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Entstehung und Grundlagen<br />

Vorwort<br />

Einführung Die Gothic-Szene gibt es nicht<br />

Schwarz als Farbe jugendlicher Subkulturen Arvid Dittmann<br />

Lucifer Rising – Die Geschichte eines Soundtracks Michael Moynihan<br />

Wie ich zur Schwarzen Szene stieß Andréa Nebel<br />

Aus alten Tagen Holger Karas<br />

I.C. Water – Erinnerungen an Ian Curtis Genesis Breyer P-Orridge<br />

Schlüsselmerkmale des frühen Gothic-Milieus Peter Webb<br />

Das G-Wort Martin Bowes<br />

Erinnerungen an das Equinox-Festival John Murphy<br />

Schritte aus der Kinderstube Klive Humberstone<br />

Neu Konservatiw – Die Rückkehr eines Mythos Alexei Monroe<br />

Galerie Laibach<br />

Der König mag kein Sauerkraut Oliver St. Lingam<br />

Gerechtigkeits Liga Alexei Monroe und Till Brüggemann<br />

Schwarzhören im Osten - Die Szene in der DDR DJ Ørlög<br />

Tränen auf der Tanzfläche Myk Jung, Klaus Märkert, Thomas Thyssen, Michael Zöller im Gespräch<br />

Galerie Salt<br />

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Genres und Subgenres schwarzer Musik und Kultur<br />

Einführung Die Wiedergänger<br />

Schwarze Subgenres und Stilrichtungen Judith Platz, Megan Balanck, Alexander Nym<br />

Post-Punk – Wut, Optimismus und Apathie Nicholas Padellaro<br />

Gothic Metal – Eine Betrachtung Stefan Gnad<br />

Lovecrafts Cthulhu-Mythos in der Musik Mike Browning<br />

Was ist Okkultur? Dominik Tischleder:<br />

Galerie Silent View<br />

The only thing to fear is fear itself – Ritualmusik und akustische Innenraumfahrten Alexander Nym<br />

Industrial und andere populäre Irrtümer Stefan Lederer:<br />

Voraus in die Vergangenheit Ein Gespräch mit Front 242<br />

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Entwicklungen seit 1990<br />

Einführung Too old to die young – Mutationen einer Jugendkultur, die keine mehr ist<br />

Once Upon A Time Sven Ericksen<br />

Bekenntnis Stephan Pockrandt<br />

For Those who go Beyond – Ein persönlicher Rückblick Gernot Musch<br />

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281<br />

286<br />

Das Wave-Gotik-Treffen – Geschichte, Anekdoten, Fakten Cornelius Brach<br />

Verbindungen der Dreiheit – Wave /Gothic, Mittelalter, Live Rollenspiel Philipp Kollmar<br />

Woher und Wohin? Ein Gespräch mit Oswald Henke<br />

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Mode, Ästhetik und Lebenskultur<br />

Einführung Jenseits der Musik<br />

Faszination Friedhof Marcus Rietzsch<br />

Postromantische Schwärze Giulio DiMauro<br />

Flügel für die Seele Tatjana Warnecke<br />

Fetisch und Tabu in der postindustriellen Gesellschaft Marcus Stiglegger:<br />

Songtexte und Lyrik in der Gothic-Szene – Eine Annäherung Christian Walther<br />

A Dream Anne Clark<br />

Gothic Andréa Nebel<br />

Liber Incarnadine Amodali<br />

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Themen und Diskurse<br />

Einführung Wer lacht, verliert –Was die Szene beschäftigt<br />

Schwarze Musik heute Claudia Grui, Klaus Neumann-Braun und Axel Schmidt:<br />

Galerie Gerd Lehmann<br />

Gothic-Konsum Jennifer Hoffert<br />

Was ist nur aus unserer Szene geworden? Andréa Nebel<br />

Schatten im Spiegel – Gothic und die Medien Megan Balanck<br />

Falsche und doch nie gegebene Versprechen? Lieben, Hassen und Versöhnen mit unserer Subkultur<br />

Andreas Plöger<br />

Vom Rüschenhemd zur Uniform Martin Lichtmesz<br />

Galerie Nik Fiend<br />

Das Diktat der Langeweile – Die standardisierte Welt der Dunklen Unterhaltungsmusik Myk Jung<br />

Gothic – eine konservative Kulturbewegung? Leben aus dem, was immer gilt Peter Matzke<br />

Nachwort<br />

Kollektion Die Kunst der Schwarzen Szene Butow Maler, Laetitia Mantis, Gitane Demone,<br />

Alexander Geppert, Dirk Baumert, Joachim E. Wagner, Nightshadow, Andrew King, Ceridena-Art,<br />

Remo Sorge, Matthias Korb, Holger Karas, Mrs. Hyde, Robert Schalinski, Jochen Schmidt<br />

Index<br />

Bibliografie<br />

Kurzbiografien<br />

Bildnachweise<br />

Autorenportraits<br />

7


Vorwort<br />

Das Buch, welches Sie in Händen halten, ist gleichermaßen<br />

das spontan entstandene Resultat aus glücklichen Umständen<br />

wie auch das Substrat aus 23 Jahren Szeneaktivität und Feldforschung.<br />

In diesem Zeitraum habe ich viele Trends, Bands und<br />

Musikrichtungen kommen und gehen sehen, und es ist unmöglich,<br />

sie alle in einem einzigen Band ausführlich darzustellen.<br />

Mithin wird man diesem Buch den Vorwurf der Kanonisierung<br />

machen, und es wird die unvermeidlichen Beschwerden geben<br />

nach dem Motto »Warum ist meine Lieblingsband nicht erwähnt<br />

worden« etc. Vieles musste aus Platzgründen weggelassen<br />

werden, anderes konnten wir nicht berücksichtigen, weil<br />

schlicht keine Beiträge vorhanden waren, sei es, dass die betreffenden<br />

Autoren nicht fertig geworden sind (oder gar nicht erst<br />

angefangen hatten), oder weil manche der Angefragten einfach<br />

keine Zeit hatten, weil sie mit den Aufnahmen zu neuen Alben<br />

oder Konzerttourneen beschäftigt waren. Ebenso wäre es wünschenswert<br />

gewesen, Betrachtungen junger Szenegänger stärker<br />

zu berücksichtigen, aber leider kam aus dem Alterssegment der<br />

15- bis 25-jährigen so gut wie gar nichts (außer ein paar nicht<br />

gehaltenen Zusagen) – von einer Interpretation dieses Sachverhalts<br />

möchte ich jedoch Abstand nehmen.<br />

Tatsache ist, dass die hier versammelten Autoren und<br />

Künstler aufgefordert wurden, über das zu schreiben, was<br />

sie am besten kennen, bzw. relevant finden. Aus diesen sehr<br />

unterschiedlichen Beiträgen ergibt sich ein Sammelsurium,<br />

aus dem sich jede/r ein eigenes Bild über den wohl facettenreichsten<br />

Bereich der Popkultur zimmern kann, das zwar eigene<br />

Erfahrungen in (bzw. mit) der Szene nicht ersetzen, aber<br />

ergänzen kann. Dass gewisse Diskurse häufiger angesprochen<br />

werden, reflektiert die Themenschwerpunkte, mit denen sich<br />

viele Szenegänger über die Jahre hinweg konfrontiert sahen<br />

und sehen, wie etwa den leidigen Themen Okkultismus, Satanismus<br />

und Rechtsextremismus. Selbstverständlich gilt,<br />

dass die intensivere Auseinandersetzung mit diesen in der<br />

Szene vorhandenen Aspekten sich auf eine vergleichsweise<br />

Minderheit von Enthusiasten beschränkt und die überwältigende<br />

Mehrheit der »Gruftis« besseres zu tun hat, als nachts<br />

Gräber zu schänden, Beschwörungen abzuhalten oder sich in<br />

die überdrehte Esoterik eines Wiligut zu vertiefen. Dennoch<br />

sind dies Themen, die für manche Musiker (und damit deren<br />

interessierte Fans) als Rohmaterial für die künstlerische Arbeit<br />

dienen. Da ich als DJ in den frühen 90ern meinen Teil<br />

dazu beigetragen habe, dass Gruppen wie Death In June und<br />

Co. von Süddeutschland aus in der Szene beachtliche Popularität<br />

erringen konnten, bin ich der Mittäterschaft schuldig.<br />

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die Auseinandersetzung<br />

mit umstrittenen Künstlern wie Laibach, Boyd Rice<br />

oder den bereits erwähnten Death In June aus mir keinen<br />

Nazi gemacht, wohl aber mein Interesse an der Geschichte<br />

des Dritten Reichs, dessen Propagandastrategien und der<br />

Manipulierbarkeit der Menschen durch Ideologie, Religion<br />

und Massenmedien gesteigert, wenn nicht geweckt haben.<br />

Heute kläre ich am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände<br />

in Nürnberg Schulklassen über diese psychischen<br />

Mechanismen auf und halte sie dazu an, eigenständig und<br />

kritisch über diese Themen zu reflektieren in der Annahme,<br />

dass einem unabhängig denkenden Menschen nicht erklärt<br />

werden muss, dass Intoleranz, Diskriminierung, Gewalt und<br />

Rassismus dem friedvollen Miteinander nicht gerade förderlich<br />

sind. Dass Künstler als Überbringer unangenehmer<br />

Botschaften nicht mit diesen gleichzusetzen sind, sollte auch<br />

klar sein. Im Gegenteil ist es Aufgabe der Kunst, gerade solche<br />

neuralgischen und nur zu gerne verdrängten Themen zu<br />

inszenieren. Dass es trotzdem einige braune Schafe in der<br />

Schwarzen Szene gibt, darf angesichts ihrer heutigen Größe<br />

und der Gaußschen Normalverteilung nicht überraschen. Inwieweit<br />

politische Positionen, religiöse Ansichten oder kulturelle<br />

Differenzen in Relation zur Gesamtbevölkerung wirk-<br />

8


Portrait of the editor as a young man, 1992<br />

lich signifikant vorhanden sind, kann jedoch nur eine längst<br />

überfällige empirische Studie klären, was natürlich extrem<br />

kosten- und zeitaufwendig ist, erst recht in Bezug auf eine<br />

derart ausdifferenzierte Gruppe wie die der »Schwarzen«.<br />

Mein persönliches Resümee aus den vergangenen Jahren<br />

ist, dass es sich bei den Leuten, die ich durch die Szene kennen<br />

lernen konnte, durchwegs um gedankenvolle, bedachte<br />

und auf ihre Weise idealistische Menschen handelt, deren<br />

Unzufriedenheit mit den allgemeinen Gegebenheiten sie<br />

in Interessenbereiche geführt hat, die vom Standpunkt der<br />

»Durchschnittsbevölkerung« aus absonderlich, bizarr oder<br />

gar pervers anmuten mögen. Dazu sei gesagt, dass eine sogenannte<br />

Zivilisation, deren Werte auf systematischer Ausbeutung,<br />

Ressourcenverschwendung, Umweltzerstörung<br />

und ungehemmtem Materialismus bzw. Konsumismus basieren,<br />

und dabei behauptet, zu allgemeinem Glück, Wohlstand<br />

und Freiheit zu führen, die eigentliche Perversion<br />

darstellt – und nicht jene einzelnen Exponenten, die diese<br />

Tatsache erkennen und in jedem Sinne des Wortes reflektieren.<br />

Throbbing Gristle, die Begründer der Industrial Music,<br />

fragten einst »Can the world be as sad as it seems?« – Die<br />

Antwort gibt nicht zu Freudentaumeln Anlass, und diese<br />

grundlegende Unzufriedenheit mit den Verhältnissen dürfte<br />

der kleinste gemeinsame Nenner sein, von dem aus jede/r<br />

einzelne Szenegänger/in zu eigenen Antworten aufbricht.<br />

Die Szene bietet Möglichkeiten, mit Menschen in Kontakt<br />

zu kommen, die diese Fundamentalkritik teilen, sie weiter zu<br />

entwickeln und ohne dogmatische Weltverbesserungsattitüden<br />

im eigenen persönlichen Wirkungsfeld aktiv zu werden,<br />

ganz im Geiste der »Do it yourself«-Ethik des Punk, dem<br />

die Szene ihre Existenz verdankt. Ich für meinen Teil bin<br />

jedenfalls froh und dankbar, durch die geteilten ästhetischen<br />

und intellektuellen Interessen mit sensiblen und wahrhaftigen<br />

Menschen in Berührung gekommen zu sein, von denen<br />

mir viele über die Jahre liebe Freunde geworden sind. Es<br />

mag elitär klingen, aber ich bin stolz, meine eigene Existenz<br />

mit solch wertvollen Leuten bereichern zu können und hoffe,<br />

mit diesem Werk auch ein wenig an sie zurückgeben zu<br />

können. Mein tiefer Dank gilt daher allen, die dieses Projekt<br />

ermöglicht und passiv oder aktiv unterstützt haben; die<br />

ihre Zeit, Arbeit und Idealismus dieser Manifestation einer<br />

Epoche gewidmet haben, die von neuen digitalen Abenteuern<br />

und hippen Jugendkulturen abgelöst worden ist – und<br />

nicht zuletzt meinen Eltern, die trotz aller Eskapaden nie den<br />

Glauben daran aufgegeben haben, dass aus ihrem Sprössling<br />

eines Tages vielleicht doch noch was Anständiges wird – was<br />

natürlich Ansichtssache ist!<br />

Alexander Nym,<br />

Leipzig, 21. April 2010<br />

9


Die Gothic-Szene<br />

gibt es nicht<br />

Alexander Nym<br />

In der Soziologie, der Jugendkulturforschung und in der Szene<br />

selbst wird der Begriff Schwarze Szene dem Adjektiv »gothic«,<br />

unter dem die dunkle Alternativkultur in den Medien meist firmiert,<br />

vorgezogen – mit gutem Grund: zwar bezeichnet man im<br />

Englischen mit »gothic« traditionellerweise nahezu alles, was mit<br />

Dunkelheit, Grusel, quietschenden Türen und verfallenen Gemäuern<br />

zu tun hatte, aber im Zusammenhang mit Musik wurde<br />

das »Gothic«-Etikett (verschiedenen Legenden zufolge) erst den<br />

Doors, später Joy Division, dann Bauhaus, den Sex Gang Children<br />

usw. angehängt, bevor in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts<br />

zur Blüte kommen sollte, was bei den Ahnen des Stils angelegt<br />

war: Eine Vorliebe für das Morbide, Abseitige und Makabre,<br />

die der neonbunten Plastikwelt der Popmusik demonstrativ<br />

den in schwarzes Tuch gehüllten Rücken zuwandte. Die vom<br />

Geist des Aufbegehrens geprägte Schock-Ästhetik des Punk, der<br />

Mut zur Hässlichkeit und zum rebellischen Anders-Sein wurden<br />

mit der schwarzromantischen Komponente der Schönheit<br />

des Verfalls ergänzt; der aggressive Frust der Sex Pistols vereinte<br />

sich mit der totenbleichen Eleganz eines Edgar Allen Poe zu<br />

einer Melange aus Norm-Verweigerung, rückwärtsgewandter<br />

Innenschau, Antimaterialismus und juveniler Identitätssuche:<br />

Von den kurzlebigen Modewellen, die London in den 80ern<br />

heimsuchten (Post-Punk, New Romantic, Batcave, New Wave,<br />

Indie und Gothic Rock usw. usf.) wurde das dunkle Substrat<br />

der heutigen schwarzen Kultur an die Ufer Kontinentaleuropas<br />

gespült, wo es v. a. in Deutschland in den 90er Jahren zu einem<br />

Revival des 80er-Jahre-»Gothic« kam, das bis heute anhält. Als<br />

Referenz- und Identitätsmuster diente (oft extravagante oder<br />

experimentelle) Musik, die von jungen, »unabhängigen« Plattenfirmen<br />

in den Nachwehen des Punk veröffentlicht wurde,<br />

die der Jugend Alternativen zum Angebot des Mainstream-Pop<br />

verschaffte – oft genug von enthusiastischen Abenteurern aus eigener<br />

Tasche produzierte Platten, deren kleinster gemeinsamer<br />

Nenner rückblickend ein mit desillusioniertem Phlegma behafteter<br />

Akt der ästhetisierten Hinterfragung gewesen sein mag.<br />

Nicht nur als Geste, sondern als Haltung. Gelebte Verweigerung,<br />

gezeigter Zweifel und betonte Distanz, akzentuiert durch<br />

Klänge, die ebenso sehnsüchtig wie wütend sein konnten, aber<br />

der suchenden (und oft genug am gefundenen verzweifelnden)<br />

Seele, Pathos und Qual, Intensität, Sturm und Drang Ausdruck<br />

verliehen: Diese Attribute sind keine neuartige Erscheinung in<br />

der Geschichte der Jugendkulturen, sondern ein Lebensgefühl,<br />

das nicht auf Alter oder Herkunft beschränkt werden kann. Dass<br />

ausgerechnet der Archetypus des »Gothic« sich in der Breitenwahrnehmung<br />

der Schwarzen Szene als Stereotyp etabliert hat,<br />

und nicht die zeitweilig verwendeten Synonyme Düster- bzw.<br />

Edelpunk, (Dark-)Waver, Death-Rocker, Ghoul, Grufti usw.,<br />

ist dem semantischen Brückenschlag zur Literaturgattung des<br />

»Gothic Horror« (bzw. Gothic Fiction) zu verdanken, die dem<br />

Klischee zufolge in der Szene große Beliebtheit genießt, aber<br />

gerne auch von Außenstehenden geschätzt wird.<br />

Der »Gothic«-Begriff hat als Bezeichnung für eine Hunderttausende<br />

Menschen weltweit umfassende schwarze Gemeinschaft<br />

längst seine Definitionsmacht verloren (wenn es die je<br />

gegeben haben sollte) – in der Tat ist die Schwarze Szene geprägt<br />

von heterogenem Eklektizismus, einem Stilmischmasch,<br />

der das Spektrum von avantgardistischem Bruitismus über elektronische<br />

Popmusik, alte Musik (sowohl sakral wie weltlich),<br />

(Neo-)Klassik und Folk bis (Punk)Rock, Techno und Ambient<br />

abdeckt. Wenige Szenegänger haben über diese Vielfalt noch<br />

wirklichen Überblick; die Szene gliedert sich in verschiedene<br />

Unterströmungen, die sich sowohl in Kleidungsfragen wie auch<br />

musikalischen Präferenzen mitunter diametral gegenüber stehen.<br />

Denn nicht alles ist Gothic, was Schwarz trägt: Insbesondere<br />

die spezifische Adjektivierung »Gothic Rock« stand und<br />

steht als musikologischer Genrebegriff für die Musik von gewissen<br />

Gitarrenbands (vgl. Teil 2), die sich jedoch, wenn danach<br />

gefragt, vom »Gothic«-Label und der damit assoziierten Kultur<br />

13


und ihren Erscheinungsformen häufig mit Nachdruck distanzieren.<br />

So etwa die Sisters Of Mercy, die als eine der genreprägenden<br />

Bands schlechthin bekannt sind: Auf ihrer Homepage<br />

amüsieren sie sich über geschminkte und schlecht frisierte Kids,<br />

die sich alle Mühe geben würden, zu ignorieren, was die Sisters<br />

in den letzten 15 Jahren veröffentlichten (was nicht viel ist). Sie<br />

selbst bezeichnen sich als »Industrial Groove Machine« – was<br />

dem bereits überstrapazierten Industrial-Begriff eine weitere Bedeutungskomponente<br />

hinzu fügt. Bei den Recherchen für dieses<br />

Buch stieß ich häufiger auf Widerstreben bei (ehedem) richtungsweisenden<br />

Szene-Künstlern, die Probleme damit hatten,<br />

in einem »Gothic«-Buch vertreten zu sein, obwohl sie maßgeblich<br />

zur Ausformung der Ästhetik und kulturellen, spirituellen<br />

und gesellschaftskritischen Themenfindung der Szene beitrugen<br />

und mittlerweile international als einflussreiche Avantgardekünstler<br />

weit über die Szene hinaus geschätzt werden (wie<br />

z. B. Diamanda Galás oder David Tibet). Auch von vielen hier<br />

vertretenen Künstlern wird die Bezeichnung »Gothic« nicht<br />

nur als beschränkend empfunden, sondern mitunter als geradewegs<br />

unzutreffend, was nicht zuletzt mit den sprachlichen<br />

Konventionen der (englischsprachigen) Musikpresse zu tun hat,<br />

die gerne alles Mögliche als »gothic« bezeichnet, was dem ersten<br />

Anschein nach der Schwarzen Szene zuzuordnen ist.<br />

Abseits der einschlägigen Künstler findet die Debatte um<br />

Begriffe und Bezeichnungen in der Szene selbst ihre Fortsetzung:<br />

Ob es um die Bedeutungen und Assoziationsbereiche der<br />

Termini Gothic, Electronic Body Music (EBM) oder Industrial<br />

geht, stets scheiden sich die Geister an den jeweils vorgenommenen<br />

Zuschreibungen, was mitunter zur Herausbildung neuer<br />

Sub-Szenen führt, wie in den Folgekapiteln beschrieben wird.<br />

Zu Beginn aber drehen wir die Zeit zurück in die Ära der Beatniks,<br />

Hippies und Blumenkinder. Denn wenn es sich bei »den«<br />

Gothics um die introvertierte und desillusionierte Tochtergeneration<br />

der Gegenkultur der 1960er Jahre handelt (wie DJ-Legende<br />

und Szene-Veteran Michael Zöller im Gespräch am Ende<br />

dieses Kapitels bemerkt), dann macht es Sinn, zurückzuschauen<br />

auf die frühen Impulsgeber einer Szene, die erst dreißig Jahre<br />

später zu voller Blüte kommen sollte. Viele Themen und Referenzpunkte<br />

der »apokalyptischen« Kultur der Gegenwart sind<br />

in den dunklen Schattenseiten der hanfseligen Flower-Power-<br />

Epoche angelegt, insbesondere was das Interesse am Abgründigen,<br />

an Magie und die morbiden Seiten der Existenz betrifft, die<br />

in der rückblickend verträumten Wahrnehmung jener Ära oft<br />

unter den Teppich gekehrt werden. Aber die von der »Family«<br />

des Charles Manson begangenen Morde an der Filmschauspielerin<br />

(und damaligen Ehefrau von Regisseur Roman Polanski)<br />

Sharon Tate, ihren Freunden und dem Ehepaar LaBianca, schockierten<br />

1969 die ganze Welt und setzten der optimistisch-revolutionären<br />

Attitüde der 60er ein abruptes Ende, und sollten den<br />

folgenden Generationen kultureller Untergrundströmungen bis<br />

in die Gegenwart als Stichwort- und Impulsgeber dienen.<br />

In diesem ersten Kapitel werden die Relevanz der Farbe<br />

schwarz im Verlauf der (europäischen) Kulturgeschichte diskutiert<br />

(Arvid Dittmann) und die okkulten Verwicklungen des<br />

berühmten Filmemachers Kenneth Anger mit Bobby BeauSoleil<br />

(dem Current 93 auf »Swastikas For Noddy« 1986 ein akustisches<br />

Denkmal setzten) und den Manson-Morden am Beispiel<br />

der Entstehungsgeschichte der Filmmusik zu »Lucifer Rising«<br />

erläutert (Michael Moynihan), danach erzählen die Künstlerin<br />

Andrea Haugen (auch bekannt als Andréa Nebel) und der<br />

Fotograf Holger Karas von ihren frühen Szenetagen in England<br />

und Deutschland, gefolgt von einem ergreifenden Bericht<br />

des Genre- und Geschlechtergrenzen sprengenden Allroundkünstlers<br />

Genesis Breyer P-Orridge über seine Freundschaft<br />

mit Ian Curtis, dem Sänger von Joy Division, der grundlegenden<br />

»Gothic«-Band schlechthin. In Breyer P-Orridges Text<br />

findet sich ein schmerzhaft ehrlicher und gnadenloser Blick<br />

auf die Empfindungen junger Künstler im England der späten<br />

1970er Jahre, als gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher<br />

Frust, Perspektivlosigkeit und wirtschaftlicher Niedergang im<br />

Punk ihre musikalische Entsprechung und Kristallisation erfuhren.<br />

Aus dieser Implosion heraus entwickelten sich in den<br />

frühen 80er Jahren die diversen Post-Punk-Szenen (Positive<br />

Punk, New Romantic, New Wave etc.), die das Rohmaterial<br />

für die spätere Inkarnation des Gothic bereitstellten, wie der<br />

Soziologe Peter Webb sie beschreibt. Obwohl in diesen frühen<br />

Tagen keine klaren Genre- und Szenegrenzen existierten, entwickelte<br />

sich dennoch eine Dichotomie zwischen gitarrenlastiger<br />

Musik (Gothic Rock & Co.) und allem, was elektronischer<br />

Natur war. Die experimentelle Untergrundparallele zur Gothic-<br />

und (New-)Wave-Musik war und ist der Industrial, eine<br />

Kunstrichtung, die zuvorderst dank Genesis Breyer P-Orridges<br />

Gruppen Throbbing Gristle und Psychic TV (und deren »Fanclub«<br />

Temple Ov Psychick Youth, kurz topy; eine ernsthafte<br />

Nachahmung und gleichzeitig Satire auf okkulte Orden und<br />

Logen) den Sprung aus den Kunstgalerien in die Welt der Popmusik<br />

geschafft hatte. Der legendäre Industrial-Pionier John<br />

Murphy beschreibt ausführlich den Equinox-Event, einen<br />

frühen Kristallisationspunkt der Industrial-Kultur. Danach<br />

geht es weiter mit den Erinnerungen von Klive Humberstone<br />

(In The Nursery) und dessen Weg in die »independent music«;<br />

der Kulturtheoretiker und nsk-Experte Alexei Monroe lässt<br />

14


die frühen Kontroversen um die slowenischen Künstler von<br />

Laibach wieder auferstehen, und die Musiker Oliver St. Lingam<br />

und Till Brüggemann teilen ihre Reminiszenzen an die<br />

80er Jahre, ebenso wie DJ Ørlög, der von der Szene in der<br />

ddr berichtet. Den Abschluss bildet ein unterhaltsames (und<br />

gehaltvolles) Gespräch der »alten Ruhrpott-Hasen« Michael<br />

Zöller, Klaus Märkert, Thomas Thyssen und Myk Jung, das<br />

die Szenegeschichte mit aktuellen Entwicklungen kontrastiert,<br />

kommentiert und zur Diskussion stellt, bevor die weiteren<br />

Kapitel tiefer in die Entwicklung und Motivik der Schwarzen<br />

Szene führen. Die thematisch und ästhetisch über das Buch<br />

verteilten Bildergalerien und Gedichte ergänzen diesen Band<br />

um visuelle und bildende Kunst, die in der Szene ebenfalls<br />

eine Heimat hat – denn die Musik mag am Anfang all dieses<br />

Treibens gestanden haben, aber die Strategie des »cultural engineering«<br />

(P-Orridge) macht auch vor der bildenden Kunst<br />

nicht Halt, weshalb sie hier zu ihrem Recht kommt. Denn die<br />

Schwarze Szene hat als selbstständiger Kulturraum und »Lifestyle<br />

choice« längst ihr Dasein als musikbezogene Jugendsubkultur<br />

transzendiert.<br />

15


C<br />

C – E Zwischen jungen und altgewordenen Szenegängern<br />

gibt es geschmackliche Divergenzen nicht nur in Sachen<br />

Musik<br />

len: So werden heute auf den Flyern grundsätzlich die gespielten Musikstile angegeben, damit<br />

jeder potentielle Besucher von Anfang an Bescheid weiß. Zudem werden immer häufiger<br />

»Normalos« zur Party zugelassen, was das klassische schwarze Gate-Keeping aufweicht, manches<br />

Mal bis hin zu einem vom Veranstalter erlaubten »Special Interest« à la SM/Fetisch, was<br />

sie andere Kundenkreise erschließen lässt. Aber was ist aus den »Alten«, den Goths der ersten<br />

Stunde, geworden? Wie haben sich diese im tendenziellen Generationenkonflikt geschlagen?<br />

Sind sie ihrer alten Musik treu geblieben?<br />

Es hat offenbar eine räumliche Segregation hin zur »Closed Society«-Rahmung stattgefunden.<br />

Dieser Trend äußert sich in vermehrten »Underground«-Veranstaltungen, bei welchen<br />

entweder die Flyer mit Absicht nur noch an bestimmte meist altbekannte Gothics abgegeben<br />

werden, oder gar nur noch über Mund-zu-Mund-Propaganda beworben werden, sodass<br />

jüngeren Szenegängern oder gar »Normalos« der Weg zu diesen Partys mit einiger Garantie<br />

verschlossen bleibt. Auf der anderen Seite sieht man die älteren Szenegänger entsprechend<br />

weniger oder nur noch selten bei »normalen« (schwarzen Party-)Veranstaltungen.<br />

Dadurch entfällt die Begegnung von Jung und Alt bei Großanlässen, nachdem diejenigen<br />

Gothics, welche bis zu einem gewissen Grad gleichsam das kulturelle Gedächtnis der Gothic-<br />

Szene repräsentieren, nicht mehr auf solche Partys gehen und sich so nicht mehr im Guten<br />

austauschen und gegenseitig updaten können. Aber warum kommt es nicht mehr zu einem<br />

solchen Austausch zwischen den Generationen? Die Antwort auf diese Frage geben die Szene-<br />

Gänger selbst – weil das Klima rauer geworden sei, heißt es. Im O-Ton: »Die Jungen nehmen<br />

von uns Alten nichts mehr an!« (gemeint sind z. B. Zurechtweisungen etwa wegen aggressiven<br />

(!) Fehlverhaltens auf der Tanzfläche) – Edda (45 Jahre); oder: »Es ist untereinander nicht<br />

mehr so freundlich wie früher. Neuerdings gibt es sogar Schlägereien auf Partys! Das gab's<br />

früher nicht!« – Heidi (42 Jahre); oder: »Wer will schon (gerade bei den Gothics!), dass ihm<br />

auf einer Party eine reingehauen wird? Das wäre ein ganz neuer Ton!« – Gerd (43 Jahre).<br />

»Quo vadis, Goth-Music?« Noch bevor es zu einem »Clash of Cultures« kommen könnte,<br />

könnten Absplittungstendenzen obsiegen. Ähnlich wie in den 1980er Jahren beim Punk, als<br />

sich bekanntlich die Gruftis separierten, könnte man erwarten, dass sich gewisse Teile der<br />

Schwarzen Szene abspalten und neu (zu)ordnen werden. Welche Rolle insbesondere die Musik<br />

dabei spielen darf, wird allein die Zukunft weisen.<br />

E<br />

D<br />

344


Gerd Lehmann<br />

Fotogalerie<br />

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Gothic-Konsum<br />

Jennifer Hoffert<br />

A<br />

1 »Trainspotting« (dito, Danny Boyle 1996), Verfilmung<br />

des gleichnamigen Buches von Irvine Welsh<br />

A Konzerte kosten: Auch CyberGoths benötigen Geld<br />

B Indie-Ikone der 80er Jahre: Winona Ryder als Lydia in<br />

Tim Burton’s »Beetlejuice« (Geffen Company/Warner<br />

Bros. 1988)<br />

Der Ursprung der Gothic-Subkultur als Abspaltung der ohnehin schon grenzwertigen Punk-<br />

Szene in den späten 70ern ist in Anbetracht der momentanen Integration in den kulturellen<br />

Mainstream nur noch schwer vorstellbar. In amerikanischen Malls bekommt man Gothic-<br />

Mode aus Massenanfertigung. Nine Inch Nails, Rammstein und Marilyn Manson füllen Stadien.<br />

Manche der wohl bekanntesten Romane und Filme der letzten Jahre, die auf Jugendliche<br />

oder jüngeres Publikum abzielten, waren unter anderem. die thematisch düsteren »Harry<br />

Potter«- und »Twilight«-Reihen. Das Wort »Gothic« ist nicht mehr zwingend mit Assoziationen<br />

der Kathedralen des 12. und 13. Jahrhunderts oder den britischen Schauerromanen<br />

des 18. Jahrhunderts verbunden, stattdessen mit der Vorstellung junger schwarzgewandeter<br />

Menschen mit komischen Frisuren und dunklem Make-up.<br />

Jedoch würden viele Menschen, die sich als Goth(ic)s identifizieren, argumentieren, dass<br />

diese Ladenketten, Pop-Bands, und die trendigen Vampir- und Zauberromane Nicht Gothic<br />

sind, sondern schlichtweg eine zweitrangige Mainstream-Imitation dessen. Ist das ein<br />

allein amerikanisches Phänomen? Möglicherweise nicht, wenn man sich die Popularität von<br />

Gothic-Musik und -Mode in Europa vor Augen führt, obwohl man sich sicher leicht darüber<br />

streiten kann, ob der gesellschaftliche Auftrieb des Konsumismus in den USA die Kommerzialisierung<br />

der Szene dort besonders vorangetrieben hat.<br />

B<br />

Der amerikanische Konsum-Kult<br />

»Sag ja zu einem Job. Sag ja zur Karriere. Sag ja zur Familie. Sag ja zu einem pervers großen<br />

Fernseher, zu Waschmaschine, Autos, CD-Playern und elektronischen Dosenöffnern. Sag<br />

ja zur Gesundheit, zu einem niedrigen Cholesterinspiegel und Zahnzusatzversicherung, zur<br />

Bausparkasse, zu Eigentumswohnung und den richtigen Freunden. Sag ja zu Freizeitbekleidung<br />

mit passenden Koffern, einem dreiteiligen Anzug auf Ratenzahlung.« 1<br />

Wenn der Aufstieg der Industrialisierung Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts den Konsumismus<br />

in die Mittelschicht getragen hat, dann war es der Nachkriegsboom, der ihn in die<br />

Arbeiterklasse brachte. Zum ersten Mal in der Geschichte war beinahe jeder dazu in der Lage,<br />

Waren aus der Massenanfertigung zu konsumieren.<br />

In den Köpfen vieler Amerikaner sind Mittelschicht und Arbeiterklasse miteinander verschmolzen.<br />

Laut dem Pew Research Center nahmen sich 53 % der Amerikaner 2008 als Angehörige<br />

der Mittelschicht wahr, obwohl sich die Jahreseinkommen dieser Gruppe zwischen<br />

351


2 In Congress 4. July 1776. The unanimous Declaration<br />

of the thirteen United States of America, »…We<br />

hold these truths to be self-evident, that all men are<br />

created equal, that they are endowed by their Creator<br />

with certain unalienable Rights, that among these are<br />

Life, Liberty and the pursuit of Happiness...«; Die erste<br />

deutsche Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung<br />

veröffentlichte einen Tag nach ihrer Verabschiedung<br />

die deutschsprachige Zeitung Pennsylvanischer<br />

Staatsbote in Philadelphia: »…Wir halten diese Wahrheiten<br />

für ausgemacht, dass alle Menschen gleich<br />

erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit<br />

gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden,<br />

worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit<br />

sind…«<br />

C Merry Scary Christmas: Geisterwelt-Flyer aus Griechenland<br />

mit einem von »Nightmare Before Christmas«<br />

inspirierten Motiv. Dieser Film ist besonders bei<br />

europäischen Gruftis sehr beliebt<br />

D Wednesday Addams auf einem Flyer für eine Mittwoch<br />

abends stattfindende Grufti-Party-Reihe in den frühen<br />

90er Jahren, Boston (USA)<br />

E Alternative zu Klamotten von der Stange: selbst entworfenes<br />

und hergestelltes Kleid (Bettina Tita 1999)<br />

F, G »In Goth we trust«: In amerikanischen Halloween-<br />

Geschäften und deutschen Allround-Ladenketten bekommt<br />

man alles, was das schwarze Herz begehrt<br />

unter 20.000 Dollar und über 150.000 Dollar bewegten. Was für diese Selbstdefinition am<br />

wichtigsten erscheint, ist, inwieweit man sich mit seinen Nachbarn auf gleicher Linie fühlt,<br />

oder nicht. Dieses Verlangen nach Gleichheit ist vor allem in einem Land besonders stark, in<br />

dem »alle Menschen gleich erschaffen wurden« und »mit gewissen unveräußerlichen Rechten<br />

begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind« 2 und<br />

wo theoretisch jedermann die Chance hat, sich zu verbessern und seinen eigenen Reichtum<br />

aufzubauen. Wir wollen alle glauben (können), dass wir faktisch mit unseren Mitbürgern<br />

gleichgestellt sind. Wir möchten die gleichen Besitztümer, und wir wollen an den gleichen<br />

Freizeitaktivitäten teilhaben. Wie wir uns behaupten, scheint sich über unseren Erfolg im<br />

gelobten Streben nach Glück zu definieren. Aber auf unserer Suche nach Gleichbehandlung<br />

und Gerechtigkeit werden wir homogenisiert. Wir sind zu den Vereinigten Staaten von Allgemeinika<br />

geworden, einem Land der großen Einkaufszentren, Ladenketten und popkultureller<br />

Unterhaltung.<br />

Aus diesem zunehmenden Anpassungsdruck folgt ein gesteigertes Interesse der jungen<br />

Leute, sich von der von ihren Eltern aufgebauten Gesellschaft zu lösen: Die Beatniks, Hippies,<br />

Punks, New Ager und Goths. Jedoch ist die US-amerikanische Unterhaltungs- und<br />

Konsumgüterindustrie extrem effizient geworden, wenn es darum geht, aufstrebende Subkulturen<br />

zu identifizieren und zu kooptieren, um sie dann im Mainstream als konsumierbare<br />

Trends zu vermarkten.<br />

Das Dunkel zieht auf<br />

C<br />

D<br />

Hollywoods Interesse an düsteren und makabren Themen ist nichts Neues. Der Vampirfilm<br />

»Nosferatu« (1922) führte zu unzähligen anderen Leinwandadaptionen, die im losen Bezug<br />

zum Stoker-Klassiker standen. Die TV-Serien »The Munsters« und »The Addams Family«<br />

aus den 1960ern gab es lange vor der Herausbildung einer nennenswerten Gothic-Szene.<br />

Selbst Filme wie »The Hunger« (dt. »Begierde«, Tony Scott 1983), »Beetlejuice« (dito, Tim<br />

Burton 1988), »Tim Burton's Nightmare Before Christmas« (Nightmare Before Christmas,<br />

Tim Burton 1993) und »Interview With A Vampire« (dt. »Interview mit einem Vampir«, Neil<br />

Jordan 1994), die nach der Entstehung der Gothic-Subkultur entstanden, waren sicherlich<br />

nicht einzig und allein auf ein Gothic-Publikum zugeschnitten. Was sich aber über die Jahre<br />

verändert hat, ist die Marketingmaschinerie Hollywoods, die Spin-Off-Serien, Modekollektionen,<br />

Spielzeuge, Bücher und unzähligen andere Produkte nutzt, um Filme und TV-Serien<br />

zu bewerben und deren Popularität zu steigern.<br />

TV-Serien wie »Buffy – Die Vampirjägerin« und »Charmed« benutzten düstere Bildwelten<br />

und stereotype Charaktere, und wurden oft als »Gothic« vermarktet, obwohl ihre Handlung<br />

meist eher konservativ war und wenig bis gar nichts mit der Gothic-Subkultur zu tun hatte.<br />

US-Serien wie »South Park«, »NCIS« und »Venture Brothers« haben regelmäßig auftretende<br />

»Goth«-Charaktere. Andere Serien wie »CSI« hatten einzelne Episoden, in denen Gothic-<br />

Charaktere auftauchten. Diese TV-Porträtierungen von Goths weisen oft die von den Medien<br />

völlig überzogenen Stereotypen auf, die diese in den Köpfen der jungen Leute, die die Szene<br />

zum ersten Mal entdecken, noch weiter verfestigen.<br />

352


Gothic oberhalb der Ladentheke<br />

E<br />

Grundsätzlich war die erste Welle der Gothic-Subkultur der 1980er in den USA ein kommerzieller<br />

Fehlschlag. In einer großen Stadt mit einer lebendigen Underground-Musikszene<br />

konnte man mit Glück ein paar Independent-Läden finden, die okkultistischen Bedarf,<br />

BDSM-Ausrüstung oder Armeeklamotten feilboten. Goths, die sich durch ihre Kleidung ausdrücken<br />

wollten, fanden hier und dort einzelne Kleidungsstücke und griffen dabei oft auf<br />

Second-Hand-Läden oder handgemachte Outfits und Accessoires zurück. Selbstproduzierte,<br />

per Post vertriebene Fanzines gingen von Hand zu Hand und verbreiteten Reviews und<br />

Konzertberichte von Mensch zu Mensch. Da es nur ein paar wenige Nachtclubs gab, die sich<br />

einzig und allein düsterer Musik annahmen, organisierten Szeneanhänger Veranstaltungen<br />

überall dann und dort, wo sie sich die Raummiete leisten konnten.<br />

Als die Gothic-Subkultur in den 1990er Jahren ein Comeback erlebte, lag es im gemeinsamen<br />

Interesse der Mode- und Unterhaltungsindustrie, sich ein Stück des Kuchens zu sichern.<br />

Mainstream-Marken von Haute Couture bis zu Discounter-Ketten produzierten Kollektionen<br />

größtenteils schwarzer Frauenmode mit Lack- und Samt-Elementen in der Gothic-Tradition.<br />

Bands mit düsterem Look wurden als »Goth« beworben, selbst wenn ihr Sound und<br />

die Texte nicht wirklich den Geschmack tatsächlicher Goths berührten. Diese Mainstream-<br />

Angebote tauchten in der Gothic-Szene auf und beeinflussten Playlisten sowie Kleiderordnung<br />

bei Clubs und auf Partys.<br />

Special-Interest-Ketten wie Hot Topic oder Torrid sind feste Bestandteile vieler Malls quer<br />

durch Amerika, die typische Gothic-Modeklischees und Produkte an den Mann bringen,<br />

und die heute als dem Genre zugehörig wahrgenommen werden. Da können die Vorstadt-<br />

Teens einfach reinspazieren und alles was »Goth« ist kriegen: Fake-Korsetts von Morbid<br />

Threads, obergeile Superhosen mit baumelnden Bondage-Riemen von TrippNYC, alles und<br />

zwar wirklich alles mit »Emily The Strange«-Aufdruck oder Figuren aus »Nightmare Before<br />

Christmas«.<br />

F<br />

G<br />

Ist das Goth?<br />

Umso mehr Hollywood-Figuren und eingetragene Modemarken sich immer tiefer und tiefer<br />

in die Gothic-Szene einbetten, wird dem Argument, sie gehörten gar nicht dazu, die Grundlage<br />

entzogen. Die Fragen »Was ist Goth?« und »Ist xy Goth?« machen einen Großteil der<br />

Diskussionen in Gothic-Foren im Internet aus, die in einem so weitläufigen Land mit einer<br />

derartigen Ausbreitung von Vorstädten wichtig sind und bleiben werden, da diese Situation<br />

junge Leute davon abhält, sich regelmäßig persönlich zu treffen. Das wohlbekannte Sprichwort<br />

»Niemand im Internet weiß, dass du ein Hund bist« aus Peter Steiners Cartoon im New<br />

Yorker vom 05. Juni 1993 hat hier volle Gültigkeit, denn es gibt keine ernstzunehmende<br />

Qualitätskontrolle auf diesen Webseiten. Jeder kann einen User-Account anlegen und seine<br />

vermeintliche Expertise in der Gothic-Subkultur behaupten, was Neuankömmlinge oder die<br />

Medien jedoch nicht davon abhält, die dort gefundenen Posts zu zitieren und bei der Berichterstattung<br />

über die Gothic-Szene zu verwenden.<br />

Mit der der Kommerzialisierung ging eine Zunahme der medialen Berichterstattung einher,<br />

vor allem in den USA, wo die Medien von wirtschaftlichen Interessen besonders beeinflusst<br />

353


H<br />

3 Riesman, David (1950): Listening to popular music,<br />

in: American Quarterly, Nr. 2, S. 359–71, zitiert nach<br />

Middleton, Richard: Studying Popular Music, S.155.<br />

Philadelphia: Open University Press 1990/2002<br />

H, K Gothic- und Punk-Mode aus dem japanische Szene-<br />

Magazin/Katalog KERA<br />

L, M Werbung für Szenemode von Savage Wear und XtraX,<br />

der größten deutschen Ladenkette, gegründet 1991<br />

werden, was von unschuldig klingenden Pressemitteilungen bis zu im Grunde vorgefertigten<br />

Artikeln und vorproduzierten Berichten über Produkte oder mit Produkten verwandten Themen<br />

reicht. Noch heimtückischer und schwerer nachvollziehbar ist der Einfluss der Besitzverhältnisse<br />

zwischen Konzernen und Medienfirmen. Zum Beispiel: Disney gehört das ABC<br />

Television Network und hält große Anteile von Lifetime Entertainment und A&E Television;<br />

Time Warner kontrolliert neben ihren Film- und TV-Studios auch CNN. Es ist schwer vorstellbar,<br />

dass die Interessen von Anteilseignern keinen Einfluss auf die von ihrer Firma kontrollierten<br />

Medien ausüben. Ungeachtet der Glaubwürdigkeit ihrer Quellen: Je mehr Berichte<br />

über die Popularität der Gothic-Subkultur erscheinen, um so mehr Neulinge tauchen in der<br />

Szene auf, die das nachahmen, was ihnen die Medien als »Gothic« verkauft haben und umso<br />

mehr beginnt die Szene, sich der keimfreien Mainstream-tauglichen Version ihres früheren<br />

Selbst anzugleichen, einer Version, die nicht länger geschaffen werden muss, sondern einfach<br />

konsumiert werden kann.<br />

K<br />

Wo endet die Subkultur<br />

– und wo beginnt die Demografie?<br />

Der Soziologe David Riesman unterscheidet zwischen einer Mehrheit, »die passiv kommerziell<br />

angebotene Stile und Bedeutungen akzeptiert, und einer ›Subkultur‹, die aktiv einen<br />

Minderheitenstil sucht […] und diesen anhand subversiver Werte interpretiert.« 3 Wenn<br />

Mainstream-Kultur sich die Erkennungsmerkmale (Musik, Mode, Literatur, etc.) einer Subkultur<br />

aneignet, dann wird die Subkultur als solche unkenntlich und kann ihren Status nur<br />

durch eine weitere Abkehr vom Mainstream beibehalten, indem sie neuere Stile, die noch<br />

mehr abseits des Mainstream liegen, aufgreift.<br />

Die sichtbaren Veränderungen in der Musik, den Clubs und der Mode der Gothic-Szene<br />

in den letzten fünfzehn Jahren sind keine Entwicklung hin zum Extremen, sondern vielmehr<br />

in Richtung Mainstream, wodurch die Grenze zwischen Subkultur und Szene verschwimmt.<br />

L<br />

M<br />

354

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