Laudatio auf Christel Reiche - Michael Schmiechen, Berlin ...
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<strong>Michael</strong> <strong>Schmiechen</strong><br />
zum Abschied von <strong>Christel</strong> <strong>Reiche</strong><br />
13.11.1996<br />
Liebe Frau <strong>Reiche</strong>,<br />
Schillers Don Carlos beginnt mit den geflügelten Worten: Die schönen<br />
Tage von Aranjuez sind jetzt zu Ende. Und weiter heißt es: Eure königliche<br />
Hoheit verlassen es nicht heiter. Wir sind vergebens hier gewesen.<br />
Nun bin ich nicht der Beichtvater des Königs, Sie sind keine Prinzessin<br />
und wir waren hier nicht zum Erholungsurlaub, auch wenn die<br />
Schleuseninsel fast so schön im Tiergarten liegt wie die Casa Labrador,<br />
nämlich das Arbeitshaus, im Park von Aranjuez.<br />
Zutreffend ist, daß Sie uns verlassen, aber, wie ich sehe, im Gegensatz<br />
zu Don Carlos, nicht ohne Heiterkeit. Es ist jetzt nur noch zu klären,<br />
ob Sie und ich hier auch vergebens waren, wie Don Carlos und Pater<br />
Domingo in Aranjuez.<br />
Die schöne Zeit der morgendlichen Fahrt durch den Tiergarten und<br />
des endlosen Schaffens ist endgültig zu Ende, wenn Sie nicht für fünf<br />
Mark achtzig noch einmal herkommen dürfen und wollen, um die angebrannten<br />
oder schon ganz verbrannten Kartoffeln aus dem Feuer zu<br />
holen.<br />
Ansonsten müssen Sie sich umstellen <strong>auf</strong> das Leben einer Rentnerin,<br />
vielleicht auch einer Oma fürs Gröbste. Freuen Sie sich schon dar<strong>auf</strong>!<br />
Seit ich Großvater geworden bin, sehe ich die Welt mit ganz anderen<br />
Augen.<br />
Das Gerücht von Ihrem Ausscheiden hat mich nicht schlecht überrascht.<br />
Ich hatte erwartet, daß Sie bei Ihrer Form hier noch viele Chefs<br />
überleben würden, so wie Sie das so engagiert bisher immer getan haben.<br />
Ich weiß noch, wie Sie hier bei Professor Schuster als Hilfs-Sekretärin<br />
angefangen haben und dann über die Jahrzehnte die Karriereleiter<br />
Sprosse für Sprosse her<strong>auf</strong>geklettert sind. Die paar Jährchen bei mir
als Sekretärin in der Abteilung Entwicklung waren ja nur der Anl<strong>auf</strong><br />
an mir vorbei zum großen Sprung in die Anstaltsleitung.<br />
Mit und durch Ihren Weggang wird hier vieles anders werden. Mancher<br />
wird das schon morgen früh merken und seinen Müll enttäuscht<br />
wieder mitnehmen, den er gerade, wie gewohnt, bei Ihnen abladen<br />
wollte. Rien ne va plus!<br />
Aber es wird natürlich auch weitergehen, nur eben nicht so, wie wir es<br />
gewohnt waren. Auch wenn Ihr Weggang und vieles andere uns traurig<br />
stimmt, seien Sie versichert, daß Sie nicht vergebens hier waren.<br />
Wir wünschen, Ihnen alles Gute und daß Ihre Rente immer reichen<br />
möge für Ihre Wohnung im Hansaviertel. Vorausgesetzt ist natürlich,<br />
daß Sie sich durch das Tröten der Signalhörner nicht vorher vertreiben<br />
lassen. Seien Sie getrost, auch die Fernbahn-Trasse wird eines Tages<br />
fertig. Es kann wirklich nur noch Jahre dauern. Halten Sie durch, wie<br />
auch hier!<br />
Haben Sie übrigens gemerkt, daß die S-Bahn wieder im Bahnhof Bellevue<br />
hält? Es ist dabei wie bei manchem Projekt und mancher Abrechnung<br />
hier: der Bahnhof ist natürlich nicht fertig. Aber Termin ist<br />
Termin. Sie kennen das: immer <strong>auf</strong> der Baustelle arbeiten.<br />
Alles vorbei! Hoffentlich fehlt Ihnen der Stress jetzt nicht. Sie wissen:<br />
Sie müssen ihn ersetzen, um so fit zu bleiben, wir wir Sie kennen.<br />
Kurz vor zwanzig Uhr noch mal schnell eink<strong>auf</strong>en oder so etwas. Das<br />
gibt auch den Verkäuferinnen das Gefühl, daß die langen Öffnungszeiten<br />
einen Sinn haben.<br />
Oder durch den Tiergarten joggen. Seit ich weiß, daß Jogger gesünder<br />
sterben, mache ich das übrigens nicht mehr. Ich bin beim strong walking<br />
meiner Schülertage geblieben, das ich Ihnen auch empfehlen<br />
kann. Vorsicht jedoch im Tiergarten. Nicht alle Mörder sind Lustmörder!<br />
So, jetzt aber genug der guten Ratschläge und nur noch alle guten<br />
Wünsche von uns allen.