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Martin Filitz, Der ungeliebte Katechismus – Der Heidelberger ...

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Henrich Stillings Schulmethode war seltsam, und so eingerichtet, daß er wenig<br />

oder nichts dabei verlor. Des Morgens, sobald die Kinder in die Schule kamen,<br />

und alle beisammen waren, so betete er mit ihnen, und katechisierte sie in den<br />

ersten Grundsätzen des Christentums, nach eigenem Gutdünken ohne Buch;<br />

dann ließ er einen jeden ein Stück lesen, wenn das vorbei war, so ermunterte<br />

er die Kinder den <strong>Katechismus</strong> zu lernen, indem er ihnen versprach schöne<br />

Historien zu erzählen, wenn sie ihre Aufgabe recht gut auswendig können<br />

würden; während der Zeit schrieb er ihnen vor, was sie nachschreiben sollten,<br />

ließ sie noch einmal alle lesen, und denn kam's zum Erzählen, wobei vor und<br />

nach alles erschöpft wurde, was er jemals in der Bibel, im Kaiser Oktavianus,<br />

der schönen Magelone, und andern mehr gelesen hatte; auch die Zerstörung<br />

der königlichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So war es auf seiner<br />

Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag zum andern. 3<br />

<strong>Der</strong> <strong>Katechismus</strong> ist noch Schulpflicht, aber auch der Lehrer scheint nicht restlos von<br />

der pädagogischen Bedeutung überzeugt zu sein. Sonst würde er nicht durch die<br />

Aussicht auf Geschichten und Erzählungen die Schüler zu diesem trockenen<br />

Gegenstand zu motivieren suchen.<br />

<strong>Katechismus</strong>lernen ist stur, das meint auch Jean Paul 4 . <strong>Der</strong> Schweizer Gottfried<br />

Keller hält das <strong>Katechismus</strong>lernen für eine der beiden peinlichsten Schulerfahrungen<br />

des „Grünen Heinrich“:<br />

„Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der <strong>Katechismus</strong><br />

und die Stunden, während deren wir uns damit beschäftigen mußten. Ein<br />

kleines Buch voll hölzerner, blutloser Fragen und Antworten, losgerissen aus<br />

dem Leben der biblischen Schriften, nur geeignet, den dürren Verstand<br />

bejahrter und verstockter Menschen zu beschäftigen, mußte während der so<br />

unendlich scheinenden Jugendjahre in ewigem Widerkäuen auswendig gelernt<br />

und in verständnislosem Dialoge hergesagt werden“. 5<br />

3 Johann Heinrich Jung-Stilling, Henrich Stillings Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft und häusliches Leben 1997 Stuttgart S. 85-194 (1. Auflage<br />

1779). In ähnliche Richtung denkt auch Johann Heinrich Pestalozzi. In seinem Buch, „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ (1801) heißt es: „Ich muß sie<br />

bedauern. Ich habe viele von diesen elenden Wortmenschen mit einer solchen Mischung von Klosterfrauen-Unschuld und Rabbinerweisheit<br />

sagen hören: was kann doch auch schöner sein für das Volk als der <strong>Heidelberger</strong> <strong>Katechismus</strong> und der Psalter! – daß ich wahrlich hierin der<br />

Menschheit Rechnung tragen und Achtung für die Fundamente auch dieser Verirrung in mein Herz zurückrufen muß. Ja, Freund! ich will auch<br />

diese Verirrung des menschlichen Geistes an den Irrenden entschuldigen, es war doch immer so und muß immer so sein. Die Menschen sind<br />

sich allezeit selbst gleich, und die Schriftgelehrten und ihre Jünger waren es auch immer. Ich will also gegen den Wortkram ihrer<br />

Menschensatzungen und gegen die klingenden Schellen ihres Zeremoniendienstes und die liebe- und weisheitsleere Gemütsstimmung, die er<br />

seiner Natur nach hervorbringen muß, meinen Mund nicht weiter auftun, sondern mit dem größten Menschen, der je gegen die Irrtümer der<br />

Schriftgelehrten die Sache der Wahrheit, des Volks und der Liebe siegreich behauptet hat, nur dieses sagen: Herr! verzeihe ihnen, denn sie<br />

wissen nicht, was sie tun.“<br />

4 Jean Paul, Selbsterlebtebeschreibung Kap.4: „Vier Stunden vor- und drei nachmittags gab unser Vater uns Unterricht, welcher darin bestand,<br />

daß er uns bloß auswendig lernen ließ, Sprüche, <strong>Katechismus</strong>, lateinische Wörter und Langens Grammatik. Wir mußten die langen<br />

Geschlechtregeln jeder Deklination samt den Ausnahmen, nebst der beigefügten lateinischen Beispiel-Zeile lernen, ohne sie zu verstehen.“ Jean<br />

Paul Richter: Selberlebensbeschreibung - Kapitel 4, zweite Vorlesung, welche den Zeitraum von 1765-1775 umfasst (Joditz-Dorfidyllen) in:<br />

Projekt Gutenberg URL:<br />

http://gutenberg.spiegel.de/buch/3201/3 [14.6.2011]<br />

5 Gottfried Keller, <strong>Der</strong> Grüne Heinrich, zweite Fassung, (1854/55), Köln 1998, S.70

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