong>und</strong>en hat. Doch mittlerweile wird der Begriff in verschiedenen<br />

Zusammenhängen verwendet <strong>und</strong> ist ein weit verbreitetes Hilfsmittel an Schulen <strong>und</strong> Universitäten.<br />

Ein Portfolio ist eine zielgerichtete <strong>und</strong> systematische Sammlung von Arbeiten zur Darstellung<br />

<strong>und</strong> Reflexion von individuellen Bemühungen, Fortschritten <strong>und</strong> Leistungen eines Lernenden.<br />

Gestalten Sie (jeder einzeln) bis zum Ende des Semesters folgende Portofolioblätter:<br />

a) Ein Blatt zur GWG-Definition von Wissen (evtl. in Partnerarbeit) mit Erläuterungen der drei<br />

Begriffe Rechtfertigung, <strong>Wahrheit</strong>, Glaube / Fürwahrhalten<br />

b) Ein Blatt zu einem Philosophen Ihrer Wahl: 1) Locke; 2) Hume (Empirismus); 3) Russell; 4)<br />

Platon; 5) Descartes; 6) Kant; 7) Bollnow <strong>und</strong> Gadamer; 8) Wittgenstein; 9) Hume <strong>und</strong><br />

Peirce (Glauben); 10) „Nackte <strong>Wahrheit</strong>“ <strong>und</strong> <strong>Wahrheit</strong>stheorien; 11) Glasersfeld. Dieses<br />

Blatt soll enthalten: Autor <strong>und</strong> Lebenszeit, zentrale Aussage, Visualisierung, Bezug zur<br />

GWG-Definition, Hinweis auf mindestens ein Problem dieser Position, Zuordnung zu einer<br />

Denkrichtung <strong>und</strong> deren Definition<br />

c) ein Vorbereitungsblatt zu einem Dialog zwischen entweder einem Vertreter Kants <strong>und</strong> einem<br />

Vertreter der von Ihnen gewählten Position.<br />

d) Ein Blatt Train of Thought zu David Hume: Abriss eines neuen Buches, betitelt Ein Traktat über<br />

die menschliche Natur etc. worin dessen Hauptgedanken weiter erläutert <strong>und</strong> erklärt werden<br />

(1740)<br />

e) Übersichtsblatt / Visualisierung zu Humes Kausalitätsargument<br />

f) Erörterung mindestens eines Einwandes gegen Humes Kausalitätsargumentes<br />

g) Deckblatt mit Titel „Was kann ich wissen?“, Name, Inhaltsverzeichnis<br />

h) Selbsteinschätzung, das auf die folgenden Fragen eine Antwort gibt: Was halte ich für besonders<br />

gelungen? Was halte ich für weniger überzeugend? Was habe ich bei der Portfolioarbeit<br />

gelernt?<br />

Außerdem sollten Sie in dem Portfolio alles aufnehmen, was Sie an Material zu dem Thema<br />

„Was kann ich wissen“ finden.<br />

5


phi3_09_Reader<br />

Konzeptblatt für einen philosophischen Dialog<br />

Reflexionsbereich:<br />

Thema:<br />

Aufgabe:<br />

Arbeitshinweis:<br />

Gemeinsamkeiten zwischen<br />

den beiden relevanten<br />

Positionen<br />

(Fragestellung, Argumentation,<br />

Ziel, Ergebnis)<br />

Sprachphilosophischer <strong>und</strong> erkenntnistheoretischer Reflexionsbereich<br />

GWG-Definition des Wissens<br />

Führen Sie zu dem obigen Thema eine philosophische Problemreflexion<br />

durch.<br />

Gestalten Sie zur Themenfrage einen fiktiven Dialog zwischen zwei Figuren<br />

unter Berücksichtigung von … <strong>und</strong> dem Ihnen bekannten Textauszug<br />

aus …<br />

Kommentieren Sie abschließend Ihren Dialog (Warum haben Sie sich für<br />

dieses Setting entschieden? Was würden Sie ggf. beim nächsten Mal anders<br />

machen?)<br />

A <strong>und</strong> B stimmen überein<br />

- …<br />

- …<br />

- …<br />

Unterschiede zwischen<br />

A <strong>und</strong> B (Fragestellung,<br />

Argumentation,<br />

Ziel, Ergebnis)<br />

A<br />

B<br />

Geeignete Fragestellung<br />

für den Dialog<br />

Entscheidung für ein<br />

Setting<br />

Figur A:<br />

Figur B:<br />

Gesprächseinstieg<br />

5<br />

Überblick über die wichtigsten Urteilsformen<br />

Urteilsarten Merkmale Beispiele<br />

Ästhetische Behauptung eines positiven oder negativen Gefühls(empfindens)<br />

„Dieses Edelweiß ist schön.“<br />

Urteile<br />

oder einer Gefühlsindifferenz<br />

Moralische<br />

Urteile<br />

Behauptung, mit der eine Gesinnung oder ein Verhalten<br />

gefordert, verboten <strong>und</strong> / oder bewertet wird.<br />

„Das Edelweiß zu pflücken ist<br />

rücksichtslos <strong>und</strong> egoistisch.“<br />

<strong>Erkenntnis</strong>urteile<br />

<strong>Wahrheit</strong>sbehauptung<br />

„Das Edelweiß ist eine Blume<br />

Nennen Sie weitere Beispiele für die drei Urteilsarten<br />

6


phi3_09_Reader<br />

2 Probleme der Rechtfertigung 1<br />

Sinnliche Gewissheit<br />

2.1 John Locke (1632-1704): Das empiristische Dogma (1690)<br />

Nehmen wir also an, der Geist sei, wie man sagt, ein unbeschriebenes<br />

Blatt, ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen; wie<br />

werden ihm diese dann zugeführt? Wie gelangt er zu dem gewal-<br />

5 tigen Vorrat an Ideen, womit ihn die geschäftige schrankenlose<br />

Phantasie des Menschen in nahezu unendlicher Mannigfaltigkeit<br />

beschrieben hat? Woher das Material für seine Vernunft <strong>und</strong><br />

für seine <strong>Erkenntnis</strong>? Ich antworte darauf mit einem einzigen<br />

Worte: aus der Erfahrung. Auf sie gründet sich unsere<br />

10 gesamte <strong>Erkenntnis</strong>, von ihr leitet sie sich schließlich her. Unsere<br />

Betrachtung, die entweder auf äußere sinnlich wahrnehmbare Objekte<br />

(sensation) gerichtet ist oder auf innere Operationen des<br />

Geistes (reflection), die wir wahrnehmen <strong>und</strong> über die wir nachdenken,<br />

liefert unserm Verstand das gesamte Material des Denkens. Dies sind die beiden Quel-<br />

15 len der <strong>Erkenntnis</strong>, aus denen alle Ideen (ideas) entspringen, die wir haben oder naturgemäß<br />

haben können.<br />

Aus: John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand. (An Essay Concerning Human Understanding) Beruhend auf der 1.<br />

Übers. v. C, Winckler 1911/13. Bd. 1. Akademie Verlag, Berlin 1962. S. 107-109<br />

1. Nennen Sie wenigstens drei Argumente gegen<br />

die naive Abbildtheorie, nach der die Dinge<br />

<strong>und</strong> Strukturen der Welt sozusagen fotografisch<br />

in unseren Geist abgebildet werden.<br />

2. Ein Vater bringt seinen erst wenige Wochen alten<br />

Sohn wegen einer ersten medizinischen Kontrolle<br />

zum Kinderarzt. Nachdem die Tests abgeschlossen<br />

sind, fragt der Vater: „Was sieht mein Sohn<br />

überhaupt?“ „Seine Sinnesorgane sind voll entwickelt“,<br />

ist die Antwort, „trotzdem muss stark bezweifelt<br />

werden, dass er die Welt so wahrnimmt,<br />

wie sie sich für einen Erwachsenen darstellt.“<br />

Wie denken Sie darüber?<br />

3. Welches Problem wird in der nebenstehenden<br />

Abbildung angesprochen?<br />

4. Klären Sie die folgenden Begriffe: Wahrnehmung<br />

(innere <strong>und</strong> äußere), Verstand, Erfahrung,<br />

Empirismus, Idee, Induktion.<br />

7


phi3_09_Reader<br />

2.2 David Hume (1711-1776): Probleme des empiristischen Dogmas I<br />

(1739)<br />

Den Gegenstand nun unserer folgenden Untersuchung bilden eben<br />

die Ursachen, die uns veranlassen, an die Existenz von Körpern zu<br />

glauben. […]<br />

Diese [die äußeren Gegenstände, M.Z.] erfordern eine dauernde<br />

5 Existenz, wenn sie nicht [für unser Bewusstsein] in beträchtlichem<br />

Umfang der Gesetzmäßigkeit ihres Wirkens verlustig gehen sollen.<br />

Ich sitze hier in meinem Zimmer, mit meinem Gesicht dem Feuer<br />

zugewandt; alle Gegenstände, die auf meine Sinne einwirken, befinden<br />

sich in einem Umkreis von wenigen Yards um mich herum.<br />

10 Zugleich gibt mir die Erinnerung noch von der Existenz mancher<br />

anderer Objekte K<strong>und</strong>e; aber diese K<strong>und</strong>e erstreckt sich nur auf die<br />

frühere Existenz derselben; weder meine Sinne noch mein Gedächtnis<br />

legen Zeugnis ab von ihrem jetzigen Dasein. Indem ich nun so dasitze <strong>und</strong> jenen Erinnerungen<br />

nachgehe, höre ich plötzlich einen Lärm wie von einer Türe, die sich in ihren Angeln dreht,<br />

15 <strong>und</strong> ein wenig später sehe ich einen Briefträger auf mich zukommen. Dies gibt mir Veranlassung<br />

zu allerlei neuen Reflexionen <strong>und</strong> Schlüssen. Erstlich habe ich niemals beobachtet, dass ein solches<br />

Geräusch von etwas anderem als der Bewegung einer Tür herrührte; darnach urteile ich,<br />

dass dieses gegenwärtige Phänomen im Widerspruch stände mit allen früheren Erfahrungen, wofern<br />

nicht die Tür, die sich, wie ich mich erinnere, an der anderen Seite des Zimmers befindet,<br />

20 noch existierte. Weiterhin habe ich stets gef<strong>und</strong>en, dass der menschliche Körper eine Eigenschaft<br />

besitzt, die ich Schwere nenne <strong>und</strong> die ihn daran hindert, in der Luft emporzusteigen. Dies<br />

müsste der Briefträger, um zu meinem Zimmer zu gelangen, getan haben, wenn etwa die Treppe,<br />

deren ich mich erinnere, in meiner Abwesenheit vernichtet worden sein sollte. Aber dies ist<br />

nicht alles. Ich erhalte einen Brief <strong>und</strong> beim Öffnen desselben erkenne ich an der Handschrift<br />

25 <strong>und</strong> Unterschrift, dass er von einem Fre<strong>und</strong>e herstammt, der mir sagt, er sei zweih<strong>und</strong>ert Meilen<br />

von mir entfernt. Offenbar kann ich diese Tatsache nicht übereinstimmend mit meiner in anderen<br />

Fällen gewonnenen Erfahrung erklären, ohne in meinem Geist die ganze See <strong>und</strong> den Kontinent<br />

zwischen uns auszubreiten <strong>und</strong> die Wirkungen <strong>und</strong> die dauernde Existenz von Posten <strong>und</strong><br />

Überfahrtsgelegenheiten[S.262] meiner Erinnerung <strong>und</strong> Beobachtung gemäß vorauszusetzen. Je-<br />

30 ne Erlebnisse, die Ankunft des Briefträgers <strong>und</strong> des Briefes, erscheinen in gewisser Weise der<br />

gewohnten Erfahrung widersprechend; sie könnten als Gegeninstanzen gegen unsere allgemeinen<br />

Regeln, die Verknüpfung von Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen betreffend, erscheinen. 3 Ich bin gewohnt,<br />

wenn ich diesen bestimmten Ton höre, zu gleicher Zeit diesen bestimmten Gegenstand<br />

in Bewegung zu sehen. Hier aber habe ich nicht [zu gleicher Zeit] diese beiden Wahrnehmungen<br />

35 gemacht. Daraus ergibt sich ein Widerspruch der Beobachtungen, es sei denn, dass ich annehme,<br />

die Türe existiere noch <strong>und</strong> sei geöffnet worden, ohne dass ich es wahrnahm. Diese Annahme,<br />

die zunächst vollkommen willkürlich <strong>und</strong> hypothetisch erscheint, erlangt Kraft <strong>und</strong> Sicherheit<br />

dadurch, dass sich herausstellt, dass sie die einzige ist, die jenen Widerspruch zu lösen<br />

vermag. 4 Kaum ein Augenblick meines Lebens nun verfließt, ohne dass ich Ähnliches erlebe <strong>und</strong><br />

40 mich in der Lage befinde, die dauernde Existenz von Gegenständen voraussetzen zu müssen, um<br />

ihr vergangenes <strong>und</strong> ihr gegenwärtiges Auftreten zu verknüpfen <strong>und</strong> sie in eine Verbindung<br />

miteinander zu bringen, wie sie mir durch die Erfahrung als ihrer besonderen Natur <strong>und</strong> den<br />

begleitenden Umständen entsprechend bezeichnet worden ist. Ich sehe mich so in natürlicher<br />

3<br />

Was dies heißen will, macht Hume im Folgenden an einem besonderen Umstand, der beim Eintreten des Briefträgers stattfindet,<br />

klar. Wir haben allgemein gef<strong>und</strong>en, dass Türen nur knarren, wenn Türen sich bewegen; in dem in Rede stehenden<br />

Falle aber sagt die Erfahrung von einer solchen Bewegung nichts; soweit die Erfahrung reicht, findet also keine solche Bewegung<br />

statt. Dies scheint der Regel zu widersprechen, dass gleiche Wirkungen gleiche Ursachen haben.<br />

4<br />

Hume bezeichnet hier einen der bereits oben bezeichneten Widersprüche, die das fingierte Erlebnis in sich schlösse, wenn es<br />

nicht durch die Annahme dauernd existierender Objekte ergänzt würde, noch einmal speziell. Die Nötigung, das Geräusch<br />

auch in diesem Falle gleichzeitig mit der Bewegung einer Tür stattfindend zu denken, soll noch einmal speziell das Prinzip klar<br />

machen, auf das es hier ankommt, dass nämlich die Gesetzmäßigkeit der Erfahrungsurteile (die für Hume mit dem Zwang der<br />

Gewohnheit zusammenfällt) zur Ausfüllung der Lücken der Wahrnehmung nötigt, <strong>und</strong> so die dauernde Außenwelt für uns<br />

zustande kommen lässt.<br />

8


phi3_09_Reader<br />

Weise dazu getrieben, die Welt als etwas Reales <strong>und</strong> Dauerndes zu betrachten, als etwas, das<br />

im Dasein beharrt, auch wenn es für meine Wahrnehmung nicht mehr besteht. [263]<br />

Aus: David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch I Über den Verstand. Hamburg: Meiner1989. S.250-253,<br />

S.260-263<br />

2.3 Bertrand Russell (1872-1970): Probleme des empiristischen Dogmas II<br />

(1912)<br />

Für gewöhnlich halten wir viele Dinge für sicher <strong>und</strong> gewiss, an denen<br />

bei näherem Zusehen so viele Widersprüche sichtbar werden, dass wir<br />

5 lange nachdenken müssen, bevor wir wissen, was wir glauben dürfen.<br />

[...]<br />

Um uns die auftauchenden Schwierigkeiten deutlich zu machen, wollen<br />

wir unsere Aufmerksamkeit auf den Tisch richten. Dem Auge erscheint<br />

er viereckig, braun <strong>und</strong> glänzend, dem Tastsinn glatt <strong>und</strong> kühl <strong>und</strong><br />

10 hart; wenn ich auf ihn klopfe, klingt es nach Holz. jedermann, der den<br />

Tisch sieht, befühlt <strong>und</strong> beklopft, wird meiner Beschreibung zustimmen,<br />

sodass es auf den ersten Blick aussieht, als ob es gar keine Schwierigkeiten<br />

gäbe. Sie fangen erst an, wenn wir genauer zu sein versuchen:<br />

Obwohl ich glaube, dass der Tisch „in Wirklichkeit“ überall die gleiche<br />

15 Farbe hat, sehen die Stellen, die das Licht reflektieren, viel heller aus als die übrigen, einige Stellen<br />

erscheinen infolge des reflektierten Lichts sogar weiß. Ich weiß, dass andere Stellen das Licht<br />

reflektieren werden, wenn ich mich bewege; die scheinbare Verteilung der Farben auf dem Tisch<br />

wird sich bei jeder Bewegung, die ich mache, verändern. Es folgt, dass, wenn mehrere Leute<br />

den Tisch gleichzeitig betrachten, keine zwei genau dieselbe Farbverteilung sehen werden, weil<br />

20 ihn keine zwei von genau demselben Punkt aus betrachten können <strong>und</strong> weil jede Veränderung<br />

des Blickpunkts auch eine Verschiebung der reflektierenden Stellen mit sich bringt. [...]<br />

Mit der Gestalt des Tisches steht es nicht besser. Wir haben alle die Gewohnheit, Urteile über<br />

die „wirkliche“ Gestalt von Dingen abzugeben, <strong>und</strong> wir tun das so gedankenlos, dass wir uns<br />

einbilden, wir sähen tatsächlich die wirklichen Gestalten. Aber wenn wir versuchen etwas zu<br />

25 zeichnen, müssen wir alle lernen, dass ein bestimmter Gegenstand von jedem Blickpunkt aus<br />

eine andere Gestalt hat. Wenn unser Tisch „in Wirklichkeit“ rechtwinklig ist, wird es von fast<br />

allen Blickpunkten aus so erscheinen, als ob seine Platte zwei spitze <strong>und</strong> zwei stumpfe Winkel<br />

hätte. Wenn gegenüberliegende Seiten parallel sind, werden sie anscheinend in einem Punkt in<br />

der dem Betrachter entgegengesetzten Richtung zusammenlaufen; wenn sie gleich lang sind,<br />

30 wird es so aussehen, als ob die nähere Seite länger wäre. All diese Dinge bemerkt man normalerweise<br />

nicht, wenn man einen Tisch betrachtet, weil die Erfahrung uns gelehrt hat, die „wirkliche“<br />

Gestalt aus der erscheinenden zu konstruieren, <strong>und</strong> die „wirkliche“ Gestalt ist die, die uns<br />

in der Praxis interessiert. [...]<br />

Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich für den Tastsinn. Zwar haben wir immer eine Empfindung<br />

35 von der Härte des Tisches <strong>und</strong> wir fühlen, wie er unserem Druck widersteht. Aber was wir im<br />

Einzelnen für eine Empfindung haben, hängt davon ab, wie stark wir auf den Tisch drücken <strong>und</strong><br />

mit welchem Teil unseres Körpers wir das tun; daher können wir nicht annehmen, dass die verschiedenen<br />

Empfindungen, die durch verschieden starken Druck in verschiedenen Teilen unseres<br />

Körpers hervorgerufen werden, uns unmittelbar eine bestimmte Eigenschaft des Tisches enthül-<br />

40 len; sie sind höchstens Zeichen einer Eigenschaft, die vielleicht all diese Empfindungen verursacht,<br />

aber nicht selbst in einer von ihnen erscheint. [...]<br />

Soviel ist klar: wenn wir etwas über den Tisch wissen, muss dies vermittels der Sinnesdaten -<br />

braune Farbe, rechteckige Fläche, Glätte so usw. -, die wir im Zusammenhang mit dem Tisch<br />

haben, zustande kommen; aber aus den angeführten Gründen können wir nicht sagen, der Tisch<br />

45 wäre dasselbe wie die Sinnesdaten, oder auch nur, dass die Sinnesdaten unmittelbar Eigenschaften<br />

des Tisches wären.<br />

Bertrand Russell, Probleme der <strong>Philosophie</strong> (1912). Aus dem Engl. übers. v. Eberhard Bubser. Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp. 1967, S. 4-13<br />

9


phi3_09_Reader<br />

3 Probleme der Rechtfertigung 2<br />

Evidenz <strong>und</strong> Verstand<br />

3.1 Platon (427-347 v.u.Z.): Über Vernunfterkenntnis<br />

Wann also, sagte Sokrates, gelangt die Seele zur <strong>Wahrheit</strong>? Denn wenn<br />

sie in Verbindung mit dem Körper etwas zu erforschen versucht, wird<br />

sie offenbar von ihm getäuscht.<br />

Simmias: Du hast Recht.<br />

5 Sokrates: Wird ihr also nicht im Denken, wenn irgendwo, etwas von<br />

dem Seienden offenbar?<br />

Simmias: Ja.<br />

Sokrates: Sie denkt aber dann am besten, wenn nichts von diesen Dingen<br />

sie stört, weder Gehör noch Gesicht, noch Schmerz <strong>und</strong> Lust,<br />

10 sondern wenn sie soviel wie möglich ganz für sich ist, indem sie den<br />

Körper gehen lässt <strong>und</strong> soweit wie möglich ohne Gemeinschaft <strong>und</strong><br />

Berührung mit ihm dem wirklichen Sein nachgeht.<br />

Simmias: So ist es.<br />

Sokrates: Verachtet also nicht auch dabei des Philosophen Seele den<br />

15 Körper am meisten, indem sie von ihm flieht <strong>und</strong> ganz selbstständig<br />

zu werden sucht?<br />

Simmias: So scheint es.<br />

Sokrates: Wie steht es aber nun, mein Simmias, mit Folgendem? Sagen wir, dass etwas das Gerechte<br />

an sich sei oder nicht?<br />

20 Simmias: Das behaupten wir allerdings, beim Zeus!<br />

Sokrates: Auch ein Schönes an sich <strong>und</strong> ein Gutes an sich?<br />

Simmias: Wie sollten wir nicht?<br />

Sokrates: Hast du nun wohl schon jemals etwas davon mit den Augen gesehen?<br />

Keineswegs, sagte Simmias.<br />

25 Sokrates: Oder bist du durch irgendeine andere Sinneswahrnehmung dazu gelangt? Ich meine das<br />

aber ganz allgemein, wie z. B. Größe, Ges<strong>und</strong>heit, Stärke, <strong>und</strong> mit einem Worte das eigentliche<br />

Wesen aller Dinge. Wird etwa das eigentlich Wahre an alledem vermittels des Körpers erkannt, oder<br />

verhält es sich nicht vielmehr so: wer sich von uns am meisten <strong>und</strong> genauesten bemüht, jegliches,<br />

was er erforscht, an <strong>und</strong> für sich zu erforschen, kommt der der <strong>Erkenntnis</strong> eines jeden Dinges am<br />

30 nächsten?<br />

Simmias: Allerdings.<br />

Sokrates: Würde nun nicht derjenige das am ungetrübtesten tun, der am meisten mit dem<br />

Verstand allein an das Einzelne herantreten ohne weder das Gesicht zu Hilfe zu nehmen<br />

beim Denken noch irgendeine andere Sinneswahrnehmung bei seinem Nachdenken hinzuzuziehen,<br />

der sich also des reinen Denkens an <strong>und</strong> für sich bedient, jegliches Seiende<br />

35<br />

rein für sich zu fassen trachtet, soviel wie möglich unabhängig von Augen <strong>und</strong> Ohren<br />

<strong>und</strong> sozusagen vom ganzen Körper, der die Seele nur stört <strong>und</strong> sie nicht in den Besitz<br />

der <strong>Wahrheit</strong> <strong>und</strong> <strong>Erkenntnis</strong> gelangen lässt, wenn er mit dabei ist? Ist es nicht ein solcher,<br />

mein Simmias, der, wenn irgendeiner, das Seiende erfassen wird?<br />

Simmias: Du hast vollkommen Recht, mein Sokrates.<br />

Platon: Phaidon, Reclam, Stuttgart 1977, S. 25-27<br />

10


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Welche Bedeutung hat die Evidenz (= Ersichtlichkeit, Klarheit) für die Verstandeserkenntnis?<br />

3.2 Francis Bacon (1561-1626) : Die wahre <strong>Philosophie</strong> (1620)<br />

82. [...] Es bleibt die bloße Erfahrung, die, wenn sie sich von selbst einstellt, Zufall, wenn sie gesucht<br />

wird, Experiment genannt wird. Diese Art von Erfahrung ist aber, wie<br />

man sagt, nichts als ein Besen ohne Band, ein bloßes Herumtappen, so wie<br />

man nachts herumtappt <strong>und</strong> alles betastet, um mit Glück den richtigen Weg<br />

5 zu finden, während es doch viel besser <strong>und</strong> gescheiter wäre, den Tag abzuwarten<br />

oder ein Licht anzuzünden <strong>und</strong> sich dann erst auf den Weg zu machen.<br />

Die wahre Ordnung der Erfahrung verfährt umgekehrt: sie zündet erst<br />

ein Licht an <strong>und</strong> zeigt dann bei diesem Licht den Weg, indem sie von geordneter<br />

<strong>und</strong> wohlüberlegter Erfahrung, nicht etwa von voreiliger <strong>und</strong> planloser,<br />

10 ausgeht <strong>und</strong> aus dieser die Gr<strong>und</strong>sätze ableitet, <strong>und</strong> aus gefestigten Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

wiederum neue Experimente. [...]<br />

95. Diejenigen, die die Wissenschaften bisher betrieben haben, waren entweder Empiriker oder<br />

Dogmatiker. Die Empiriker gehen wie die Ameisen vor: sie tragen nur zusammen <strong>und</strong> gebrauchen;<br />

die Rationalisten aber gehen wie die Spinnen vor: sie produzieren ihr Netz aus sich selbst heraus. Das<br />

15 Verfahren der Biene hält die Mitte zwischen beiden: sie sammelt den Stoff aus den Blüten des Gartens<br />

<strong>und</strong> des Feldes, aber sie verwandelt <strong>und</strong> verarbeitet ihn durch ihre eigene Kraft. Das wahre<br />

Werk der <strong>Philosophie</strong> hat Ähnlichkeit damit: es stützt sich weder ausschließlich noch überwiegend<br />

auf die Kräfte des Geistes <strong>und</strong> nimmt auch nicht den Stoff, den die Naturgeschichte <strong>und</strong> die mechanischen<br />

Experimente bieten, unverändert ins Gedächtnis auf, sondern verwandelt <strong>und</strong> verarbeitet ihn<br />

20 zuvor mit dem Verstande. Daher ist von einem engeren <strong>und</strong> festeren Bündnis dieser beiden Fähigkeiten<br />

(der experimentellen <strong>und</strong> der rationalen), wie es bisher noch nicht zustande gekommen ist, Gutes<br />

zu erhoffen.<br />

Bacon, Francis: Aphorismen über die Interpretation der Natur <strong>und</strong> das Reich des Menschen (1720). Übersetzt von Günter Gawlick. In: Geschichte<br />

der <strong>Philosophie</strong> in Text <strong>und</strong> Darstellung. Empirismus. Stuttgart: Reclam 1980 (RUB 9914)<br />

3.3 René Descartes (1596-1650): Cogito sum (1637)<br />

Ich weiß nicht, ob ich euch von den ersten Betrachtungen (meditations, cogitationes),<br />

die ich hier gemacht habe, unterhalten soll, denn sie sind so metaphy-<br />

25 sisch <strong>und</strong> so wenig in der gewöhnlichen Art, dass sie wohl schwerlich nach<br />

jedermanns Geschmack sein werden. Doch, um prüfen zu lassen, ob die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen, die ich genommen habe, fest genug sind, bin ich gewissermaßen<br />

genötigt, davon zu reden. Seit langem hatte ich bemerkt, dass in Betreff der<br />

Sitten man bisweilen Ansichten, die man als sehr unsicher kennt, folgen müsse<br />

30 (wie schon oben gesagt worden), als ob sie ganz zweifellos waren. Aber weil<br />

ich damals bloß der Erforschung der <strong>Wahrheit</strong> leben wollte, so meinte<br />

ich gerade das Gegenteil tun zu müssen <strong>und</strong> alles, worin sich auch nur das kleinste<br />

Bedenken auffinden ließe, als vollkommen falsch verwerfen, um zu sehen, ob danach<br />

nichts ganz Unzweifelhaftes in meinem Fürwahrhalten übrig bleiben würde ( Methodi-<br />

35 scher Zweifel). So wollte ich, weil unsere Sinne uns bisweilen täuschen, annehmen, dass kein Ding so<br />

wäre, wie die Sinne es uns vorstellen lassen; <strong>und</strong> weil sich manche Leute in ihren Urteilen selbst bei<br />

den einfachsten Materien der Geometrie täuschen <strong>und</strong> Fehlschlüsse machen, so verwarf ich, weil ich<br />

meinte, dem Irrtum so gut wie jeder andere unterworfen zu sein, alle Gründe als falsch, die ich vorher<br />

zu meinen Beweisen genommen hatte; endlich, wie ich bedachte, dass alle Gedanken, die wir im<br />

40 Wachen haben, uns auch im Schlaf kommen können, ohne dass dann einer davon wahr sei, so<br />

machte ich nur absichtlich die erdichtete Vorstellung, dass alle Dinge, die jemals in meinen Geist gekommen,<br />

nicht wahrer seien als die Trugbilder meiner Träume. Alsbald aber machte ich die Beobachtung,<br />

dass, während ich so denken wollte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der<br />

das dachte, irgendetwas sein müsse, <strong>und</strong> da ich bemerkte, dass diese <strong>Wahrheit</strong> „ich den-<br />

45 ke, also bin ich“ (je pense, donc je suis; Ego cogito, ergo sum, sive existo) so fest <strong>und</strong><br />

sicher wäre, dass auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu er-<br />

11


phi3_09_Reader<br />

schüttern vermochten, so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip<br />

der <strong>Philosophie</strong>, die ich suchte, annehmen. Dann prüfte ich aufmerksam, was ich wäre, <strong>und</strong><br />

sah, dass ich mir vorstellen könnte, ich hätte keinen Körper, es gäbe keine Welt <strong>und</strong> keinen Ort, wo<br />

ich mich befände, aber dass ich mir deshalb nicht vorstellen könnte, dass ich nicht wäre; im Gegen-<br />

5 teil, selbst daraus, dass ich an der <strong>Wahrheit</strong> der anderen Dinge zu zweifeln dachte, folgte ja ganz<br />

einleuchtend (évidemment) <strong>und</strong> sicher, dass ich war; sobald ich dagegen aufgehört zu denken,<br />

mochte wohl alles andere, das ich mir jemals vorgestellt, wahr gewesen sein, ich aber hatte keinen<br />

Gr<strong>und</strong> mehr, an mein Dasein zu glauben.<br />

Ich erkannte daraus, dass ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit (essence) oder Natur bloß im<br />

10 Denken bestehe <strong>und</strong> die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen<br />

Dinge abhänge, sodass dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin, vom Körper<br />

völlig verschieden <strong>und</strong> selbst leichter zu erkennen ist als dieser <strong>und</strong> auch ohne Körper nicht aufhören<br />

werde, alles zu sein, was sie ist. Darauf erwog ich im Allgemeinen, was zur <strong>Wahrheit</strong> <strong>und</strong> Gewissheit<br />

eines Satzes (proposition; enuntiatio) gehört.<br />

15 Denn weil ich soeben einen gef<strong>und</strong>en hatte, den ich als wahr <strong>und</strong> gewiss erkannt, so meinte ich,<br />

müsse ich auch wissen, worin jene Gewissheit bestehe. Nun hatte ich bemerkt, dass in dem Satze:<br />

„ich denke, also bin ich“ nichts weiter liegt, was mich von seiner <strong>Wahrheit</strong> überzeugt, als dass ich<br />

ganz klar (très clairement; manifestissime) einsehe, dass, um zu denken, man sein müsse. Darum<br />

meinte ich, als allgemeine Regel den Satz annehmen zu können: dass die Dinge, welche wir sehr<br />

20 klar <strong>und</strong> sehr deutlich (fort clairement et fort distinctement; valde delucide et distincte) begreifen,<br />

alle wahr sind: aber dass allein darin einige Schwierigkeit liege, wohl zu bemerken, welches die Dinge<br />

sind, die wir deutlich begreifen.<br />

Da ich nun weiter bedachte, dass ich zweifelte <strong>und</strong> also mein Wesen nicht<br />

ganz vollkommen wäre, denn ich sah klar, dass es vollkommener sei, zu er-<br />

25 kennen als zu zweifeln, so verfiel ich auf die Untersuchung, woher mir der<br />

Gedanke an ein vollkommeneres Wesen als ich selbst gekommen, <strong>und</strong> ich sah<br />

ohne weiteres ein (je connus évidemment) dass er von einem Wesen herrühren<br />

müsse, das in der Tat vollkommener sei. Was jene Gedanken betrifft, die ich<br />

von einer Menge außer mir befindlicher Wesen hatte, wie vom Himmel, der<br />

30 Erde, dem Licht, der Wärme <strong>und</strong> tausend anderen Dingen, so war ich über<br />

deren Ursprung nicht so sehr in Verlegenheit; denn da ich in ihnen nichts bemerkte,<br />

was mir überlegen war, so konnte ich glauben, wenn sie wahr waren,<br />

dass sie einen Zubehör meiner Natur bildeten, sofern diese eine gewisse Vollkommenheit hätte, <strong>und</strong><br />

wenn sie nicht wahr wären, sie für Ausgeburten des Nichts zu halten, das heißt, dass sie in mir wä-<br />

35 ren wegen der Mangelhaftigkeit meines Wesens. Aber das konnte sich nicht ebenso verhalten mit<br />

der Idee eines vollkommnern Wesens als das meinige, denn offenbar war es unmöglich, diese Idee<br />

aus dem Nichts zu ziehen. Dass das vollkommenste Wesen Folge <strong>und</strong> Zubehör des weniger vollkommenen<br />

sein solle, ist kein geringerer Widerspruch, als dass aus nichts etwas hervorgehe. Darum<br />

konnte ich jene Idee auch nicht für ein Geschöpf meiner selbst halten. Und so blieb nur übrig, dass<br />

40 sie in mich gesetzt war durch ein in <strong>Wahrheit</strong> vollkommneres Wesen als ich, welches alle Vollkommenheiten,<br />

von denen ich eine Idee haben konnte, in sich enthielt, das heißt, um es mit einem Worte<br />

zu sagen, durch Gott.<br />

René Descartes: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Ins Deutsche übertragen von Kuno Fischer.<br />

Reclam: Stuttgart. 1961. S.30-33<br />

3.4 Immanuel Kant (1724-1804): <strong>Erkenntnis</strong>se a priori <strong>und</strong> a posteriori<br />

(1787)<br />

Dass alle unsere <strong>Erkenntnis</strong> mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch<br />

sollte das <strong>Erkenntnis</strong>vermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht<br />

45 durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren <strong>und</strong> teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere<br />

Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen,<br />

<strong>und</strong> so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer <strong>Erkenntnis</strong> der Gegenstände zu verarbeiten,<br />

die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine <strong>Erkenntnis</strong> in uns vor der Erfahrung<br />

vorher, <strong>und</strong> mit dieser fängt alle an.<br />

50 Wenn aber gleich alle unsere <strong>Erkenntnis</strong> mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch<br />

12


phi3_09_Reader<br />

nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, dass<br />

selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem<br />

sei, was wir durch Eindrücke empfangen, <strong>und</strong> dem, was unser eigenes<br />

<strong>Erkenntnis</strong>vermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst)<br />

5 aus sich selbst hergibt, welchen Zusatz wir von jenem Gr<strong>und</strong>stoffe<br />

nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam<br />

<strong>und</strong> zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat. Es ist also<br />

wenigstens eine der näheren Untersuchung noch benötigte <strong>und</strong><br />

nicht auf so den ersten Anschein sogleich abzufertigende Frage: ob es<br />

10 ein dergleichen von der Erfahrung <strong>und</strong> selbst von allen Eindrücken<br />

der Sinne unabhängiges <strong>Erkenntnis</strong> gebe. Man nennt solche <strong>Erkenntnis</strong>se<br />

a priori, <strong>und</strong> unterscheidet sie von den empirischen, die<br />

ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung, haben. [...]<br />

Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines 5 <strong>Erkenntnis</strong> von empirischen un-<br />

15 terscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, dass etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, dass<br />

es nicht anders sein könne. Findet sich also erstlich ein Satz, der zugleich mit seiner Notwendigkeit<br />

gedacht wird, so ist er ein Urteil a priori; [...]. Zweitens: Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen<br />

wahre oder strenge, sondern nur angenommene <strong>und</strong> komparative Allgemeinheit (durch Induktion),<br />

sodass es eigentlich heißen muss: so viel wir bisher wahrgenommen haben, findet<br />

20 sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme. Wird also ein Urteil in strenger Allgemeinheit<br />

gedacht, d. i. so, dass gar keine<br />

Ausnahme als möglich verstattet<br />

wird, so ist es nicht von der Erfahrung<br />

abgeleitet, sondern<br />

25 schlechterdings a priori gültig.<br />

Die empirische Allgemeinheit ist<br />

also nur eine willkürliche Steigerung<br />

der Gültigkeit, von der, welche<br />

in den meisten Fällen, zu der,<br />

30 die in allen gilt, wie z. B. in dem<br />

Satze: alle Körper sind schwer; wo<br />

dagegen strenge Allgemeinheit zu<br />

einem Urteile wesentlich gehört,<br />

da zeigt diese auf einen beson-<br />

35 deren <strong>Erkenntnis</strong>quell desselben,<br />

nämlich ein Vermögen des <strong>Erkenntnis</strong>ses<br />

a priori. Notwendigkeit<br />

<strong>und</strong> strenge Allgemeinheit<br />

sind also sichere Kennzeichen<br />

40 einer <strong>Erkenntnis</strong> a priori, <strong>und</strong><br />

gehören auch unzertrennlich zueinander.<br />

[...]<br />

Dass es nun dergleichen notwendige<br />

<strong>und</strong> im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori, im menschlichen Er-<br />

45 kenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen. Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf<br />

man nur auf alle Sätze der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten<br />

Verstandesgebrauche, so kann der Satz, dass alle Veränderung eine Ursache haben müsse,<br />

dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff einer Ursache so offenbar den Begriff<br />

einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung <strong>und</strong> einer strengen Allgemein-<br />

50 heit der Regel, dass er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn, wie Hume es tat, von<br />

einer öftern Beigesellung dessen was geschieht, mit dem was vorhergeht, <strong>und</strong> einer daraus<br />

entspringenden Gewohnheit, (mithin bloß subjektiven Notwendigkeit), Vorstellungen zu verknüpfen,<br />

ableiten wollte.<br />

Aus: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Philipp Reclam: Stuttgart 1966, S. 49 ff<br />

Abbildung: aus: Richard Osborne, <strong>Philosophie</strong>. Eine Bildergeschichte für Einsteiger. Illustrationen von Ralph Edney. (1992)<br />

5 apriorisches<br />

13


phi3_09_Reader<br />

4 Probleme der Rechtfertigung 3<br />

Erklären <strong>und</strong> Verstehen<br />

4.1 Erklären <strong>und</strong> Verstehen<br />

Lange Zeit wurde die naturwissenschaftliche Methode als einzig akzeptable wissenschaftliche<br />

Methode angesehen <strong>und</strong> die Geisteswissenschaften waren bemüht, diese Methode zu übernehmen.<br />

Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts grenzten J. G. Droysen <strong>und</strong> W. Dilthey die geisteswissenschaftliche<br />

Methode des Verstehens von der naturwissenschaftlichen Mode des (kausalen) Erklärens<br />

ab.<br />

Verstehen zielt auf das Erfassen von Sinn, von Bedeutung, während das Erklären Phänomene<br />

kausal auf Gründe <strong>und</strong> Ursachen zurückführt. „Verstehen heißt vor allem vereinen.“ (Albert<br />

Camus)<br />

Das Verstehen wurde zum Ausgangspunkt verschiedener philosophischer Richtungen, wie z. B.<br />

der an M. Heidegger anknüpfenden Hermeneutik von Bollnow <strong>und</strong> insbesondere von Gadamer.<br />

Die Erweiterung dieses Modells geht insbesondere auf den Einfluss des späten L. Wittgenstein<br />

zurück. Max Weber führte 1921 den Begriff in die Soziologie ein. Für die neueren Diskussionen<br />

war das Buch von G. H. von Wright (Explanation and Understanding 1971) wegweisend.<br />

4.2 Otto Friedrich Bollnow(1903-1991): Die Unmöglichkeit eines absoluten<br />

Anfangs (1970)<br />

Es ist mit dem Erkennen nicht anders als mit dem Leben überhaupt: Wir finden uns immer<br />

schon in unserem Leben vor, „hineingeworfen“ in unsre Welt, <strong>und</strong> so weit wir auch zurückgehen,<br />

es gibt keine Möglichkeit, diesem „schon immer“ zu entgehen. Das gilt von unserem individuellen<br />

Leben. Mag uns das Wissen vom Tag unsrer Geburt auch<br />

5 von andern überliefert sein, in unserem eignen erlebten Leben wissen<br />

wir von keinem Anfang. So weit wir auch in der Erinnerung zurückgehen,<br />

so verliert sich unser Blick schließlich im Dunkel der Kindheit.<br />

Das gilt entsprechend von der Geschichte im ganzen. Mag auch das<br />

mythische Weltbild bestimmte Anfangsdaten für die Geschichte ange-<br />

10 geben haben, so verliert sich der Anfang der Geschichte vor dem tiefer<br />

dringenden Forschen der Wissenschaft in unaufhellbarem Dunkel.<br />

Wir denken dabei an den Beginn von Thomas Manns Josephsroman:<br />

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, so beginnt er. Er betont,<br />

„dass, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Ver-<br />

15 gangenen man dringt <strong>und</strong> tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen,<br />

seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar<br />

erweisen <strong>und</strong> vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge<br />

wir seine Schnur auch abspule, immer wieder <strong>und</strong> weiter ins Bodenlose zurückweichen.“<br />

6<br />

20 „Jeder Anfang ist“, wie schon Dilthey feststellte, „willkürlich“ 7 . Ein möglicher Ursprung des<br />

Menschengeschlechts ist für die Geschichtsforschung ebenso unerreichbar wie der Geburtstag<br />

des individuellen Lebens für die Erinnerung. Wir können nicht nach dem Ursprung der Sprache,<br />

der Kultur usw. fragen, weil wir, wo immer wir Menschen antreffen, wir auch schon immer<br />

Sprache, Kultur usw. antreffen.<br />

25 Und so ist es auch mit der <strong>Erkenntnis</strong>. Der Mensch lebt schon immer in einer verstandenen<br />

Welt, <strong>und</strong> es hat schlechterdings keinen Sinn, hinter dies Verständnis zurückgreifen zu wollen<br />

6<br />

Thomas Mann begann sein Romanwerk Joseph <strong>und</strong> seine Bruder 1926 in München. Bollnow zitiert aus der Taschenbuchausgabe<br />

Bd. 1, Frankfurt a. M. 1967. S. 5.<br />

7<br />

Wilhelm Dilthey (1833-1911) gehörte als Philosoph zur „historischen Schule, die die geschichtlichen Erscheinungsformen des<br />

menschlichen Lebens untersuchte. Bollnow zitiert aus Bd. 1 der Gesammelten Schriften. Leipzig, Berlin 1923ff. S.419<br />

14


phi3_09_Reader<br />

auf einen Anfangszustand, wo der Mensch seine <strong>Erkenntnis</strong> von Gr<strong>und</strong> aus neu aufbauen könnte.<br />

Mag auch dies Verständnis beim Kind kleiner sein als beim Erwachsenen <strong>und</strong> weniger differenziert,<br />

immer ist es doch schon als Verständnis ein Ganzes [...]. Und wo sich der Anfang des<br />

individuellen Weltverständnisses im Dunkel der frühen Kindheit verliert, in das keine psychologi-<br />

5 sche Forschung mehr vorzudringen vermag, da ist es immer schon getragen von einem überlieferten<br />

kollektiven Verständnis, das es aus seiner Umgebung aufgenommen hat, lange ehe das<br />

Kind sich davon Rechenschaft geben kann, <strong>und</strong> das aus dem menschlichen Zusammenleben unaufhörlich<br />

in die Ausbildung seiner Vorstellungen einfließt. Auch der Ursprung des Weltverständnisses<br />

jedes einzelnen Menschen verliert sich im Dunkel der Geschlechterfolge. Wir kommen zu<br />

10 keinem Anfang.<br />

Aus: Bollnow, Otto Friedrich: <strong>Philosophie</strong> der <strong>Erkenntnis</strong>. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: W. Kohlhammer. 1970. S.22-23<br />

4.3 Hans-Georg Gadamer (1900-2002): Hermeneutik<br />

Zu Beginn des Artikels Hermeneutik im Historischen Wörterbuch der <strong>Philosophie</strong> schreibt Hans-Georg<br />

Gadamer folgendes:<br />

„Hermeneutik ist die Kunst des hermeneuein, d.h. des Verkündens, Dolmetschens, Erklärens <strong>und</strong> Auslegens,<br />

Hermes hieß der Götterbote, der die Botschaften der Götter den Sterblichen ausrichtet. Sein<br />

15 Verkünden ist offenk<strong>und</strong>ig kein bloßes Mitteilen, sondern Erklären von göttlichen Befehlen, <strong>und</strong> zwar<br />

so, daß er diese in sterblicher Sprache <strong>und</strong> Verständlichkeit übersetzt. Die Leistung der H. besteht<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich immer darin, einen Sinnzusammenhang aus einer anderen „Welt“ in die eigene zu ü-<br />

bertragen. Das gilt auch von der Gr<strong>und</strong>bedeutung von hermeneia, die „Aussage von Gedanken“ ist,<br />

wobei der Begriff der Aussage selber vieldeutig ist, Äußerung, Erklärung, Auslegung <strong>und</strong> Übersetzung<br />

20 umfassend. Die Aristotelische Schrift Peri hermeneias, ein Teil des Organon, ist gar keine H., sondern<br />

eine Art logische Grammatik, die die logischen Strukturen des apophantischen Logos (des Urteils)<br />

untersucht <strong>und</strong> alle anderen Arten des Logos, bei denen es nicht nur auf das Wahrsein ankommt,<br />

ausschließt. Die H. als Kunst gehört nach Platon nicht allem Ausdruck von Gedanken zu, sondern<br />

allein dem Wissen, das anweist, wie das des Königs, des Herolds usw. In der Epinomis steht die H.<br />

25 in einer Reihe mit der Mantik - offenbar als eine Kunst, die den Götterwillen erklärt, im klaren Doppelsinn<br />

von Mitteilen <strong>und</strong> Gehorsamfordern. Im späteren Griechischen kann dann hermeneia freilich<br />

sehr wohl „gelehrte Erklärung“ <strong>und</strong> hermeneus „Erklärer“ wie „Übersetzer“ heißen. Aber es ist doch<br />

bezeichnend, dass die „Kunst“ der hermeneia, die H., an die Sakralsphäre geb<strong>und</strong>en war, in der ein<br />

autoritativer Wille Maßgebliches dem Hörenden eröffnet. Davon ist in dem heutigen wissenschaftheo-<br />

30 retischen Bewußtsein nichts mehr lebendig, auch wenn die Hauptformen, in denen H. ihre Ausbildung<br />

fand, die juristische Auslegung der Gesetze <strong>und</strong> die theologische oder philologische Auslegung<br />

heiliger oder klassischer Texte, den ursprünglich normativen Sinn durchaus noch implizieren. Wenn<br />

wir heute von H. reden, stehen wir dagegen in der Wissenschaftstradition der Neuzeit.“ (Gadamer<br />

1974, 1061-1062)<br />

4.4 Ludwig Wittgenstein (1889-1951): Sprachspiele (1939)<br />

35 1. Augustinus, in den Confessiones 1/8: Nannten die Erwachsenen irgend einen Gegenstand<br />

<strong>und</strong> wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr <strong>und</strong> ich begriff, dass der Gegenstand<br />

durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn hinweisen wollten.<br />

Dies aber entnahm ich aus ihren Gebärden, der natürlichen Sprache aller Völker, der Sprache,<br />

die durch Mienen- <strong>und</strong> Augenspiel, durch die Bewegungen der Glieder <strong>und</strong> den Klang der<br />

40 Stimme die Empfindungen der Seele anzeigt, wenn diese irgend etwas begehrt, oder festhält,<br />

oder zurückweist, oder flieht. So lernte ich nach <strong>und</strong> nach verstehen, welche Dinge die Wörter<br />

bezeichneten, die ich wieder <strong>und</strong> wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen,<br />

aussprechen hörte. Und ich brachte, als nun mein M<strong>und</strong> sich an diese Zeichen gewöhnt hatte,<br />

durch sie meine Wünsche zum Ausdruck.<br />

45 In diesen Worten erhalten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der<br />

menschlichen Sprache. Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände - Sätze<br />

sind Verbindungen von solchen Benennungen. - In diesem Bild von der Sprache finden wir die<br />

15


phi3_09_Reader<br />

Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet.<br />

Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.<br />

Von einem Unterschied der Wortarten spricht Augustinus nicht. Wer das Lernen der Sprache so<br />

beschreibt, denkt, so möchte ich glauben, zunächst an Hauptwörter, wie „Tisch“, „Stuhl“,<br />

5 „Brot“, <strong>und</strong> die Namen von Personen, erst in zweiter Linie an die Namen gewisser Tätigkeiten<br />

<strong>und</strong> Eigenschaften, <strong>und</strong> an die übrigen Wortarten als etwas, was sich finden wird.<br />

Denke nun an diese Verwendung der Sprache: Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen<br />

Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: „fünf rote Äpfel“. Er trägt den Zettel zum Kaufmann;<br />

der öffnet die Lade, auf welcher das Zeichen „Äpfel“ steht; dann sucht<br />

10 er in einer Tabelle das Wort „rot“ auf <strong>und</strong> findet ihm gegenüber ein<br />

Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Gr<strong>und</strong>zahlwörter - ich nehme<br />

an, er weiß sie auswendig - bis zum Worte „fünf“ <strong>und</strong> bei jedem Zahlwort<br />

nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters<br />

hat. - So, <strong>und</strong> ähnlich, operiert man mit Worten. – „Wie weiß er a-<br />

15 ber, wo <strong>und</strong> wie er das Wort ,rot' nachschlagen soll <strong>und</strong> was er mit<br />

dem Wort ,fünf' anzufangen hat?“ - Nun, ich nehme an, er handelt,<br />

wie ich es beschrieben habe. Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende.<br />

- Was ist aber die Bedeutung des Wortes „fünf“? - Von einer solchen<br />

war hier gar nicht die Rede; nur davon, wie das Wort „fünf“ ge-<br />

20 braucht wird. [...]<br />

Man könnte also sagen: Die hinweisende Definition erklärt den Gebrauch - die Bedeutung - des<br />

Wortes, wenn es schon klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll.<br />

Wenn ich also weiß, dass Einer mir ein Farbwort erklären will, so wird mir die hinweisende Erklärung<br />

»Das heißt >Sepia


phi3_09_Reader<br />

Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, <strong>und</strong> anderen, vor Augen:<br />

Befehlen, <strong>und</strong> nach Befehlen handeln –<br />

Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen -<br />

Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) –<br />

5 Berichten eines Hergangs –<br />

Über den Hergang Vermutungen anstellen –<br />

Eine Hypothese aufstellen <strong>und</strong> prüfen<br />

Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen <strong>und</strong> Diagramme -<br />

Eine Geschichte erfinden; <strong>und</strong> lesen -<br />

10 Theater spielen –<br />

Reigen singen –<br />

Rätsel raten –<br />

Einen Witz machen; erzählen – (S.250)<br />

43. Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ –<br />

15 wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines<br />

Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache (S.262)<br />

65. Hier stoßen wir auf die große Frage, die hinter allen diesen Betrachtungen steht. Denn<br />

man könnte mir einwenden: „Du machst dir's leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen,<br />

hast aber nirgends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, <strong>und</strong> also der Spra-<br />

20 che, ist. Was allen diesen Vorgängen gemeinsam ist <strong>und</strong> sie zur Sprache, oder zu Teilen der<br />

Sprache macht. [...]“<br />

Und das ist wahr. - Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam<br />

ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das<br />

gleiche Wort verwenden, - sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen ver-<br />

25 wandt. Und dieser Verwandtschaft, oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle<br />

„Sprachen“. Ich will versuchen, dies zu erklären.<br />

66. Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir „Spiele“ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele,<br />

Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? - Sag nicht: „Es muss ihnen<br />

etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ,Spiele’ - sondern schau, ob ihnen allen etwas<br />

30 gemeinsam ist. - Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam<br />

wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, <strong>und</strong> zwar eine ganze Reihe.<br />

[...] Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von<br />

Ähnlichkeiten, die einander übergreifen <strong>und</strong> kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen <strong>und</strong> Kleinen.<br />

67. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wortfamilienähn-<br />

35 lichkeiten“; denn so übergreifen <strong>und</strong> kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen<br />

den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament,<br />

etc. etc. Und ich werde sagen: die ,Spiele' bilden eine Familie. (S.276-278)<br />

71. Man kann sagen, der Begriff ,Spiel' ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern. „Aber ist<br />

ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff „ - Ist eine unscharfe Photographie über-<br />

40 haupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein<br />

scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen? (S.280)<br />

Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1. Suhrkamp: Frankfurt/Main 1993<br />

1. Überlegen Sie, was Wittgensteins Aussagen für die Bedeutung von Liebe, Geist usw. bedeutet.<br />

2. Wie stellen Sie fest, wenn Sie ein Wort falsch verstanden haben? Kann man sagen, man<br />

habe ein Wort richtig gebraucht, aber seine Bedeutung nicht verstanden?<br />

17


phi3_09_Reader<br />

5 Die Bedeutung des Glaubens für die <strong>Erkenntnis</strong><br />

5.1 David Hume (1711-76): Vernunft <strong>und</strong> Glaube (1740)<br />

Was ist oder worin besteht dieser Glaube <strong>und</strong> wie unterscheidet er sich vom bloßen Denken? Dies<br />

ist eine Frage, über die Philosophen bislang überhaupt noch nicht nachgedacht haben. 8 [...]<br />

Was dagegen Tatsachen angeht, so mögen die Erfahrungsgründe, dass etwas der Fall ist, so stark<br />

sein, wie sie wollen, ich kann doch stets das Gegenteil denken, allerdings nicht immer auch glauben.<br />

5 Also ist es der Glaube, der in diesem Fall den Unterschied macht zwischen einem Gedanken, dem wir<br />

zustimmen, <strong>und</strong> einem, dem wir nicht zustimmen.<br />

Es gibt hierfür nur zwei mögliche Erklärungen. So könnte man behaupten, der Glaube sei eine besondere<br />

Vorstellung, die zu den Vorstellungen, die man haben kann, ohne ihnen zuzustimmen, hinzukomme.<br />

Aber dieser Erklärungsversuch geht fehl. Denn erstens lässt sich keine solche Vorstellung<br />

10 nachweisen. Denken wir uns etwas, so denken wir es uns vollständig. Wir denken es uns, wie es e-<br />

xistieren könnte, wenn wir auch nicht glauben, dass es existiert. Und der Glaube, dass es existiert,<br />

würde keine neue Eigenschaft des Gegenstandes aufdecken. Wir können uns den Gegenstand in der<br />

Einbildung vollständig ausmalen, ohne zu glauben, dass es ihn gibt. Und wenn wir uns den in jeder<br />

Hinsicht, auch nach Zeit <strong>und</strong> Ort bestimmten Gegenstand vorstellen, so denken wir uns, dass eben<br />

15 dieses Objekt existieren könnte. Glauben wir nun, dass es existiert, so tun wir nicht mehr oder anderes<br />

als zu glauben, dass genau dieser Gegenstand existiert.<br />

Zweitens besitzen wir die Fähigkeit, im Denken beliebige Vorstellungen miteinander zu verbinden,<br />

wenn sie nur keinen Widerspruch bilden. Wäre nun der Glaube eine besondere eigene Vorstellung,<br />

die wir zum bloßen Gedanken hinzusetzen, so könnten wir durch die Hinzufügung der Vorstellung<br />

20 des Glaubens für wahr halten, was immer wir uns denken können.<br />

David Hume: Abriss eines neuen Buches, betitelt Ein Traktat über die menschliche Natur etc. worin dessen Hauptgedanken weiter erläutert<br />

<strong>und</strong> erklärt werden (1740), übersetzt, herausgegeben <strong>und</strong> eingeleitet von Jens Kuhlenkampf. Hamburg: Felix-Meiner. 1980. Philosophische<br />

Bibliothek 320.<br />

5.2 Charles S. Peirce (1839-1915): Das Fürwahrhalten 9 (1893)<br />

Zweifel ist ein unangenehmer <strong>und</strong> unbefriedigender Zustand, in dem wir<br />

Anstrengungen machen, uns von ihm zu befreien <strong>und</strong> den Zustand der<br />

Überzeugung zu erreichen suchen. Ich nenne diese Anstrengungen „Forschen“,<br />

obwohl ich zugestehen muss, dass das oft keine passende Bezeichnung<br />

ist. [...]<br />

Mit dem Zweifel beginnt also der innere Kampf, <strong>und</strong> mit dem Aufhören<br />

des Zweifels endet er. Insofern ist das einzige Ziel des Forschens, eine<br />

Meinung festzulegen. Wir mögen uns zwar einbilden, das sei nicht genug<br />

für uns <strong>und</strong> wir suchten nicht bloß eine Meinung, sondern eine wahre<br />

Meinung. Aber stelle diese Einbildung auf die Probe, <strong>und</strong> sie erweist sich<br />

als gr<strong>und</strong>los, denn sobald eine feste Überzeugung erreicht ist, sind, wir<br />

völlig zufriedengestellt gleichgültig ob, die Überzeugung wahr oder falsch<br />

ist. [...]<br />

Das Äußerste, was wir behaupten können, ist, dass wir nach einer Überzeugung „suchen“ die wir für<br />

wahr h a l t e n . Aber wir halten jede unserer Überzeugungen für wahr, <strong>und</strong> daher ist die letzte vorgeschlagene<br />

Ausdrucksweise eine bloße Tautologie. 10<br />

Dass die Festlegung einer Meinung das einzige Ziel des Forschens ist, ist ein sehr wichtiger Satz. Er<br />

wischt mit einem Schlage verschiedene vage <strong>und</strong> irrige Vorstellungen über einen Beweis weg.<br />

In: Ch. S.- Peirce: Schriften 1. Zur Entstehung des Pragmatismus. Hrsg. v. K.-O. Apel. Reihe Theorie I. Frankfurt am Main: Suhrkamp<br />

1967, S. 300 ff.<br />

8<br />

Hier, wird man sagen, nimmt „unser Autor“, den M<strong>und</strong> ein wenig voll, da er wissen musste, dass immerhin Locke im vierten Buch<br />

seines 'Versuchs über den menschlichen Verstand' unter dem Titel: Of Knowledge and Opinion eine ausführliche Analyse von Arten <strong>und</strong><br />

Graden des Wissens <strong>und</strong> der Wahrscheinlichkeit, der Gewissheit <strong>und</strong> des Glaubens vorgenommen hat. In wesentlichen Punkten stimmt<br />

Humes Theorie des Glaubens auch mit der Lockes überein; einzig in den Thesen, dass Glaube nicht eine besondere, mit anderen<br />

verknüpfbare Vorstellung, sondern bloß eine besondere Art des Denkens <strong>und</strong> dass er als eine Folge von Gewöhnung anzusehen sei,<br />

geht Hume über Locke hinaus, doch ohne etwas zu behaupten, was sich mit Lockes Analyse nicht vereinbaren ließe.<br />

9<br />

Die Überschrift stammt nicht von Peirce.<br />

10<br />

Tautologie (griechisch: tauto legein = dasselbe sagen):, Verdoppelung einer Aussage [entweder überflüssigerweise (so oben bei Peirce<br />

gebraucht) oder notwendigerweise (etwa bei Worterklärungen: z. B. „Rotation“'= Bewegung um eine Achse)]<br />

18


phi3_09_Reader<br />

6 <strong>Wahrheit</strong><br />

1. Betrachten Sie das Bild näher:<br />

- Wie ist die Gestalt in der Mitte dargestellt, wie die übrigen? Was drücken die Körperhaltungen<br />

aus?<br />

- Warum ist die Gestalt in der Mitte eine Frau? Warum ist sie nackt?<br />

- Welches Geschlecht haben die übrigen Gestalten? Warum? Warum sind sie teilweise<br />

von Tüchern bedeckt?<br />

- Wie ist der Boden gestaltet? Was hat das für eine Bedeutung?<br />

- Schreiben Sie drei Sätze auf, die die Frau Ihrer Meinung nach sagen könnte.<br />

2. Welche Aussage wird mit diesem Bild über die „<strong>Wahrheit</strong>“ gemacht?<br />

3. Welche Aussagen werden in den folgenden Bildern über die „<strong>Wahrheit</strong>“ gemacht?<br />

19


phi3_09_Reader<br />

Die Welt als solche ist weder wahr noch falsch. Sie ist, wie sie ist.<br />

Wahr oder falsch können im strengen Sinn nur Sätze über die Welt<br />

sein.<br />

Adäquations- <strong>und</strong> Korrespondenztheorien der <strong>Wahrheit</strong><br />

Unter diesen Voraussetzungen wäre nun natürlich die einfachste <strong>Wahrheit</strong>sdefinition<br />

etwa folgende: Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie<br />

mit dem behaupteten Sachverhalt übereinstimmt. Ebenso wie Aristoteles,<br />

„Die Sätze sind entsprechend wahr, wie es die Dinge sind.“ (De Int. 9, 19 a 33), definiert Kant<br />

5 die <strong>Wahrheit</strong> als „Übereinstimmung der <strong>Erkenntnis</strong> mit ihrem Gegenstande“ (KrV, B 82)).<br />

Ähnliches hatte wohl schon THOMAS VON AQUIN im Sinne gehabt, als er in dem Buch Summa contra<br />

Gentiles die <strong>Wahrheit</strong> als eine Angleichung von Verstand <strong>und</strong> Sache („adaequatio intellectus et<br />

rei“) definierte. [ ... ] Man fasst diese Überlegungen, ausgehend von THOMAS VON AQUIN, auch unter<br />

dem Titel „Adäquations-“ oder „Korrespondenztheorien“ zusammen. Der Gr<strong>und</strong>gedanke dabei ist,<br />

10 dass unser <strong>Erkenntnis</strong>vermögen - Verstand, Vernunft, Intellekt - Übereinstimmung, Angleichung mit<br />

den behaupteten Sachverhalten anstreben muss. So einleuchtend dies vielleicht klingen mag, verbergen<br />

sich hinter diesen <strong>Wahrheit</strong>stheorien dennoch gravierende Schwierigkeiten.<br />

Um feststellen zu können, ob eine Übereinstimmung zwischen einer Aussage <strong>und</strong> dem behaupteten<br />

Gegenstand besteht, muss ich nämlich die <strong>Wahrheit</strong> immer schon wissen: Ich kann einen Lügner<br />

15 nicht der Lüge überführen, wenn ich die <strong>Wahrheit</strong> nicht kenne. Diese Form der <strong>Wahrheit</strong>sdefinition<br />

setzt also das, was sie zu definieren vorgibt - die <strong>Wahrheit</strong> - immer schon voraus.<br />

Kohärenztheorien<br />

Die Schwierigkeiten mit der Korrespondenztheorie führten zu anderen Versuchen, die <strong>Wahrheit</strong> von<br />

Aussagen zu bestimmen. Die sogenannte „Kohärenztheorie“ verzichtet völlig darauf, <strong>Wahrheit</strong> als<br />

Übereinstimmung einer Aussage mit ihrem Gegenstand zu beschreiben, sondern begnügt sich damit,<br />

20 zu fordern, dass Aussagen mit anderen Aussagen nicht in Widerspruch treten dürfen - vorausgesetzt<br />

natürlich, sie beziehen sich auf dieselben Inhalte. Treten also innerhalb einer wissenschaftlichen Theorie<br />

logische Widersprüche auf, muss etwas falsch an der Theorie sein: Sie ist dann „inkohärent“. Was<br />

auf den ersten Blick seltsam erscheinen mag, hat aber durchaus seinen Sinn. Denken wir an das vorhin<br />

erwähnte Beispiel vom Lügner: Auch wenn ich die <strong>Wahrheit</strong> nicht kenne, vermute ich eine Lüge,<br />

25 wenn der Lügner sich in einen logischen Widerspruch verwickelt - auch wenn ich keine Ahnung habe,<br />

was Person X am Abend gemacht hat. Behauptet sie einmal, am Abend im Kino, kurz darauf, im<br />

Theater gewesen zu sein, werde ich stutzig werden <strong>und</strong> genauer nachfragen. Natürlich kann Kohärenz<br />

- auch in der Wissenschaft - kein endgültiger Garant für <strong>Wahrheit</strong> sein, aber doch so etwas wie<br />

ein Zuverlässigkeitskriterium.<br />

Konsenstheorien<br />

30 Man kann die Kohärenztheorie allerdings noch weiter treiben <strong>und</strong> nicht nur Übereinstimmung zwischen<br />

theoretischen Aussagen als <strong>Wahrheit</strong>skriterium festlegen, sondern überhaupt zur Voraussetzung<br />

machen, dass die Menschen, die über eine Sache verhandeln, dann der <strong>Wahrheit</strong> zumindest nahe<br />

sind, wenn sie eine Übereinstimmung, einen Konsens erreicht haben. Voraussetzung für diese, in<br />

Deutschland vor allem von Jürgen HABERMAS <strong>und</strong> Karl Otto APEL vertretene Theorie ist allerdings,<br />

35 dass ich allen Menschen eine verhandlungsfähige Vernunft <strong>und</strong> Kommunikationsfähigkeit zuschreibe<br />

<strong>und</strong> es ausschließe, dass es zu einseitigen Beeinflussungen, Drohungen etc. kommt. HABERMAS <strong>und</strong><br />

APEL forderten daher auch den „herrschaftsfreien Diskurs“ als jene Form, in der über <strong>Wahrheit</strong>sfragen<br />

entschieden werden sollte. Argumente seien so lange auszutauschen, bis man Übereinstimmung<br />

erreicht hat - also nicht etwa dürfe darüber „abgestimmt“ werden.<br />

40 Ein Gedanke, der hier mitspielt, ist wohl der, dass es, wenn es schon nicht gelingt, <strong>Wahrheit</strong> theoretisch<br />

eindeutig zu definieren, wenigstens denjenigen, die von einer Sache betroffen sind, überlassen<br />

bleiben muss, durch einen intensiven Diskurs die „<strong>Wahrheit</strong>“, das, was für alle nach ihrer eigenen<br />

Vernünftigkeit akzeptabel erscheint, zu finden. Verwandt ist diese Konzeption mit der sogenannten<br />

pragmatischen <strong>Wahrheit</strong>stheorie, die um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende von den amerikanischen Philosophen<br />

45 William JAMES <strong>und</strong> Charles PEIRCE entwickelt wurde. Wahr sind danach alle Aussagen <strong>und</strong> Theorien,<br />

die sich als nützlich <strong>und</strong> brauchbar erwiesen <strong>und</strong> bewährt haben. Offen bleiben muss dabei allerdings,<br />

wie überhaupt festgestellt werden kann, was wem - vor allem in einer größeren Gemeinschaft<br />

- nützt.<br />

Konrad Liessmann/Gerhard Zenaty. Aus: <strong>Philosophie</strong>ren 1. Bamberg: Buchner 2005. S.244<br />

20


phi3_09_Reader<br />

Ernst von Glasersfeld (geb. 1917):<br />

Konstruktion der Wirklichkeit <strong>und</strong> des Begriffs der Objektivität.<br />

Die konstruktivistische Denkweise [...] setzt sich vor allem darin von den philosophischen Traditionen<br />

ab, dass sie das herkömmliche Verhältnis zwischen der Welt der erfassbaren Erlebnisse<br />

<strong>und</strong> der ontologischen 11 Wirklichkeit durch ein anderes begriffliches Verhältnis ersetzt. Wo die<br />

Überlieferung, trotz Kant, zwischen Erlebnis <strong>und</strong> „Wirklichkeit“ stets Gleichförmigkeit, Überein-<br />

5 stimmung oder zumindest Korrespondenz als natürliche <strong>und</strong> unerlässliche Voraussetzung betrachtete,<br />

postuliert der radikale Konstruktivismus die gr<strong>und</strong>sätzlich andersartige Beziehung<br />

der Kompatibilität oder, wie ich sie in Anlehnung an den englischen Ausdruck nennen<br />

möchte, der Viabilität 12 . [...] Die Relation der Viabilität ist auf den Begriff des Passens im Sinne<br />

des Funktionierens gegründet. Das heißt, etwas wird als „viabel“ bezeichnet, solange es nicht mit<br />

10 etwaigen Beschränkungen oder Hindernissen in Konflikt gerät. [...] Das heißt, unsere Sinnesorgane<br />

„melden“ uns stets nur mehr oder weniger hartes Anstoßen an ein Hindernis, vermitteln uns<br />

aber niemals Merkmale oder Eigenschaften dessen, woran sie stoßen. Diese Eigenschaften stammen<br />

ganz <strong>und</strong> gar aus der Art <strong>und</strong> Weise, wie wir Sinnessignale interpretieren. Vom Gesichtspunkt<br />

des Handelnden ist es irrelevant, ob seine Vorstellungen von der Umwelt ein „wahres“ Bild<br />

15 der optischen Wirklichkeit darstellen - was er braucht, ist eine Vorstellung, die es ihm erlaubt,<br />

Zusammenstöße mit den Schranken der Wirklichkeit zu vermeiden <strong>und</strong> an sein Ziel zu kommen.<br />

Der Begriff der Viabilität bietet einen Weg, das herkömmliche Wissensproblem zu umgehen.<br />

Dieser Weg beruht auf einer radikalen Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Wissen<br />

20 <strong>und</strong> Wirklichkeit. Wahrnehmung <strong>und</strong> <strong>Erkenntnis</strong> wären demnach also konstruktive <strong>und</strong> nicht<br />

abbildende Tätigkeiten. Diese Hypothese wirft freilich sofort die Frage nach der Beziehung auf,<br />

die zwischen den Ergebnissen der konstruktiven Tätigkeit <strong>und</strong> der optischen Welt bestehen<br />

muss. Da wir ja nur zu gut wissen, dass in unserer Erlebenswelt Dinge, Zustände <strong>und</strong> Verhältnisse<br />

keineswegs immer so sind, wie wir sie haben möchten, können wir uns kaum in<br />

25 jenen Solipsismus 13 flüchten, wonach nur das existiert, was wir uns vorstellen. Das ist nun aber<br />

der Punkt, wo der Begriff der Viabilität einen Ausweg schafft. Statt einer ikonischen 14 Beziehung<br />

der Übereinstimmung oder Widerspiegelung können wir hier die Beziehung des Passens<br />

einsetzen. Das heißt, dass wir in der Organisation unserer Erlebenswelt stets so vorzugehen<br />

trachten, dass das, was wir da aus Elementen der Sinneswahrnehmung <strong>und</strong> des Denkens<br />

30 zusammenstellen - Dinge, Zustände, Verhältnisse, Begriffe, Regeln, Theorien, Ansichten <strong>und</strong>, letzten<br />

Endes, Weltbild -, so beschaffen ist, dass es im weiteren Fluss unserer Erlebnisse brauchbar<br />

zu bleiben verspricht.<br />

„Brauchbar“ oder „viabel“ aber nennen wir in diesem Zusammenhang eine Handlungs- oder<br />

Denkweise, die an allen Hindernissen vorbei (den optischen wie den aus der Handlung selbst<br />

35 erwachsenden) zum erwünschten Ziel führt. Wer den Unterschied zwischen diesem Begriff des<br />

Passens <strong>und</strong> jenem der Übereinstimmung erfasst hat, wird nicht mehr der Illusion verfallen, dass<br />

die „empirische“ (d. h. erlebensmäßige) Bestätigung einer Hypothese oder der Erfolg einer<br />

Handlungsweise <strong>Erkenntnis</strong> einer objektiven Welt bedeuten. [...] Da Wissen für den Konstruktivisten<br />

nie Bild oder Widerspiegelung der optischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur<br />

40 einen möglichen Weg, um zwischen den „Gegenständen“ durchzukommen, schließt das<br />

Finden eines befriedigenden Wegs nie aus, dass da andere befriedigende Wege gef<strong>und</strong>en werden<br />

können. [...] Was wir zumeist als „objektive“ Wirklichkeit betrachten, entsteht in der Regel<br />

dadurch, dass unser eigenes Erleben von anderen bestätigt wird. Dinge, die nicht nur von uns,<br />

sondern auch von anderen wahrgenommen werden, gelten ganz allgemein, d. h. im Alltagsle-<br />

45 ben wie auch in der Epistemologie 15 , als real.<br />

Ernst von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit <strong>und</strong> des Begriffs der Objektivität. In: Ernst von Glaserfeld u. a.<br />

(Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. München: Piper 1998, S. 18 ff.<br />

11<br />

ontologisch: hier: seiend<br />

12<br />

Viabilität: Begriff aus der Evolutionstheorie; Gangbarkeit eines Weges, der zur Überlebensfähigkeit einer Art führt<br />

13<br />

Solipsismus: erkenntnistheoretischer Standpunkt, der nur das eigene Ich mit seinen Bewusstseinsinhalten als das einzig<br />

Wirkliche gelten lässt <strong>und</strong> alle anderen Ichs mit der ganzen Außenwelt nur als dessen Vorstellungen annimmt<br />

14<br />

ikonisch: hier: bildhaft, anschaulich<br />

15<br />

Epistemologie: Wissenschaftslehre, <strong>Erkenntnis</strong>theorie (besonders in der angelsächsischen <strong>Philosophie</strong>)<br />

21


phi3_09_Reader<br />

7 Ganzschrift: David Hume, Abriss eines neuen Buches,<br />

betitelt Ein Traktat über die menschliche Natur<br />

etc. worin dessen Hauptgedanken weiter erläutert<br />

<strong>und</strong> erklärt werden (1740)<br />

VORWORT<br />

Manchen werden die Erwartungen, die ich mit<br />

dieser kleinen Schrift verbinde, reichlich hochgespannt<br />

vorkommen. Denn es ist meine Absicht,<br />

ein umfangreiches Werk durch eine ver-<br />

5 kürzte Darstellung einem breiten Publikum verständlicher<br />

zu machen. Allein, man weiß doch,<br />

wie leicht, wer im abstrakten Denken nicht geübt<br />

ist, den Faden in einem lang <strong>und</strong> breit<br />

ausgeführten Gedankengang verliert, dessen<br />

10 Teile mit allen Argumenten versehen, gegen alle<br />

Einwände gewappnet <strong>und</strong> mit allem ausstaffiert<br />

sind, was einem Autor nur immer ein- <strong>und</strong> auffallen<br />

mag, wenn er seinen Gegenstand von<br />

allen Seiten genau betrachtet. Dagegen wird<br />

15 der untrainierte Leser leichter eine Kette von<br />

Überlegungen auffassen, die kurz <strong>und</strong> bündig<br />

nur die wichtigsten Thesen miteinander verknüpft,<br />

sie durch einige Beispiele erläutert <strong>und</strong><br />

durch wenige beweiskräftige Argumente unter-<br />

20 stützt. Stehen die Hauptstücke nahe beisammen,<br />

kann man sie gut aufeinander beziehen<br />

<strong>und</strong> leicht den Fortgang von den ersten<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen bis zu den letzten Schlüssen verfolgen.<br />

25 Man hat dem Werk, von dem ich hier dem<br />

Publikum einen Abriss vorlege, zum Vorwurf<br />

gemacht, es sei dunkel <strong>und</strong> schwer verständlich.<br />

Ich glaube, dieser Eindruck rührt einfach<br />

von der Länge wie von der Abstraktheit des<br />

30 Gedankenganges her. Gelingt es mir, der Unbequemlichkeit<br />

für den Leser ein wenig abzuhelfen,<br />

wird mein Zweck erreicht sein. Denn<br />

andererseits scheint mir das Buch so einzigartig<br />

<strong>und</strong> neu, dass es die Aufmerksamkeit des Pub-<br />

35 likums verdient; umso mehr, wenn sich bestätigen<br />

sollte, was der Autor uns offenbar zeigen<br />

will: folgen wir seiner <strong>Philosophie</strong>, so werden<br />

wir den größten Teil der Wissenschaften von<br />

Gr<strong>und</strong> auf neufassen müssen. In der Republik<br />

40 der Gelehrten sind solche kühnen Unternehmungen<br />

jederzeit nützlich, denn sie schütteln<br />

das Joch der Autorität ab, bringen die Menschen<br />

dazu, selbständig nachzudenken, weisen<br />

neue Wege, auf denen einfallsreiche Geister<br />

45 dann weiter fortschreiten mögen, <strong>und</strong> legen<br />

allein durch den Widerspruch zu gängigen Lehren<br />

Stellen bloß, an denen zuvor niemand<br />

Schwierigkeiten vermutet hat.<br />

Der Autor wird sich eine Weile in Geduld fas-<br />

50 sen müssen, bis sich die gelehrte Welt seinen<br />

Auffassungen anschließen kann. Sein Unglück<br />

ist, sich nicht an das Volk wenden zu können,<br />

das in allen Dingen des gemeinen Verstandes<br />

<strong>und</strong> der Beredsamkeit ein unfehlbarer Richter<br />

55 ist. Statt dessen richten über ihn die wenigen,<br />

deren Urteil leicht durch Parteilichkeit <strong>und</strong> vorgefasste<br />

Meinungen korrumpiert ist. Niemand<br />

ist in philosophischen Fragen ein guter Richter,<br />

wenn er sich nicht selbst eingehend mit ihnen<br />

60 beschäftigt hat, aber gerade er wird sich sein<br />

eigenes System entwickeln <strong>und</strong> dann nicht gerne<br />

davon lassen mögen. Unser Autor wird mir<br />

hoffentlich verzeihen, wenn ich mich in seine<br />

Sache mische. Mein einziges Ziel ist, ihm den<br />

65 Kreis seiner Zuhörerschaft zu erweitern <strong>und</strong><br />

einige Schwierigkeiten zu beseitigen, die viele<br />

daran gehindert haben, seine Theorie richtig zu<br />

verstehen.<br />

Ich habe einen einfachen Gedanken gewählt<br />

70 <strong>und</strong> sorgfältig von Anfang bis Ende durchgeführt.<br />

Nur in diesem Punkt kam es mir auf eine<br />

vollständige Argumentation an. Der Rest besteht<br />

aus Hinweisen auf verschiedene Passagen,<br />

die mir beachtenswert <strong>und</strong> von besonderem<br />

75 Interesse zu sein scheinen.<br />

ABRISS EINES NEUEN BUCHES, BETITELT:<br />

EIN TRAKTAT ÜBER DIE MENSCHLICHE NATUR,<br />

ETC.<br />

Im Gr<strong>und</strong>riss scheint mir das Buch mit anderen,<br />

wie sie seit einigen Jahren in England en<br />

vogue sind, übereinzustimmen. Wie überall in<br />

Europa während der letzten achtzig Jahre hat<br />

22


phi3_09_Reader<br />

auch in diesem Königreich der philosophische<br />

Geist große Verbesserung <strong>und</strong> Ausbreitung erfahren.<br />

Und gerade hier hat sich, wie es<br />

scheint, eine neue Art <strong>Philosophie</strong> entwickelt,<br />

5 die mehr zur Unterhaltung wie zum Nutzen der<br />

Menschheit beizutragen verspricht als alle, die<br />

der Welt bislang bekannt ist. Die Philosophen<br />

des Altertums bewiesen, wenn sie sich mit der<br />

menschlichen Natur befassten, meist eher ein<br />

10 feines Gespür, treffendes moralisches Urteil <strong>und</strong><br />

Seelengröße als eindringliche Reflexion <strong>und</strong><br />

Schärfe in der Argumentation. Sie waren es<br />

zufrieden, der Menschen geraden Sinn im hellsten<br />

Licht erscheinen <strong>und</strong> in treffenden Gedan-<br />

15 ken sich ausdrücken zu lassen, ohne dabei unbedingt<br />

immer den Zusammenhang <strong>und</strong> die<br />

Folgerichtigkeit ihrer Behauptungen im Auge zu<br />

haben oder aus den verstreuten <strong>Wahrheit</strong>en<br />

eine regelrechte Wissenschaft aufzubauen. Da<br />

20 ist es wenigstens den Versuch wert zu prüfen,<br />

ob nicht die Wissenschaft vom Menschen mit<br />

derselben methodischen Sorgfalt <strong>und</strong> Genauigkeit<br />

betrieben <strong>und</strong> vorgetragen werden kann<br />

wie viele Teile der Naturphilosophie. Alles<br />

25 scheint doch für die Idee zu sprechen, dass<br />

auch auf diesem Felde größte Exaktheit erreichbar<br />

ist. Wenn sich zeigt, dass vielfältige<br />

Erscheinungen bei genauer Betrachtung ihre<br />

Verschiedenheit verlieren <strong>und</strong> aus einem ge-<br />

30 meinsamen Prinzip erklärt werden können <strong>und</strong><br />

wenn sich dann weiter dieses Prinzip auf einen<br />

anderen Gr<strong>und</strong>satz zurückführen lässt, so werden<br />

wir schließlich zu einigen wenigen Prinzipien<br />

gelangen, von denen alle anderen abhän-<br />

35 gen. Und sollten wir auch niemals die letzten<br />

Gr<strong>und</strong>sätze erreichen können, so liegt doch<br />

große Befriedigung darin, soweit zu kommen,<br />

wie es mit unseren Kräften eben möglich ist.<br />

Genau dies scheint das Ziel unserer neuen<br />

40 Philosophen <strong>und</strong> auch das unseres Autors zu<br />

sein. Er versucht eine regelrechte Anatomie der<br />

menschlichen Natur <strong>und</strong> verspricht, keine<br />

Schlüsse zu ziehen, ohne zu ihnen durch das<br />

Zeugnis der Erfahrung berechtigt zu sein. Nur<br />

45 Verachtung hat er für unbewiesene Hypothesen,<br />

<strong>und</strong> er meint, dass unsere Landsleute, die<br />

damit in den Wissenschaften vom Menschen 16<br />

16<br />

Der Ausdruck ‘moral philosophy' hat in Humes Sprachgebrauch<br />

eine viel umfassendere Bedeutung als unser Wort<br />

‘Moralphilosophie'. Der Untertitel des Traktats lautet: „being<br />

an attempt to introduce the experimental method of reasoning<br />

into moral subjects“ (Vll). Dabei ist unter der „experimental<br />

method of reasoning“ natürlich keine experimentelle<br />

Methode im modernen Sinn zu verstehen, sondern es ist<br />

gemeint, dass Erfahrung als <strong>Erkenntnis</strong>quelle auch in „moral<br />

subjects“ zur Geltung gebracht werden soll. Das so bezeichnete<br />

Gebiet lässt sich zunächst am einfachsten negativ charakterisieren:<br />

es umfasst all das, was nicht „natural philosophy“<br />

ist; <strong>und</strong> dieser Begriff deckt sich ziemlich genau mit<br />

unserem Wort ‘Naturwissenschaft'. Das ist wohl auch der<br />

Gr<strong>und</strong> gewesen, aus dem Lipps an entsprechenden Stellen<br />

(obwohl er den Untertitel unterdrückt hat) „moral subjects“<br />

oder „moral philosophy“ mit ,Geisteswissenschaften' überaufgeräumt<br />

haben, der Welt einen größeren<br />

<strong>und</strong> sichtbareren Dienst erwiesen haben als<br />

50 Lord Bacon, der ihm doch als Vater der experimentellen<br />

Physik gilt. In diesem Zusammenhang<br />

werden Mr. Locke, Lord Shaftesbury, Dr.<br />

Mandeville, Mr. Hutcheson <strong>und</strong> Dr. Butler 17<br />

setzt. Nun lässt sich dieser Begriff, selbst wenn man unberücksichtigt<br />

lässt, welchen problematischen Klang er durch<br />

den Methoden- <strong>und</strong> Kompetenzstreit seit Dilthey erfahren<br />

hat, nur verstehen mit den Konnotationen aus Hegels <strong>Philosophie</strong>,<br />

<strong>und</strong> allein deshalb ist er in Bezug auf Hume ein<br />

Anachronismus. Es ist interessant, dass schon der erste<br />

deutsche Übersetzer des 'Traktats', Ludwig Heinrich Jakob,<br />

dessen Übertragung 1790 erschien, mit Humes Bezeichnung<br />

offensichtlich nichts anzufangen wusste; jedenfalls unterdrückt<br />

er bereits den Untertitel, verfasst eine gänzlich neue,<br />

Teile der ‚Untersuchung über den menschlichen Verstand'<br />

heranziehende Einleitung <strong>und</strong> vermeidet ganz offensichtlich<br />

den problematischen Terminus. Offenbar gab es also im<br />

Deutschen keinen vergleichbar allgemeinen <strong>und</strong> eingeführten<br />

Begriff. Das Wort ,Sitten' hat noch am ehesten die Weite,<br />

lässt sich aber nur schwer in gute Zusammensetzungen<br />

bringen; Sittengeschichte (im Unterschied zur ,Naturgeschichte'),<br />

hätte es nicht einen dubiosen Beiklang, ginge<br />

allenfalls.<br />

Eine andere mögliche Übersetzung verbietet sich, weil der<br />

Ausdruck durch ein berühmtes Werk besetzt ist. Aber die<br />

Beschreibung, die Kant vom Gegenstand seiner 'Anthropologie<br />

in pragmatischer Hinsicht' gibt, trifft recht genau das,<br />

was Hume unter ‘moral subjects' versteht: „Eine Lehre von<br />

der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefasst (Anthropologie),<br />

kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer<br />

Hinsicht sein. Die physiologische Menschenkenntnis<br />

geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem<br />

Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als<br />

freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen<br />

kann <strong>und</strong> soll“ (Akademie-Ausgabe von Kants Werken, Bd.<br />

VII, S. 119). Mir scheint am treffendsten, ‘moral philosophy'<br />

mit ,Wissenschaften vom Menschen' zu übersetzen, wenn<br />

dies so verstanden wird, dass alles umfasst ist, außer was<br />

den Menschen rein als Naturwesen betrifft. Hume selber<br />

legt diese Übersetzung nahe, wenn er (s.o. S.8) die Termini<br />

„science of man“ <strong>und</strong> „natural philosophy“ einander gegenüberstellt.<br />

17<br />

Francis Bacon, 1561-1626; sein 'Novum Organum' von<br />

1620 gilt als eine Art Programmschrift der empirischen<br />

Wissenschaften. John Locke, 1632-1704, ist neben Berkeley<br />

<strong>und</strong> Hume der Hauptvertreter des englischen Empirismus;<br />

sein Hauptwerk ist der im Jahre 1690 erschienene 'Essay<br />

Concerning Human Understanding'. Anthony Ashley Cooper,<br />

Earl of Shaftesbury, 1671-1713, war ein im Geiste von Lockes<br />

<strong>Philosophie</strong> erzogener Mann von klassischer Bildung,<br />

der in seinen Schriften das Ideal eines Schönheit <strong>und</strong> Sittlichkeit<br />

harmonisch vereinigenden Menschen zeichnete <strong>und</strong><br />

erheblichen Einfluss auf die Entwicklung von Moralphilosophie<br />

<strong>und</strong> Ästhetik nahm; wichtige Werke: 'An Inquiry Concerning<br />

Virtue and Merit', 1699, 'Characteristics of Men,<br />

Manners, Opinions, Times', 1711. Bernard de Mandeville, um<br />

1670-1733, war Arzt in London <strong>und</strong> wurde durch die 'Fable<br />

of the Bees or private vices made public benefits', 1714,<br />

berühmt, in der er behauptet, die Menschen seien ursprünglich<br />

selbstsüchtig, <strong>und</strong> die Annahme der Moralisten kritisiert,<br />

es gebe ein natürliches Wohlwollen gegenüber anderen.<br />

Francis Hutcheson, 1694-1746, von Locke <strong>und</strong> Shaftesbury<br />

beeinflusst, hat er besonders die Moralphilosophie des letzten<br />

systematisiert <strong>und</strong> die Theorie des „moral sense“ entwickelt;<br />

Hauptwerke: ,An Inquiry into the Original of Our Ideas<br />

of Beauty and Virtue', 1725, 'An Essay on the Nature and<br />

Conduct of the Passions and Affections' <strong>und</strong> 'lllustrations<br />

upon the Moral Sense', 1728. Joseph Butler, 1692-1752,<br />

versuchte in seiner Moralphilosophie eine Synthese zwischen<br />

den Prinzipien der Selbstliebe <strong>und</strong> des mitmenschlichen<br />

Wohlwollens; seine 'Sermons' erschienen 1726, eine 'Dissertation<br />

upon Virtue' 1736.<br />

23


phi3_09_Reader<br />

erwähnt, die, wie sehr sie sich auch in vielen<br />

Punkten voneinander unterscheiden mögen,<br />

doch darin übereinstimmen, dass sie sich bei<br />

ihren sorgfältigen Untersuchungen über die<br />

5 menschliche Natur vollständig auf Erfahrung<br />

stützen.<br />

Die Wissenschaft von der menschlichen Natur<br />

ist von zwiefachem Interesse: einmal handelt<br />

sie von dem, was uns am nächsten liegt <strong>und</strong><br />

10 am meisten berührt; außerdem kann man aber<br />

sicher sagen, dass in ihr fast alle anderen Wissenschaften<br />

eingeschlossen sind oder doch von<br />

ihr abhängen. Die Logik hat kein anderes Ende,<br />

als die Gr<strong>und</strong>gesetze <strong>und</strong> Operationsweisen<br />

15 unseres Denkvermögens sowie die Natur unserer<br />

Vorstellungen zu erklären; Moral <strong>und</strong> Kritik<br />

betreffen unseren Geschmack <strong>und</strong> unsere Gefühle;<br />

<strong>und</strong> Politik betrachtet uns als voneinander<br />

abhängige in Gesellschaft vereinigte Men-<br />

20 schen 18 . Mit diesem Traktat über die menschliche<br />

Natur wird also der Anfang zu einem System<br />

der Wissenschaften gemacht. Unser Autor<br />

hat die Logik vollendet <strong>und</strong> für die anderen<br />

Systemteile in seiner Theorie der menschlichen<br />

25 Leidenschaften den Gr<strong>und</strong> gelegt.<br />

Der berühmte Monsieur Leibniz 19 hat an den<br />

gewöhnlichen Logiksystemen den Mangel gerügt,<br />

dass sie sich weitläufig über die Formen<br />

der Deduktion auslassen, aber nur allzu knapp<br />

30 Wahrscheinlichkeiten <strong>und</strong> das Einschätzen des<br />

Grades unserer Gewissheit behandeln, auf denen<br />

doch unser Leben <strong>und</strong> Handeln vollständig<br />

beruhen <strong>und</strong> die uns genauso in den meisten<br />

Fällen philosophischer Spekulation anleiten. Sei-<br />

35 ne Kritik bezieht sich unter anderem auf den<br />

'Essay on Human Understanding', 'La recherche<br />

de la vérité' <strong>und</strong> 'L'art de penser' 20 . Dem Autor<br />

des 'Traktats über die menschliche Natur' ist das<br />

Mangelhafte dieser Bücher nicht entgangen.<br />

40 Jedenfalls schickt er sich an, was fehlt, so gut<br />

18<br />

Zitat aus dem 'Traktat', Einleitung (XV/3).<br />

19<br />

Hume bezieht sich auf eine Stelle in Gottfried Wilhelm<br />

Leibniz' (1646 1716) 'Die Theodicée'; dort heißt es im § 28:<br />

„die Kunst, aus Wahrscheinlichkeitsgründen zu urteilen, ist<br />

noch wenig gepflegt, so dass unsere Logik in dieser Hinsicht<br />

noch ganz unvollkommen ist <strong>und</strong> wir bis jetzt fast nur die<br />

Kunst, Beweise zu beurteilen, besitzen“, <strong>und</strong> in § 31: „Beinahe<br />

alle unsere Fehler stammen... aus Verachtung oder<br />

mangelhafter Ausbildung der Kunstfertigkeit des Denkens;<br />

gibt es doch nichts Ungenügenderes als unsere Logik, sobald<br />

man über die notwendigen Schlussfolgerungen hinausgeht.<br />

Die ausgezeichnetsten Philosophen unserer Zeit, die<br />

Verfasser der ,Art de penser', der ,Recherche de la vérité'<br />

<strong>und</strong> des ‚Versuchs über den menschlichen Verstand' sind<br />

weit davon entfernt, uns die wahren Mittel anzugeben zur<br />

Unterstützung dieser Fähigkeit, vermittels deren wir die<br />

Wahrscheinlichkeit des Wahren <strong>und</strong> Falschen abwägen sollen...“<br />

('Die Theodizee', übersetzt von Artur Buchenau, um<br />

ein Literaturverzeichnis um einen einführenden Essay von<br />

Morris Stockhammer ergänzte Auflage, Hamburg 1968).<br />

20<br />

Gemeint sind: das Hauptwerk von Locke (s. Anmerkung<br />

3), das 1674 <strong>und</strong> 1675 erschienene Hauptwerk von Nicolas<br />

Malebranche (1638-1715) <strong>und</strong> die sogenannte Logik von<br />

Port Royal von Antoine Arnauld (1612-1694) <strong>und</strong> Pierre<br />

Nicole (1625-1695) von 1662.<br />

er kann, zu ergänzen. Sein Buch enthält viele<br />

wirklich neue <strong>und</strong> bemerkenswerte Überlegungen,<br />

von denen dem Leser hier unmöglich ein<br />

umfassender <strong>und</strong> richtiger Begriff gemacht<br />

45 werden kann. Wir werden uns daher hauptsächlich<br />

mit seiner Erklärung unserer Schlüsse,<br />

die sich auf Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen beziehen,<br />

beschäftigen. Wenn es mir gelingt, diese Erklärung<br />

dem Leser verständlich zu machen, so<br />

50 mag sie als eine Probe für das Ganze dienen.<br />

Einige Definitionen gehen voran. Der Autor<br />

nennt Perzeption (= perception), was immer<br />

unserem Geiste gegenwärtig sein kann, sei es<br />

durch den Gebrauch unserer Sinne, sei es dass<br />

55 uns Leidenschaften bewegen oder dass wir<br />

denken <strong>und</strong> über etwas reflektieren. Die Perzeptionen<br />

scheidet er in zwei Arten, nämlich<br />

Eindrücke (= impressions) <strong>und</strong> Vorstellungen<br />

(= ideas). Wenn wir eine Leidenschaft oder<br />

60 irgend eine Gemütsbewegung empfinden (=<br />

reflexion) oder wenn uns unsere Sinne Bilder<br />

von äußeren Gegenständen (= sensation) liefern,<br />

so sind solche Perzeptionen Eindrücke.<br />

Dieser Terminus wird also in veränderter Bedeu-<br />

65 tung gebraucht 21 . Wenn wir dagegen über Gefühle<br />

oder Objekte nachdenken, die uns nicht<br />

gegenwärtig sind, so ist, was sich im Geiste<br />

abspielt, bloße Vorstellung. Eindrücke sind also<br />

lebhafte <strong>und</strong> starke Perzeptionen, Vorstellun-<br />

70 gen dagegen blasser <strong>und</strong> schwächer. Dass dieser<br />

Unterschied besteht, ist offensichtlich <strong>und</strong><br />

so gewiss wie der zwischen Denken <strong>und</strong> Fühlen.<br />

Der erste Lehrsatz besagt, dass alle unsere<br />

75 Vorstellungen oder schwachen Perzeptionen<br />

ihren Ursprung in unseren Eindrücken oder<br />

starken Perzeptionen haben, <strong>und</strong> dass wir an<br />

nichts zu denken vermögen, was wir nicht zuvor<br />

gesehen oder im Geiste unmittelbar emp-<br />

80 f<strong>und</strong>en haben. Dieser Lehrsatz scheint dem<br />

gleichzukommen, den Mr. Locke beweisen will,<br />

nämlich dass es keine angeborenen Vorstellungen<br />

gibt. Eine Ungenauigkeit hat sich der große<br />

Philosoph allerdings dadurch zuschulden<br />

85 kommen lassen, dass er mit dem Ausdruck<br />

'Vorstellungen' unsere sämtlichen Perzeptionen<br />

bezeichnet. In diesem Sinne genommen, ist es<br />

aber falsch, dass wir keine angeborenen Vorstellungen<br />

haben. Denn offensichtlich gibt es<br />

21<br />

Im 'Traktat' macht Hume folgende Anmerkung (2/10): „Ich<br />

gebrauche hier die Termini Eindruck <strong>und</strong> Vorstellung (impression<br />

and idea) anders, als es gewöhnlich geschieht, <strong>und</strong><br />

ich hoffe, dass mir diese Freiheit verstattet ist. Vielleicht<br />

gebe ich dem Wort ,Vorstellung' auch bloß seinen ursprünglichen<br />

Sinn wieder, den Mr. Locke verdrehte, indem er unsere<br />

sämtlichen Perzeptionen Vorstellungen nannte. Das Wort<br />

,Eindruck' möchte ich nicht so verstanden wissen, als sollte<br />

damit die Art bezeichnet werden, auf die in unserer Seele<br />

die lebhaften Perzeptionen erzeugt werden; ich meine damit<br />

einfach die lebhaften Perzeptionen, für die es weder im<br />

Englischen noch sonst in einer mir bekannten Sprache eine<br />

eigene Bezeichnung gibt“.<br />

24


phi3_09_Reader<br />

angeborene starke Perzeptionen oder Eindrücke,<br />

da doch natürliche Begierden, Tugendliebe,<br />

Ärger <strong>und</strong> alle anderen Leidenschaften unmittelbar<br />

aus der Natur entspringen 22 . Nach meiner<br />

5 Überzeugung könnte jeder, der das Problem<br />

nur im richtigen Licht betrachtet, leicht die<br />

streitenden Parteien einen. Pater Malebranche<br />

würde sich außer Stande sehen, irgend einen<br />

bewussten Gedanken nachzuweisen, der sich<br />

10 nicht auf etwas bezöge, was zuvor schon, sei<br />

es innerlich oder sei es durch die äußeren Sinne<br />

dem Geiste unmittelbar gegenwärtig gewesen<br />

wäre. Und er müsste zugeben, dass alle<br />

unsere Vorstellungen, wie immer wir sie auch<br />

15 zusammensetzen, mischen, erweitern oder verringern<br />

mögen, sämtlich aus diesen Quellen<br />

stammen. Mr. Locke andererseits würde rasch<br />

gewahr werden, dass alle unsere Leidenschaften<br />

natürliche Triebe sind, die sich von nichts her-<br />

20 leiten, sondern einfach zur ursprünglichen Ausstattung<br />

der menschlichen Natur gehören 23 .<br />

Unser Autor meint, „dass es keine glücklichere<br />

Entdeckung, um alle Streitigkeiten über die<br />

Natur der Vorstellungen zu schlichten, hatte<br />

25 geben können als die, dass den Vorstellungen<br />

stets Eindrücke vorhergehen <strong>und</strong> dass jede Vor-<br />

22<br />

Die an dieser Stelle erstmals vorgetragene Kritik an Locke<br />

wird eigentlich erst in der Fassung verständlich, wie sie sich<br />

als Fußnote in der 'Untersuchung über den menschlichen<br />

Verstand' findet. Dort lautet sie so: „Wahrscheinlich haben<br />

die, die bestritten, dass es angeborene Vorstellungen gebe,<br />

einfach nicht mehr gemeint als dies, dass alle unsere Vorstellungen<br />

Abbilder von Eindrücken sind. Aber leider haben<br />

sie ihre Worte weder sorgfältig genug gewählt noch hinreichend<br />

genau definiert, um ihre Lehre vor Fehlern zu bewahren.<br />

Denn was heißt eigentlich angeboren? Wenn es dasselbe<br />

bedeutet wie ,natürlich', dann sind alle Perzeptionen <strong>und</strong><br />

Vorstellungen angeboren oder natürlich, wenn wir mit dem<br />

letzten Wort den Gegensatz zum Ungewöhnlichen, Künstlichen<br />

oder W<strong>und</strong>erbaren meinen. Wenn aber ,angeboren'<br />

bedeuten soll: zugleich mit der Geburt, dann scheint mir der<br />

Streit so nichtig wie die Frage, ob das Denken vor, nach<br />

oder bei der Geburt beginne. Das Wort Vorstellung wird<br />

normalerweise von Locke <strong>und</strong> anderen in einem sehr weiten<br />

Sinne gebraucht <strong>und</strong> dann bezeichnet es beliebige unserer<br />

Perzeptionen: Wahrnehmungen, Affekte, Gedanken. Wird<br />

aber der Terminus so weit gefasst, dann möchte ich gerne<br />

wissen, was mit der Behauptung gemeint sein kann, Selbstliebe,<br />

Empörung über Ungerechtigkeiten oder die Liebe<br />

zwischen den Geschlechtern seien nicht angeboren?<br />

Verwendet man dagegen die Termini Eindruck <strong>und</strong> Vorstellung,<br />

wie ich sie eingeführt habe, <strong>und</strong> versteht man unter<br />

angeboren eine ursprüngliche, nicht von einer vorhergehenden<br />

abgebildete Perzeption, dann können wir sagen, dass<br />

alle unsere Eindrücke angeboren <strong>und</strong> alle unsere Vorstellungen<br />

nicht angeboren sind“ ('Untersuchung über den<br />

menschlichen Verstand' 22/22 23).<br />

23<br />

Malebranche hat in seiner umfangreichen, unter cartesianischen<br />

<strong>und</strong> neuplatonischen Einflüssen stehenden 'Recherche<br />

de la vérité' die Theorie entwickelt, dass wir die Dinge<br />

selbst mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können, sondern<br />

nur durch die in Gott seienden Ideen der Dinge, von<br />

denen Gott, mit dem wir als geistige Wesen verb<strong>und</strong>en<br />

sind, Vorstellungen in uns wirkt. Eine kurze Darstellung<br />

seiner Lehre findet sich im 10. Eclairecissement: Sur la nature<br />

des idées im Anhang zur Recherche. Vergl. ferner<br />

Locke, 'An Essay Concerning Human Understanding', edited<br />

with an introduction, critical apparatus and glossary by<br />

Peter H. Nidditch, Oxford 1975,1. Buch: Of Innate Ideas.<br />

stellung der Einbildungskraft zuerst in einem<br />

entsprechenden Eindruck erscheint. Eindrücke<br />

aber sind so klar <strong>und</strong> gewiss, dass über ihre<br />

30 Existenz <strong>und</strong> ihre Art kein Streit sein kann;<br />

während viele unserer Vorstellungen so dunkel<br />

sind, dass unser Geist selbst, obwohl er sie<br />

doch formt <strong>und</strong> bildet, fast nicht in der Lage<br />

ist, ihr Wesen <strong>und</strong> ihre Zusammensetzung ge-<br />

35 nau zu erkennen“ 24 . Gemäß diesem Prinzip<br />

sucht der Verfasser, wann immer sie vorkommen,<br />

mehrdeutige Vorstellungen auf Eindrücke<br />

zurückzuführen, durch die sie klar <strong>und</strong> deutlich<br />

werden müssen. Regt sich der Verdacht, dass<br />

40 mit irgend einem philosophischen Wort nicht<br />

wirklich eine Vorstellung verb<strong>und</strong>en ist (<strong>und</strong><br />

das ist nur zu oft der Fall), so ist nur zu fragen:<br />

Von welchem Eindruck leitet sich diese<br />

angebliche Vorstellung her? Lässt sich kein<br />

45 entsprechender Eindruck nachweisen, so ist der<br />

Schluss berechtigt, dass der betreffende Terminus<br />

überhaupt keine Bedeutung hat. Nach diesem<br />

Verfahren prüft der Autor die Vorstellungen<br />

von Substanz <strong>und</strong> Essenz. Und es wäre zu<br />

50 wünschen, dass diese strenge Methode in allen<br />

philosophischen Auseinandersetzungen mehr<br />

Eingang fände.<br />

Nun beruht offenbar alles Schließen, sofern es<br />

Tatsachen betrifft, auf der Beziehung zwischen<br />

55 Ursache <strong>und</strong> Wirkung, denn wir können niemals<br />

die Existenz eines Gegenstandes von einem<br />

anderen ableiten, wenn beide nicht mittelbar<br />

oder unmittelbar miteinander verb<strong>und</strong>en<br />

sind. Um diese Art des Schließens zu verstehen,<br />

60 muss man sich die Vorstellung einer Ursache<br />

vollständig auseinanderlegen; <strong>und</strong> das geschieht<br />

am besten anhand eines Beispiels, wenn etwas<br />

die Ursache für etwas anderes ist.<br />

Auf dem Tisch hier liegt eine Billardkugel; ei-<br />

65 ne zweite bewegt sich mit einer gewissen Geschwindigkeit<br />

auf die erste zu. Sie stoßen zusammen,<br />

<strong>und</strong> die Kugel, die zuerst in Ruhe<br />

war, wird nun in eine gewisse Bewegung versetzt.<br />

Hier haben wir, nach allem was wir<br />

70 durch Wahrnehmung kennen oder uns denken<br />

mögen, ein Musterbeispiel für die Beziehung<br />

zwischen Ursache <strong>und</strong> Wirkung; wir wollen es<br />

untersuchen. Zunächst ist wohl klar, dass die<br />

Kugeln einander berührten, bevor die eine der<br />

75 anderen den Bewegungsimpuls mitteilte, aber<br />

zwischen Stoß <strong>und</strong> Bewegung der zweiten Kugel<br />

war kein Intervall. Berührung in Raum <strong>und</strong><br />

Zeit ist daher eine notwendige Bedingung, damit<br />

Ursachen Wirkungen haben können. Es ist<br />

80 gleichfalls offenk<strong>und</strong>ig, dass die Ursachenbewegung<br />

vor der Wirkungsbewegung stattfand.<br />

Zeitliche Priorität ist also eine zweite notwendige<br />

Bedingung für Ursachen. Aber diese beiden<br />

Bedingungen zusammen genügen noch<br />

85 nicht. Wiederholen wir dasselbe Experiment<br />

24<br />

Zitat aus 'Traktat', 1. Buch, 2. Teil, 3. Abschn. (33/50.)<br />

25


phi3_09_Reader<br />

mehrfach, so werden wir stets finden, dass der<br />

Bewegungsimpuls der einen Kugel beim Zusammenstoß<br />

eine Bewegung der zweiten Kugel<br />

hervorruft. Und hieraus ergibt sich als dritte<br />

5 Bedingung, dass zwischen Ursache <strong>und</strong> Wirkung<br />

ein konstanter Zusammenhang bestehen<br />

muss: Alles, was der Ursache gleicht, bringt<br />

stets eine ähnliche Wirkung hervor. Außer diesen<br />

drei wesentlichen Umständen: Berührung,<br />

10 zeitliche Priorität <strong>und</strong> konstantem Zusammenhang<br />

kann ich in unserem Beispiel für eine Ursache<br />

keine weiteren entdecken: Die erste Kugel<br />

ist in Bewegung, sie stößt die zweite, unmittelbar<br />

darauf ist die zweite in Bewegung; <strong>und</strong><br />

15 wenn ich das Experiment mit denselben oder<br />

ähnlichen Kugeln unter denselben oder ähnlichen<br />

Umständen wiederhole, sehe ich, dass auf<br />

die Bewegung der ersten Kugel <strong>und</strong> auf den<br />

Zusammenstoß stets eine Bewegung der zwei-<br />

20 ten Kugel folgt. Ich mag die Sache drehen <strong>und</strong><br />

wenden <strong>und</strong> genauestens untersuchen: weiter<br />

finde ich nichts.<br />

So verhält es sich, wenn Ursache <strong>und</strong> Wirkung<br />

zusammen der Wahrnehmung gegenwär-<br />

25 tig sind. Wir wollen nun sehen, worauf die<br />

Ableitung beruht, wenn wir auf Gr<strong>und</strong> der einen<br />

schließen, die andere habe existiert oder<br />

werde existieren. Angenommen, ich sehe eine<br />

Kugel in gerader Linie auf eine zweite zurollen,<br />

30 so schließe ich sofort, dass beide zusammenstoßen<br />

werden <strong>und</strong> dass sich die zweite in Bewegung<br />

befinden wird. Dies ist ein Schluss von<br />

der Ursache auf die Wirkung, <strong>und</strong> von eben<br />

dieser Art sind alle Überlegungen, nach denen<br />

35 wir uns im praktischen Leben richten. Auf solchen<br />

Schlüssen beruht unsere Kenntnis der Geschichte<br />

oder dessen, was wir davon für wahr<br />

halten. Und auf gleichartigen Schlüssen basiert<br />

auch alle <strong>Philosophie</strong>, außer Geometrie <strong>und</strong><br />

40 Arithmetik. Wenn wir den Schluss im Fall des<br />

Zusammenstoßes zweier Kugeln erklären können,<br />

dann haben wir den Schlüssel für die Erklärung<br />

der gleichen Denkoperation in all den<br />

anderen Fällen.<br />

45 Wäre ein Mensch so wie Adam erschaffen<br />

worden, der zwar voll ausgebildete Verstandeskräfte,<br />

aber keinerlei Erfahrung besäße, so<br />

würde er keineswegs imstande sein, die Bewegung<br />

der zweiten Kugel aus der Bewegung der<br />

50 ersten <strong>und</strong> dem Stoß zu erschließen. Es gibt da<br />

nichts, was die Vernunft in der Ursache entdecken<br />

könnte, um auf die Wirkung zu schließen.<br />

Solch ein Schluss, wäre er möglich, könnte<br />

nichts anderes sein als eine Demonstration <strong>und</strong><br />

55 könnte auf nichts anderem beruhen als auf<br />

einem Vergleich von Vorstellungen. Aber<br />

Schlüsse von Ursachen auf Wirkungen sind keine<br />

logisch zwingenden Demonstrationen. Und<br />

dafür gibt es folgenden schlagenden Beweis:<br />

60 wir können uns immer denken, dass irgend<br />

eine beliebige Wirkung auf irgend eine beliebige<br />

Ursache folge, ja im Gr<strong>und</strong>e, dass jedes Ereignis<br />

auf jedes andere folgen mag. Was immer<br />

wir denken, ist möglich, wenigstens im meta-<br />

65 physischen Sinne. Wo es dagegen demonstrative<br />

Beweise gibt, ist das Gegenteil unmöglich<br />

<strong>und</strong> enthält einen Widerspruch. Es gibt also<br />

keine demonstrativen Beweise für die Zusammenhänge<br />

zwischen irgend welchen Ursachen<br />

70 <strong>und</strong> bestimmten Wirkungen. Dieser Gr<strong>und</strong>satz<br />

wird in der <strong>Philosophie</strong> auch allgemein zugestanden.<br />

Adam hätte also (außer, er wäre inspiriert<br />

worden) notwendig durch Erfahrung Kenntnis<br />

75 von der Wirkung bekommen müssen, die auf<br />

den Zusammenstoß der beiden Kugeln folgt. Er<br />

hätte mehrmals beobachten müssen, dass stets<br />

dann, wenn die eine Kugel die andere stößt,<br />

die zweite in Bewegung versetzt wird. Und<br />

80 wenn er schließlich eine hinreichende Anzahl<br />

solcher Fälle beobachtet hätte, dann würde er<br />

in dem Fall, dass er eine Kugel auf eine zweite<br />

zurollen sähe, schließen, dass die zweite in Bewegung<br />

geraten werde. Im Denken würde er<br />

85 die Wahrnehmung vorwegnehmen <strong>und</strong> einen<br />

seiner vergangenen Erfahrung entsprechenden<br />

Schluss ziehen.<br />

So ergibt sich denn, dass alle kausalen<br />

Schlüsse auf Erfahrung <strong>und</strong> dass alle Erfah-<br />

90 rungsschlüsse auf der Annahme beruhen, der<br />

Lauf der Natur werde ununterbrochen einheitlich<br />

derselbe bleiben. Wir schließen weiter, dass<br />

gleiche Ursachen unter gleichen Umständen<br />

immer die gleichen Wirkungen hervorrufen wer-<br />

95 den. Und nun ist es wohl einer Überlegung<br />

wert, was uns eigentlich zu einem so unendlich<br />

folgenreichen Schluss bestimmt.<br />

Wiederum ist es offensichtlich so, dass Adam<br />

mit all dem Wissen, das er erlangt hatte, doch<br />

100 niemals in der Lage wäre, einen demonstrativen<br />

Beweis dafür zu führen, dass der Lauf der Natur<br />

ununterbrochen <strong>und</strong> einheitlich derselbe<br />

bleiben müsse <strong>und</strong> dass die Zukunft der Vergangenheit<br />

entsprechen werde. Was möglich<br />

105 ist, das kann man nicht a priori <strong>und</strong> demonstrativ<br />

ausschließen. Und es ist möglich, dass der<br />

Lauf der Natur sich ändert, da wir uns eine<br />

solche Änderung denken können. Ich gehe sogar<br />

noch weiter <strong>und</strong> behaupte, dass Adam<br />

110 nicht einmal durch eine Wahrscheinlichkeitsüberlegung<br />

zeigen könnte, dass die Zukunft der<br />

Vergangenheit entsprechen müsse. Denn alle<br />

Wahrscheinlichkeitsüberlegungen beruhen gerade<br />

auf der Annahme, dass zwischen Zukunft<br />

115 <strong>und</strong> Vergangenheit eine Gleichförmigkeit besteht,<br />

<strong>und</strong> deshalb können sie sie nicht beweisen.<br />

Diese Gleichförmigkeit ist eine Tatsache,<br />

<strong>und</strong> um zu beweisen, dass diese Tatsache besteht,<br />

gibt es keine anderen Beweismöglichkei-<br />

120 ten als Erfahrung. Doch unsere vergangene<br />

Erfahrung kann für die Zukunft nichts beweisen,<br />

außer aufgr<strong>und</strong> der Annahme, es bestehe<br />

26


phi3_09_Reader<br />

zwischen beiden jene Ähnlichkeit. Für diese<br />

Annahme gibt es also keinen Beweis, aber wir<br />

nehmen sie auch ohne Beweis als sicher an.<br />

Allein Gewohnheit bestimmt uns anzuneh-<br />

5 men, dass zwischen Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft<br />

Gleichförmigkeit besteht. Sehe ich eine Billardkugel<br />

auf eine andere zurollen, so führt mich<br />

Gewohnheit unmittelbar dazu, eine Wirkung<br />

wie immer zu erwarten, also die zweite Kugel<br />

10 in Bewegung zu denken, bevor ich es sehe.<br />

Nichts in den Gegenständen selber, für sich<br />

allein <strong>und</strong> losgelöst von aller Erfahrung betrachtet,<br />

gibt mir die Berechtigung zu einem<br />

solchen Schluss. Und nicht einmal die oft wie-<br />

15 derholte Erfahrung, dass ein gleichartiger Effekt<br />

auftritt, ist ein Beweis für die Annahme, auch<br />

die nächste eintretende Wirkung werde der<br />

vergangenen Erfahrung entsprechen. Die inneren<br />

Kräfte, die das Verhalten der Körper<br />

20 bestimmen mögen, sind uns vollkommen unbekannt.<br />

Wir kennen nur die Eigenschaften, die<br />

wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können.<br />

Und welche Vernunftgründe haben wir für den<br />

Gedanken, dass, wo dieselben sinnlichen Quali-<br />

25 täten auftreten, auch dieselben wirkenden Kräfte<br />

vorhanden sein müssen?<br />

Also führt uns im Leben nicht Vernunft, sondern<br />

Gewohnheit. Sie allein macht uns fortwährend<br />

<strong>und</strong> immer wieder glauben, dass die Zu-<br />

30 kunft der Vergangenheit entsprechen werde.<br />

Vernunft dagegen würde in alle Ewigkeit nicht<br />

in der Lage sein, diesen Schritt, der doch so<br />

leicht scheint, zu vollziehen.<br />

Hier haben wir eine interessante Entdeckung<br />

35 gemacht, die noch zu anderen <strong>und</strong> interessanteren<br />

Entdeckungen führen wird. Sehe ich eine<br />

Billardkugel auf eine andere zurollen, so führt<br />

mich Gewohnheit unmittelbar dazu die gewöhnliche<br />

Wirkung zu erwarten, also die zwei-<br />

40 te Kugel in Bewegung zu denken, bevor ich es<br />

sehe. Aber ist das alles? Denke ich nur die<br />

zweite Kugel in Bewegung? Sicherlich nicht. Ich<br />

glaube auch, dass sie sich bewegen wird. Was<br />

ist oder worin besteht dieser Glaube <strong>und</strong> wie<br />

45 unterscheidet er sich vom bloßen Denken? Dies<br />

ist eine Frage, über die Philosophen bislang<br />

überhaupt noch nicht nachgedacht haben. 25<br />

Wenn wir uns auf Gr<strong>und</strong> eines demonstrativen<br />

Beweises von der <strong>Wahrheit</strong> einer Behaup-<br />

25<br />

Hier, wird man sagen, nimmt „unser Autor“, den M<strong>und</strong><br />

ein wenig voll, da er wissen musste, dass immerhin Locke<br />

im vierten Buch seines 'Versuchs über den menschlichen<br />

Verstand' unter dem Titel: Of Knowledge and Opinion eine<br />

ausführliche Analyse von Arten <strong>und</strong> Graden des Wissens <strong>und</strong><br />

der Wahrscheinlichkeit, der Gewissheit <strong>und</strong> des Glaubens<br />

vorgenommen hat. In wesentlichen Punkten stimmt Humes<br />

Theorie des Glaubens auch mit der Lockes überein; einzig in<br />

den Thesen, dass Glaube nicht eine besondere, mit anderen<br />

verknüpfbare Vorstellung, sondern bloß eine besondere Art<br />

des Denkens <strong>und</strong> dass er als eine Folge von Gewöhnung<br />

anzusehen sei, geht Hume über Locke hinaus, doch ohne<br />

etwas zu behaupten, was sich mit Lockes Analyse nicht<br />

vereinbaren ließe.<br />

50 tung überzeugen, so bilden wir nicht einfach<br />

einen entsprechenden Gedanken, sondern wir<br />

wissen auch, dass das Gegenteil zu denken<br />

unmöglich ist. Was demonstrativerweise falsch<br />

ist, impliziert einen Widerspruch; <strong>und</strong> was wi-<br />

55 dersprüchlich ist, kann nicht gedacht werden.<br />

Was dagegen Tatsachen angeht, so mögen die<br />

Erfahrungsgründe, dass etwas der Fall ist, so<br />

stark sein, wie sie wollen, ich kann doch stets<br />

das Gegenteil denken, allerdings nicht immer<br />

60 auch glauben. Also ist es der Glaube, der in<br />

diesem Fall den Unterschied macht zwischen<br />

einem Gedanken, dem wir zustimmen, <strong>und</strong><br />

einem, dem wir nicht zustimmen.<br />

Es gibt hierfür nur zwei mögliche Erklärun-<br />

65 gen. So könnte man behaupten, der Glaube sei<br />

eine besondere Vorstellung, die zu den Vorstellungen,<br />

die man haben kann, ohne ihnen zuzustimmen,<br />

hinzukomme. Aber dieser Erklärungsversuch<br />

geht fehl. Denn erstens lässt sich keine<br />

70 solche Vorstellung nachweisen. Denken wir uns<br />

etwas, so denken wir es uns vollständig. Wir<br />

denken es uns, wie es existieren könnte, wenn<br />

wir auch nicht glauben, dass es existiert. Und<br />

der Glaube, dass es existiert, würde keine neue<br />

75 Eigenschaft des Gegenstandes aufdecken. Wir<br />

können uns den Gegenstand in der Einbildung<br />

vollständig ausmalen, ohne zu glauben, dass es<br />

ihn gibt. Und wenn wir uns den in jeder Hinsicht,<br />

auch nach Zeit <strong>und</strong> Ort bestimmten Ge-<br />

80 genstand vorstellen, so denken wir uns, dass<br />

eben dieses Objekt existieren könnte. Glauben<br />

wir nun, dass es existiert, so tun wir nicht<br />

mehr oder anderes als zu glauben, dass genau<br />

dieser Gegenstand existiert.<br />

85 Zweitens besitzen wir die Fähigkeit, im Denken<br />

beliebige Vorstellungen miteinander zu<br />

verbinden, wenn sie nur keinen Widerspruch<br />

bilden. Wäre nun der Glaube eine besondere<br />

eigene Vorstellung, die wir zum bloßen Gedan-<br />

90 ken hinzusetzen, so könnten wir durch die Hinzufügung<br />

der Vorstellung des Glaubens für<br />

wahr halten, was immer wir uns denken können.<br />

Da also der Glaube zwar Denken einschließt,<br />

95 aber nicht dasselbe ist, <strong>und</strong> da er nicht darin<br />

besteht, einem Gedanken eine weitere Vorstellung<br />

hinzuzufügen, so ergibt sich, dass er eine<br />

besondere Art <strong>und</strong> Weise ist, sich etwas zu<br />

denken. Der Glaube gehört zum Gefühl <strong>und</strong><br />

100 unterliegt nicht wie unsere Vorstellungen dem<br />

Willen. Sehe ich eine Kugel auf eine andere<br />

zurollen, so gehen meine Gedanken gewohnheitsmäßig<br />

zur Bewegung der zweiten Kugel als<br />

der erwarteten Wirkung über. Die zweite Be-<br />

105 wegung denke ich nicht bloß, sondern ich fühle<br />

zugleich, wie sich dieser Gedanke von den<br />

Träumen freier Phantasie unterscheidet. Die<br />

sichtbare Gegenwart des Gegenstandes <strong>und</strong> der<br />

konstante Zusammenhang solcher Gegenstände<br />

110 mit einer bestimmten Wirkung geben dem Ge-<br />

27


phi3_09_Reader<br />

danken an die Wirkung ein besonderes Gefühl,<br />

das ihn von einer lockeren <strong>und</strong> beliebigen Folge<br />

von Vorstellungen unterscheidet. Dies Ergebnis<br />

mag überraschen, aber es ergibt sich aus einer<br />

5 Reihe zweifelsfrei feststehender Sätze. Zur<br />

leichteren Übersicht sei die Überlegung<br />

kurz zusammengefasst. Wie die Wirklichkeit<br />

beschaffen ist, kann man nur wissen,<br />

wenn man nach Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen<br />

10 forscht. Und allein Erfahrung lehrt, dass<br />

etwas die Ursache von etwas anderem ist.<br />

Dafür dass wir auf unsere vergangene<br />

Erfahrung unsere Erwartungen für die<br />

Zukunft stützen, gibt es keinen Vernunft-<br />

15 gr<strong>und</strong> a priori, sondern wir folgen nur<br />

einer Gewohnheit, wenn wir denken, eine<br />

Wirkung werde ihrer gewöhnlichen Ursache<br />

folgen. Aber wir denken uns nicht<br />

bloß einen solchen Zusammenhang, son-<br />

20 dern wir glauben auch, dass die Wirkung<br />

tatsächlich eintreten werde. Dies zu glauben<br />

heißt nun nicht, den Gedanken an die<br />

Wirkung um eine neue Vorstellung zu erweitern,<br />

sondern ist nur eine andere Art<br />

25 zu denken; der Unterschied ist einer des<br />

Gefühls oder des Bewusstseins. Der Glaube,<br />

dass etwas wirklich der Fall ist, entspringt<br />

also einer Gewohnheit <strong>und</strong> besteht<br />

in einer besonderen Art <strong>und</strong> Weise,<br />

30 sich etwas vorzustellen.<br />

Diese besondere Weise des Vorstellens oder<br />

das Gefühl, welches Fürwahrhalten vom bloßen<br />

Sichwasdenken unterscheidet, sucht der Autor<br />

noch weiter zu erklären, aber er scheint zu<br />

35 spüren, dass es unmöglich ist, jenes Gefühl, das<br />

jeder in sich selbst erleben muss, mit Worten<br />

zu beschreiben. Manchmal nennt er es ein<br />

stärkeres Denken, an anderen Stellen ein lebendigeres,<br />

ein lebhafteres, ein sichereres oder<br />

40 auch ein eindringlicheres Denken. Alle diese<br />

Wörter, die das Gefühl des Glaubens genauer<br />

bezeichnen sollen, zielen auf den nach Meinung<br />

des Verfassers offensichtlichen Sachverhalt,<br />

dass der Glaube auf unseren Geist eine<br />

45 stärkere Wirkung hat als Erdichtung oder bloßes<br />

Denken. Der Beweis liegt im Einfluss des<br />

Glaubens auf die Leidenschaften <strong>und</strong> die Einbildungskraft,<br />

die nur durch die <strong>Wahrheit</strong> oder<br />

durch das, was für wahr gehalten wird, in Be-<br />

50 wegung gesetzt werden. Auch die kunstvollste<br />

Dichtung kann nicht solche Leidenschaften wecken<br />

wie das wirkliche Leben. Sie kann es<br />

nicht, weil ihre Art, Gegenstände vorzustellen,<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich eine andere ist: wir fühlen ihre<br />

55 Objekte niemals so unmittelbar auf uns eindringen<br />

wie jene, die bestimmen, was wir<br />

glauben <strong>und</strong> meinen müssen.<br />

Unser Autor ist der Meinung, das Faktum hinreichend<br />

belegt zu haben, dass die Vorstellun-<br />

60 gen, denen wir zustimmen, sich dadurch von<br />

anderen unterscheiden, dass wir sie lebhafter<br />

<strong>und</strong> stärker fühlen. Durch einen Vergleich mit<br />

anderen geistigen Vorgängen sucht er nun die<br />

Ursache für dies lebhaftere Gefühl zu finden.<br />

65 Seine Überlegung ist interessant <strong>und</strong> verdient<br />

Aufmerksamkeit, aber sie lässt sich dem Leser<br />

kaum vollkommen überzeugend oder auch nur<br />

einigermaßen wahrscheinlich machen, ohne<br />

weitläufig auf Einzelheiten einzugehen <strong>und</strong><br />

70 damit den Rahmen dieses Abrisses zu sprengen.<br />

Ich habe hier auch viele andere Argumente<br />

fortgelassen, die alle beweisen sollen, dass der<br />

Glaube nichts anderes ist als ein besonderes<br />

Gefühl oder Bewusstsein. Nur eines will ich<br />

75 noch erwähnen: Unsere vergangene Erfahrung<br />

ist nicht stets einheitlich. Manchmal folgt auf<br />

die Ursache diese Wirkung, manchmal eine andere.<br />

In solchen Fällen glauben wir, dass diejenige<br />

Wirkung eintreten wird, die am häufigsten<br />

80 aufgetreten ist. Ich sehe zum Beispiel eine Billardkugel<br />

sich auf eine andere zubewegen. Dabei<br />

kann ich nicht unterscheiden, ob sie in<br />

Stoßrichtung rollt oder ob sie so gestoßen<br />

wurde, dass sie über die Tischplatte schleift. Für<br />

85 den ersten Fall weiß ich, dass die Kugel auch<br />

nach dem Zusammenstoß nicht in Ruhe sein<br />

wird; im anderen Fall kann es sein, dass sie<br />

stehen bleibt. Der erste Fall ist der häufigere<br />

<strong>und</strong> deshalb rechne ich mit einer entsprechen-<br />

90 den Wirkung. Aber auch die andere Wirkung<br />

denke ich, konzipiere sie als möglich <strong>und</strong> als<br />

verknüpft mit einer Ursache. Würden sich in<br />

beiden Fallen die Gedanken an die Wirkungen<br />

nicht in ihrem Gefühls- oder Bewusstseinscha-<br />

95 rakter unterscheiden, so wäre gar keine Differenz<br />

zwischen ihnen.<br />

Bisher haben wir die Beziehung von Ursache<br />

<strong>und</strong> Wirkung nur in bezug auf bewegte Körper<br />

betrachtet. Dieselben Überlegungen gelten je-<br />

100 doch auch für Operationen des Geistes. Wie<br />

der Wille die Körperbewegung oder das Denken<br />

beeinflusst, lässt sich sicher ohne entsprechende<br />

Erfahrungen, <strong>und</strong> wenn man ausschließlich die<br />

Ursache betrachtete, nicht vorhersagen. Haben<br />

105 wir Erfahrung, so ist es allemal Gewohnheit<br />

<strong>und</strong> nicht Vernunft, dergemäß wir künftig urteilen.<br />

Liegt uns eine Ursache vor, so haben wir<br />

die Neigung erworben, uns sogleich die gewöhnliche<br />

Wirkung vorzustellen <strong>und</strong> zu glau-<br />

110 ben, dass sie eintreten werde. Der Glaube, wie<br />

gesagt, ist etwas anderes als der Gedanke.<br />

Kommt der Glaube zum Gedanken hinzu, so<br />

bleibt doch der gedankliche Gehalt unverändert,<br />

nur fühlen wir ihn anders: wir werden<br />

115 uns seiner stärker <strong>und</strong> lebhafter bewusst.<br />

Am Ende seiner Erklärung, welches das Wesen<br />

unserer kausalen Schlüsse ist, kehrt der Autor<br />

zu seinem Ausgangspunkt zurück <strong>und</strong> betrachtet<br />

erneut die Vorstellung, die wir uns gewöhn-<br />

120 lich von der Kausalrelation machen. Obwohl<br />

28


phi3_09_Reader<br />

sich in der Analyse des Musterbeispiels einer<br />

Bewegungsübertragung beim Zusammenstoß<br />

zweier Kugeln keine anderen charakteristischen<br />

Umstände fanden als Berührung, zeitliche Priori-<br />

5 tät der Ursache sowie konstanter Zusammenhang<br />

von Ursache <strong>und</strong> Wirkung, so wird doch<br />

für gewöhnlich angenommen, es bestehe eine<br />

notwendige Verknüpfung zwischen Ursache <strong>und</strong><br />

Wirkung <strong>und</strong> es besitze die Ursache eine be-<br />

10 sondere Eigenschaft, die man Kraft, Macht o-<br />

der Energie nennt. Was bedeuten diese Ausdrücke?<br />

Wenn es wahr ist, dass alle unsere Vorstellungen<br />

<strong>und</strong> Gedanken irgendwie von unmittelbaren<br />

Eindrücken abhängen, so muss eine<br />

15 solche Kraft entweder mit äußeren oder inneren<br />

Sinnen wahrnehmbar sein. Aber an den Bewegungen<br />

der Körper ist durchaus keine Kraft<br />

wahrnehmbar. Deshalb wagten auch die Cartesianer<br />

zu behaupten, der Materie wohne gar<br />

20 keine Energie inne <strong>und</strong> alle Bewegung beruhe<br />

auf der Energie Gottes 26 . Aber diese These wiederholt<br />

nur die Frage: Was stellen wir uns<br />

denn vor unter Kraft oder Energie, <strong>und</strong> sei es<br />

die eines höchsten Wesens? Alle unsere Vorstel-<br />

25 lungen von einer Gottheit (sagen die, die<br />

bestreiten, dass es angeborene Ideen gibt) sind<br />

nichts weiter als Zusammensetzungen aus Vorstellungen,<br />

die wir uns bilden, wenn wir auf<br />

die Vorgänge in unserem eigenen Geiste ach-<br />

30 ten 27 . Um unseren eigenen Geist zu verstehen,<br />

bedarf es aber so wenig des Begriffs der Ener-<br />

26<br />

Hume bezieht sich auf die Theorie des Okkasionalismus;<br />

einer ihrer Hauptvertreter ist Malebranche. In der 'Recherche<br />

de la vérite' (livre sixième, seconde partie, chap. III: De<br />

l’erreur la plus dangereuse de la <strong>Philosophie</strong> des Anciens)<br />

verwirft Malebranche die Vorstellung der Alten, dass es in<br />

den Körpern wirkende Kräfte gebe, durch die sich ihr Verhalten<br />

erklären lasse. „Wenn eine in Bewegung gesetzte<br />

Kugel einer anderen begegnet <strong>und</strong> sie in Bewegung setzet,<br />

so teilet sie ihr nichts mit, was sie hat; denn sie hat selbst<br />

nicht die Kraft, die sie ihr mitteilet“. Malebranche fährt fort:<br />

„Indessen ist die Kugel doch eine natürliche Ursache der<br />

Bewegung, welche sie mitteilen. Eine natürliche Ursache ist<br />

aber nicht eine reelle <strong>und</strong> wahre, sondern nur eine gelegentliche<br />

Ursache, die den Urheber der Natur bestimmt, bey<br />

dieser <strong>und</strong> jener Gelegenheit gerade so <strong>und</strong> nicht anders zu<br />

handeln.“ (Malebranche, 'Von der <strong>Wahrheit</strong> oder von der<br />

Natur des menschlichen Geistes <strong>und</strong> dem Gebrauch seiner<br />

Fähigkeiten um Irrtümer in Wissenschaften zu vermeiden';<br />

sechs Bücher, aus dem Französischen übersetzt <strong>und</strong> mit<br />

Anmerkungen herausgegeben von einem Liebhaber der<br />

Weltweisheit Dritter Band, Halle 1778, S. 274 f.) Also ist<br />

Gottes Wille die eigentliche Ursache aller Veränderungen in<br />

der Welt, die sich nur gelegentlich der natürlichen Ursachen,<br />

die wir aus Erfahrung kennen, äußert. Zum Verhältnis von<br />

Hume <strong>und</strong> Malebranche vergl. R. W. Church, Malebranche<br />

and Hume, in: Revue Internationale de <strong>Philosophie</strong> I, 1938-<br />

39. Und vergl. die ausführlichere Auseinandersetzung mit<br />

dem Okkasionalismus im 'Traktat', Buch l, Teil lll, Abschnitt<br />

14 (157 ff/ 212 ff) sowie Humes Äußerungen im 'Brief eines<br />

Edelmannes', s. o. S. 114, 115.<br />

27<br />

Hume könnte folgende Stelle aus Berkeleys (1685-1753)<br />

'Three Dialogues between Hylas and Philonous' im Auge<br />

haben: „... all the notion I have of God is obtained by<br />

reflection on my own soul, heightening its powers, and<br />

removing its imperfections“ (The Works of Georges Berkeley,<br />

ed. by A. C. Fraser, Oxford 1871, Band 1, S. 326).<br />

gie wie im Fall der Materie. Betrachten wir den<br />

Willen a priori, also abgesehen von aller unserer<br />

Erfahrung, so werden wir schwerlich je auf<br />

35 eine seiner Wirkungen schließen können. Mit<br />

Hilfe unserer Erfahrung kennen wir jedoch nur<br />

die Verhältnisse von Kontiguität, Sukzession<br />

<strong>und</strong> konstantem Zusammenhang. Daraus ergibt<br />

sich, dass wir entweder gar keine Vorstellung<br />

40 von Kraft <strong>und</strong> Energie haben <strong>und</strong> dass diese<br />

Wörter vollkommen bedeutungslos sind oder<br />

dass mit ihnen nichts anderes gemeint sein<br />

kann als die durch Gewöhnung erworbene Neigung<br />

unseres Denkens, auf Gr<strong>und</strong> einer Ursa-<br />

45 che eine bestimmte Wirkung zu erwarten. Wer<br />

diese Dinge im Einzelnen verstehen will, muss<br />

den Autor selber befragen; hier genügt es, die<br />

gelehrte Welt auf eine Schwierigkeit aufmerksam<br />

gemacht zu haben. Wer sich anschickt, sie<br />

50 zu lösen, wird Dinge sagen müssen, die so neu<br />

<strong>und</strong> ungewöhnlich sind wie das bislang unerkannte<br />

Problem selber.<br />

Nach allem, was hier berichtet worden<br />

ist, wird der Leser den Eindruck gewon-<br />

55 nen haben, es handle sich um eine<br />

durchweg skeptische <strong>Philosophie</strong>, die es<br />

vor allem darauf anlegt, uns die engen<br />

Grenzen unseres Verstandes vor Augen zu<br />

führen. Als Basis nahezu allen Denkens<br />

60 <strong>und</strong> Schlussfolgerns wird Erfahrung, nicht<br />

Vernunft, dargetan <strong>und</strong> das Fürwahrhalten<br />

unserer Erfahrungen für nichts weiter<br />

als ein besonderes Gefühl erklärt: eine<br />

lebhafte Eindringlichkeit des Gedankens,<br />

65 hervorgerufen durch Gewohnheit. Ebenso<br />

ist der Glaube an die äußere Existenz der<br />

Dinge oder die Annahme, ein Gegenstand<br />

bestehe fort, auch wenn er nicht wahrgenommen<br />

wird, wiederum nichts als ein<br />

70 Gefühl. Der Autor vertritt noch andere<br />

skeptische Thesen <strong>und</strong> kommt zu dem<br />

Schluss, dass wir unseren geistigen Fähigkeiten<br />

vertrauen <strong>und</strong> Vernunft gebrauchen,<br />

einfach weil wir nicht anders kön-<br />

75 nen. Die <strong>Philosophie</strong> würde uns zu radikalen<br />

Skeptikern machen, wäre nicht unsere<br />

Natur, die uns Realisten sein lässt.<br />

Ich schließe die Übersicht über die theoretische<br />

<strong>Philosophie</strong> des Verfassers mit dem Referat<br />

80 zweier Thesen, die ihm - wie freilich die meisten<br />

seiner Auffassungen - besonders eigentümlich<br />

zu sein scheinen. Seiner Meinung nach ist<br />

die Seele, soweit wir uns einen Begriff von ihr<br />

machen können, nichts als ein System oder<br />

85 andauernder Strom von Perzeptionen: Wärme<br />

<strong>und</strong> Kälte, Liebe <strong>und</strong> Zorn, Gedanken <strong>und</strong> Empfindungen.<br />

Alle diese Perzeptionen sind zusammen<br />

vereinigt, ohne dass es etwas vollkommen<br />

Einfaches <strong>und</strong> durchgängig Identisches<br />

90 gäbe. Descartes behauptete, dass Denken, nicht<br />

29


phi3_09_Reader<br />

dieser oder jener Gedanke, sondern dass Denken<br />

überhaupt das Wesen der Seele sei 28 . Aber<br />

diese Behauptung ist vollkommen unverständlich,<br />

weil alles, was existiert, einzelnes ist. Da-<br />

5 her müssen es die vielen einzelnen Perzeptionen<br />

sein, die zusammen den Geist bilden. Ich sage:<br />

den Geist bilden, nicht zum Geiste gehören.<br />

Die Seele oder der Geist sind keine Substanz,<br />

der die Perzeptionen inhärieren. Der Begriff der<br />

10 Substanz ist so unbegreiflich wie die cartesianische<br />

Vorstellung, dass Denken oder Perzipieren<br />

überhaupt das Wesen des Geistes sei. Wir haben<br />

keine Vorstellungen von Substanzen. Denn<br />

alle unsere Vorstellungen hängen irgendwie von<br />

15 unmittelbaren Eindrücken ab; <strong>und</strong> wir haben<br />

keinen Eindruck von einer sei es geistigen, sei<br />

es materiellen Substanz. Wir kennen nichts als<br />

individuierte Eigenschaften <strong>und</strong> einzelne Perzeptionen.<br />

Genau so ist unser Begriff von einem<br />

20 Körper, von einem Pfirsich zum Beispiel, nichts<br />

als die Zusammensetzung der Vorstellungen<br />

von einem spezifischen Geschmack, von besonderer<br />

Farbe, bestimmter Form, Größe, Konsistenz<br />

etc. Und genauso ist unser Begriff des<br />

25 Geistes nur die Vorstellung einer Menge einzelner<br />

Perzeptionen ohne den Begriff einer einfachen<br />

oder auch zusammengesetzten Substanz.<br />

Die zweite These, auf die ich aufmerksam<br />

machen will, betrifft die Geometrie. Der Autor<br />

30 bestreitet die unendliche Teilbarkeit einer Strecke<br />

<strong>und</strong> sieht sich daher gezwungen, sich mit<br />

den allein ernst zu nehmenden mathematischen<br />

Argumenten für die unendliche Teilbarkeit auseinander<br />

zu setzen. Er bestreitet, dass Geomet-<br />

35 rie eine hinreichend exakte Wissenschaft sei,<br />

um so subtile Schlussfolgerungen zuzulassen,<br />

wie für die Entscheidung der Frage nach einer<br />

unendlichen Teilbarkeit erforderlich sind. Die<br />

Begründung lautet: Alle Geometrie beruht auf<br />

40 dem Begriffspaar: Gleichheit <strong>und</strong> Ungleichheit.<br />

Weiter hängt der Exaktheitsgrad dieser Wissenschaft<br />

davon ab, ob unser Maß für Gleichheit<br />

beziehungsweise Ungleichheit exakt ist. Nun<br />

gibt es ein exaktes Maß der Gleichheit dann,<br />

45 wenn wir die Annahme machen, dass jede<br />

Größe sich aus unteilbaren Punkten zusammensetzt.<br />

Dann nämlich sind zwei Strecken gleich,<br />

wenn sie sich aus einer gleichen Anzahl von<br />

Punkten zusammensetzen oder wenn wir zwi-<br />

50 schen den Punkten beider Strecken eine eineindeutige<br />

Korrespondenz herstellen können. Dieses<br />

Maß ist zwar exakt, aber es ist nicht anwendbar,<br />

da wir die Punkte einer Strecke nicht<br />

zählen können. Außerdem beruht die Idee die-<br />

55 ses Maßes auf der Voraussetzung bloß endlicher<br />

Teilbarkeit <strong>und</strong> erlaubt daher keine Schlüsse<br />

auf das Gegenteil. Geben wir aber die Idee<br />

dieses Maßes der Gleichheit auf, so besitzen<br />

wir keines mehr, das beanspruchen dürfte, ex-<br />

60 akt zu sein. Zwei andere Konzeptionen werden<br />

oft vertreten. Zwei Strecken, länger als zum<br />

Beispiel ein Meter, sollen gleich sein, sagt man,<br />

wenn sie dieselbe Anzahl einer kleineren Maßeinheit,<br />

etwa Zentimeter, enthalten. Aber diese<br />

65 Auskunft ist zirkulär. Denn wir nehmen natürlich<br />

an, dass ein Zentimeter auf der einen Strecke<br />

gleich einem Zentimeter auf der anderen<br />

ist. Doch nun wiederholt sich die Frage, welches<br />

Maß wir verwenden können um festzustel-<br />

70 len, ob sie gleich sind. Oder anders gesagt, es<br />

fragt sich, was wir meinen, wenn wir sagen,<br />

zwei Zentimeter seien gleich lang? Ziehen wir<br />

immer kleinere Maßeinheiten heran, so verschiebt<br />

sich das Problem in infinitum; also er-<br />

75 halten wir so kein Maß der Gleichheit. Was<br />

'Gleichheit' bedeute, sagen andererseits die<br />

meisten Philosophen, lasse sich nicht definieren.<br />

Es genüge vielmehr, vor sich zwei gleiche Dinge<br />

zu haben, zum Beispiel zwei Durchmesser eines<br />

80 Kreises, um zu verstehen, was der Ausdruck<br />

bedeute. Aber das heißt einfach die generelle<br />

Erscheinung der Dinge zum Maß für das Verhältnis<br />

der Gleichheit zu nehmen <strong>und</strong> damit<br />

Einbildungskraft <strong>und</strong> die Sinne zur letzten Ur-<br />

85 teilsinstanz zu machen. Ein solches Maß entbehrt<br />

jedoch aller Exaktheit <strong>und</strong> erlaubt vor<br />

allem keine Schlussfolgerungen, die dem, was<br />

wir uns vorstellen oder was wir wahrnehmen,<br />

entgegenstehen. Ob der Autor in dieser Frage<br />

90 recht hat oder nicht, wird die gelehrte Welt<br />

entscheiden müssen. Es wäre sicher zu wünschen,<br />

dass sich ein Ausweg fände, um <strong>Philosophie</strong><br />

<strong>und</strong> gemeinen Verstand, die gerade um<br />

die Frage der unendlichen Teilbarkeit heftige<br />

95 Kriege geführt haben, wieder zur Übereinstimmung<br />

zu bringen 29 .<br />

28<br />

Zum Beispiel in der Zweiten Meditation: „Denken? Hier<br />

liegt es: Das Denken ist's, es allein kann von mir nicht getrennt<br />

werden. Ich bin, ich existiere, das ist gewiss. Wie<br />

lange aber? Nun, solange ich denke. Denn vielleicht könnte<br />

es sogar geschehen, dass ich, wenn ich ganz aufhörte zu<br />

denken, alsbald auch aufhörte zu sein. Für jetzt lasse ich<br />

aber nichts zu, als was notwendig wahr ist! Ich bin also<br />

genau nur ein denkendes Wesen, d. h. Geist, Seele,<br />

Verstand, Vernunft sind lauter Ausdrücke, deren Bedeutung<br />

mir früher unbekannt war. Ich bin aber ein wahres <strong>und</strong><br />

wahrhaft existierendes Ding, doch was für ein Ding? Nun,<br />

ich sagte es bereits ein denkendes.“ (René Descartes, 'Meditationen<br />

über die Gr<strong>und</strong>lagen der <strong>Philosophie</strong>’, auf Gr<strong>und</strong><br />

der Ausgaben von Artur Buchenau neu herausgegeben von<br />

Lüder Gäbe, Hamburg 1960, S. 23 f.).<br />

29<br />

Vergl. 'Traktat', Buch I, Teil II: Of the ideas of space and<br />

time, besonders den Abschnitt 4: Objections answer’d.<br />

Vergl. ferner den Appendix zu Book I, page 47 (637 diese<br />

Stelle des Appendix von Lipps dem Text eingefügt, S. 65):<br />

hier korrigiert sich Hume <strong>und</strong> erklärt sein Einverständnis mit<br />

der These, dass man Gleichheit nicht definieren, aber durch<br />

die Präsentation zweier gleicher Objekte verständlich machen<br />

könne. Im übrigen deutet der vorsichtige Schluss dieser<br />

Passage im 'Abriss' bereits darauf hin, dass Hume sich seiner<br />

Theorie der Geometrie nicht mehr recht sicher war. Ihre<br />

Irrtümer im einzelnen darzustellen, würde hier zu weit führen.<br />

Sie beruhen jedoch alle auf einer gr<strong>und</strong>legenden Unklarheit<br />

über den Charakter der Geometrie als Wissenschaft.<br />

Zu behaupten, dass man de facto eine Strecke nicht unendlich<br />

oft teilen kann <strong>und</strong> dass doch die Idee unendlicher<br />

30


phi3_09_Reader<br />

Wir wollen nun noch einige Nachrichten vom<br />

zweiten Band des Werkes geben, der von den<br />

Leidenschaften handelt. Er ist verständlicher als<br />

der erste <strong>und</strong> enthält doch eine Reihe ganz<br />

5 neuer <strong>und</strong> außergewöhnlicher Thesen. Zuerst<br />

geht es um Stolz <strong>und</strong> Demut. Zahllose <strong>und</strong><br />

anscheinend sehr verschiedenartige Dinge können<br />

diese Leidenschaften erregen. Stolz oder<br />

Selbstwertgefühl können ihren Gr<strong>und</strong> in geisti-<br />

10 gen Qualitäten haben, in Verstandesschärfe,<br />

geradem Sinn, Gelehrsamkeit, Mut, Rechtschaffenheit,<br />

oder in körperlichen Vorzügen wie<br />

Schönheit, Stärke, Beweglichkeit, einer guten<br />

Hand, Gewandtheit beim Tanzen, Reiten, Fech-<br />

15 ten, oder in äußeren Vorteilen wie Land, Familie,<br />

Kindern, gesellschaftlicher Stellung, Reichtümern,<br />

Haus <strong>und</strong> Garten, Pferden, H<strong>und</strong>en,<br />

Kleidern. Dann wird untersucht, unter welchen<br />

gewöhnlichen Umständen diese Dinge zusam-<br />

20 mentreffen <strong>und</strong> woran es liegt, dass sie auf die<br />

Leidenschaften einwirken. In gleicher Weise<br />

Teilbarkeit deshalb nicht sinnlos sein muss, scheint Hume<br />

widersprüchlich auf Gr<strong>und</strong> des folgenden Prinzips: „that<br />

whatever the mind clearly conceives includes the idea of<br />

possible existence, or in other words, that nothing we imagine<br />

is absolutely impossible“ (32/49). Hierbei versteht Hume<br />

unter ,möglich' so viel wie ,durchführbar, realisierbar', <strong>und</strong><br />

deshalb kann er behaupten, es bestehe ein Widerspruch<br />

zwischen der zugestandenen Begrenztheit unserer geistigen<br />

Kapazitäten <strong>und</strong> der Idee unendlicher Teilbarkeit. Wenn aber<br />

,möglich' bedeutet: ,ohne Widerspruch denkbar', dann trifft<br />

Humes Überlegung der Idee unendlicher Teilbarkeit nicht.<br />

Scheint es nach dem 'Traktat', dass Hume die Geometrie im<br />

Gr<strong>und</strong>e als eine empirische Wissenschaft ansah, so hat er<br />

schon im 'Abriss' (s.o. S. 22, 23) <strong>und</strong> besonders deutlich in<br />

der 'Untersuchung über den menschlichen Verstand' seine<br />

Auffassung geändert, wenn er schreibt: „All the objects of<br />

human reason or enquiry may naturally be divided into two<br />

kinds, to wit, Relations of ideas, and Matters of Fact. Of<br />

the first kind are the sciences of Geometry, Algebra, and<br />

Arithmetic; and in short, every affirmation which is either<br />

intuitively or demonstratively certain. . . Propositions of this<br />

kind are discoverable by the mere operations of thought,<br />

without dependence on what is anywhere existent in universe.<br />

Though there never where a circle or triangle in nature,<br />

the truths demonstrated by Euclid would for ever<br />

retain their certainty and evidence“ (25/35). Zwar hält Hume<br />

auch in der 'Untersuchung über den menschlichen Verstand'<br />

daran fest, dass die Idee einer unendlichen Teilbarkeit einer<br />

Strecke für den ges<strong>und</strong>en Menschenverstand schockierend<br />

sei (156/183); aber er folgert daraus nicht, dass die Idee<br />

unendlicher Teilbarkeit sinnlos sein müsse, denn er muss<br />

zugestehen: „... what renders the matter more extraordinary,<br />

is, that these seemingly absurd opinions are supported<br />

by a chain of reasoning, the clearest and most natural; nor<br />

is it possible for us to allow the premises without admitting<br />

the consequences“.<br />

In dieser Lage gibt Hume ein Beispiel für die Haltung der<br />

Skepsis, die er propagiert: der Streit zwischen den Einwänden<br />

des ges<strong>und</strong>en Verstandes <strong>und</strong> den Lehren der Geometrie<br />

bleibt ungeschlichtet, <strong>und</strong> bis zur Lösung ist Skepsis die<br />

angemessene Reaktion auf eine paradoxe Lage: „How any<br />

clear, distinct idea can contain circumstances, contradictory<br />

to itself, or to any other clear, distinct idea, is absolutely<br />

incomprehensible; and is, perhaps, as absurd as any proposition,<br />

which can be formed. So that nothing can be more<br />

sceptical, or more full of doubt and hesitation, than this<br />

scepticism itself, which arises from some of the paradoxical<br />

conclusions of geometry or the science of quantity“ ('Untersuchung'<br />

157-58/184).<br />

werden Liebe <strong>und</strong> Hass <strong>und</strong> weitere Leidenschaften<br />

untersucht. Alle diese Themen sind<br />

interessant, bedürften aber einer weitläufigen<br />

25 Darstellung, die hier nicht gegeben werden<br />

kann.<br />

Statt dessen wollen wir den Leser darüber informieren,<br />

was der Autor zum Problem des<br />

freien Willens zu sagen hat. Das F<strong>und</strong>ament<br />

30 seiner Theorie ist die oben dargestellte Lehre<br />

über den Zusammenhang von Ursache <strong>und</strong><br />

Wirkung. „Es wird allgemein anerkannt, dass<br />

die Bewegungen materieller Körper notwendig<br />

sich vollziehen <strong>und</strong> dass bei Mitteilung von<br />

35 Bewegungsimpulsen, bei wechselseitiger Anziehung<br />

<strong>und</strong> bei Kohäsion sich kein Moment von<br />

äußerem Unbeeinflusstsein oder gar von Freiheit<br />

findet... Was immer in dieser Hinsicht der<br />

Materie gleicht, muss ebenfalls für unfrei <strong>und</strong><br />

40 notwendig erachtet werden. Um herauszubekommen,<br />

ob es sich im Falle geistiger Vorgänge<br />

so verhält wie bei der Materie, wollen wir die<br />

Materie näher betrachten <strong>und</strong> überlegen, worauf<br />

sich unsere Vorstellung davon gründet,<br />

45 dass die Bewegungen der Materie mit Notwendigkeit<br />

in bestimmter Weise ablaufen, <strong>und</strong><br />

weshalb wir schließen, ein Körper oder ein Ereignis<br />

werde unfehlbar die Ursache eines anderen<br />

sein.<br />

50 Wie schon bemerkt, lassen sich niemals die<br />

letzten Zusammenhänge zwischen den Körpern<br />

aufdecken. Weder Vernunft noch die Sinne<br />

vermögen so tief in den inneren Bau der Materie<br />

einzudringen, um die Prinzipien zu entde-<br />

55 cken, denen gemäß die Körper aufeinander<br />

Einfluss ausüben. Wir kennen allein ein konstantes<br />

Zusammenauftreten; <strong>und</strong> Notwendigkeit<br />

entsteht dann, wenn unser Geist durch den<br />

konstanten Zusammenhang dazu bestimmt<br />

60 wird, von einem Objekt zu seinem gewöhnlichen<br />

Begleiter überzugehen <strong>und</strong> auf die Existenz<br />

des einen aus der Existenz des anderen zu<br />

schließen. Diese beiden Momente gehören im<br />

wesentlichen zum Begriff der Notwendigkeit,<br />

65 nämlich der konstante Zusammenhang <strong>und</strong> die<br />

Schlussfolgerung, die wir im Denken vollziehen.<br />

Wo diese Momente gegeben sind, müssen wir<br />

von einer Notwendigkeit sprechen.“ 30 Nun ist<br />

kaum ein Zusammenhang konstanter als der<br />

70 zwischen bestimmten Handlungen <strong>und</strong> bestimmten<br />

Beweggründen. Freilich gilt nicht,<br />

dass ausnahmslos alle Handlungen auf beständige<br />

Weise mit gewissen Motiven verknüpft<br />

sind. Aber diese Ungewissheit ist nicht größer<br />

75 als im Fall der Materie, da auf Gr<strong>und</strong> eines<br />

Zusammenwirkens mehrerer Ursachen die Wirkungen<br />

recht verschieden ausfallen können <strong>und</strong><br />

man dann auch nicht weiß, welche Wirkung<br />

nun eintreten wird. Dreißig Gran Opium wer-<br />

80 den einen Menschen töten, der an dieses Gift<br />

30<br />

Zitat aus dem 'Traktat' 399-400/II 136-37.<br />

31


phi3_09_Reader<br />

nicht gewöhnt ist, <strong>und</strong> dreißig Gran Rhabarberextrakt<br />

werden ihn nicht stets purgieren. Ebenso<br />

gilt, dass Todesfurcht jemanden gewöhnlich<br />

veranlassen wird, bei Gefahr zwanzig Schritt<br />

5 vom Weg abzuweichen, aber ihn nicht unbedingt<br />

dazu bringen muss, eine verwerfliche<br />

Handlung auszuführen.<br />

Andererseits besteht oft genug ein konstanter<br />

Zusammenhang zwischen willentlichen Hand-<br />

10 lungen <strong>und</strong> entsprechenden Motiven, so dass<br />

der Schluss von den einen auf die anderen mit<br />

derselben Gewissheit möglich ist wie im Fall<br />

der Bewegung materieller Körper. Immer steht<br />

die Möglichkeit des Schlusses in einem propor-<br />

15 tionalen Verhältnis zur Konstanz, mit der beide<br />

Dinge zusammen auftreten. Darauf gründen wir<br />

unser Vertrauen auf Zeugnisse <strong>und</strong> darauf beruht,<br />

dass wir der historischen Überlieferung<br />

glauben. Schließlich gilt das Prinzip für alles,<br />

20 was wir im Leben <strong>und</strong> von den Beziehungen<br />

der Menschen untereinander für erwiesen halten.<br />

Nach Meinung unseres Verfassers wirft seine<br />

Definition der Notwendigkeit auf das Problem<br />

25 des freien Willens ein ganz neues Licht. Tatsächlich<br />

wird ja auch der eiferndste Verfechter<br />

eines freien Willens zugeben müssen, dass es<br />

auch im Fall von Handlungen konstante Zusammenhänge<br />

mit gewissen Motiven gibt <strong>und</strong><br />

30 dass wir darauf unsere Schlüsse gründen. Er<br />

wird allerdings bestreiten, dass dies bereits<br />

Notwendigkeit sei. Aber dann muss er zeigen,<br />

dass wir, wenn wir die Bewegung der Materie<br />

betrachten, noch eine besondere Vorstellung<br />

35 der Notwendigkeit haben. Doch nach der vorgetragenen<br />

Überlegung wird ihm dieser Nachweis<br />

misslingen.<br />

Überall in seinem Werk erhebt der Autor den<br />

Anspruch, Neuland in der <strong>Philosophie</strong> entdeckt<br />

40 zu haben. Aber wenn eines rechtfertigt, ihm<br />

den Ruhm eines findigen Kopfes zuzusprechen,<br />

dann dies, wie er überall in seiner <strong>Philosophie</strong><br />

den Gesetzmäßigkeiten der Vorstellungsassoziation<br />

nachgeht. Unsere Einbildungskraft hat gro-<br />

Immanuel Kant:<br />

Einleitung zu den Prolegomena 31<br />

80 Hume ging hauptsächlich von einem einzigen,<br />

aber wichtigen Begriffe der Metaphysik, nämlich<br />

dem der Verknüpfung der Ursache <strong>und</strong><br />

Wirkung (mithin auch dessen Folgebegriffe der<br />

Kraft <strong>und</strong> Handlung etc.), aus, <strong>und</strong> forderte die<br />

85 Vernunft, die da vorgibt, ihn in ihrem Schoße<br />

erzeugt zu haben, auf, ihm Rede <strong>und</strong> Antwort<br />

zu geben, mit welchem Rechte sie sich denkt:<br />

31<br />

Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen<br />

Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten<br />

können (1783). In: Werkausgabe Band V. Frankfurt am<br />

Main: Suhrkamp 1993. S. 115-119<br />

45 ße Macht über unsere Vorstellungen. Sind sie<br />

verschieden voneinander, so kann sie sie trennen<br />

<strong>und</strong> in beliebigen, auch erdichteten Variationen<br />

neu zusammensetzen. Doch trotz dieser<br />

Macht der Einbildungskraft gibt es ein gehei-<br />

50 mes Band zwischen den Vorstellungen. So beziehen<br />

wir, was zusammengehört, häufiger aufeinander;<br />

<strong>und</strong> schließlich ruft eine gerade auftretende<br />

Vorstellung die andere herbei. Daher<br />

erklärt sich das Apropos im Gespräch, der Ge-<br />

55 dankenzusammenhang beim Schreiben <strong>und</strong> jene<br />

Gedankenverkettung, jener Faden, der sich noch<br />

durch die ungeb<strong>und</strong>enste Träumerei hindurchzieht.<br />

Die Prinzipien der Assoziation lassen sich<br />

auf drei zurückführen: Ähnlichkeit (wenn uns<br />

60 das Bild an den erinnert, den es darstellt); Berührung<br />

oder Nachbarschaft (wird St. Denis<br />

erwähnt, denkt man an Paris); Verursachung<br />

(denken wir an den Sohn, fällt uns leicht der<br />

Vater ein). Man wird schnell einsehen, wie<br />

65 weitreichende Folgen die Entdeckung dieser<br />

Gesetzmäßigkeiten für die Wissenschaft von der<br />

menschlichen Natur haben muss, wenn man<br />

bedenkt, dass sie allein es sind, die in unserem<br />

Geiste die Teile des Universums zu einem Bilde<br />

70 zusammenfügen <strong>und</strong> die uns mit anderen Personen<br />

oder Dingen außer uns verbinden, denn<br />

nur vermittelt über das Denken wirken die Dinge<br />

auf unsere Leidenschaften ein. Und sofern<br />

die Prinzipien der Assoziation die einzigen Bän-<br />

75 der zwischen unseren Gedanken sind, sind alle<br />

geistigen Vorgänge wesentlich von ihnen bestimmt;<br />

sie sind für uns der wirkliche Zement<br />

des Universums.<br />

F I N I S<br />

Quelle: David Hume: Abriss eines neuen Buches, betitelt Ein<br />

Traktat über die menschliche Natur etc. worin dessen Hauptgedanken<br />

weiter erläutert <strong>und</strong> erklärt werden (1740), übersetzt,<br />

herausgegeben <strong>und</strong> eingeleitet von Jens Kuhlenkampf. Hamburg:<br />

Felix-Meiner. 1980. Philosophische Bibliothek 320.<br />

Die wichtigste Schrift von David Hume (1711-1776) war<br />

„Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand“, im<br />

Jahre 1748 unter dem Titel „Philosophical Essays concerning<br />

Human Understanding“ erschienen. Er beschäftigte sich<br />

auch gr<strong>und</strong>legend mit Moral, Politik <strong>und</strong> Religion.<br />

dass etwas so beschaffen sein könne, dass,<br />

wenn es gesetzt ist, dadurch auch etwas ande-<br />

90 res notwendig gesetzt werden müsse; denn<br />

das sagt der Begriff der Ursache. Er bewies<br />

unwidersprechlich: dass es der Vernunft gänzlich<br />

unmöglich sei, a priori, <strong>und</strong> aus Begriffen<br />

eine solche Verbindung zu denken, denn diese<br />

95 enthält Notwendigkeit; es ist aber gar nicht<br />

abzusehen, wie darum, weil etwas ist, etwas<br />

anderes notwendiger Weise auch sein müsse,<br />

<strong>und</strong> wie sich also der Begriff von einer solchen<br />

Verknüpfung a priori einführen lasse. Hieraus<br />

100 schloss er, dass die Vernunft sich mit diesem<br />

Begriffe ganz <strong>und</strong> gar betriege, dass sie ihn<br />

fälschlich vor ihr eigen Kind halte, da er doch<br />

nichts anders als ein Bastard der Einbildungs-<br />

32


phi3_09_Reader<br />

kraft sei, die, durch Erfahrung beschwängert,<br />

gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der<br />

Assoziation gebracht hat, <strong>und</strong> eine daraus entspringende<br />

subjektive Notwendigkeit, d.i. Ge-<br />

5 wohnheit, vor eine objektive aus Einsicht, unterschiebt.<br />

Hieraus schloss er: die Vernunft habe<br />

gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen,<br />

auch selbst nur im allgemeinen, zu denken,<br />

weil ihre Begriffe alsdenn bloße Erdichtungen<br />

10 sein würden, <strong>und</strong> alle ihre vorgeblich a priori<br />

bestehende <strong>Erkenntnis</strong>se wären nichts als<br />

falsch gestempelte gemeine Erfahrungen, welches<br />

eben so viel sagt, als, es gebe überall<br />

keine Metaphysik <strong>und</strong> könne auch keine ge-<br />

15 ben. 32<br />

So übereilt <strong>und</strong> unrichtig auch seine Folgerung<br />

war, so war sie doch wenigstens auf Untersuchung<br />

gegründet, <strong>und</strong> diese Untersuchung war<br />

es wohl wert, dass sich die guten Köpfe seiner<br />

20 Zeit vereinigt hätten, die Aufgabe, in dem Sinne,<br />

wie er sie vortrug, wo möglich, glücklicher<br />

aufzulösen, woraus denn bald eine gänzliche<br />

Reform der Wissenschaft hätte entspringen<br />

müssen.<br />

Allein das der Metaphysik von je her ungünstige<br />

Schicksal wollte, dass er von keinem verstanden<br />

würde. [...]<br />

25 Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume<br />

war eben dasjenige, was mir vor vielen<br />

Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer<br />

unterbrach, <strong>und</strong> meinen Untersuchungen im<br />

Felde der spekulativen <strong>Philosophie</strong> eine ganz<br />

30 andre Richtung gab. Ich war weit entfernt, ihm<br />

in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben,<br />

die bloß daher rührten, weil er sich seine<br />

Aufgabe nicht im Ganzen vorstellete, sondern<br />

nur auf einen Teil derselben fiel, der, ohne das<br />

35 Ganze in Betracht zu ziehen, keine Auskunft<br />

geben kann. Wenn man von einem gegründeten,<br />

obzwar nicht ausgeführten Gedanken anfängt,<br />

den uns ein anderer hinterlassen, so<br />

kann man wohl hoffen, es bei fortgesetztem<br />

40 Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnige<br />

Mann kann, dem man den ersten Funken<br />

dieses Lichts zu verdanken hatte.<br />

Ich versuchte also zuerst, ob sich nicht Humes<br />

Einwurf allgemein vorstellen ließe, <strong>und</strong> fand<br />

45 bald; dass der Begriff der Verknüpfung von<br />

Ursache <strong>und</strong> Wirkung bei weitem nicht der<br />

einzige sei, durch den der Verstand a priori<br />

sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr,<br />

dass Metaphysik ganz <strong>und</strong> gar daraus bestehe.<br />

50 Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern, <strong>und</strong>,<br />

da dieses mir nach Wunsch, nämlich aus einem<br />

einzigen Prinzip, gelungen war, so ging ich an<br />

die Deduktion dieser Begriffe, von denen ich<br />

nunmehr versichert war, dass sie nicht, wie<br />

55 Hume besorgt hatte, von der Erfahrung abgeleitet,<br />

sondern aus dem reinen Verstande entsprungen<br />

seien. Diese Deduktion, die meinem<br />

scharfsinnigen Vorgänger unmöglich schien, die<br />

niemand außer ihm sich auch nur hatte einfal-<br />

60 lenlassen, obgleich jedermann sich der Begriffe<br />

getrost bediente, ohne zu fragen, worauf sich<br />

denn ihre objektive Gültigkeit gründe, diese,<br />

sage ich, war das Schwerste, das jemals zum<br />

Behuf der Metaphysik unternommen werden<br />

65 konnte, <strong>und</strong> was noch das Schlimmste dabei<br />

ist, so konnte mir Metaphysik, so viel davon<br />

nur irgendwo vorhanden ist, hiebei auch nicht<br />

die mindeste Hülfe leisten, weil jene Deduktion<br />

zuerst die Möglichkeit einer Metaphysik aus-<br />

70 machen soll. Da es mir nun mit der Auflösung<br />

des Humischen Problems nicht bloß in einem<br />

besondern Falle, sondern in Absicht auf das<br />

ganze Vermögen der reinen Vernunft gelungen<br />

war: so konnte ich sichere, obgleich immer nur<br />

75 langsame Schritte tun, um endlich den ganzen<br />

Umfang der reinen Vernunft, in seinen Grenzen<br />

sowohl, als seinem Inhalt, vollständig <strong>und</strong> nach<br />

allgemeinen Prinzipien zu bestimmen, welches<br />

denn dasjenige war, was Metaphysik bedarf,<br />

80 um ihr System nach einem sicheren Plan aufzuführen.<br />

32<br />

Gleichwohl nannte Hume eben diese zerstörende<br />

<strong>Philosophie</strong> selbst Metaphysik, <strong>und</strong> legte ihr einen hohen<br />

Wert bei. »Metaphysik <strong>und</strong> Moral, sagt er (Versuche<br />

4ter Teil, Seite 214, deutsche Übers.), sind die<br />

wichtigsten Zweige der Wissenschaft; Mathematik <strong>und</strong><br />

Naturwissenschaft sind nicht halb so viel wert.« Der<br />

scharfsinnige Mann sahe aber hier bloß auf den negativen<br />

Nutzen, den die Mäßigung der übertriebenen Ansprüche<br />

der spekulativen Vernunft haben würde, um so<br />

viel endlose <strong>und</strong> verfolgende Streitigkeiten, die das<br />

Menschengeschlecht verwirren, gänzlich aufzuheben;<br />

aber er verlor darüber den positiven Schaden aus den<br />

Augen, der daraus entspringt, wenn der Vernunft die<br />

wichtigsten Aussichten genommen werden, nach denen<br />

allein sie dem Willen das höchste Ziel aller seiner Bestrebungen<br />

ausstecken kann.<br />

Projekt 3 (Plakatwettbewerb)<br />

Gestalten Sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit<br />

ein Plakat, das im Berlin-Kolleg aufgehangen<br />

werden kann <strong>und</strong> den KollegiatInnen <strong>und</strong><br />

LehrerInnen einen Eindruck von dem gibt, was im<br />

Semester „<strong>Erkenntnis</strong> <strong>und</strong> <strong>Wahrheit</strong>“ im <strong>Philosophie</strong>unterricht<br />

gemacht wird.<br />

33


8 Ergänzungen<br />

Platon: Das Sonnengleichnis<br />

Sokrates. Wir behaupten, dass es eine Vielheit<br />

von schönen Dingen <strong>und</strong> guten Dingen <strong>und</strong> so<br />

von jeder Art von Dingen gibt, wie wir sie<br />

denn auch in der Rede unterscheiden.<br />

5 Glaukon. Ja.<br />

Sokrates. Und auch, dass es ein Schönes an sich<br />

<strong>und</strong> ein Gutes an sich gebe <strong>und</strong> so bei allem,<br />

was wir eben als Vielheit setzten; <strong>und</strong> indem<br />

wir nun umgekehrt das viele Einzelne einer I-<br />

10 dee als der Einheit für jede Klasse des Vielen<br />

unterordnen, benennen wir es nach seinem<br />

wirklichen Wesen als Ding an sich.<br />

Glaukon. So ist es.<br />

Sokrates. Und von den ersteren sagen wir, dass<br />

15 sie gesehen, aber nicht gedacht werden, von<br />

den Ideen aber, dass sie gedacht, aber nicht<br />

gesehen werden.<br />

Glaukon. Gewiss.<br />

Sokrates. Womit an uns sehen wir nun das Gesehene?<br />

20<br />

Glaukon. Mit dem Gesicht.<br />

Sokrates. Und mit dem Gehör nicht auch das<br />

Gehörte <strong>und</strong> mit den übrigen Sinnen alles<br />

sinnlich Wahrnehmbare?<br />

25 Glaukon. Ohne Zweifel.<br />

Sokrates. Hast du nun auch beachtet, wie der<br />

Bildner der Sinne das Vermögen des Sehens<br />

<strong>und</strong> Gesehenwerdens mit einem Vorzug ausgestattet<br />

hat, der es über alle anderen weit<br />

30 erhebt?<br />

Glaukon. Das nicht.<br />

Sokrates. Nun, so betrachte es so: Bedarf etwa<br />

Gehör <strong>und</strong> Ton eines weiteren Mittels dazu,<br />

dass das erstere höre, der letztere gehört werde,<br />

so dass beim Ausbleiben dieses dritten das<br />

35<br />

erste nicht hören, der letztere nicht gehört<br />

werden kann?<br />

Glaukon. Nein.<br />

Sokrates. Ich glaube aber auch, andere viele<br />

40 Vermögen haben etwas Derartiges nicht nötig,<br />

ja man darf wohl sagen, kein einziges. Oder<br />

kannst du eines nennen?<br />

Glaukon. Ich gewiss nicht.<br />

Sokrates. Das Gesicht dagegen <strong>und</strong> das Gesehene<br />

bedürfen doch so etwas. Ist dir das nicht<br />

45<br />

klar?<br />

Glaukon. Wieso?<br />

Sokrates. Mögen auch die Augen mit Sehvermögen<br />

ausgestattet sein <strong>und</strong> der Besitzer versuchen,<br />

davon Gebrauch zu machen, <strong>und</strong> mag<br />

50<br />

anderseits auch an den Gegenständen selbst<br />

Farbe haften, so wird doch, wenn nicht ein<br />

Mittel als ein drittes, eigens dafür von der Natur<br />

geschaffen, mitwirkt, offenbar das Gesicht<br />

55 nichts sehen, <strong>und</strong> die Farben werden unsichtbar<br />

sein.<br />

Glaukon. Und welches ist dieses?<br />

Sokrates. Nun, das was du Licht nennst.<br />

Glaukon. Richtig.<br />

60 Sokrates. Dinge also, die schon für sich genommen<br />

nicht unbedeutend sind, nämlich der Gesichtssinn<br />

<strong>und</strong> das Vermögen, gesehen zu<br />

werden, sind demnach überdies noch durch<br />

ein kostbareres Band verb<strong>und</strong>en, als es bei<br />

65 anderen Zusammenpaarungen der Fall ist,<br />

wenn anders das Licht nichts Verächtliches ist.<br />

Glaukon. Weit gefehlt, dass es das wäre.<br />

Sokrates. Welchen nun von den Sternengöttern<br />

kannst du als den Urheber davon bezeichnen,<br />

70 also als den, dessen Licht unserem Gesicht dazu<br />

verhilft, auf das Schönste zu sehen, <strong>und</strong><br />

dem Gesehenen dazu, gesehen zu werden?<br />

Glaukon. Den auch du dafür hältst <strong>und</strong> sonst<br />

auch alle Welt; denn offenbar ist es die Sonne,<br />

wonach du frägst.<br />

75<br />

Sokrates. Verhält sich nun das Gesicht zu diesem<br />

Gott naturgemäß folgendermaßen?<br />

Glaukon. Wie?<br />

Sokrates. Das Gesicht ist nicht die Sonne, weder<br />

80 es selbst noch dasjenige, dem es innewohnt,<br />

von uns Auge genannt.<br />

Glaukon. Das allerdings nicht.<br />

Sokrates. Aber das sonnenartigste, denke ich, ist<br />

es doch gewiss von allen Organen der sinnlichen<br />

Wahrnehmung.<br />

85<br />

Glaukon. Weitaus.<br />

Sokrates. Hat es nun nicht auch seine Kraft von<br />

dieser gespendet erhalten wie etwas, das von<br />

ihr ihm zufließt?<br />

90 Glaukon. Sicherlich.<br />

Sokrates. Steht es nun mit der Sonne nicht auch<br />

so? Sie ist nicht Gesicht, aber Ursache davon,<br />

<strong>und</strong> wird als solche von ihm gesehen.<br />

Glaukon. Ja.<br />

95 Sokrates. Sie also meine ich - das kannst du nun<br />

als meine Ansicht verkünden - mit jenem<br />

Sprössling des Guten, den das Gute selbst als<br />

sein Ebenbild erzeugt: Was es selbst im Bereiche<br />

des Denkbaren ist im Verhältnis zur Vernunft<br />

<strong>und</strong> zum Gedachten, das ist die Sonne<br />

100<br />

im Bereiche des Sichtbaren im Verhältnis zu<br />

dem Gesicht <strong>und</strong> zu dem Gesehenen.<br />

Glaukon. Wie? Lass dich weiter darüber vernehmen.<br />

105 Sokrates. Du weißt doch: Wenn man die Augen<br />

nicht mehr auf solche Dinge richtet, auf deren<br />

Farben das Tageslicht fällt, sondern auf solche,<br />

über die sich nächtliche Dämmerung breitet,<br />

so werden sie blöde <strong>und</strong> scheinen beinahe<br />

110 blind, als ob keine eigentliche Sehkraft mehr<br />

in ihnen wäre.<br />

34


phi3_09_Reader<br />

Glaukon. Gewiss.<br />

Sokrates. Wenn aber auf solche, die von der<br />

Sonne beleuchtet werden, dann, denke ich,<br />

sehen sie deutlich, <strong>und</strong> diesen nämlichen Augen<br />

wohnt jetzt offenbar Sehkraft inne.<br />

5<br />

Glaukon. Ohne Zweifel.<br />

Sokrates. So denke dir denn auch das Verhältnis<br />

der Seele folgendermaßen: Wenn sie fest gerichtet<br />

ist auf das, worauf das Licht der <strong>Wahrheit</strong><br />

<strong>und</strong> des Seienden fällt, dann erfasst <strong>und</strong><br />

10<br />

erkennt sie es <strong>und</strong> scheint im Besitze der Vernunft<br />

zu sein; wenn aber auf das mit Finsternis<br />

Gemischte, das Entstehende <strong>und</strong> Vergehende,<br />

dann fällt sie dem bloßen Meinen anheim,<br />

wird stumpfsichtig, wirft die Meinungen<br />

15<br />

herüber <strong>und</strong> hinüber <strong>und</strong> macht nunmehr den<br />

Eindruck, als sei sie aller Vernunft bar.<br />

Glaukon. Ja, so ist es.<br />

Sokrates. Das also, was den Dingen, welche erkannt<br />

werden, <strong>Wahrheit</strong> verleiht <strong>und</strong> dem Er-<br />

20<br />

kennenden die Kraft zum Erkennen gibt, ist -<br />

das sei jetzt dein Spruch - die Idee des Guten,<br />

<strong>und</strong> diese musst du dir jetzt als die Ursache<br />

der <strong>Erkenntnis</strong> <strong>und</strong> <strong>Wahrheit</strong> vorstellen, soweit<br />

25 die letztere erkannt wird: Aber so schön sie<br />

auch beide sein mögen, <strong>Erkenntnis</strong> <strong>und</strong> <strong>Wahrheit</strong>,<br />

so wirst du doch das Richtige treffen mit<br />

der Annahme, dass sie selbst etwas noch<br />

Schöneres ist als diese; wie es aber im Vorigen<br />

30 in bezug auf Licht <strong>und</strong> Gesicht richtig war, sie<br />

wohl für sonnenartig zu erklären, für falsch<br />

dagegen, sie für die Sonne selbst zu halten, so<br />

steht es auch hier mit <strong>Erkenntnis</strong> <strong>und</strong> <strong>Wahrheit</strong>:<br />

Sie beide für verwandt mit dem Guten zu<br />

35 halten, ist recht, sie aber, sei es nun die eine<br />

oder die andere, für das Gute selbst zu halten,<br />

ist nicht recht, vielmehr steht das Gute selbst<br />

seinem ganzen Verhältnis nach auf einer noch<br />

höheren Stufe.<br />

40 Glaukon. Eine gar nicht auszudenkende Schönheit<br />

offenbarst du, wenn sie <strong>Erkenntnis</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Wahrheit</strong> schafft, selbst aber noch über diese<br />

an Schönheit emporragt; denn dass du etwa<br />

die Lust damit meinen könntest, ist doch bei<br />

45 dir ganz ausgeschlossen.<br />

Sokrates. Lästere nicht; betrachte vielmehr das<br />

Abbild des Guten noch von folgender Seite.<br />

Glaukon. Von welcher?<br />

Sokrates. Du wirst, denke ich, sagen, die Sonne<br />

50 verleihe dem, was gesehen wird, nicht nur das<br />

Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch<br />

Werden, Wachstum <strong>und</strong> Nahrung, ohne doch<br />

selbst ein Werden zu sein.<br />

Glaukon. Wie könnte sie das auch sein?<br />

55 Sokrates. Also musst du auch sagen, dass dem<br />

Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von<br />

dem Guten zuteil werde, sondern dass es sein<br />

Sein <strong>und</strong> Wesen von ihm habe, so dass das<br />

Gute nicht das Sein ist, sondern an Würde<br />

60 <strong>und</strong> Kraft noch über das Sein hinausragt.<br />

Glaukon (mit einem starken Stich ins Komische).<br />

Beim Apollon, ein wahres W<strong>und</strong>er von Hinausragen!<br />

Sokrates. Du selbst trägst doch die Schuld daran;<br />

denn du zwangst mich, meine Ansicht<br />

65<br />

darüber mitzuteilen.<br />

Aus: Platon, Der Staat, übersetzt <strong>und</strong> erläutert von Otto<br />

Apelt. 10., durchges. Auflage. Felix Meiner Verlag Hamburg<br />

1979. (Philosophische Bibliothek Band 80).<br />

Ernst Cassirer:<br />

Über <strong>Erkenntnis</strong> (1944)<br />

Schönheit scheint ein ganz unmittelbar erkennbares<br />

Phänomen im menschlichen Leben zu<br />

sein. Durch keinerlei Aura von Geheimnis <strong>und</strong><br />

70 Rätselhaftigkeit scheint sie verdunkelt, <strong>und</strong> es<br />

bedarf keiner subtilen, komplizierten metaphysischen<br />

Theorien, um ihren Charakter <strong>und</strong> ihre<br />

Natur zu erklären. Schönheit gehört als fester<br />

Bestandteil zum menschlichen Erleben <strong>und</strong> zur<br />

75 menschlichen Erfahrung; sie ist greifbar <strong>und</strong><br />

unverkennbar. Dennoch hat sich das Phänomen<br />

der Schönheit in der Geschichte der <strong>Philosophie</strong><br />

immer wieder als eines der größten Paradoxa<br />

erwiesen. Bis zu Kant zielte die <strong>Philosophie</strong> der<br />

80 Schönheit stets darauf, die ästhetische Erfahrung<br />

in einem außerästhetischen Prinzip zu<br />

verankern <strong>und</strong> die Kunst einer außerästhetischen<br />

Beurteilung zu unterwerfen. In seiner<br />

Kritik der Urteilskraft hat Kant als erster einen<br />

85 klaren, überzeugenden Beweis für die Autonomie<br />

der Kunst geliefert. Die älteren Systeme<br />

hatten entweder in der Sphäre theoretischer<br />

<strong>Erkenntnis</strong> oder in der Sphäre der Moral nach<br />

einem Maßstab für die Kunst gesucht. Fasste<br />

90 man die Kunst als Ergebnis theoretischer Tätigkeit,<br />

so war es unerlässlich, die logischen Regeln<br />

zu analysieren, denen diese besondere<br />

Tätigkeit folgt. In diesem Falle war die Logik<br />

selbst kein homogenes Ganzes mehr. Sie muss-<br />

95 te in gesonderte, relativ selbständige Teile zerlegt<br />

werden. Die Logik der Einbildungskraft<br />

musste von der Logik des rationalen <strong>und</strong> wissenschaftlichen<br />

Denkens unterschieden werden.<br />

[...]<br />

100 Es herrscht jedoch ein unübersehbarer Unterschied<br />

zwischen den Symbolen der Kunst <strong>und</strong><br />

den Ausdrücken der gesprochenen oder geschriebenen<br />

Alltagssprache. Die beiden Aktivitäten<br />

gleichen einander weder in ihrem Charakter<br />

105 noch in ihrem Zwecke; sie bedienen sich nicht<br />

derselben Mittel <strong>und</strong> streben nicht nach denselben<br />

Zielen. Weder Sprache noch Kunst liefern<br />

uns eine bloße Nachahmung von Dingen<br />

35


phi3_09_Reader<br />

oder Handlungen; beide sind Darstellungen.<br />

Aber eine Darstellung im Medium sinnlicher<br />

Formen unterscheidet sich ganz erheblich von<br />

einer sprachlichen oder begrifflichen Darstel-<br />

5 lung. Die Schilderung einer Landschaft durch<br />

einen Maler oder einen Dichter <strong>und</strong> die eines<br />

Geographen oder Geologen haben kaum etwas<br />

gemeinsam. Sowohl die Art <strong>und</strong> Weise der<br />

Darstellung wie auch ihre Absicht unterschei-<br />

10 den sich. Ein Geograph kann eine Landschaft<br />

durchaus anschaulich darstellen <strong>und</strong> sogar in<br />

reichen, lebhaften Farben schildern. Er will damit<br />

jedoch nicht die Anschauung dieser Landschaft,<br />

sondern ihr empirisches Konzept vermit-<br />

15 teln. Zu diesem Zweck muss er ihre Formen mit<br />

anderen Formen vergleichen; durch Beobachtung<br />

<strong>und</strong> Induktion muss er ihre charakteristischen<br />

Merkmale ermitteln. Der Geologe geht in<br />

dieser empirischen Darstellung noch einen<br />

20 Schritt weiter. Er begnügt sich nicht damit, die<br />

physikalischen Fakten aufzuzeichnen, er will<br />

den Ursprung dieser Fakten aufdecken. Er unterscheidet<br />

die verschiedenen Schichten, aus<br />

denen sich der Erdboden gebildet hat, <strong>und</strong> hält<br />

25 den zeitlichen Ablauf fest; <strong>und</strong> er greift auf die<br />

allgemeinen Kausalgesetze zurück, die erklären,<br />

wie die Erde zu ihrer gegenwärtigen Gestalt<br />

gelangt ist. Alle diese empirischen Zusammenhänge,<br />

diese Vergleiche mit anderen Fakten,<br />

30 diese Erforschung von Kausalbeziehungen existieren<br />

für den Künstler nicht. Unsere gewöhnlichen<br />

empirischen Begriffe lassen sich, grob<br />

gesagt, in zwei Klassen einteilen, je nachdem,<br />

ob sie mit unseren praktischen oder unseren<br />

35 theoretischen Interessen zu tun haben. Die<br />

Begriffe der einen Klasse befassen sich mit dem<br />

Gebrauch der Dinge <strong>und</strong> mit der Frage »Wozu?«<br />

Die der anderen befassen sich mit den<br />

Ursachen der Dinge <strong>und</strong> mit der Frage »Wo-<br />

40 her?« Im Bereich der Kunst freilich müssen wir<br />

diese Fragen vergessen. Hinter dem Dasein,<br />

dem Wesen, den empirischen Eigenschaften der<br />

Dinge entdecken wir plötzlich ihre Formen.<br />

Diese Formen sind keine statischen Elemente.<br />

45 Sie zeigen uns eine bewegliche Ordnung, die<br />

uns einen neuen Horizont der Natur offenbart.<br />

Auch ihre größten Bew<strong>und</strong>erer haben von der<br />

Kunst oft so gesprochen, als wäre sie bloßes<br />

Beiwerk, eine Verschönerung oder Verzierung<br />

50 des Lebens. Doch damit würde man ihre wirkliche<br />

Bedeutung <strong>und</strong> ihre eigentliche Rolle in der<br />

Kultur unterschätzen. Eine bloße Verdoppelung<br />

der Wirklichkeit wäre von sehr fragwürdigem<br />

Wert. Nur indem wir die Kunst als eine beson-<br />

55 dere Ausrichtung, als neue Orientierung unseres<br />

Denkens, unserer Phantasie <strong>und</strong> unserer Gefühle<br />

begreifen, erfassen wir ihre wirkliche Bedeutung<br />

<strong>und</strong> ihre eigentliche Funktion. Die bildenden<br />

Künste zeigen uns die sinnliche Welt in<br />

60 ihrem ganzen Reichtum <strong>und</strong> ihrer Mannigfaltigkeit.<br />

Was wüssten wir von den zahllosen Nuancen<br />

im Aussehen der Dinge, gäbe es nicht die<br />

Werke der großen Maler <strong>und</strong> Bildhauer? Ähnlich<br />

ist die Dichtung Offenlegung unserer inne-<br />

65 ren Verfassung. Die unendlichen Möglichkeiten,<br />

von denen wir nur eine verschwommene, dunkle<br />

Vorahnung hatten, werden vom Dichter,<br />

vom Romancier, vom Dramatiker ans Licht gebracht.<br />

Solche Kunst ist keineswegs Abklatsch<br />

70 oder Nachahmung, sondern eine Manifestation<br />

unseres Inneren.<br />

Solange wir uns nur in der Welt der Sinneseindrücke<br />

aufhalten, berühren wir lediglich die<br />

Oberfläche der Wirklichkeit. In die Tiefe der<br />

75 Dinge vorzudringen erfordert die Anstrengung<br />

unserer aktiven <strong>und</strong> konstruktiven Energien.<br />

Aber da diese Energien nicht alle in dieselbe<br />

Richtung gehen <strong>und</strong> dasselbe Ziel anstreben,<br />

können sie uns auch nicht dieselbe Ansicht der<br />

80 Wirklichkeit vermitteln. Es gibt eine begriffliche<br />

Tiefe ebenso wie eine rein visuelle Tiefe. Jene<br />

wird von der Wissenschaft erschlossen, diese<br />

von der Kunst entdeckt. Jene hilft uns, die Ursachen<br />

der Dinge zu verstehen; diese hilft uns,<br />

85 ihre Formen wahrzunehmen. In der Wissenschaft<br />

versuchen wir, die Phänomene bis zu<br />

ihren ersten Ursachen, bis zu den allgemeinen<br />

Gesetzen <strong>und</strong> Prinzipien zu verfolgen. In der<br />

Kunst versenken wir uns in ihre unmittelbare<br />

90 Erscheinung <strong>und</strong> genießen die Erscheinung in<br />

ihrer Fülle <strong>und</strong> ihrer Vielfalt. Hier haben wir es<br />

nicht mit der Einförmigkeit von Gesetzen, sondern<br />

mit der Vielförmigkeit <strong>und</strong> Mannigfaltigkeit<br />

von Intuitionen zu tun. Auch die Kunst<br />

95 kann man <strong>Erkenntnis</strong> nennen, doch die Kunst<br />

ist <strong>Erkenntnis</strong> von einer besonderen, eigentümlichen<br />

Art. Wir können der Bemerkung Shaftesburys<br />

wohl beipflichten, dass »alle Schönheit<br />

<strong>Wahrheit</strong> ist«. Aber die <strong>Wahrheit</strong> der Schönheit<br />

100 besteht nicht in einer theoretischen Darstellung<br />

oder Erklärung der Dinge; sie besteht vielmehr<br />

in der »sympathetischen Anschauung« der Dinge.<br />

Die beiden Auffassungen von <strong>Wahrheit</strong> stehen<br />

zwar in einem Kontrast, aber nicht in ei-<br />

105 nem Gegensatz oder Widerspruch zueinander.<br />

Da Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft sich auf ganz verschiedenen<br />

Ebenen bewegen, können sie nicht<br />

in Widerspruch zueinander geraten oder sich<br />

gegenseitig beeinträchtigen. Die konzeptuale<br />

110 Deutung der Wissenschaft schließt die intuitive<br />

Deutung der Kunst nicht aus. Jede hat ihre<br />

eigene Perspektive <strong>und</strong> gleichsam ihren eigenen<br />

Brechungswinkel. Die Psychologie der Sinneswahrnehmung<br />

hat uns gelehrt, dass wir ohne<br />

115 den Gebrauch beider Augen, ohne das binokulare<br />

Sehen, die dritte Dimension des Raumes<br />

nicht wahrnehmen könnten. Im gleichen Sinne<br />

beruht die menschliche Erfahrung <strong>und</strong> Erlebnisfähigkeit<br />

darauf, dass wir imstande sind, ver-<br />

120 schiedene Sehweisen einzusetzen <strong>und</strong> unsere<br />

Anschauung der Wirklichkeit zu variieren. Das<br />

»rerum videre formas« ist keine geringere <strong>und</strong><br />

36


phi3_09_Reader<br />

eine ebenso notwendige Aufgabe wie das »rerum<br />

cognoscere causas«. In der gewöhnlichen<br />

Erfahrung verbinden wir die Phänomene nach<br />

Kausalitäts- oder Finalitätskategorien. Je nach-<br />

5 dem, ob wir uns für die theoretischen Begründungen<br />

oder die praktischen Wirkungen der<br />

Dinge interessieren, betrachten wir sie als Ursachen<br />

oder als Mittel. So verlieren wir ihre unmittelbare<br />

Erscheinung meist aus dem Blick, bis<br />

10 wir sie überhaupt nicht mehr direkt wahrzunehmen<br />

vermögen. Auf der anderen Seite lehrt<br />

uns die Kunst, die Dinge zu visualisieren, statt<br />

sie nur zu konzeptualisieren <strong>und</strong> unter Nützlichkeitsgesichtspunkten<br />

anzusehen. Die Kunst<br />

15 gewährt uns ein reiches, anschauliches, farbiges<br />

Bild der Wirklichkeit <strong>und</strong> einen tiefen Einblick<br />

in ihre formale Struktur. Es ist kennzeichnend<br />

für den Menschen, dass er nicht auf einen einzigen,<br />

spezifischen Zugang zur Wirklichkeit fest-<br />

20 gelegt ist, sondern seinen Blickwinkel selbst<br />

wählen <strong>und</strong> auf diese Weise von einer Ansicht<br />

der Dinge zu einer anderen wechseln kann.<br />

Aus: Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung<br />

in eine <strong>Philosophie</strong> der Kultur. Hamburg: Meiner, 1996.<br />

S.258-261<br />

1. Fertigen Sie einen knappen Train of Thought zu<br />

diesem Textauszug.<br />

2. Überprüfen Sie Cassirers Aussagen zur Kunst an<br />

einem Bild.<br />

3. Welche Konsequenzen hat Cassirers Theorie für die<br />

Metaphysik?<br />

Das Thema <strong>Erkenntnis</strong> in der <strong>Philosophie</strong><br />

Wenngleich die Frage der Erkennbarkeit der<br />

Wirklichkeit erst in der Neuzeit zu einem zent-<br />

25 ralen philosophischen Problem geworden ist,<br />

haben doch bereits die antiken Philosophen<br />

bedeutende Beiträge zu dieser Thematik geleistet.<br />

Das <strong>Erkenntnis</strong>problem steht in der Antike<br />

freilich ganz im Schatten der Frage nach den<br />

30 letzten Prinzipien, die dem beobachtbaren<br />

Wandel der Natur zugr<strong>und</strong>e liegen. Viele antike<br />

Philosophen stimmen darin überein, dass nicht<br />

die Sinne, sondern die Vernunft <strong>und</strong> das Denken<br />

die Gr<strong>und</strong>prinzipien der Welt erfassen<br />

35 können. Bei den Sophisten, die häufig als die<br />

griechischen Aufklärer des 5. Jahrh<strong>und</strong>erts v.<br />

Chr. bezeichnet werden, ging mit dem Vertrauen<br />

in die Zuverlässigkeit der Sinne auch<br />

das Vertrauen in die Vernunft als Quelle der<br />

40 <strong>Erkenntnis</strong> verloren. Sie wiesen darauf hin, dass<br />

die Sinneswahrnehmungen zwischen den Menschen<br />

variieren, sodass das, was der eine als<br />

warm empfindet dem anderen als kalt erscheint.<br />

Diese Relativität der Wahrnehmung<br />

45 führte sie zu einem Zweifel an der menschlichen<br />

<strong>Erkenntnis</strong>fähigkeit überhaupt.<br />

Gegen solche Skepsis wandte sich die Ideenlehre<br />

Platons (427-347 v. Chr.). Sie ist ganz von<br />

dem Gegensatz zwischen einer sinnlich wahr-<br />

50 nehmbaren veränderlichen <strong>und</strong> vergänglichen<br />

Welt (»Werden«) <strong>und</strong> der hinter dieser Sinnenwelt<br />

liegenden, nur durch die Vernunft erfassbaren<br />

unveränderlichen <strong>und</strong> unvergänglichen<br />

Wirklichkeit (»Sein«) beherrscht. Dieses wahre<br />

55 Sein wird von Platon als das Reich der ewigen<br />

»Urbilder« gedacht, wovon die einzelnen Dinge<br />

<strong>und</strong> Lebewesen der Natur nur »Abbilder« sind.<br />

So sind etwa die realen Pferde der Natur vergängliche<br />

Abbilder des hinter der Sinnenwelt<br />

60 liegenden ewigen Urbilds (»Idee«) eines Pferdes<br />

überhaupt. Nur von dem wahren Sein der »Ideen«<br />

gibt es nach Platon sichere <strong>Erkenntnis</strong>,<br />

von der vergänglichen Natur gibt es dagegen<br />

nur Meinungen. Sichere <strong>Erkenntnis</strong> erreicht<br />

65 nach Platon auch die Mathematik, da es sich<br />

bei Zahlen <strong>und</strong> geometrischen Figuren gleichfalls<br />

nicht um Sinnendinge, sondern um unveränderliche<br />

<strong>und</strong> unvergängliche Gebilde handelt.<br />

Das Mittelalter hielt am Misstrauen gegen die<br />

70 Sinneswahrnehmung fest, sah aber den eigentlichen<br />

Gegensatz nicht zwischen Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> Vernunft, sondern zwischen Vernunft <strong>und</strong><br />

Glaube. Die zentrale Frage bestand darin, ob<br />

die religiösen Anschauungen durch Vernunft<br />

75 begründet werden können oder ob sie allein<br />

Sache des Glaubens sind. Besonders einflussreich<br />

war die Lehre von Thomas von Aquin<br />

(1225-1274), derzufolge einige religiöse Lehren<br />

wie z. B. die Existenz Gottes durch Vernunft-<br />

80 gründe bewiesen werden können, während<br />

andere Lehren wie etwa die Dreieinigkeit <strong>und</strong><br />

die Menschwerdung Gottes Glaubenswahrheiten<br />

sind, die das Vermögen der Vernunft übersteigen<br />

<strong>und</strong> daher auf eine übernatürliche Au-<br />

85 torität wie die Offenbarung angewiesen bleiben.<br />

Diese Versöhnung von Vernunft <strong>und</strong><br />

Glaube wurde gegen Ende des Mittelalters zunehmend<br />

in Frage gestellt.<br />

Die Neuzeit brachte mit den entstehenden<br />

90 Naturwissenschaften eine Aufwertung der Sinneswahrnehmung<br />

als Quelle der Wirklichkeitserkenntnis.<br />

Damit rückte das Verhältnis von<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Denken wieder ins Zentrum<br />

der <strong>Erkenntnis</strong>theorie. Die Frage nach den<br />

95 Quellen verlässlicher <strong>Erkenntnis</strong> teilte die <strong>Philosophie</strong><br />

in die Lager der Rationalisten <strong>und</strong> Empiristen.<br />

Die am Vorbild der Mathematik orientierten<br />

Rationalisten behaupteten, dass zumindest ge-<br />

100 wisse Gr<strong>und</strong>prinzipien der Wirklichkeit durch<br />

reine Vernunft, also unabhängig von Erfahrung<br />

(»a priori«), eingesehen werden können. Dazu<br />

zählte insbesondere die Annahme, dass alle<br />

Ereignisse verursacht sind (»Kausalitätsprinzip«).<br />

105 Solche Prinzipien wurden als »angeborene I-<br />

deen« oder »notwendige <strong>Wahrheit</strong>en« der auf<br />

37


phi3_09_Reader<br />

Sinneswahrnehmung beruhenden Erfahrungserkenntnis<br />

gegenübergestellt.<br />

Begründet wurde der neuzeitliche Rationalismus<br />

von René Descartes (1596-1650). Bei der<br />

5 Suche nach einem zweifelsfreien F<strong>und</strong>ament<br />

aller <strong>Erkenntnis</strong> gelangte Descartes schließlich<br />

zu der absolut gewissen Einsicht: »Ich denke,<br />

also bin ich.« Damit erhielt das denkende Ich<br />

mit seinen Bewusstseinserlebnissen eine bevor-<br />

10 zugte Stellung in der neuzeitlichen <strong>Philosophie</strong>.<br />

Baruch de Spinoza (1632-1677) entwickelte ein<br />

philosophisches System nach dem Vorbild der<br />

Mathematik mit Definitionen, Lehrsätzen <strong>und</strong><br />

Folgesätzen. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-<br />

15 1716) bemühte sich besonders darum, »Vernunftwahrheiten«<br />

gegenüber bloßen »Tatsachenwahrheiten«<br />

herauszustellen.<br />

Die Gegner der Rationalisten waren die an den<br />

Naturwissenschaften orientierten Empiristen. Sie<br />

20 leugneten, dass es so etwas wie »angeborene<br />

Ideen« gibt <strong>und</strong> die Welt durch reine Vernunft<br />

erkannt werden kann. Dagegen stellten sie die<br />

These, dass alle Wirklichkeitserkenntnis auf Erfahrung<br />

beruht.<br />

25 Begründet wurde der Empirismus von John<br />

Locke (1632-1704). Für ihn waren jedoch nur<br />

bestimmte, an den Dingen wahrnehmbare<br />

Qualitäten wie Ausdehnung, Gestalt <strong>und</strong> Undurchdringlichkeit<br />

auch Eigenschaften der Din-<br />

30 ge selbst. Er nannte sie primäre Qualitäten <strong>und</strong><br />

unterschied sie von sek<strong>und</strong>ären Qualitäten wie<br />

Farben <strong>und</strong> Wärme, die unsere Wahrnehmung<br />

auf die Dinge projiziert. George Berkeley<br />

(1685-1753) radikalisierte den Empirismus, in-<br />

35 dem er auch die primären Qualitäten lediglich<br />

als Empfindungen der Sinne gelten ließ <strong>und</strong><br />

damit die ganze Welt der Materie als bloße<br />

Vorstellung deutete. Nicht ganz so radikal,<br />

aber doch ausgesprochen skeptisch waren die<br />

40 Konsequenzen, die David Hume (1711-1776)<br />

aus dem Empirismus zog. Er zeigte, wie wenig<br />

unser vermeintliches Wissen von der Welt unmittelbar<br />

auf Sinneswahrnehmungen beruht.<br />

Bereits unsere Überzeugung, dass morgen die<br />

45 Sonne aufgehen wird, kann nach Hume nicht<br />

durch Erfahrung begründet werden.<br />

Eine Theorie der <strong>Erkenntnis</strong>, die Rationalismus,<br />

<strong>und</strong> Empirismus in gewisser Weise miteinander<br />

verbindet, hat Immanuel Kant (1724-1804)<br />

50 entwickelt. Kant gibt den Empiristen darin<br />

Recht, dass es vor aller Wahrnehmung <strong>und</strong><br />

Erfahrung keine <strong>Erkenntnis</strong> gibt. Mit den Rationalisten<br />

hält Kant aber gleichwohl an der<br />

Auffassung fest, dass es von einigen Gr<strong>und</strong>-<br />

55 prinzipien der Welt erfahrungsunabhängige,<br />

zweifelsfreie <strong>Erkenntnis</strong>se gibt. Die Verknüpfung<br />

dieser beiden anscheinend unvereinbaren<br />

Thesen erreicht Kant durch die Annahme, dass<br />

die Vorstellungen von Raum <strong>und</strong> Zeit sowie<br />

60 verschiedene Gr<strong>und</strong>begriffe wie z. B. die von<br />

Ursache <strong>und</strong> Wirkung zur ursprünglichen Ausrüstung<br />

des menschlichen <strong>Erkenntnis</strong>vermögens<br />

gehören, mit denen die Welt immer interpretiert<br />

wird. Sie sind gewissermaßen eine »Brille«,<br />

65 durch die der Mensch die Welt sieht. Sind die<br />

Brillengläser blau, erscheint die Welt blau. Wie<br />

die Welt »an sich« ist, können wir daher nach<br />

Kant nicht wissen.<br />

Die Konzeption Kants hat die erkenntnistheore-<br />

70 tische Diskussion bis in die Gegenwart maßgeblich<br />

geprägt. Es<br />

gab eine<br />

ganze Rei-<br />

75 he von<br />

Philosophen,<br />

die<br />

sich eng an<br />

Kant an-<br />

80 schlossen<br />

<strong>und</strong> seine<br />

Auffassungen<br />

wei-<br />

terentwi-<br />

85 ckelten. Zu<br />

diesen<br />

Neukantianern<br />

gehört auch Ernst Cassirer (1874-1945),<br />

der Kants Lehre an die modernen Naturwissen-<br />

90 schaften anzupassen versuchte. Demgegenüber<br />

wurde Kants Lehre besonders von modernen<br />

Empiristen wie Bertrand Russell (1872-1970)<br />

oder Rudolf Carnap (1891-1970) entschieden<br />

abgelehnt. Sie wiesen darauf hin, dass einige<br />

95 der von Kant als zweifelsfrei betrachteten Prinzipien<br />

durch die modernen Naturwissenschaften<br />

als falsch nachgewiesen worden seien. Insbesondere<br />

die allgemeine Geltung von Ursache<br />

<strong>und</strong> Wirkung sahen sie durch die Quantenphy-<br />

100 sik widerlegt. Dies ist in der Tat der Hauptgr<strong>und</strong><br />

dafür, dass die Möglichkeit absolut gewisser<br />

<strong>Erkenntnis</strong> in der <strong>Philosophie</strong> des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zunehmend weniger vertreten<br />

wird. Vor allem Karl Popper (1902-1994) <strong>und</strong><br />

105 der von ihm vertretene Kritische Rationalismus<br />

betonen, dass alle menschliche <strong>Erkenntnis</strong> fehlbar<br />

<strong>und</strong> hypothetisch ist <strong>und</strong> durch Erfahrung<br />

jederzeit widerlegt werden kann. Die von dem<br />

Biologen <strong>und</strong> Verhaltensforscher Konrad Lorenz<br />

110 (1902-1989) begründete Evolutionäre <strong>Erkenntnis</strong>theorie<br />

vertritt eine moderne Version der<br />

Lehre von den »angeborenen Ideen«. Sie rechnet<br />

bestimmte Vorstellungen zur genetischen<br />

Ausstattung des menschlichen <strong>Erkenntnis</strong>appa-<br />

115 rats, doch behauptet sie damit nicht, dass diese<br />

Vorstellungen völlig auf die Realität zutreffen<br />

würden.<br />

Aus: Martin Morgenstern, Robert Zimmer: Treffpunkt <strong>Philosophie</strong>.<br />

Bd. 1 Gr<strong>und</strong>erfahrungen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>fragen. Düsseldorf:<br />

Patmos 1998. S.139-141<br />

38


phi3_09_Reader<br />

Leistungsnachweis<br />

Allgemeines<br />

Profil:<br />

Mögliche Aufgabenformate:<br />

Verpflichtende<br />

Anforderungen:<br />

Die philosophische Problemreflexion<br />

Die „philosophische Problemreflexion“ ist die Gr<strong>und</strong>form philosophischen Nachdenkens<br />

<strong>und</strong> die Form (fast) aller mündlichen <strong>und</strong> schriftlichen Leistungen im Fach <strong>Philosophie</strong>.<br />

Die philosophische Problemreflexion („Dreischritt“) besteht aus<br />

a) Problemerfassung: Formulierung von philosophischen Fragen zu scheinbar Selbstverständlichem,<br />

zu unterschiedlichem Material (z. B. Alltagsphänomenen, künstlerischen<br />

Produkten) <strong>und</strong> Einordnung in einen philosophischen Zusammenhang (z. B.<br />

Kant-Fragen, Disziplin, Epoche, Denkrichtung)<br />

b) Problembearbeitung: Erschließen des Materials unter philosophischen Aspekten<br />

(Fragestellung, These, Argumente, Konsequenzen, rhetorische Mittel wie Metaphorik);<br />

Vergleich philosophischer Positionen; gestalterische Bearbeitung (z. B. Dialog,<br />

Gedichte, Erzählung, Szene, Film)<br />

c) Problemverortung: Formulierung eines begründeten Fazits, des Stands des eigenen<br />

Nachdenkens<br />

1. Analyse <strong>und</strong> Interpretation philosophischer Texte (z. B. durch Herausarbeiten von<br />

Fragestellungen, Thesen, Argumenten (möglichst: Standardargumentation); Visualisierungen)<br />

2. Analyse <strong>und</strong> Interpretation künstlerischer Produkte (z. B. Bilder, Literarische Texte,<br />

Filme) unter philosophischer Fragestellung: Welche philosophische Frage oder These<br />

wird durch dieses künstlerische Produkt nahegelegt? Welchen Einfluss hat die<br />

Darstellungsart auf die Aussage? Inwieweit ist die ästhetische Gestaltung eine<br />

Form des <strong>Philosophie</strong>rens?<br />

3. Vergleich philosophischer Positionen (Bestimmung des Vergleichspunktes, Gemeinsamkeiten<br />

<strong>und</strong> Unterschiede, Konsequenzen, Fazit)<br />

4. Gestalterische Bearbeitung philosophischer Fragen <strong>und</strong> Aussagen (Dialoge, Plakate,<br />

Gedichte, Bilder, Filme usw.)<br />

5. Die philosophische Notiz (Mini-Essay) <strong>und</strong> der philosophische Essay (Nachdenken z.<br />

B. über eine Frage, ein Material (Zitat, Alltagsphänomen, philosophischer Text,<br />

Bild)) in einer relativ freien, spielerischen Form, in der auch befremdende Perspektiven<br />

eingenommen werden können.<br />

6. Portfolio als Sammelmappe mit Einzelblättern, in denen Arbeitsschritte zu einem<br />

Thema (phil. Frage/phil. Thema, PhilosophIn) enthalten sind.<br />

7. Kurzvortrag, der sich am obigen Dreischritt orientiert (zu einem selbst gewählten<br />

Thema, z. B. im Rahmen des Semesterthemas, zu einem vorgegebenen Thema)<br />

• überschaubarer Arbeitsauftrag mit eindeutiger Ziel- <strong>und</strong> Schwerpunktsetzung (Fragestellung,<br />

Material)<br />

• Festlegung eines verbindlichen Handlungsrahmens (u.a. Aufgabenformat, Zeitrahmen,<br />

erwarteter Umfang)<br />

• Formulierung einer Frage, eines Problems<br />

• Roter Faden, erkennbarer Gedankengang (z. B. durch Einleitungs- <strong>und</strong> Überleitungssätze,<br />

Bezugnahme auf Thema <strong>und</strong> Fragestellung, Hinweise auf die Funktion<br />

der einzelnen Gedankenschritte)<br />

• Korrekte Verwendung der Fachsprache (vor allem phil. Begriffe)<br />

• Korrekte Zitate <strong>und</strong> Quellenangaben<br />

Ergänzungen: • Bezieht sich die philosophische Problemreflexion nicht auf philosophische Texte,<br />

sondern auf anderes Material, dann müssen im Unterricht Aspekte dafür erarbeitet<br />

werden, was bei der Problemreflexion zu berücksichtigen ist (z. B. bei Bildern).<br />

Außerdem muss geklärt werden, ob das Material nur Ausgangspunkt / Impuls für<br />

die Reflexion ist oder immer wieder im Verlauf der Reflexion (spätestens bei der<br />

Verortung) auf das Material Bezug genommen werden muss<br />

• Ihre besondere Qualität erhält eine philosophische Problemreflexion u.a. durch den<br />

„Witz“ der Ideen <strong>und</strong> Assoziationen<br />

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