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Philosophie 3 Erkenntnis und Wahrheit

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4 Probleme der Rechtfertigung 3<br />

Erklären <strong>und</strong> Verstehen<br />

4.1 Erklären <strong>und</strong> Verstehen<br />

Lange Zeit wurde die naturwissenschaftliche Methode als einzig akzeptable wissenschaftliche<br />

Methode angesehen <strong>und</strong> die Geisteswissenschaften waren bemüht, diese Methode zu übernehmen.<br />

Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts grenzten J. G. Droysen <strong>und</strong> W. Dilthey die geisteswissenschaftliche<br />

Methode des Verstehens von der naturwissenschaftlichen Mode des (kausalen) Erklärens<br />

ab.<br />

Verstehen zielt auf das Erfassen von Sinn, von Bedeutung, während das Erklären Phänomene<br />

kausal auf Gründe <strong>und</strong> Ursachen zurückführt. „Verstehen heißt vor allem vereinen.“ (Albert<br />

Camus)<br />

Das Verstehen wurde zum Ausgangspunkt verschiedener philosophischer Richtungen, wie z. B.<br />

der an M. Heidegger anknüpfenden Hermeneutik von Bollnow <strong>und</strong> insbesondere von Gadamer.<br />

Die Erweiterung dieses Modells geht insbesondere auf den Einfluss des späten L. Wittgenstein<br />

zurück. Max Weber führte 1921 den Begriff in die Soziologie ein. Für die neueren Diskussionen<br />

war das Buch von G. H. von Wright (Explanation and Understanding 1971) wegweisend.<br />

4.2 Otto Friedrich Bollnow(1903-1991): Die Unmöglichkeit eines absoluten<br />

Anfangs (1970)<br />

Es ist mit dem Erkennen nicht anders als mit dem Leben überhaupt: Wir finden uns immer<br />

schon in unserem Leben vor, „hineingeworfen“ in unsre Welt, <strong>und</strong> so weit wir auch zurückgehen,<br />

es gibt keine Möglichkeit, diesem „schon immer“ zu entgehen. Das gilt von unserem individuellen<br />

Leben. Mag uns das Wissen vom Tag unsrer Geburt auch<br />

5 von andern überliefert sein, in unserem eignen erlebten Leben wissen<br />

wir von keinem Anfang. So weit wir auch in der Erinnerung zurückgehen,<br />

so verliert sich unser Blick schließlich im Dunkel der Kindheit.<br />

Das gilt entsprechend von der Geschichte im ganzen. Mag auch das<br />

mythische Weltbild bestimmte Anfangsdaten für die Geschichte ange-<br />

10 geben haben, so verliert sich der Anfang der Geschichte vor dem tiefer<br />

dringenden Forschen der Wissenschaft in unaufhellbarem Dunkel.<br />

Wir denken dabei an den Beginn von Thomas Manns Josephsroman:<br />

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, so beginnt er. Er betont,<br />

„dass, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Ver-<br />

15 gangenen man dringt <strong>und</strong> tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen,<br />

seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar<br />

erweisen <strong>und</strong> vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge<br />

wir seine Schnur auch abspule, immer wieder <strong>und</strong> weiter ins Bodenlose zurückweichen.“<br />

6<br />

20 „Jeder Anfang ist“, wie schon Dilthey feststellte, „willkürlich“ 7 . Ein möglicher Ursprung des<br />

Menschengeschlechts ist für die Geschichtsforschung ebenso unerreichbar wie der Geburtstag<br />

des individuellen Lebens für die Erinnerung. Wir können nicht nach dem Ursprung der Sprache,<br />

der Kultur usw. fragen, weil wir, wo immer wir Menschen antreffen, wir auch schon immer<br />

Sprache, Kultur usw. antreffen.<br />

25 Und so ist es auch mit der <strong>Erkenntnis</strong>. Der Mensch lebt schon immer in einer verstandenen<br />

Welt, <strong>und</strong> es hat schlechterdings keinen Sinn, hinter dies Verständnis zurückgreifen zu wollen<br />

6<br />

Thomas Mann begann sein Romanwerk Joseph <strong>und</strong> seine Bruder 1926 in München. Bollnow zitiert aus der Taschenbuchausgabe<br />

Bd. 1, Frankfurt a. M. 1967. S. 5.<br />

7<br />

Wilhelm Dilthey (1833-1911) gehörte als Philosoph zur „historischen Schule, die die geschichtlichen Erscheinungsformen des<br />

menschlichen Lebens untersuchte. Bollnow zitiert aus Bd. 1 der Gesammelten Schriften. Leipzig, Berlin 1923ff. S.419<br />

14

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