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Das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in den Medien

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<strong>Das</strong> <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong><br />

für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Medien</strong><br />

Juli 2003 - September 2004


Im Geiste E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s<br />

Wissen & Forschen<br />

Im Geiste E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s<br />

09.06.2004<br />

2005 feiert die Wissenschaft 100 Jahre Relativitätstheorie – und sucht nach<br />

geme<strong>in</strong>samen Werten<br />

Im kommen<strong>den</strong> Jahr blickt die Wissenschaft auf Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s „Wunderjahr“<br />

zurück. 1905 wartete der Physiker gleich mit vier se<strong>in</strong>er bahnbrechen<strong>den</strong><br />

Arbeiten auf. In Berl<strong>in</strong> und <strong>in</strong> Bern, <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA oder <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a wird 2005 unter<br />

anderem die Geburtsstunde der Relativitätstheorie mit Austellungen und<br />

Vortragsreihen gefeiert. Und jeder der Akteure wird <strong>in</strong> dem ganzen E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-<br />

Rummel e<strong>in</strong> Stückweit auch sich selbst bejubeln.<br />

E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s später Wegbegleiter, der <strong>in</strong>zwischen 97-jährige<br />

Frie<strong>den</strong>snobelpreisträger Joseph Rotblat, hat nun zusammen mit anderen<br />

Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik dazu aufgerufen, <strong>in</strong> dem<br />

bevorstehen<strong>den</strong> E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Jahr die gesellschaftliche Verantwortung der<br />

Naturwissenschaften zu e<strong>in</strong>em zentralen Thema zu machen. „Ganz im S<strong>in</strong>ne<br />

des politischen und humanistischen Engagements Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s“, heißt es<br />

dazu <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben Rotblats, das am Dienstag <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> verlesen wurde.<br />

Rotblat ist der letzte noch lebende Unterzeichner des Russell-E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-<br />

Manifests. Dar<strong>in</strong> warnten namhafte Wissenschaftler 1955 e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich vor <strong>den</strong><br />

Gefahren e<strong>in</strong>es Atomkrieges.<br />

„Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> war nicht nur der geniale Physiker, sondern auch der radikale<br />

Nonkonformist, der aktive Pazifist und damit e<strong>in</strong> ethisches und moralisches<br />

Vorbild für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung der<br />

Naturwissenschaftler“, sagte der Geoforscher Jürgen Schneider bei der<br />

Pressekonferenz <strong>in</strong> der Archenhold-Sternwarte. „Wie entsetzt wäre er heute<br />

angesichts der immer raff<strong>in</strong>ierteren Hightech-Rüstung, die nicht zuletzt auf <strong>den</strong><br />

Erkenntnissen der Naturwissenschaften basiert.“ Die weltweiten<br />

Rüstungsausgaben lägen heute bei täglich 2,2 Milliar<strong>den</strong> Dollar.<br />

Die Forschung hat aber nicht nur technische Entwicklungen vorangetrieben. Sie<br />

habe auch Maßstäbe für das Zusammenwirken über die Grenzen von Nationen<br />

und Kulturen h<strong>in</strong>weg gesetzt, sagte Jürgen Renn, Direktor am <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<br />

<strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong>. „Alle großen wissenschaftlichen Leistungen<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Tat <strong>in</strong>ternationale Geme<strong>in</strong>schaftsleistungen.“ Ziel des Aufrufs zum<br />

<strong>in</strong>ternationalen E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Jahr sei es, auch an dieses Potenzial und diese<br />

Vorbildrolle zu er<strong>in</strong>nern. Thomas de Padova


Berl<strong>in</strong>Onl<strong>in</strong>e: Was E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> heute sagen würde<br />

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Was E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> heute sagen würde<br />

Pläne für <strong>den</strong> 100. Jahrestag der Relativitätstheorie<br />

Mittwoch, 09. Juni 2004<br />

Alexander H. Mäder<br />

Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> starb im April 1955 wenige Tage vor dem fünfzigsten Jubiläum se<strong>in</strong>er ersten<br />

großen Entdeckung, der Speziellen Relativitätstheorie. Es gibt also zwei Gründe, das nächste<br />

Jahr zum E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Jahr zu erklären: <strong>den</strong> hundertsten Geburtstag der Relativitätstheorie und<br />

<strong>den</strong> fünfzigsten Todestag des Nobelpreisträgers. Zahlreiche Veranstaltungen zum Ge<strong>den</strong>ken<br />

an E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> aller Welt geplant, und es wer<strong>den</strong> ständig mehr. "<strong>Das</strong> E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Jahr hat<br />

se<strong>in</strong>e eigene Dynamik", sagte Jürgen Renn. Der Direktor am Berl<strong>in</strong>er <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> warb am Dienstag geme<strong>in</strong>sam mit Kollegen aus anderen<br />

Diszipl<strong>in</strong>en dafür, neben <strong>den</strong> Theorien E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s, auch dessen politisches Engagement zu<br />

würdigen.<br />

Auch Jürgen Schneider vom Geowissenschaftlichen Zentrum der Universität Gött<strong>in</strong>gen sagte,<br />

E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> könne heute e<strong>in</strong> moralisches Vorbild se<strong>in</strong>. Der Physiker hatte sich stets gegen<br />

Militarismus und Nationalismus ausgesprochen und aich nach dem Zweiten Weltkrieg gegen<br />

das atomare Wettrüsten e<strong>in</strong>gesetzt. "Ich frage mich, wie entsetzt er heute angesichts der<br />

weltweit steigen<strong>den</strong> Militarisierung wäre, die nicht zuletzt auf <strong>den</strong> Erkenntnissen der<br />

Naturwissenschaft basiert", sagte Schneider.<br />

Geplant s<strong>in</strong>d mehrere Tagungen und Symposien zum "Bürger E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>" - unter anderem zu<br />

se<strong>in</strong>em Brief aus dem Jahr 1939 an <strong>den</strong> damaligen US-Präsi<strong>den</strong>ten Frankl<strong>in</strong> Roosevelt, <strong>in</strong><br />

dem er zum Bau e<strong>in</strong>er Atombombe rät. (amd.)


LITERATUR<br />

PHILOSOPHIE<br />

Der Scharfs<strong>in</strong>n des Herrn Maimon<br />

Zu entdecken: Kants bester Kenner und Kritiker<br />

Von Manfred Frank<br />

E<strong>in</strong>en Tag bevor Karl Leonhard Re<strong>in</strong>hold se<strong>in</strong>en Versuch e<strong>in</strong>er neuen Theorie des menschlichen<br />

Vorstellungsvermögens beendete, am 7. April 1789, und fast genau e<strong>in</strong> Jahr vor der Veröffentlichung von<br />

Kants dritter Kritik, schickte Marcus Herz, Kants langjähriger Stu<strong>den</strong>t und Vertrauter, se<strong>in</strong>em Lehrer e<strong>in</strong><br />

mächtiges Paket, das er mit e<strong>in</strong>em Brief begleitet, „zur Durchsicht“. <strong>Das</strong> Paket enthielt, außer dem<br />

huldvollen Schreiben e<strong>in</strong>es gewissen Salomon Maimon an Kant, e<strong>in</strong> umfangreiches Manuskript mit dem<br />

Titel Versuch über die Transscen<strong>den</strong>talphilosophie mit e<strong>in</strong>em Anhang über die symbolische Erkenntnis und<br />

Anmerkungen. <strong>Das</strong> Manuskript liefert e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen<strong>den</strong> kritischen Kommentar zur Kritik der re<strong>in</strong>en<br />

Vernunft.<br />

LITERATUR »<br />

DRUCKVERSION »<br />

PDF- ANSICHT »<br />

VERSENDEN »<br />

Geschrieben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kru<strong>den</strong>, gelegentlich unzugänglichen Deutsch, ist es ohne erkennbaren roten<br />

Fa<strong>den</strong>, karg im Erklären ungewohnt schwieriger Gedanken, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, fügt<br />

e<strong>in</strong>en Anhang mit e<strong>in</strong>em ganz anderen Thema h<strong>in</strong>zu und kehrt im Mittelteil zum Hauptteil zurück, dem<br />

e<strong>in</strong>e (ke<strong>in</strong>eswegs knappe) Kurze Übersicht des ganzen Werkes sowie e<strong>in</strong> Kapitel Me<strong>in</strong>e Ontologie angefügt<br />

s<strong>in</strong>d. Der aus zwölf Abschnitten bestehende Hauptteil erfährt noch kritische „Anmerkungen und<br />

Erläuterungen“, ja Revisionen: vermutlich die Frucht weiteren Nach<strong>den</strong>kens – auch über die<br />

E<strong>in</strong>wendungen von Kants Antwortschreiben.<br />

Maimon selbst gibt an, se<strong>in</strong>en Standpunkt (e<strong>in</strong> „Coalitionssystem“ aus Kant und Sp<strong>in</strong>oza) während der<br />

Niederschrift verändert zu haben zugunsten e<strong>in</strong>es Kant-Humeschen. Die erste Benennung stehe dabei<br />

für <strong>den</strong> „dogmatischen“, die zweite für <strong>den</strong> „skeptischen“ Charakter des Ganzen. Beides geht zusammen,<br />

wenn man <strong>den</strong> ersten auf ganz wenige Sätze der re<strong>in</strong>en Mathematik e<strong>in</strong>schränkt und <strong>den</strong> anderen<br />

ausdehnt auf alle empirisch gehaltvollen Aussagen, selbst solche, die Kant für synthetisch a priori hielt<br />

wie <strong>den</strong> Grundsatz der Kausalität oder die (Newtonsche) Parallelogrammregel zur Berechnung<br />

zusammengesetzter Bewegungen.<br />

Je<strong>den</strong>falls liest sich Maimons bunt gescheckter Erstl<strong>in</strong>g – dessen Komposition der Autor beschei<strong>den</strong> mit<br />

se<strong>in</strong>er Sprachnot und der Neuheit des Gegenstandes entschuldigt – wie e<strong>in</strong> Stück frühromantischer<br />

Philosophie der Philosophie, als ironisches Sich-über-die-Schulter-Blicken beim Verfertigen von Gedanken,<br />

nur dass Maimon romantische Heiterkeit völlig abgeht und se<strong>in</strong>e Gedanken <strong>den</strong> größten Ernst, ja e<strong>in</strong>en<br />

für die Philosophie der Zeit außergewöhnlichen logisch-mathematischen Scharf- und sachlichen Eigens<strong>in</strong>n<br />

bekun<strong>den</strong>.<br />

Kant von Grund auf umgestoßen<br />

Hier geschieht nichts Ger<strong>in</strong>geres als e<strong>in</strong>e massive Releibnizianisierung des kantischen Kritizismus – mit<br />

skeptischen Vorbehalten. Sie tat entschei<strong>den</strong>de Wirkung auf die Anfänge des Idealismus. Fichte, der die<br />

Abhängigkeit se<strong>in</strong>es Schlüsselgedankens von Maimon am deutlichsten fühlen musste, äußerte im Frühjahr<br />

1795 Re<strong>in</strong>hold gegenüber (<strong>den</strong> dies Urteil wiederum kränken musste): „Gegen Maimons Talent ist me<strong>in</strong>e<br />

Achtung grenzenlos, ich glaube fest, und b<strong>in</strong> erbötig, es zu erweisen, dass durch ihn sogar die ganze<br />

Kantische Philosophie, so wie sie durchgängig, und auch von Ihnen verstan<strong>den</strong> wor<strong>den</strong> ist, von Grund auf<br />

umgestoßen ist. <strong>Das</strong> alles hat er getan, ohne dass es jemand merkt, und <strong>in</strong>des man von se<strong>in</strong>er Höhe auf<br />

ihn herabsieht. Ich <strong>den</strong>ke, die künftigen Jahrhunderte wer<strong>den</strong> unserer bitterlich spotten.“<br />

Fichte, der selbst kaum Anstrengungen unternahm, Maimons Verdienst öffentlich auszuweisen, hat auch<br />

die Arbeit der Nachwelt überschätzt. Bis <strong>in</strong> die jüngere Zeit gibt es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> Maimons Gesamtwerk<br />

wirklich e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gende und <strong>den</strong> neuesten Stand der Kant- und Idealismus-, besonders die<br />

„Konstellationsforschung“ verarbeitende Monografie. <strong>Das</strong> beg<strong>in</strong>nt sich nun zu ändern.<br />

Trotz der Oberflächenmängel hatte Herz größtes Vertrauen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Gehalt des Werks und die Begabung<br />

des Verfassers – anders hätte er gar nicht gewagt, <strong>den</strong> mit der Zeit geizen<strong>den</strong> Kant behelligen. In<br />

se<strong>in</strong>em Begleitschreiben beschwört Herz Kant, das Manuskript zu lesen, ja für <strong>den</strong> Druck zu empfehlen.<br />

Den Verfasser, „ehedem e<strong>in</strong>er der rohesten polnischen Ju<strong>den</strong>“, nennt er genial, scharfs<strong>in</strong>nig, tief<br />

e<strong>in</strong>gearbeitet „<strong>in</strong> fast alle höhere Wissenschaften, und vorzüglich <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Jahren <strong>in</strong> Ihre<br />

Philosophie“. Er getraue sich, zu behaupten, „dass er e<strong>in</strong>er von <strong>den</strong> sehr sehr wenigen Bewohnern der<br />

Erde ist, die Sie so ganz verstan<strong>den</strong> und gefasst. Er lebt hier [<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>] sehr kümmerlich, unterstützt von<br />

e<strong>in</strong>igen Freun<strong>den</strong>, ganz der Spekulation. Er ist auch me<strong>in</strong> Freund, und ich liebe ihn und schätze ihn<br />

ungeme<strong>in</strong>. Es geschah auf me<strong>in</strong>e Veranlassung, dass er diese Aufsätze, die er zum Druck bestimmt,<br />

vorher Ihnen zur Durchsicht überschickt.“ Kant antwortet: „Ich empfange je<strong>den</strong> Brief von Ihnen,<br />

wertester Freund, mit wahrem Vergnügen. Aber“, fährt er nach e<strong>in</strong>igen Höflichkeiten fort, „wo <strong>den</strong>ken Sie<br />

h<strong>in</strong>, mir e<strong>in</strong> großes Pack der subtilsten Nachforschungen, zum Durchlesen nicht alle<strong>in</strong>, sondern auch zum<br />

Durch<strong>den</strong>ken, zuzuschicken.“ Er stehe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 66. Lebensjahr, im Begriff, die Kritik der Urteilskraft zu<br />

been<strong>den</strong>, und brauche, bei se<strong>in</strong>er gebrechlichen Gesundheit, alle verbleibende Zeit für die Ausarbeitung<br />

se<strong>in</strong>er Metaphysik. <strong>Das</strong> kl<strong>in</strong>gt wie e<strong>in</strong>e Absage; aber während Kant sie formuliert, verfängt sich se<strong>in</strong> Auge<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> ersten Seiten, er wird <strong>in</strong> die Lektüre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen und verfasst am Ende e<strong>in</strong>en der<br />

ausführlichsten Briefe zur Verteidigung se<strong>in</strong>es kritischen Standpunktes, die wir von ihm besitzen. Kants<br />

Brief schließt mit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>direkten Druckempfehlung, von der Maimon profitieren konnte.


09.06.2004 13:30 Uh<br />

Wer war dieser Salomon Maimon Karl Philipp Moritz, der Herausgeber des damals berühmten Magaz<strong>in</strong>s<br />

für Erfahrungsseelenkunde, hatte die gute Idee, <strong>den</strong> Verfasser zur Niederschrift se<strong>in</strong>er Lebensgeschichte<br />

zu überre<strong>den</strong>. So entstand e<strong>in</strong>e der unglaublichsten Philosophenbiografien. Sie erzählt e<strong>in</strong> Leben, das <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>fachsten litauischen Verhältnissen begann, das Wechselbad von Lei<strong>den</strong> unter e<strong>in</strong>er oft brutalen<br />

orthodox-jüdischen Erziehung (mit 11 war Shlomo Rabbi, wurde zwangsverheiratet, geraubt und neu<br />

verheiratet) und des mörderischen Antisemitismus zu bestehen hatte. Maimon erzählt mehrere<br />

vergebliche und mit Unfällen bezahlte Fluchtversuche, schwer glaubliche Verbrechen der rohen<br />

Adelskaste und endlich die Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, wo e<strong>in</strong> Kreis gebildeter Ju<strong>den</strong> um Mendelssohn, Herz und<br />

Bendavid se<strong>in</strong> Talent erkennt und großherzig unterstützt – freilich nur anfangs, bis dieser Radikalaufklärer<br />

mit der Religion überhaupt auch die jüdische verurteilt. Diesen Männern hat Maimon die Muße und<br />

Sorglosigkeit zur Niederschrift se<strong>in</strong>es so bedeuten<strong>den</strong> wie rätselvollen Versuchs zu danken. Der Text war<br />

– zusammen mit Maimons Versuch e<strong>in</strong>er neuen Logik (1794) – schon von Andreas Berger <strong>in</strong>s Internet<br />

gesetzt wor<strong>den</strong> (http://tiss.zdv.uni-tueb<strong>in</strong>gen.de/webroot/fp/fpsfr01_W0304) und ist nun bei Me<strong>in</strong>er<br />

erschienen.<br />

Der Herausgeber Florian Ehrensperger, e<strong>in</strong> junger Maimon- und Fichte-Spezialist, leitet das Werk<br />

konstellatorisch kompetent und geschickt e<strong>in</strong>, obwohl e<strong>in</strong> an <strong>den</strong> Dunkelheiten des Autors verzweifelnder<br />

Leser für die wahrhaft harten und zentralen Probleme, die das Werk aufwirft, ke<strong>in</strong>erlei Lösungsangebote<br />

f<strong>in</strong>det. Auch die Textpräsentation ist philologisch nicht befriedigend: In Maimons vertracktes Deutsch mit<br />

se<strong>in</strong>er höchst willkürlichen, aber charakteristischen Zeichensetzung ohne textkritische Nachweise<br />

e<strong>in</strong>zugreifen birgt das Risiko unüberprüfbarer S<strong>in</strong>nveränderungen.<br />

Der Band enthält e<strong>in</strong>e lückenlose Bibliografie. Die Anmerkungen des Herausgebers beschränken sich auf<br />

Personen- und Sacherklärungen sowie die Übersetzung fremdsprachiger (meist late<strong>in</strong>ischer) Zitate. Die<br />

Übersetzung e<strong>in</strong>es langen Passus aus Ploucquets Kalkül-Schrift zeigt Unvertrautheit mit dem<br />

zeitgenössischen logischen Vokabular. Auch ist dem Kommentator nicht aufgefallen, dass Maimon bei<br />

se<strong>in</strong>er erhellen<strong>den</strong> Orientierung an Baumgartens Metaphysica (wie Dagmar Mirbach nachgewiesen hat)<br />

nicht der Paragrafenzählung des Orig<strong>in</strong>als, sondern derjenigen von Georg Friedrich Meiers gekürzter<br />

deutscher Übersetzung folgt.<br />

Von <strong>den</strong> Erklärungsmängeln der Ehrenspergerschen E<strong>in</strong>leitung frei ist der von Gideon Freu<strong>den</strong>thal<br />

herausgegebene Sammelband über Salomon Maimon: Rational Dogmatist, Empirical Skeptic. Freu<strong>den</strong>thal,<br />

e<strong>in</strong> führender israelischer Philosoph – im Deutschen kennt man wenigstens se<strong>in</strong>e 1982 bei Suhrkamp<br />

erschienene Arbeit Atom und Individuum im Zeitalter Newtons – hat weltweit führende Kenner um sich<br />

geschart, und sie packen die Schlüsselfragen des Maimonschen Überzeugungssystems frontal an, mit<br />

e<strong>in</strong>em Akzent auf Maimons publizistischem Erstl<strong>in</strong>g. Der Aufklärungsertrag ist groß; und der Leser beg<strong>in</strong>nt<br />

von Text zu Text zu ahnen, dass Maimon nicht e<strong>in</strong>fach als Kant-Kommentator, Hume- oder Sp<strong>in</strong>oza-<br />

Leibniz-Wolff-Verteidiger, als Naturwissenschaftstheoretiker, Logiker oder Mathematiker, gar als Vorläufer<br />

des logisch wenig geübten Fichte philosophiegeschichtlich bedeutend ist. Wir treten e<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

weitgehend unbekanntes Gedankengebirge, das es sich um se<strong>in</strong>er selbst willen zu entdecken lohnt.<br />

Des Herausgebers E<strong>in</strong>leitung beleuchtet <strong>den</strong> eigenartigen schriftstellerischen Umgang Maimons mit der<br />

Tradition und charakterisiert ihn als kommentierendes Denken, fast im S<strong>in</strong>ne des Novalis: „E<strong>in</strong> junger<br />

Gelehrter muss mit spezieller Kritik anfangen. Am frem<strong>den</strong> Fa<strong>den</strong> und Gewebe lernt er eigene Ideen<br />

entwickeln und zu Fä<strong>den</strong> und e<strong>in</strong>em vollständigen, regelmäßigen Gewebe aussp<strong>in</strong>nen.“ <strong>Das</strong> wird<br />

besonders augenfällig <strong>in</strong> Maimons Kommentaren zum Führer der Unschlüssigen, dem selbst<br />

unsystematisch-kommentieren<strong>den</strong> Hauptwerk des jüdisch-mittelalterlichen Philosophen Maimonides, <strong>den</strong><br />

Salomon sich als Wahlnamen-Vater auswählte.<br />

Der Sammelband selbst trennt Beiträge zu Maimons „rationalem Dogmatismus“ von solchen zu se<strong>in</strong>em<br />

„empirischen Skeptizismus“. E<strong>in</strong> dritter Teil beleuchtet <strong>den</strong> Stil von Maimons Rezensionen – samt e<strong>in</strong>er<br />

bisher unbeachteten (Ehrensperger). Im ersten geht es um Maimons Transformation der Lehre<br />

synthetischer Urteile a priori. Es bestätigt sich nicht nur der längst bekannte (von Peter Thielke neu und<br />

differenziert artikulierte) Befund, dass Maimon – unter Rückgriff auf die rationalistische Tradition – <strong>den</strong><br />

Kantschen Vermögendualismus von S<strong>in</strong>n und Verstand (samt Anschauungs- und Verstandesformen)<br />

leugnet und die verme<strong>in</strong>tliche Rezeptivität der S<strong>in</strong>neserfahrung als e<strong>in</strong>en m<strong>in</strong>deren Grad von<br />

Selbsttätigkeit erklärt. Maimon zeigt auch, dass verme<strong>in</strong>tliche Positionsunterschiede natürlicher<br />

Gegenstände <strong>in</strong> Raum und Zeit auf unerkannten Unterschie<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> begrifflich fassbaren Merkmalen<br />

der Gegenstände beruhen – das hatte Kant vehement geleugnet.<br />

<strong>Das</strong> basale Theorem von Maimons Gegenentwurf, der „Satz der Bestimmbarkeit“, erfährt e<strong>in</strong>e glänzend<br />

klare und E<strong>in</strong>sicht eröffnende Explikation durch e<strong>in</strong>en noch ganz jungen Maimon-Forscher, Oded<br />

Schechter. Hier muss künftige Forschung anknüpfen, <strong>den</strong>n Schechters Auslegung bleibt immanent, sie<br />

kann die Struktur des Grundarguments nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er von Maimons dunkler Wortwahl unabhängigen<br />

Sprache artikulieren.<br />

In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung fragt Elhanan Yakira, der Maimons Theorie der Prädikation aus ihren<br />

Leibnizschen und Kantschen Ursprüngen vergleichend profiliert. Es zeigt sich, dass Maimons Appell an<br />

e<strong>in</strong>en „unendlichen Verstand“ die Erklärungslücke zwischen der dogmatisch-rationalen und der empirischskeptischen<br />

Betrachtungsart schließen kann; doch hat er nur <strong>den</strong> Charakter e<strong>in</strong>es rational motivierten<br />

Postulats zur Überw<strong>in</strong>dung des Dualismus (nicht e<strong>in</strong>er Fichteschen Evi<strong>den</strong>z, die Maimon endlichen<br />

Geistern nur für die „unendliche E<strong>in</strong>sichtigkeit“ mathematischer Erkenntnisse e<strong>in</strong>räumt). Michael Roubach<br />

beleuchtet die Bedeutung, die das Denken von E<strong>in</strong>heit und Verschie<strong>den</strong>heit (im S<strong>in</strong>ne der Wolff-<br />

Kantschen „Reflexionsbestimmungen“) für Maimons Denken und se<strong>in</strong>e Theorie des engen<br />

Zusammenhangs der formalen und der transzen<strong>den</strong>talen Logik hat.<br />

<strong>Das</strong> Schaustück der Sammlung f<strong>in</strong>det sich im zweiten Teil. In e<strong>in</strong>er strengen und historisch wie<br />

systematisch gleich kundigen Prüfung der Kantschen These, es gebe (e<strong>in</strong>ige) synthetische Erkenntnis a<br />

priori auch <strong>in</strong> der Naturwissenschaft, zeigt Freu<strong>den</strong>thal, dass Kants Anspruch unter <strong>den</strong> Hieben der<br />

Maimonschen Skepsis fällt. Die Physik ist e<strong>in</strong>e Theorie der bewegen<strong>den</strong> Kräfte; doch lässt sich Bewegung,<br />

weil sie Existenz e<strong>in</strong>schließt und Existenz ke<strong>in</strong>e Gedankenbestimmung ist, aus re<strong>in</strong>er Vernunft nicht<br />

antizipieren (was Kant <strong>in</strong> <strong>den</strong> „Grundsätzen“ akzeptiert, aber nicht konsequent beachtet). So müssen die<br />

Grundsätze der Physik – wie alle materiellen Kausalaussagen – de facto als empirisch und mith<strong>in</strong> fallibel<br />

anerkannt wer<strong>den</strong>. Dagegen f<strong>in</strong>det Yaron Senderowicz Maimons Zweifel am „Faktum der Erfahrung“ und<br />

der <strong>in</strong> diese Annahme e<strong>in</strong>gehen<strong>den</strong> Hume-Kritik letztlich nicht überzeugend.


E<strong>in</strong> jüdischer, deutscher Idealist<br />

Paul Franks fragt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gründlichen Artikel <strong>in</strong> die gleiche Richtung: Was können Kantianer aus Maimons<br />

Skeptizismus lernen Se<strong>in</strong> Antwort ist grob: Dies, dass naturwissenschaftliche Kenntnis wenigstens für<br />

endliche Geister, aber gewöhnliche Urteilspraktiken ganz und gar unrechtfertigbar s<strong>in</strong>d, da sie strenger<br />

Mathematisierung widerstehen. Doch sieht Franks <strong>in</strong> Maimons radikaler Kant-Kritik e<strong>in</strong>en „bl<strong>in</strong><strong>den</strong> Fleck“<br />

und fragt sich, ob nicht die transzen<strong>den</strong>tale Tradition <strong>in</strong>sgesamt <strong>den</strong> alltäglichen Erkenntnispraktiken<br />

gegenüber verständnislos geblieben ist. Frederick Beiser – bekannt durch Standardwerke über <strong>den</strong><br />

argumentativen Kontext und die früheste sowie die idealistische Verarbeitung der kantischen Philosophie<br />

– schlägt Maimon vorsichtig auf die Seite Fichtes, der Maimons kontemplatives Denken<br />

praxisphilosophisch neu begründet habe.<br />

Ist Maimon also – <strong>in</strong> <strong>den</strong> Worten von Habermas (1963) – e<strong>in</strong> Hauptvertreter des „deutschen Idealismus<br />

jüdischer Philosophen“ Freu<strong>den</strong>thals Sammelband öffnet so viele neue Perspektiven und zeigt uns e<strong>in</strong><br />

schillerndes Gesamtwerk von solchem Reichtum, dass wir e<strong>in</strong>zusehen beg<strong>in</strong>nen: Hier ist e<strong>in</strong> großer<br />

Philosoph allererst entdeckt wor<strong>den</strong>, und die Forschung über ihn steht noch am Anfang.<br />

Salomon Maimon: Versuch über die Transzen<strong>den</strong>talphilosophie<br />

Hrsg. v. Florian Ehrensperger; Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 2004; 324 S., 36,– €<br />

Gideon Freu<strong>den</strong>thal (ed.): Salomon Maimon: Rational Dogmatist, Empirical Skeptic<br />

Critical Assessments; Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2003; 304 S., 123,– €<br />

(c) DIE ZEIT 03.06.2004 Nr.24<br />

ZUM<br />

ARTIKELANFANG


DeutschlandRadio Berl<strong>in</strong> - Fazit -<br />

Fazit • Kultur vom Tage<br />

Samstag bis Donnerstag • 23:05<br />

10.5.2004<br />

"Im Reich der D<strong>in</strong>ge"<br />

Tagung zur Vermittlung von Kunst im Museum<br />

Von Pascal Fischer<br />

Erzählte Geschichte: Der<br />

Dienstwagen des ersten<br />

Bundeskanzlers Konrad<br />

A<strong>den</strong>auer im Deutschen<br />

Historischen Museum<br />

Bonn. (Foto: AP Archiv)<br />

Wie präsentiert man Wissen anhand von<br />

Objekten im Museum Welche<br />

unterschiedlichen Möglichkeiten der<br />

Zusammenstellung gibt es Und welche<br />

Geschichte, welche Zusammenhänge<br />

erzählt das e<strong>in</strong>zelne Ausstellungsstück<br />

Diese und andere Fragen diskutierten<br />

Künstler, Ausstellungsmacher und<br />

Museumsleiter im Deutschen Hygiene<br />

Museum <strong>in</strong> Dres<strong>den</strong>.<br />

Für französische Ohren kl<strong>in</strong>gt der<br />

Tagungstitel "Im Reich der D<strong>in</strong>ge" eher<br />

befremdlich. Und so fragte der bekannte<br />

Wissenschaftsphilosoph Bruno Latour <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Eröffnungsvortrag auch<br />

spitzbübisch: Wer ist der "Führer" im Reich der D<strong>in</strong>ge Latour zeigte: Die<br />

Bedeutung aller Objekte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kultur wird immer von Menschen<br />

verhandelt, Menschen, die sich um die D<strong>in</strong>ge versammeln, über sie re<strong>den</strong>.<br />

<strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>e enorme Ressource für die Museen! Daher s<strong>in</strong>d Museen doch<br />

<strong>in</strong>teressant: Denn sie können diese Versammlungen um die D<strong>in</strong>ge zeigen.<br />

Dar<strong>in</strong> waren sich auch die Redner auf der Tagung e<strong>in</strong>ig: Interessant ist<br />

nicht das Ausstellungsstück als solches, sondern die Geschichte, für die es<br />

steht, die Diskussionen, die Prozesse, die es <strong>in</strong> Gang setzte. <strong>Das</strong> Deutsche<br />

Hygiene-Museum war daher e<strong>in</strong> idealer Tagungsort, schließlich hat das<br />

Haus die eigene Vergangenheit als Stätte der Gesundheitserziehung <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>e Ausstellung e<strong>in</strong>gearbeitet.<br />

Wie aber zeigt man Wissensgeschichte <strong>Das</strong> erklärte Gisela Staupe,<br />

stellvertretende Museumsdirektor<strong>in</strong>, <strong>in</strong> ihrem Vortrag über das Dresdner<br />

Museum: D<strong>in</strong>ge müssen <strong>in</strong> ausgeklügelten Arrangements präsentiert<br />

wer<strong>den</strong>, wie zum Beispiel im ersten Raum der ständigen Ausstellung. Dort<br />

steht e<strong>in</strong> gläsernes Menschmodell, mit leuchten<strong>den</strong> Adern und Organen.<br />

Im Pr<strong>in</strong>zip soll auf e<strong>in</strong>er Bildebene verdeutlicht wer<strong>den</strong>: Ohne <strong>den</strong><br />

Röntgenapparat, ohne die Durchsichtbarmachung des Körpers wäre auch<br />

der gläserne Mensch nicht möglich gewesen, der noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e ganz<br />

andere Ebene der Sichtbarmachung des Körper<strong>in</strong>neren zeigt.<br />

Wissenschaft ist e<strong>in</strong> Prozess, daher muss das Museum e<strong>in</strong> Labor se<strong>in</strong>. In<br />

Dres<strong>den</strong> dürfen die Besucher nicht nur Forschungsergebnisse bestaunen,<br />

sondern selbst an vielen Apparaturen experimentieren. <strong>Das</strong> Museum wird<br />

somit e<strong>in</strong> Forum, <strong>in</strong> dem die Bürger neueste Entwicklungen diskutieren<br />

können.<br />

Vor allem bei <strong>den</strong> Biowissenschaften dürfte das <strong>in</strong>teressant se<strong>in</strong>. Und


DeutschlandRadio Berl<strong>in</strong> - Fazit -<br />

gerade hier kann das Museum aktiv wer<strong>den</strong>: Denn es stellt Wissen visuell<br />

dar. Und kann aufdecken, wo Bilder e<strong>in</strong> Eigenleben führen und<br />

wissenschaftliche Erkenntnisse verdecken.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel ist die E<strong>in</strong>teilung des Menschen <strong>in</strong> weiße, schwarze, gelbe<br />

und rote Rassen, wie Staffan Müller-Wille vom <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> demonstrierte. Und der Berl<strong>in</strong>er<br />

Kunsthistoriker Horst Bredekamp zeigte, dass die Evolution immer noch<br />

als Baum gesehen wird, obwohl noch ke<strong>in</strong> Mensch bewiesen hat, dass alle<br />

Arten aus e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Stamm kommen.<br />

Ausstellungsstücke sollen <strong>den</strong> Kern der Sache bloßlegen. Allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />

zu platt, forderte Peter Geimer von der ETH Zürich.<br />

Es gibt die Rede vom lebendigen Museum. Und <strong>in</strong> Bonn hat es im<br />

Deutschen Historischen Museum dazu geführt, dass man e<strong>in</strong>en<br />

Dienstwagen von Konrad A<strong>den</strong>auer dort ausstellt, und der sagt <strong>in</strong> der<br />

Ichform, woh<strong>in</strong> er <strong>den</strong> Kanzler gefahren hat. Und wenn ich für was<br />

plädierte, dann dafür, nicht so zu tun, als könne man die D<strong>in</strong>ge zu<br />

Menschen machen.<br />

So schlug man sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> theoretischen Teilen der Tagung wacker,<br />

überlegte, wie die D<strong>in</strong>ge möglichst zum Sprechen gebracht wer<strong>den</strong><br />

könnten. Hans-Jörg Rhe<strong>in</strong>berger vom <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> gab zu be<strong>den</strong>ken, dass <strong>in</strong>sbesondere<br />

organische Präparate e<strong>in</strong>em Widerspruch ausgesetzt seien: Mit enormem<br />

chemischen Aufwand behandele man Organe so, dass sie wie unbehandelt<br />

aussähen.<br />

<strong>Das</strong> Paradox gilt im Grunde für alle Objekte: Zu viel Zurechtmachung, zu<br />

viele Texttafeln nehmen dem Gegenstand se<strong>in</strong>e Ursprünglichkeit, se<strong>in</strong>e<br />

poetische Aussagekraft. Davor warnte zum Beispiel der Documenta-<br />

Macher Harald Szeemann.<br />

Verstehen Sie: Wenn Sie zu explizit wer<strong>den</strong>, belasten Sie diese Poesie nur.<br />

...me<strong>in</strong>te der Documenta-Macher Harald Szeemann. Besonders hart g<strong>in</strong>g<br />

der Ausstellungsmacher Hans-Günter Merz mit vielen se<strong>in</strong>er Kollegen <strong>in</strong>s<br />

Gericht: Auch wenn sie oft populär se<strong>in</strong> wollen - zuviel Dekoration, zu<br />

viel Pappmaché, zu viele <strong>in</strong>teraktive Term<strong>in</strong>als im Museum lassen die<br />

Ausstellungsstücke nur untergehen. Gerade im virtuellen Zeitalter besäße<br />

e<strong>in</strong> Orig<strong>in</strong>alstück doch e<strong>in</strong>e besondere Aura, zum Beispiel im Theater der<br />

Natur und Kunst an der Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong>:<br />

Da gab es ... e<strong>in</strong>e Mumie, die die Humboldts aus Südamerika mitgebracht<br />

haben. Und das war das Fasz<strong>in</strong>ierende für mich und me<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der: Diese<br />

Sammlung, die bisher weggeschlossen war, zu zeigen, D<strong>in</strong>ge, die man<br />

nicht immer sieht. Videogame ist beliebig reproduzierbar. Aber manche<br />

dieser D<strong>in</strong>ge, die man <strong>in</strong> Museen sieht, gibt es nur e<strong>in</strong>mal. Und dann wird<br />

es auch spannend.<br />

E<strong>in</strong> Gegenpart zu künstlichen wissenschaftlichen Präparaten bildet das<br />

auratische Orig<strong>in</strong>al aber ke<strong>in</strong>eswegs, schließlich bezieht es se<strong>in</strong>e Wirkung<br />

ja doch nur aus se<strong>in</strong>er Geschichtlichkeit. Kontrovers wurde es auf der<br />

Tagung <strong>den</strong>n auch kaum. Pr<strong>in</strong>zipiell lässt sich die Zeit- und<br />

Ideengeschichte mit fast jedem Gegenstand veranschaulichen, so hatte man<br />

<strong>den</strong> E<strong>in</strong>druck.<br />

Wenn es die Kulturetats nicht verh<strong>in</strong>dern, erwartet uns bald e<strong>in</strong>e Flut von<br />

Objekten, und auch e<strong>in</strong>e Welle der Video- und Tonbandaufzeichnungen.<br />

Mit <strong>den</strong>en wer<strong>den</strong> uns die Museen Rituale, Bräuche, Werte und<br />

Vorstellungen aus <strong>den</strong> Kulturen der Welt zeigen, das die UNESCO<br />

bewahren möchte. Rosmarie Beier-deHaan vom Deutschen Historischen<br />

Museum Berl<strong>in</strong> g<strong>in</strong>g dann noch e<strong>in</strong>en Schritt weiter:


DeutschlandRadio Berl<strong>in</strong> - Fazit -<br />

Mir ist es wichtig, dass Museen <strong>in</strong> Westeuropa begreifen, dass sie selber<br />

permanent <strong>in</strong> Ausstellungen etwas produzieren, was bewahrt wer<strong>den</strong><br />

sollte. Weil das Teil e<strong>in</strong>es kulturellen Gedächtnisses ist. Man <strong>den</strong>ke an die<br />

Wehrmachtsausstellung, die ganz große öffentliche Kontroversen<br />

hervorgerufen hat.<br />

Die Ausstellungskultur selbst wird musealisiert. Konsequenter kann man<br />

Bruno Latours Programm nicht mehr weiterentwickeln. Vielleicht wer<strong>den</strong><br />

wir bald massenhaft die Versammlungen und Streits um Ausstellungen <strong>in</strong><br />

Ausstellungen sehen. Und wenn am Ende auch unsere Visionen <strong>in</strong> die<br />

Schausäle e<strong>in</strong>ziehen, dann sehen wir dort nicht mehr nur die<br />

Vergangenheit, sondern auch die Zukunft. An Ausstellungsgegenstän<strong>den</strong><br />

fehlt es dem Museum also nicht. Se<strong>in</strong>e eigene Zukunft wird groß se<strong>in</strong>.


16 09.04.2004<br />

Anke te Heesen<br />

Nichts ist so aktuell wie die<br />

Zeitung von gestern<br />

SCHNITTKULTUR UM 1900 Von der krim<strong>in</strong>alistischen<br />

Nobilitierung des Zeitungsausschnitts und se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>zug<br />

<strong>in</strong> die Kunst und Alltagskultur<br />

Wie ke<strong>in</strong> anderer konnte Sherlock Holmes aus <strong>den</strong><br />

sche<strong>in</strong>baren Nebensächlichkeiten des Alltags das Material zur<br />

Lösung se<strong>in</strong>er Fälle rekrutieren. Der Hund von Baskerville<br />

beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>er Nebensächlichkeit par excellence: Mit<br />

aufgeklebten Wörtern aus e<strong>in</strong>er Zeitung und mit Löchern im<br />

Papier. Als der Held der Geschichte dem Detektiv <strong>den</strong> eben<br />

erhaltenen anonymen Brief zeigt, beugt sich dieser über das<br />

zusammengeklebte Textstück und behandelt es wie e<strong>in</strong>e<br />

mittelalterliche Quelle: als e<strong>in</strong> wichtiges Dokument, von dem<br />

etwas über die vergangene Geschichte abzulesen ist. Rasch<br />

erkennt Holmes die ausgeschnittenen Worte als aus der<br />

"<strong>in</strong>neren Seite" der Times der "gestrigen Ausgabe"<br />

entnommen.<br />

Löcher im Papier<br />

Dabei dient ihm die Typographie, die er als e<strong>in</strong>en der<br />

"elementarsten Wissenszweige des Krim<strong>in</strong>alisten" bezeichnet.<br />

Er bemerkt zudem, dass die Worte mit e<strong>in</strong>er Nagelschere aus<br />

der ehrwürdigen Zeitung geschnitten und hastig mit Gummi<br />

aufgeklebt wur<strong>den</strong>. Im nächsten Schritt sucht er die <strong>in</strong> Frage<br />

kommen<strong>den</strong> Orte nach Papierüberresten ab, immer auf der<br />

Suche nach <strong>den</strong> Löchern <strong>in</strong> der Zeitung. In diesem Fall führt<br />

die Zeitungsspur nicht zum Mörder. Doch <strong>in</strong> der Zeit um 1900<br />

ersche<strong>in</strong>t sie als krim<strong>in</strong>alistisches Indiz ersten Ranges.<br />

1902, im gleichen Jahr als Conan Doyle die Endfassung se<strong>in</strong>es<br />

Romans <strong>in</strong> London vorlegt, veröffentlicht die Zeitschrift Der<br />

Zeitungs-Verlag. Fachblatt für das gesamte Zeitungswesen


Freitag 16 - Nichts ist so aktuell wie die Zeitung von gestern<br />

e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Meldung unter "Vermischtes". Berichtet wird der<br />

Fall e<strong>in</strong>es jungen Dienstmädchens, das ihr neugeborenes K<strong>in</strong>d<br />

getötet hatte. Im Zentrum des Artikels steht nichts über <strong>den</strong><br />

H<strong>in</strong>tergrund der Tat oder das Gerichtsurteil. Berichtet wird<br />

vielmehr, dass e<strong>in</strong> "kle<strong>in</strong>er Zeitungsausschnitt" zur Lösung des<br />

Falles geführt habe. Man f<strong>in</strong>det das K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Pappschachtel; die Schachtel "war <strong>in</strong> mehrere Zeitungsblätter<br />

e<strong>in</strong>gewickelt, darunter befand sich auch e<strong>in</strong> solches, aus<br />

welchem e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Inserat ausgeschnitten war. [...]<br />

Krim<strong>in</strong>alkommissar Braun stellte fest, dass an der Stelle der<br />

Zeitung e<strong>in</strong>e Annonce gestan<strong>den</strong> hatte, durch welche<br />

leistungsfähige Holzwollfabriken gesucht wur<strong>den</strong>. Die<br />

polizeilichen Recherchen richteten sich nun auf alle derartigen<br />

Fabriken, und es wurde schließlich der begründete Verdacht<br />

der Thäterschaft auf die Angeklagte gelenkt, die <strong>in</strong> der<br />

Landsberger Allee bei e<strong>in</strong>em Fabrikanten G. diente."<br />

Anders als <strong>in</strong> <strong>den</strong> Holmes-Geschichten, wird hier <strong>in</strong> nüchternen<br />

Worten e<strong>in</strong> Verbrechen geschildert, das nicht die Kultur der<br />

gebildeten Gentleman-Mörder zum H<strong>in</strong>tergrund hat, sondern<br />

die Sozialgeschichte e<strong>in</strong>er Großstadt um 1900. Doch Fiktion<br />

und historische Wirklichkeit, beratender Detektiv und<br />

Krim<strong>in</strong>alkommissar arbeiten mit dem gleichen Material: zu<br />

stopfende Löcher im Papier, Schnittspuren und die<br />

Charakteristik der Typographie.<br />

In bei<strong>den</strong> Schilderungen steht der Zeitungsrest als<br />

materialisiertes Geschehen im Mittelpunkt: bei Holmes, um die<br />

Spannung zu steigern und se<strong>in</strong>e berechnende<br />

Komb<strong>in</strong>ationsfähigkeit zur Geltung zu br<strong>in</strong>gen; <strong>in</strong> dem Fachblatt<br />

für das gesamte Zeitungswesen, um die prom<strong>in</strong>ente Rolle der<br />

Zeitung anzuführen. E<strong>in</strong> zweiter Blick auf diese bei<strong>den</strong> Texte<br />

offenbart, dass der Zeitungsrest, mehr noch als die Fähigkeiten<br />

des Detektivs oder die Rekonstruktion der Ereignisse, das<br />

Medium selbst thematisiert. Wie war es möglich, dass etwas so<br />

massenhaft Hergestelltes, etwas so Billiges wie die Zeitung<br />

Erkenntnisse produzieren konnte<br />

Es waren die papierenen Bearbeitungsspuren, die auf e<strong>in</strong>e<br />

rekonstruierbare, verme<strong>in</strong>tlich dah<strong>in</strong>ter liegende Realität<br />

verwiesen und die es als Zeichen zu <strong>in</strong>terpretieren galt.<br />

Zugleich aber steckte mehr h<strong>in</strong>ter dieser semiotischen<br />

Fleißarbeit, <strong>den</strong>n die H<strong>in</strong>wendung zu <strong>den</strong> kle<strong>in</strong>en<br />

Geschehensresten zeigt, dass damit auch e<strong>in</strong><br />

epistemologischer Zugang gewählt wurde: das Indiz war


Freitag 16 - Nichts ist so aktuell wie die Zeitung von gestern<br />

nunmehr nicht e<strong>in</strong>fach nur Teil e<strong>in</strong>es Geschehens, sondern<br />

vielmehr e<strong>in</strong> das Geschehen <strong>in</strong> nuce enthaltener Rest, der das<br />

Ganze repräsentieren konnte. Die am nächsten Tag bereits<br />

veraltete Zeitung nutzten unbescholtene Bürger wie Mörder als<br />

Material (für anonyme Briefe) oder als Informationsdienstleister<br />

(Anzeigen/Inserate). Zugleich offenbarten die Schnitte <strong>in</strong> die<br />

Zeitung e<strong>in</strong>e dah<strong>in</strong>ter liegende Person, die es zu f<strong>in</strong><strong>den</strong> galt<br />

und die durch die Wahl der auszuschnei<strong>den</strong><strong>den</strong> Meldung oder<br />

ihre Schnittechnik rekonstruierbar wurde. Und die<br />

krim<strong>in</strong>alistische Indienstnahme der ausgeschnittenen<br />

Zeitungsstücke war nicht die e<strong>in</strong>zig mögliche. Kultiviert wurde<br />

e<strong>in</strong>e regelrechte Schnittkultur um 1900, die die Meldung, das<br />

Informationsdetail, aus dem Gesamtzusammenhang<br />

aussonderte und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen Kontext e<strong>in</strong>fügte. Wenn aber,<br />

wie Aby Warburg schrieb, der liebe Gott im Detail steckt, wo<br />

war er im Zeitungsausschnitt<br />

Schere und Klemmbrett<br />

Es gibt kaum jeman<strong>den</strong>, der noch nie e<strong>in</strong>en Zeitungsartikel<br />

ausgeschnitten hat: um ihn weiterzugeben, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Buch zu<br />

legen oder e<strong>in</strong>er Notiz h<strong>in</strong>zu zu fügen. E<strong>in</strong>zelne Zeilen markiert<br />

man vielleicht, um später die entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Details schneller<br />

wiederzuf<strong>in</strong><strong>den</strong>. Damit wird der Zeitungsausschnitt zu e<strong>in</strong>em<br />

eigenständigen Objekt, h<strong>in</strong>ter dem das Medium Zeitung steht,<br />

das aber zugleich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen Kontext überführt wird und<br />

dadurch e<strong>in</strong> bestimmtes Set an Techniken <strong>in</strong> sich trägt. <strong>Das</strong><br />

Führen der Schere, das Produzieren von gera<strong>den</strong> Kanten und<br />

das sorgfältige Falten und E<strong>in</strong>legen oder E<strong>in</strong>kleben ist<br />

Vorläufer des cut and paste-Befehls, <strong>den</strong> heute jeder<br />

Computerbenutzer kennt. Als Icons f<strong>in</strong>det man auf der<br />

Bildschirmoberfläche e<strong>in</strong>e Schere (cut) und e<strong>in</strong> Klemmbrett mit<br />

e<strong>in</strong>em Textzettel (paste). Die Bildschirmoberfläche gleicht<br />

e<strong>in</strong>em zweidimensionalen Schreibtisch, auf dem man die<br />

vertrauten Gegenstände (Schere, Mappe, Klemmbrett,<br />

Textseiten) der Textarbeit vorf<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />

Der symbolische Zettel auf dem Klemmbrett war ursprünglich<br />

e<strong>in</strong> Stück Papier mit e<strong>in</strong>em Textfragment, das ausgeschnitten<br />

und wieder e<strong>in</strong>geklebt wer<strong>den</strong> musste. Vom 16. Jahrhundert an<br />

trug man <strong>in</strong> dieser Form Wissensstücke zusammen, die <strong>in</strong><br />

Klad<strong>den</strong> e<strong>in</strong>geklebt oder <strong>in</strong> Zettelkästen aufbewahrt wur<strong>den</strong><br />

und die der räumlichen Klassifikation des Wissens dienten. Der<br />

Zettel - die vielleicht kle<strong>in</strong>ste materiale Texte<strong>in</strong>heit der<br />

gelehrten Arbeit - begann <strong>in</strong> <strong>den</strong> Exzerptheften e<strong>in</strong>es


Freitag 16 - Nichts ist so aktuell wie die Zeitung von gestern<br />

Universalgelehrten wie Konrad Gesner und taucht heute als<br />

Bildsymbol auf der Benutzeroberfläche wieder auf.<br />

Zeitungsausschnitt-Industrie<br />

In der Geschichte der Zettelwirtschaft ereignete sich im Jahr<br />

1879 e<strong>in</strong> Vorfall, der zu e<strong>in</strong>er besonderen Sorte Papierstück<br />

führte. In Paris wurde das erste Zeitungsausschnittbüro<br />

gegründet. Die Zeitung war zu diesem Zeitpunkt zu e<strong>in</strong>em<br />

Massenmedium gewor<strong>den</strong>, das auf die Beschleunigung der<br />

Kommunikation durch Telegraph und Zug und auf technische<br />

Erf<strong>in</strong>dungen wie die Rotationsdruckmasch<strong>in</strong>e (1872) und die<br />

Setzmasch<strong>in</strong>e (1884) reagierte. In Metropolen wie London,<br />

Berl<strong>in</strong> oder Paris gehörte die Zeitung zum ständig Zuhan<strong>den</strong>en,<br />

das das Straßenbild prägte und zugleich <strong>in</strong>nerhalb von<br />

Stun<strong>den</strong> zu Altpapier mutierte: "Die Zeitung von vorgestern war<br />

vorgestern <strong>in</strong>teressant, heute ist sie Makulatur."<br />

Doch <strong>in</strong> Paris wusste e<strong>in</strong> geschickter Unternehmer aus alten<br />

Neuigkeiten Geld zu schlagen und setzte mit se<strong>in</strong>er Gründung<br />

e<strong>in</strong>e "Zeitungsausschnitte<strong>in</strong>dustrie" <strong>in</strong> Gang. Sie bestand aus<br />

dem gewerbsmäßigen Sammeln und Ausschnei<strong>den</strong> von<br />

Informationen aus Zeitungen und deren anschließen<strong>den</strong><br />

Vertrieb. Dazu wur<strong>den</strong> die <strong>in</strong> der Tagespresse enthaltenen<br />

Artikel gesichtet, nach Inhalten und Kun<strong>den</strong> sortiert und <strong>in</strong><br />

gebündelter Form weitergereicht. Als Kun<strong>den</strong> traten zumeist<br />

Personen des öffentlichen Lebens auf, die die unübersehbar<br />

wer<strong>den</strong>de Menge an Tages<strong>in</strong>formationen zu organisieren<br />

hofften. Um die Jahrhundertwende hielt also der massenhafte<br />

Zeitungsausschnitt E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> die verschie<strong>den</strong>sten<br />

Wissensgebiete und Künste und etablierte sich als e<strong>in</strong><br />

anerkanntes Sammelobjekt. Die Collagen von Hannah Höch<br />

oder Kurt Schwitters, die Manuskripte der Romane von John<br />

Dos Passos oder Alfred Döbl<strong>in</strong>, die papiers collés der<br />

französischen Kubisten wären ohne <strong>den</strong> Zeitungsausschnitt<br />

nicht <strong>den</strong>kbar. Aber auch Wissenschaftler fügten ganze<br />

Zeitungsausschnittsammlungen zusammen.<br />

Sammelte der Pathologe Rudolf Virchow von 1889 an<br />

hauptsächlich solche Artikel, die über ihn und das Berl<strong>in</strong>er<br />

Pathologische Museum berichteten, so sammelte der Berl<strong>in</strong>er<br />

Physiker Ernst Gehrcke <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 1919 bis 1922 alle<br />

Artikel, die sich auf die Relativitätstheorie und Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong><br />

bezogen. Eigenen Aussagen zufolge waren es über 5.000<br />

Artikel, die er durch mehrere Zeitungsausschnittbüros bezog


Freitag 16 - Nichts ist so aktuell wie die Zeitung von gestern<br />

und nach Erhalt <strong>in</strong> selbstgefertigte, fa<strong>den</strong>geheftete Bände<br />

e<strong>in</strong>klebte. Dem an der Physikalisch Technischen Reichsanstalt<br />

tätigen Physiker kam es darauf an nachzuweisen, dass diese<br />

Art der theoretischen Physik nicht wirklich etwas Neues<br />

darstelle. Vor allem aber kritisierte er die Begeisterung der<br />

Öffentlichkeit, die nicht etwa von e<strong>in</strong>em Verständnis der<br />

Materie herrühre, als vielmehr e<strong>in</strong>e "Massenhysterie" darstelle.<br />

Die zahlreichen ausgeschnittenen Artikel dienten ihm dazu,<br />

diese "Massensuggestion" Stück für Stück nachzuweisen. Zum<br />

Teil hatte Gehrcke damit wirklich e<strong>in</strong> Phänomen des<br />

Massenmediums Zeitung festgehalten, <strong>den</strong>n die<br />

Berichterstattung über Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>e Entdeckungen<br />

nahmen durchaus groteske Züge an. Zum anderen aber<br />

<strong>in</strong>s<strong>in</strong>uierte Gehrcke mit se<strong>in</strong>en Schriften, dass E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> diese<br />

Art der öffentlichen Repräsentanz selbst befördere und las die<br />

Artikel nicht als gefärbte Darstellung, sondern als e<strong>in</strong>e objektive<br />

Berichterstattung. Damit tappte der Kritiker selbst <strong>in</strong> die Falle<br />

des Mediums Zeitung.<br />

Die Physiognomie des Papiers<br />

Ziel war es, wie Gehrcke selbst schrieb, e<strong>in</strong>e<br />

Tatsachensammlung zusammenzustellen. Der<br />

Zeitungsausschnitt lieferte ihm Informationen, die erst nach<br />

dem Gesetz der großen Zahl an Bedeutung gew<strong>in</strong>nen konnten.<br />

Gehrcke verlieh dem e<strong>in</strong>zelnen, nur für <strong>den</strong> Tag gelten<strong>den</strong><br />

Zeitungsausschnitt Bedeutung, <strong>in</strong>dem er ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe mit<br />

anderen stellte und damit e<strong>in</strong>e positivistische Sammlung von<br />

Daten anlegte. Anders als <strong>in</strong> der Erzählung Der Hund von<br />

Baskerville, wo der e<strong>in</strong>zelne Artikel und se<strong>in</strong>e materiale Spur<br />

zum Ereignis zurückführen sollen und Teil se<strong>in</strong>er<br />

Rekonstrukion s<strong>in</strong>d, fügte Gehrcke aus mehreren Perspektiven<br />

das mediale Ereignis E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> zusammen. War<br />

Krim<strong>in</strong>alkommissar Braun darum bemüht, <strong>den</strong> Artikel wieder zu<br />

se<strong>in</strong>em Ursprung zurückzuverfolgen, so löste Gehrcke ihn aus<br />

dem Zusammenhang der Zeitungsseite und überführte ihn <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en neuen Kontext, der neues Wissen generierte.<br />

Der Zeitungsausschnitt kann e<strong>in</strong> zu I<strong>den</strong>tifikationszwecken<br />

dienendes Objekt, aber auch Repräsentant e<strong>in</strong>er<br />

epistemologischen Technik se<strong>in</strong>, die gleichsam statistisch aus<br />

der Menge der Daten das verme<strong>in</strong>tlich Tatsächliche ermittelt.<br />

Und <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Fällen zeigen sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Papierstücken die<br />

Physiognomien der sie bearbeiten<strong>den</strong> Personen. Wenn das


Freitag 16 - Nichts ist so aktuell wie die Zeitung von gestern<br />

Detail e<strong>in</strong> Zeitungsausschnitt se<strong>in</strong> kann, dann steckt der liebe<br />

Gott nicht im Inhalt des Artikels, sondern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Rändern<br />

und Kanten.<br />

Dr. Anke te Heesen ist wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong> am <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong><br />

für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> Berl<strong>in</strong>. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zur<br />

wissenschaftlichen Bedeutung des Sammelns.<br />

Die Abbildungen auf dieser Seite s<strong>in</strong>d dem Buch cut and paste um 1900. Der<br />

Zeitungsausschnitt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Wissenschaften ( KALEIDOSKOPIEN, Bd. 4, Berl<strong>in</strong><br />

2002) entnommen


7. April 2004<br />

Aktuell Feuilleton Nachrichten<br />

Wissenschaftsdebatte<br />

Für e<strong>in</strong>e Forschung mit Sozialb<strong>in</strong>dung<br />

Von Christian Schwägerl<br />

31. März 2004 Den masch<strong>in</strong>enstürmen<strong>den</strong> Ludditen kann man zugute<br />

halten, daß sie sich gegen ihre eigene Wegrationalisierung gewehrt haben.<br />

Greenpeace dagegen geht es darum, mit der irrationalen Angst vor der<br />

Gentechnik Geld zu verdienen. Die Organisation hat nun zum wiederholten<br />

Mal, diesmal im sachsen-anhaltischen Bernburg, Versuchsfelder für<br />

gentechnisch veränderte Pflanzen unbrauchbar gemacht.<br />

Synchron wer<strong>den</strong> Postkarten verteilt, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en als bestes Mittel gegen<br />

"Gift und Gentechnik" die angeblich geme<strong>in</strong>nützige, sicher aber<br />

steuerabzugsfähige Spende empfohlen wird. Wer ist dazu <strong>in</strong> der Lage, <strong>den</strong><br />

Markterfolg der Angst<strong>in</strong>dustrie, zu deren Produktpalette die<br />

Wissenschaftsfe<strong>in</strong>dlichkeit gehört, e<strong>in</strong>zudämmen<br />

Die Fundamente der modernen Biologie h<strong>in</strong>terfragen<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich nicht die <strong>in</strong>novationsselige rot-grüne Bundesregierung,<br />

deren Kanzler sich jeder sachlichen Diskussion über Wissenschaft entzieht<br />

und sich statt dessen mit überbezahlten Konzernlenkern als<br />

"Innovationsräten" schmückt, deren Forschungsm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> <strong>in</strong> kulturloser<br />

Weise Wissenschaft auf das verkürzen will, was "Fortschritt und Arbeit<br />

schafft" und <strong>den</strong> Deutschen mit dem Dampfhammer "Innovation"<br />

e<strong>in</strong>bleuen will. In dieser Art läßt sich vielleicht die Cebit bestreiten, aber<br />

sicher nicht der Streit um die wissenschaftliche und technologische


Erschließung des Lebens. Hoffnung kommt, man staune, aus Brüssel. Die<br />

E<strong>in</strong>sicht, daß "Innovation" und "Wissenschaftsbegeisterung" sich nicht<br />

propagieren lassen, sondern e<strong>in</strong>es soli<strong>den</strong> gesellschaftlichen Fundaments<br />

bedürfen, hat erstmals ausgerechnet jene Mega-Bürokratie erkennen<br />

lassen, der sonst wenig Kreativität, gar Reflexionsfähigkeit attestiert wird.<br />

Im wunderbaren Palazzo Ducale <strong>in</strong> Genua setzte die EU-Kommission zum<br />

dialektischen Rückschritt an. Um dem Ziel näherzukommen, Europa bis<br />

2010 zur führen<strong>den</strong> Wissensgesellschaft der Welt zu entwickeln, ließ<br />

Forschungskommissar Busqu<strong>in</strong> nicht Propagandamaterial pro Bioforschung<br />

verteilen, sondern zahlreiche führende Vertreter aus Geistes-, Sozial- und<br />

Naturwissenschaft zusammenkommen, um <strong>in</strong> radikaler Manier die<br />

Fundamente der modernen Biologie zu h<strong>in</strong>terfragen: Ist ihr<br />

Fortschrittsglaube überhaupt angebracht Ist ihre reduktionistische<br />

Methodik <strong>den</strong> Lebensphänomenen angemessen Paßt ihr revolutionäres<br />

Potential zur Demokratie<br />

Gegen plumpe Fortschrittsrhetorik<br />

Solche Fragen s<strong>in</strong>d auf dieser politischen Ebene wohl noch nie thematisiert<br />

wor<strong>den</strong>. Es ergebe ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, der Öffentlichkeit stets neue Technologien<br />

zu präsentieren, sagten die EU-Vertreter, vielmehr gelte es, die Fähigkeit<br />

zur Selbsth<strong>in</strong>terfragung zu beweisen und die Europäer zur<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung darüber anzuregen, was sie von der Wissenschaft<br />

erwarteten. Der Präsi<strong>den</strong>t der Deutschen Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft, Ernst-<br />

Ludwig W<strong>in</strong>nacker, scheute sich nicht, das Wort "Asilomar" zu<br />

gebrauchen, also jene Konferenz zu loben, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> siebziger Jahren die<br />

Selbstkritik der Biologie symbolisierte.<br />

Schon der wissenschafts<strong>in</strong>terne Dialog der verschie<strong>den</strong>en Diszipl<strong>in</strong>en über<br />

Fortschrittsglauben, Reduktionismus und Demokratiefähigkeit der Biologie<br />

stellte sich <strong>in</strong>des als äußerst schwierig heraus - aber zugleich als äußerst<br />

fruchtbar. Mit Axel Kahn und Gilbert Hottois forderten e<strong>in</strong> Gentechniker<br />

und e<strong>in</strong> Philosoph geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>e Art Sozialb<strong>in</strong>dung des<br />

biowissenschaftlichen Voranschreitens, das im Dienst der menschlichen<br />

Solidarität und der Entwicklung armer Länder stehen müsse. Der Franzose<br />

Kahn tat dies nach e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Philosophierevue - ausgehend von der<br />

Kritik an Sokrates, der mit se<strong>in</strong>er Gleichsetzung von Wahrheitsf<strong>in</strong>dung und<br />

der Vermehrung des Guten nicht ganz recht gehabt habe. Ergo: Der<br />

Biologie kann auch Übles entwachsen. Der Belgier Hottois tat dies,<br />

nachdem er Hans Jonas' Vorsorgeethik als "prämodern" verurteilt und die<br />

Expedition <strong>in</strong> die biotechnologische Postmoderne ausdrücklich empfohlen<br />

hatte. Mit plumper Fortschrittsrhetorik, so die Botschaft der Sitzung,<br />

komme niemand weiter.<br />

Die "Symmetrie der Ignoranz" überw<strong>in</strong><strong>den</strong>


Vorsichtig klang sodann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Runde mit dem Genetiker Cavalli-Sforza,<br />

dem Neurobiologen Rose und dem Wissenschaftshistoriker Rhe<strong>in</strong>berger<br />

die Hoffnung an, daß die Wissenschaft selbst sich vom Ruch des<br />

Symbolworts "Gen" befreien könne, <strong>in</strong>dem sie die ganze Komplexität des<br />

Lebens versteht - durch das, was neuerd<strong>in</strong>gs Systembiologie genannt<br />

wird. Nachdem die Welt reduktionistisch <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelteile zerlegt ist, beg<strong>in</strong>nt<br />

nun die Phase des Zusammenbauens der Puzzleteile zu e<strong>in</strong>em Gesamtbild<br />

vom Leben. Simplistischer Gendeterm<strong>in</strong>ismus, der je<strong>den</strong> Menschen<br />

verschrecken müsse, werde dadurch vielleicht abgelöst.<br />

Der größte Dissens herrschte, nachdem der britische Biologe Lewis<br />

Wolpert Geisteswissenschaft und Bioethik für überflüssig und die<br />

Naturwissenschaft für ethisch neutral erklärt hatte. Mit dieser Sicht werde<br />

man sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Demokratie verstolpern, warnte der<br />

Biodiversitätsspezialist Klaus Ammann, Direktor des Berner Botanischen<br />

Gartens und langjähriger Fürsprecher der Agrar-Gentechnik. Er forderte<br />

e<strong>in</strong>e "beschei<strong>den</strong>ere", gar "demütige" Naturwissenschaft. Nur so lasse sich<br />

die "Symmetrie der Ignoranz" überw<strong>in</strong><strong>den</strong>, die das Verhältnis von<br />

Gesellschaft und Bioforschung kennzeichne.<br />

In Genua s<strong>in</strong>d die Umrisse e<strong>in</strong>er europäischen Wissenschaftsdebatte<br />

sichtbar gewor<strong>den</strong>. In Berl<strong>in</strong> und Bernburg die Umrisse e<strong>in</strong>es<br />

dreißigjährigen Stellungskriegs.<br />

Text: Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung, 31.03.2004, Nr. 77 / Seite 35<br />

Bildmaterial: Genova-2004<br />

© F.A.Z. Electronic Media GmbH 2001 - 2004<br />

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Tagesspiegel Onl<strong>in</strong>e : Wissen & Forschen<br />

Freitag, 12.03.2004<br />

Aktuell<br />

12.03.2004<br />

E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s doppelte Party<br />

Nach dem 125. Geburtstag feiern wir 100 Jahre Relativitätstheorie<br />

An diesem Wochenende feiert die Stadt Ulm Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s 125. Geburtstag.<br />

Ke<strong>in</strong> rundes Jubiläum, aber immerh<strong>in</strong> erblickte E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> hier <strong>in</strong> der<br />

Bahnhofstraße B135 am 14. März 1879 das Licht der Welt. „Zum<br />

Geborenwer<strong>den</strong> ist das Haus recht hübsch“, schrieb E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> später an <strong>den</strong><br />

Sohn des damaligen Hausbesitzers. „Denn bei dieser Gelegenheit hat man noch<br />

ke<strong>in</strong>e so großen ästhetischen Bedürfnisse, sondern man brüllt se<strong>in</strong>e Lieben<br />

zunächst e<strong>in</strong>mal an, ohne sich viel um Gründe und Umstände zu kümmern.“<br />

Darum kümmert man sich <strong>in</strong> Ulm nun um so mehr, würdigt <strong>den</strong> weltberühmten<br />

Physiker mit e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Tagung, E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Ausstellungen, e<strong>in</strong>er<br />

E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Oper und e<strong>in</strong>em Festakt, an dem auch Bundespräsi<strong>den</strong>t Rau teilnimmt.<br />

In Berl<strong>in</strong> und Bran<strong>den</strong>burg hätte man durchaus mehr Grund, des Physikers zu<br />

ge<strong>den</strong>ken. Hier lag E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> nicht nur e<strong>in</strong> paar Monate <strong>in</strong> der Wiege. Es ist die<br />

Region, <strong>in</strong> die er 1914 übersiedelte und die er erst nach der Machtübernahme<br />

der Nationalsozialisten wie viele andere exzellente Wissenschaftler wieder<br />

verließ. Aber abgesehen von dem e<strong>in</strong>en oder anderen Vortrag zu E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Werk<br />

bleibt es hier seltsam still.<br />

Es ist die Ruhe vor dem großen Jubiläum, das erst noch <strong>in</strong>s Haus steht: 2005<br />

wer<strong>den</strong> wir auf 100 Jahre Relativitätstheorie zurückblicken, auf E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s<br />

„Wunderjahr“, <strong>in</strong> dem er gleich vier se<strong>in</strong>er bahnbrechen<strong>den</strong> physikalischen<br />

Arbeiten schrieb. E<strong>in</strong>e große Ausstellung von März bis September im Berl<strong>in</strong>er<br />

Kronpr<strong>in</strong>zenpalais wird dann das Herzstück der Feierlichkeiten se<strong>in</strong>. Sie wird<br />

vom Bundesforschungsm<strong>in</strong>isterium großzügig unterstützt. Alle<strong>in</strong> das Land Berl<strong>in</strong><br />

ist mit der f<strong>in</strong>anziellen Förderung noch h<strong>in</strong>terher, obschon die Vorbereitung<br />

bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wichtige Phase getreten ist.<br />

<strong>Das</strong> E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Jahr ist für Berl<strong>in</strong> und Bran<strong>den</strong>burg e<strong>in</strong>e große Chance. Berl<strong>in</strong> war<br />

die Wissenschaftsstadt der 20er Jahre. Und E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> steht wie ke<strong>in</strong> anderer<br />

Forscher für diese Zeit, an die das E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Jahr anknüpfen wird, um die<br />

Wissenschaft im öffentlichen Bewusstse<strong>in</strong> stärker zu verankern.<br />

Etliche <strong>in</strong>ternationale Wissenschaftsorganisationen stellen sich geme<strong>in</strong>sam<br />

dieser Aufgabe. Denn auch wenn E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Garant für e<strong>in</strong> großes öffentliches<br />

Interesse ist, „er steht zugleich für e<strong>in</strong>e der schwierigsten wissenschaftlichen<br />

Theorien“, wie Jürgen Renn, Direktor am Berl<strong>in</strong>er <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für<br />

Wissenschafsgeschichte, <strong>in</strong> dieser Woche bei e<strong>in</strong>em Vortrag <strong>in</strong> der Urania<br />

unterstrich, e<strong>in</strong>em Ort, <strong>den</strong> auch E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> sehr schätzte.


Tagesspiegel Onl<strong>in</strong>e : Wissen & Forschen<br />

Die Relativitätstheorie hat unsere Vorstellungen von Raum und Zeit zweimal<br />

grundlegend verändert: 1905 und 1915. Sie besagt unter anderem, dass<br />

bewegte Uhren langsamer gehen oder dass auch Licht e<strong>in</strong>e Masse hat und zum<br />

Beispiel im Schwerefeld der Sonne abgelenkt wird. Als der Nachweis dieser<br />

Lichtablenkung 1919 gelang, wurde E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> über Nacht zum Weltstar.<br />

Es wird nicht leicht se<strong>in</strong>, dem Publikum näher zu br<strong>in</strong>gen, wie Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> zu<br />

diesen Erkenntnissen gelangte. Es wird auch nicht möglich se<strong>in</strong>, E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fach<br />

nach Berl<strong>in</strong> zurückzuholen. Bei <strong>den</strong> E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Feierlichkeiten wird man vielmehr<br />

reflektieren müssen, wie problematisch Berl<strong>in</strong>s und Deutschlands Verhältnis zu<br />

E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> lange Zeit war.<br />

In Ulm dreht sich <strong>in</strong> der kommen<strong>den</strong> Woche bei der Physikertagung vieles um<br />

die Quantenphysik, um schwarze Löcher und die dunkle Energie, sprich: um das<br />

Fortschreiben von E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Werk <strong>in</strong> der modernen Wissenschaft. Berl<strong>in</strong> und<br />

Bran<strong>den</strong>burg wer<strong>den</strong> im kommen<strong>den</strong> Jahr mit eigenen Akzenten e<strong>in</strong> noch<br />

breiteres Publikum anzusprechen versuchen. Wir dürfen gespannt se<strong>in</strong>! Thomas<br />

de Padova<br />

1995 - 2004 © Verlag Der Tagesspiegel GmbH


DIE ZEIT<br />

12/2004<br />

Wo ist E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Denkorgan<br />

Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner betreibt <strong>in</strong> Zürich Elitegehirnforschung<br />

Von Kai Michel<br />

<strong>Das</strong> ist schon starker Tobak, was Michael Hagner se<strong>in</strong>en Stu<strong>den</strong>ten bietet. E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Gehirn heißt der Film,<br />

<strong>den</strong> der Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich zum Abschluss des Semesters vorführt. Der<br />

Filmemacher begleitet Kenji Sugimoto, e<strong>in</strong>en japanischen Professor, auf der Suche nach dem Gehirn se<strong>in</strong>es<br />

großen Idols. E<strong>in</strong> Dr. Thomas Harvey soll es dem toten E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> 1955 <strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>ceton entnommen haben.<br />

Seitdem ist es verschwun<strong>den</strong>, Sugimoto und der Film machen sich auf die Suche.<br />

Gebannt folgen die Stu<strong>den</strong>ten dem Streifen, auch wenn sie nicht recht wissen, was sie davon halten sollen. Ist<br />

das e<strong>in</strong> ironischer Kommentar auf <strong>den</strong> bevorstehen<strong>den</strong> Rummel um E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s 125. Geburtstag am 14. März<br />

Oder nur der kuriose Abschluss von Hagners Vorlesungsreihe Gehirn und Geist Um dessen Vorliebe für<br />

Geniale Gehirne weiß man ja. So heißt schließlich se<strong>in</strong> neues Buch, das demnächst bei Wallste<strong>in</strong> ersche<strong>in</strong>en<br />

wird und das der Geschichte der so genannten Elitegehirnforschung gewidmet ist jenen wissenschaftlichen<br />

Unternehmungen, deren Ziel es war, <strong>den</strong> Geist e<strong>in</strong>es Genies <strong>in</strong> der blumenkohlgroßen Masse namens Gehirn<br />

zu lokalisieren.<br />

Ab und an fällt e<strong>in</strong> fragender Blick auf Michael Hagner. Der kann sich das Lachen nicht verkneifen. Wissen<br />

Sie, wo E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Gehirn ist, fragt Sugimoto je<strong>den</strong>, dem er begegnet. In Kansas City wird er fündig. Der<br />

greise Thomas Harvey kramt drei E<strong>in</strong>machgläser hervor: E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Gehirn, zerteilt <strong>in</strong> handliche Würfel. Ob er<br />

vielleicht e<strong>in</strong> Stückchen haben dürfte, stammelt Sugimoto. Warum nicht, sagt Harvey und fischt e<strong>in</strong>en<br />

Brocken heraus. Er schneidet etwas ab und steckt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Pillendose. Hirnstamm mit Kle<strong>in</strong>hirn, bitte<br />

sehr.<br />

E<strong>in</strong> Stu<strong>den</strong>t ist empört. Wie dieser Harvey mit dem Gehirn umg<strong>in</strong>g: völlig unprofessionell! Mit e<strong>in</strong>em<br />

Brotmesser daran herumzusäbeln! E<strong>in</strong>e Kommiliton<strong>in</strong> beschwichtigt: <strong>Das</strong> war doch ke<strong>in</strong> Dokumentarfilm.<br />

Hagner lauscht aufmerksam der Diskussion. Es ist se<strong>in</strong>e erste Vorlesung hier <strong>in</strong> Zürich. Acht Jahre lang hat er<br />

am Berl<strong>in</strong>er <strong>Max</strong>−<strong>Planck</strong>−<strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> verbracht. E<strong>in</strong>e wunderbare <strong>Institut</strong>ion! Man<br />

forscht da mit hundert anderen Wissenschaftshistorikern, und ständig kommen kluge Leute aus Paris,<br />

Cambridge oder Harvard vorbei, erzählt der 44−jährige Hagner später. Aber e<strong>in</strong> bisschen ist es da eben auch<br />

wie im Elfenbe<strong>in</strong>turm. Hier <strong>in</strong> Zürich, das ist ihm anzusehen, genießt er <strong>den</strong> Kontakt mit <strong>den</strong> jungen<br />

Stu<strong>den</strong>ten.<br />

Die wollen nun vom Professor endlich wissen, ob der Film e<strong>in</strong>e Satire oder e<strong>in</strong>e Dokumentation ist. Okay,<br />

sagt Hagner. Zögert, beugt sich etwas vor, Sugimoto ist Fiktion. Dann richtet er sich auf: Der ganze Rest<br />

aber, der ist wahr. Harvey hat E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Gehirn tatsächlich über 40 Jahre bei sich zu Hause gehortet, ohne<br />

viel mehr damit anzufangen, als es <strong>in</strong> Würfel zu schnei<strong>den</strong>. Wie Oskar Vogt das mit Len<strong>in</strong>s Hirn gemacht<br />

hat, wirft e<strong>in</strong>e Stu<strong>den</strong>t<strong>in</strong> e<strong>in</strong>. Davon war <strong>in</strong> der Vorlesung bereits die Rede. Der deutsche Hirnanatom hatte<br />

das Gehirn des russischen Revolutionärs <strong>in</strong> 30000 Scheiben geschnitten und geglaubt, dessen ausgeprägte<br />

Pyrami<strong>den</strong>zellen <strong>in</strong> der dritten Hirnr<strong>in</strong><strong>den</strong>schicht prädest<strong>in</strong>ierten Len<strong>in</strong> zum Assoziationsathleten. Im<br />

neurowissenschaftlichen Kontext der 1920er Jahre, erklärt Hagner, war das umstritten, aber ke<strong>in</strong>esfalls<br />

DIE ZEIT 1


DIE ZEIT − Wo ist E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Denkorgan<br />

irrational. Was Harvey h<strong>in</strong>gegen tat, ist wissenschaftlich ganz ohne S<strong>in</strong>n, ist bloße Imitation.<br />

Hagner weiß, wovon er spricht. Er hat selbst <strong>in</strong> der Hirnforschung gearbeitet. Als Sohn e<strong>in</strong>es Psychiaters und<br />

Neurochirurgen studierte er Mediz<strong>in</strong> und Philosophie. Weil es ihn vor der Arbeit im Krankenhaus grauste <br />

e<strong>in</strong>e neofeudale Anstalt! , forschte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neurophysiologischen Labor der FU Berl<strong>in</strong> und widmete<br />

se<strong>in</strong>e Dissertation der Geschichte der Sehtheorien. Damit betrat er <strong>den</strong> Weg, der ihn zu e<strong>in</strong>em<br />

Wissenschaftshistoriker von Rang wer<strong>den</strong> ließ. Und der ihn im vergangenen Sommer an die ETH führte, die<br />

vielen als e<strong>in</strong>zige kont<strong>in</strong>entale Hochschule gilt, die es mit <strong>den</strong> amerikanischen Spitzenuniversitäten<br />

aufnehmen kann.<br />

Geist <strong>in</strong> der Hirnw<strong>in</strong>dung<br />

Der Kult um E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Gehirn ist <strong>in</strong> Hagners Augen der vielleicht skurrilste Auswuchs jener<br />

wissenschaftlichen Praxis, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen 200 Jahren versuchte, das Unfassbare der menschlichen<br />

Kreativität <strong>in</strong> der Materie handfest zu machen. Erst glaubte man, e<strong>in</strong> geniales Gehirn sei besonders groß und<br />

schwer. Dann, dass se<strong>in</strong>e zerebralen W<strong>in</strong>dungen außeror<strong>den</strong>tlich ausgeprägt seien. Schließlich machte man,<br />

wie Oskar Vogt, die Größe und Dichte bestimmter Hirnzellen für extraord<strong>in</strong>äre Intelligenz verantwortlich.<br />

Nicht nur der dauerhafte Misserfolg desavouierte solche Forschungen. Nach 1945, so Hagner, avancierte die<br />

technizistische Vorstellung vom Gehirn als Schaltzentrale, ja als Computer, zum neuen Leitbild der<br />

Hirnforscher. Man <strong>in</strong>teressierte sich nun für die Funktion, das Verarbeiten von Informationen, und nicht<br />

mehr für die organische Struktur, wenn es um die Intelligenz g<strong>in</strong>g.<br />

Was diesen Paradigmenwechsel überlebte, ist die Aura des Genies, die dem Gehirn wie e<strong>in</strong>er Reliquie<br />

anhaftet. Dieser Aura s<strong>in</strong>d Harvey und Sugimoto verfallen. So etwas passiert aber nicht nur im fernen<br />

Amerika. Immer mal wieder, erzählt Hagner, wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> der Gött<strong>in</strong>ger Pathologie Mathematiker vorstellig und<br />

ließen sich geme<strong>in</strong>sam mit <strong>den</strong> dort e<strong>in</strong>gelegten grauen Zellen ihres großen Meisters Carl Friedrich Gauß<br />

fotografieren. Die Stu<strong>den</strong>ten lachen. Und 1998 schob man Gauß Gehirn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Magnetresonanz−Tomografen. Angeblich bloß zur Datensicherung. Hagner wünscht schöne Semesterferien.<br />

Anatomie e<strong>in</strong>es Mörders<br />

Am nächsten Tag <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Büro erzählt Michael Hagner strahlend von der Arbeit <strong>in</strong> Zürich. Es geht ihm gut<br />

an der ETH. Der Lehrstuhl ist wunderbar ausgestattet, die bürokratischen Wege s<strong>in</strong>d kurz: Wofür man sonst<br />

drei Anträge schreiben müsste, das ist hier mit e<strong>in</strong>em Anruf erledigt. Um die <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> <strong>in</strong><br />

Deutschland h<strong>in</strong>gegen steht es schlecht. Ihre Lehrstühle fallen <strong>den</strong> grassieren<strong>den</strong> Kürzungen zum Opfer.<br />

Daran ist, nach Hagners Me<strong>in</strong>ung, das Fach nicht unschuldig. Viel zu lange traten dessen Professoren nur <strong>in</strong><br />

Ersche<strong>in</strong>ung, wenn e<strong>in</strong> runder Forschergeburtstag anstand. Tragisch ist das für e<strong>in</strong>e junge Generation, die<br />

versuche, <strong>den</strong> Anschluss an die <strong>in</strong>ternationale Forschung zu vollziehen. Vielen bleibe nur e<strong>in</strong>s: Sie gehen <strong>in</strong>s<br />

Ausland.<br />

Hagner selbst sieht sich nicht als Exilanten. Ich hatte e<strong>in</strong>e Lebensstelle am MPI. Und e<strong>in</strong>en Ruf aus<br />

Bielefeld. Der konnte jedoch mit dem <strong>in</strong> die Schweiz nicht konkurrieren. An der ETH unterrichtet er zudem<br />

angehende Naturwissenschaftler und kann ihnen das vermitteln, was ihm besonders am Herzen liegt und<br />

was er gern <strong>in</strong> Zeitungsartikeln propagiert: Naturwissenschaftler sollten sich ihrer eigenen Geschichte bewusst<br />

se<strong>in</strong>, und das heißt auch der eigenen Fehlbarkeit.<br />

Es ist e<strong>in</strong> merkwürdiges Phänomen, dass <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen 300 Jahren bei jedem massiven<br />

naturwissenschaftlichen Innovationsschub sogleich e<strong>in</strong> neues Weltbild am Horizont heraufzieht, das sich bald<br />

als nur begrenzt tragfähig erweist, schrieb Michael Hagner vor drei Jahren <strong>in</strong> der ZEIT (Nr. 4/01). Als er<br />

jetzt die Ehre hatte, auf dem ETH−Tag die Festrede zu halten, regte er an, man solle doch e<strong>in</strong>mal die<br />

DIE ZEIT 2


DIE ZEIT − Wo ist E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Denkorgan<br />

wissenschaftlichen Zukunftsszenarien der letzten Jahrzehnte auf ihren prognostischen Wert h<strong>in</strong> abklopfen <br />

und zugleich prüfen, welche Wirkung sie hatten, etwa bei der Bewilligung von Forschungsgeldern.<br />

Hagner ist e<strong>in</strong> streitbarer Kopf, der <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzungen stets liebenswürdig bleibt. Er freut sich auf <strong>den</strong><br />

Dialog mit <strong>den</strong> Kollegen an der ETH. Die lassen sich hier nämlich nicht alles erzählen, sagt er lächelnd<br />

und schiebt e<strong>in</strong> Buch über <strong>den</strong> Tisch. E<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>−Bildband, herausgegeben von niemand anderem als<br />

Kenji Sugimoto, Professor für Geschichte der Mathematik und Physik <strong>in</strong> Osaka. Es gibt ihn also wirklich!<br />

Ich war baff, als ich das vorh<strong>in</strong> bekam, sagt Hagner. E<strong>in</strong> Mitarbeiter, dem der Film ke<strong>in</strong>e Ruhe gelassen<br />

hatte, trieb <strong>den</strong> Band auf. Pe<strong>in</strong>lich! Ich hätte besser recherchieren müssen. Doch dieser Fetischzauber um<br />

E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Gehirn ist mir e<strong>in</strong>fach zuwider.<br />

Denn solche kuriosen Geschichten bestimmten bisher die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Elitegehirnen: Stets wird<br />

kolportiert, dass Turgenjews Zerebralorgan über vier Pfund gewogen habe, während Anatole France es mit<br />

der Hälfte zum Literatur−Nobelpreisträger brachte, sagt Hagner. Er will <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch zeigen, dass die<br />

Beschäftigung mit Gehirnen außergewöhnlicher Persönlichkeiten nie e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> wissenschaftliche war. Sie<br />

besaß immer e<strong>in</strong>e politische Dimension: Ob es um weltanschauliche Ause<strong>in</strong>andersetzungen um <strong>den</strong><br />

Materialismus im 19. Jahrhundert g<strong>in</strong>g oder um eugenische Fragen der Elitezüchtung nach 1900, sagt<br />

Hagner, solche Kontroversen bestimmten immer auch die Arbeit der Hirnforscher.<br />

<strong>Das</strong>s dieses Thema auch heute nicht erledigt ist, dafür steht der vor gut zwei Jahren bekannt gewor<strong>den</strong>e Fall<br />

Ulrike Me<strong>in</strong>hof: Um ihre terroristischen Aktivitäten zu erklären, verglich man ihr Gehirn, das e<strong>in</strong>e<br />

pathologische Veränderung aufwies, mit dem des Massenmörders Ernst Wagner. Zweifelsohne war hier<br />

politisches Kalkül am wissenschaftlichen Werk.<br />

Jetzt aber will Hagner endlich wissen, ob <strong>in</strong> dem Film wirklich Sugimoto selbst auftrat oder ob es sich doch<br />

um e<strong>in</strong>e Satire handelt. Er eilt h<strong>in</strong>ab <strong>in</strong> <strong>den</strong> Sem<strong>in</strong>arraum, die ehemalige Schalterhalle e<strong>in</strong>er<br />

Crédit−Suisse−Filiale. Er spult das Video vor. I love Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, murmelt Sugimoto. Doch weder Intro<br />

noch Abspann nennen se<strong>in</strong>en Namen. Immerh<strong>in</strong>: Thomas Harvey ist echt, wird genannt. Ke<strong>in</strong> Schauspieler.<br />

Vielleicht hilft das Internet. Die Encyclopedia Obscura zeigt nur Bilder aus dem Film. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong><br />

Schauspieler. Darauf verwette ich me<strong>in</strong> Hemd! Hagner klickt weiter. Sieh mal an: Sugimoto kommt nach<br />

Deutschland! Auf der Ulmer Tagung zum 125. Geburtstag des Nobelpreisträgers spricht er über E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> und<br />

die japanische Kunst. Ob er se<strong>in</strong> Idol gleich mitbr<strong>in</strong>gt<br />

Hagner greift zum Telefon. E<strong>in</strong> Kollege vom Berl<strong>in</strong>er MPI organisiert die Tagung. Und der kennt Sugimoto<br />

tatsächlich persönlich. Gib mal <strong>in</strong> Google e<strong>in</strong>: E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>, Bra<strong>in</strong>, Sugimoto, sagt Hagner, und geh dann auf<br />

Bildsuche. Siehst du die Filmfotos Stille. <strong>Das</strong> ist Sugimoto selbst Wirklich Ich fasse es nicht! Hagner<br />

mag gar nicht aufhören zu lachen. Ich schreibe me<strong>in</strong>en Stu<strong>den</strong>ten jetzt erst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e E−Mail, sagt er.<br />

Um mich zu entschuldigen. Und damit sie sehen: Nichts ist absurder als die Realität!<br />

DIE ZEIT 3


10.03.2004 11:49 Uh<br />

Sonntagszeitung Wissenschaft Erkenntnis und Interesse<br />

Warum heißt die Sirene Sirene<br />

Ke<strong>in</strong> Klang ohne Körper: <strong>Das</strong> Schöne war <strong>in</strong> der<br />

Geschichte des akustischen Geräts nur des Schrecklichen<br />

Anfang.<br />

Von Jürgen Kaube<br />

Die Sirenen, heißt es <strong>in</strong> der "Odyssee", bezaubern alle,<br />

die sie hören. Wer an ihrem Felsen vorbeisegelt, fährt,<br />

durch ihren Gesang verwirrt, auf das tödliche Riff. Die<br />

Antike hat sich diese Wesen als Mischart zwischen Vogel<br />

und Mensch vorgestellt, das Mittelalter mehr als Nixen.<br />

E<strong>in</strong>e Sirene war etwas, das man lebendigen Leibes nur<br />

hören, aber nicht lange sehen kann. Man dachte sich<br />

ihren Gesang als schön.<br />

Eigenartigerweise gaben sie viel später ihren Namen für<br />

Geräuschmasch<strong>in</strong>en her, deren Töne weniger lockend als<br />

warnend empfun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>. Im Zweiten Weltkrieg<br />

wurde die Sirene zum Accessoire von Kampfflugzeugen.<br />

Deren Sturzflug ließ Luft <strong>in</strong> ihr Inneres, wodurch e<strong>in</strong><br />

ohrenbetäubender kont<strong>in</strong>uierlicher Lärm entstand. Die<br />

Tonhöhe schraubte sich zudem ständig nach oben, weil<br />

e<strong>in</strong>e Klangquelle, die <strong>in</strong> die Richtung ihrer eigenen<br />

Geräuschabsonderung bewegt wird, die Ohren <strong>in</strong> immer<br />

kürzeren Abstän<strong>den</strong> mit Schallwellen versorgt: Von Ernst<br />

Mach stammt der Satz, wenn man e<strong>in</strong>en auf E-Dur<br />

gestimmten Chor aus großer Höhe fallen ließe, würde<br />

man ihn am Bo<strong>den</strong> <strong>in</strong> F-Dur hören.<br />

Zwei wissenschaftsgeschichtliche Studien s<strong>in</strong>d jetzt der<br />

Bedeutung nachgegangen, die Sirenen als<br />

Klangapparate für die moderne Akustik hatten. Erfun<strong>den</strong><br />

wurde die moderne Sirene danach vom französischem<br />

Baron Charles Cagnaird de la Tour 1819. <strong>Das</strong> durch ihn<br />

entdeckte Pr<strong>in</strong>zip ist e<strong>in</strong>fach: In e<strong>in</strong>em Zyl<strong>in</strong>der sitzt e<strong>in</strong>e<br />

kreisförmig durchlöcherte Scheibe, die gedreht wird,<br />

wobei die Löcher am Rand an e<strong>in</strong>er Luftquelle<br />

vorbeikommen und also kurz h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander jeweils<br />

durch e<strong>in</strong> Loch Luft strömt und im Zyl<strong>in</strong>der je nach Größe<br />

und Zahl der Löcher Geräusche erzeugt - e<strong>in</strong>e Lochkarte,<br />

die Töne von sich gibt. Als erster Apparat erzeugte die<br />

Sirene Klänge von beliebiger Dauer und immensem<br />

Oktavenumfang. In der Formulierung von de la Tour war<br />

sie Musik<strong>in</strong>strument, dessen Klangkörper die Luft selber<br />

ist, der mechanisch Stöße versetzt wer<strong>den</strong>. Dadurch wird<br />

der Ton der Sirene e<strong>in</strong>erseits der menschlichen Stimme<br />

ähnlich. Genau so aber wie später der Propellermotor<br />

der Brüder Wright die Ähnlichkeit zwischen masch<strong>in</strong>ellem<br />

Fliegen und Vogelflug reduzierte, so löste sich auch hier<br />

durch die rotierende Scheibe die Produktion von Klängen<br />

mittels Luft vom Vorbild der menschlichen<br />

Vokalerzeugung. Auch hier beweist die Kreisbewegung,<br />

daß Technik nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Verlängerung<br />

menschlicher oder tierischer Organe ist.<br />

Kaum dreißig Jahre später wird die Sirene noch auf e<strong>in</strong>e<br />

zweite Weise zum Leitobjekt e<strong>in</strong>er Ablösung des<br />

technischen Denkens vom Wahrnehmungsapparat. 1843<br />

hatte Georg Ohm vorgeschlagen, komplexe Töne als<br />

Überlagerung e<strong>in</strong>facher s<strong>in</strong>usförmiger Teilschw<strong>in</strong>gungen<br />

und also als Gemisch zwischen Grundton und Obertönen<br />

zu beschreiben. <strong>Das</strong> Ohr analysiere und filtere<br />

gewissermaßen mathematisch sauber. Die Experimente<br />

des Physikers Thomas Johann Seebeck mit Sirenen


10.03.2004 11:49 Uh<br />

zeigten h<strong>in</strong>gegen, daß auch dann, wenn man die<br />

Grundfrequenz e<strong>in</strong>es Tonspektrums durch<br />

entsprechende Manipulation an der Sirene entfernt, die<br />

wahrgenommene Tonhöhe diesselbe bleibt. Außerdem<br />

sei der Grundton im Verhältnis zu <strong>den</strong> Obertönen viel<br />

lauter, als es die Berechnungen Ohms erwarten ließen.<br />

"Wodurch aber", so Seebeck 1844, "kann über die<br />

Frage, was zu e<strong>in</strong>em Tone gehöre, entschie<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>,<br />

als eben durch das Ohr" Es müsse also e<strong>in</strong>e andere<br />

Theorie her, nach der das Ohr aus <strong>den</strong> Tönen nicht<br />

S<strong>in</strong>uskurven herausfiltere, sondern Impulse ("Stöße").<br />

Ohm h<strong>in</strong>gegen me<strong>in</strong>te, bevor er sich unwahrsche<strong>in</strong>liche<br />

Annahmen "schmerzhaft <strong>in</strong>s Ohr raunen" lasse, vermute<br />

er lieber, die Sirene habe bei Seebeck zu e<strong>in</strong>er<br />

"Gehörstäuschung" geführt.<br />

Kann der Körper trigonometrische Berechnungen<br />

durchführen Hermann von Helmholtz löste wenig später<br />

e<strong>in</strong>ige Punkte des Streits zwischen Seebeck und Ohm,<br />

<strong>in</strong>dem er sich als Physiologe das Ohr und se<strong>in</strong>e Membran<br />

genauer anschaute. Dessen Nervenbündel seien Pendel<br />

mit <strong>den</strong> Schw<strong>in</strong>gungseigenschaften e<strong>in</strong>zelner Teiltöne,<br />

das Hörorgan nehme also tatsächlich jene<br />

mathematischen Analysen vor - allerd<strong>in</strong>gs mit begrenzter<br />

Rechenkapazität. <strong>Das</strong> Experiment ist e<strong>in</strong> Fall geschärfter<br />

Wahrnehmung, weil der Wahrnehmungsapparat selber<br />

e<strong>in</strong>e Meßstation ist, die e<strong>in</strong>e Zerlegung von Reizen<br />

vornimmt, um aus ihr Schlüsse zu ziehen.<br />

<strong>Das</strong> Ohr erschien Helmholtz darum nach Maßgabe se<strong>in</strong>er<br />

eigenen Experimente als e<strong>in</strong> Gerät, <strong>in</strong> dem Stimmgabeln<br />

und Resonanzunterbrecher mit e<strong>in</strong>em Telegraphen zum<br />

Gehirn verbun<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d. Oder als Klavier, weil dessen<br />

großer Resonanzkörper geeignet ist, das auch im Ohr<br />

entschei<strong>den</strong>de Phänomen des Mitschw<strong>in</strong>gens elastischer<br />

Materie zu veranschaulichen; weil das Klavier die<br />

Obertöne gut hörbar macht; und weil man mit se<strong>in</strong>er<br />

Hilfe Klänge gut zerlegen kann. Die Plättchen der<br />

Cortischen Bögen im Innenohr entsprächen <strong>den</strong><br />

Klaviertasten, die Fasern der Membrana basilaris seien<br />

e<strong>in</strong> System gespannter Saiten. Die Technik funktioniert<br />

hier nicht wie e<strong>in</strong> Organ, sondern man stellt sich<br />

umgekehrt das Organ - wenn auch nur "irgendwie" -<br />

nach dem Bild bekannter Apparaturen vor.<br />

Die Sirene freilich eignete sich nicht dazu. E<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nbild<br />

war sie für Helmholtz nicht durch Ähnlichkeit mit dem<br />

Ohr, sondern als Produzent<strong>in</strong> absolut re<strong>in</strong>er<br />

harmonischer Intervalle, als Produzent<strong>in</strong> gewissermaßen<br />

von Sphärenklängen. Erst die Stukas haben der<br />

Vorstellung vom Himmelsklang e<strong>in</strong>en anderen Akzent<br />

gegeben.<br />

Literaturh<strong>in</strong>weis: Carol<strong>in</strong>e Welsh, "Die Sirene und das<br />

Klavier"; Philipp von Hilgers, "Sirenen. Lösungen des<br />

Klangs vom Körper", beide <strong>in</strong>: <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> Prepr<strong>in</strong>t 253: http://<br />

www.mpiwg-berl<strong>in</strong>.mpg.de / Prepr<strong>in</strong>ts / P253.PDF<br />

Text: Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e Sonntagszeitung, 07.03.2004, Nr.<br />

10 / Seite 72<br />

© F.A.Z. Electronic Media GmbH 2001 - 2004<br />

Dies ist e<strong>in</strong> Ausdruck aus www.faz.net


Une Europe d'écoles/Berl<strong>in</strong>/<strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong> <strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong><br />

Plongée dans les rac<strong>in</strong>es des sciences<br />

Par Odile BENYAHIA-KOUIDER<br />

samedi 03 janvier 2004<br />

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vec précautions, Ashley West sort les<br />

reproductions des oeuvres de Hans<br />

Burgkmair, artiste allemand du début du<br />

XVIe siècle, contempora<strong>in</strong> de Dürer. Ashley, 32<br />

ans, a fait son DEA d'histoire de l'art à Yale, aux<br />

Etats-Unis. Elle cherchait un centre susceptible<br />

de relier histoire de l'art et sciences pour son<br />

doctorat. «Mon pe<strong>in</strong>tre travaillait avant l'âge de<br />

la science, explique-t-elle. Je voulais étudier la<br />

manière dont il a reproduit les animaux, ou les<br />

voyages en Inde. C'est très rare de trouver un<br />

endroit où l'on peut travailler sur un sujet à la<br />

confluence de l'ethnographie, de l'histoire et des<br />

sciences.» Remarque confirmée par Katr<strong>in</strong><br />

Müller, 31 ans, titulaire d'un DEA d'histoire de<br />

l'art à Hambourg, qui s'est découvert une<br />

passion pour les lithographies d'astronomie et de<br />

cosmologie du Moyen Age.<br />

Les deux doctorantes ont trouvé leur bonheur à<br />

Berl<strong>in</strong>, à l'<strong>in</strong>stitut <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong> consacré à<br />

l'histoire des sciences. En mo<strong>in</strong>s de dix ans,<br />

cette <strong>in</strong>stitution a réussi à attirer les meilleurs<br />

étudiants et chercheurs de la planète.<br />

Richement dotés, les <strong>in</strong>stituts <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong> (80 à<br />

travers l'Allemagne) sont surtout dévolus aux<br />

sciences «dures» (1). Aucun <strong>in</strong>stitut n'avait<br />

jusque-là porté son attention sur l'histoire des<br />

sciences, qui fut pourtant «l'une des discipl<strong>in</strong>es<br />

re<strong>in</strong>es avant guerre», explique Lorra<strong>in</strong>e <strong>Das</strong>ton,<br />

directrice de l'un des trois départements de<br />

l'<strong>in</strong>stitut de Berl<strong>in</strong>. «L'Allemagne était adaptée<br />

pour créer un <strong>in</strong>stitut de ce type car,<br />

contrairement à la tradition française ou anglosaxonne,<br />

les Allemands ont une compréhension<br />

plus large des sciences, qui s'apparente plutôt<br />

au savoir.»<br />

Avec ses travaux sur l'orig<strong>in</strong>e des sciences et<br />

l'<strong>in</strong>terprétation des preuves scientifiques,<br />

Lorra<strong>in</strong>e <strong>Das</strong>ton est une figure de proue de la<br />

renaissance de l'histoire des sciences. Son<br />

transfert de Harvard au <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong> de Berl<strong>in</strong> a<br />

donné une aura immédiate à l'<strong>in</strong>stitution,<br />

attirant chercheurs et doctorants anglo-saxons.<br />

Ce qui peut agacer ceux qui n'aiment pas qu'on<br />

utilise l'anglais comme l<strong>in</strong>gua franca.<br />

En signe de réconciliation, le centre a été<br />

<strong>in</strong>stallé à l'est dans un énorme quadrilatère style<br />

années 70, partiellement occupé par<br />

l'ambassade tchèque. Au rez-de-chaussée, une<br />

immense bibliothèque et une diza<strong>in</strong>e<br />

d'ord<strong>in</strong>ateurs sont à disposition des chercheurs<br />

24h/24h. Là, ils ont accès à la librairie


américa<strong>in</strong>e en ligne Jstor, un must. Des<br />

coursiers achem<strong>in</strong>ent tous les livres demandés,<br />

y compris s'ils se trouvent au f<strong>in</strong> fond de<br />

l'Allemagne. «Avec ce système, j'ai gagné des<br />

mois de travail», raconte le philosophe des<br />

sciences Olivier Remaud, ancien élève de l'Ecole<br />

normale supérieure, détaché ici pour neuf mois.<br />

«Le <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong> est aussi un extraord<strong>in</strong>aire<br />

réseau de personnes venant d'horizons très<br />

différents. C'est une richesse unique, car on<br />

découvre des travaux qui nous étaient<br />

totalement <strong>in</strong>connus.»<br />

Pour Anke te Heesen, historienne, pédagogue de<br />

formation, «c'est un des endroits les plus<br />

vivifiants <strong>in</strong>tellectuellement que je connaisse».<br />

Anke, qui a passé une année au musée de<br />

l'Hygiène à Dresde, étudie les collections<br />

personnelles de coupures de journaux et autres<br />

papiers pour tenter d'en découvrir la logique. Sa<br />

vois<strong>in</strong>e Mechthild Fend explore l'évolution de la<br />

représentation des corps. Quand les sujets s'y<br />

prêtent, le <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong> organise des petites<br />

expositions au centre culturel tchèque. Mais<br />

l'essentiel de son activité réside dans<br />

l'organisation de colloques et la publication des<br />

articles de ses chercheurs. Contrairement au<br />

CNRS, ceux-ci ne sont pas tous membres à vie<br />

du <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>. La moitié dispose de contrats à<br />

durée <strong>in</strong>déterm<strong>in</strong>ée. Les autres ont des contrats<br />

de un mois à quatre ans, en fonction de leurs<br />

projets et de leurs f<strong>in</strong>ancements. A chacun de se<br />

débrouiller pour obtenir une bourse.<br />

(1) Né en 1858 à Kiel, <strong>Max</strong> <strong>Planck</strong> est considéré<br />

comme l'<strong>in</strong>venteur de la physique moderne.<br />

(notre correspondante à Berl<strong>in</strong>)<br />

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Re<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Labor<br />

Wissen & Forschen<br />

03.11.2003<br />

Re<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Labor<br />

Wie sich die Geisteswissenschaften mit „Schlüsselthemen“ wichtig<br />

machen<br />

„Auf hohen Ruhm verzichtend br<strong>in</strong>gen tausend emsige Arbeiter täglich<br />

zahllose E<strong>in</strong>zelheiten hervor, unbekümmert um <strong>in</strong>nere und äußere<br />

Vollendung, nur bemüht, e<strong>in</strong>en Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich zu<br />

lenken. In der vorwärts jagen<strong>den</strong> Hast gilt jeder Stillstand zum Über- oder<br />

Rückblick für Zeitverlust. Mit der geschichtlichen Betrachtung g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>er der<br />

fruchtbarsten Keime des Großen verloren . . .“ (Emil du Bois-Reymond<br />

1882 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede vor der Akademie der Wissenschaften)<br />

Von Amory Burchard<br />

Als der Berl<strong>in</strong>er Physiologe Emil du Bois-Reymond 1882 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede vor<br />

der Akademie der Wissenschaften „Über die wissenschaftlichen Zustände<br />

der Gegenwart“klagte, glaubte er mit se<strong>in</strong>em Lebenswerk gescheitert zu<br />

se<strong>in</strong>. Um 1870 hatte er das erste Großlabor Berl<strong>in</strong>s bauen lassen, <strong>in</strong> dem<br />

se<strong>in</strong>e „Untersuchungen über Thierische Elektricität“, zur Nerven- und<br />

Muskelphysik, <strong>in</strong>sbesondere des Froschbe<strong>in</strong>es, im großen Stil<br />

vorangetrieben wer<strong>den</strong> sollten. Aber es g<strong>in</strong>g ihm um noch mehr:<br />

Experimente mit der neuesten Labortechnik sollten zugleich von „Ästhetik“<br />

begleitet wer<strong>den</strong>. Se<strong>in</strong> Idealbild der Forschung legte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeichnung<br />

dar: E<strong>in</strong> junger Forscher mit dem Körper e<strong>in</strong>es griechischen Gottes sitzt am<br />

Labortisch. Doch anstatt wie er nach „harmonischen Verhältnissen im<br />

Herstellen von Wissen“ und „geschichtlicher Betrachtung“ zu streben,<br />

wollten die bei du Bois-Reymond beschäftigten Experimentalphysiologen<br />

schnelle Forschungsergebnisse.<br />

So s<strong>in</strong>d sie noch heute, die Naturforscher – und mit Erfolg. In ihren Laboren<br />

produzieren sie D<strong>in</strong>ge, mit <strong>den</strong>en sie die Menschheit wenn nicht retten, so<br />

doch beglücken. Die Geisteswissenschaften dagegen, <strong>den</strong>en sich du Bois-<br />

Reymonds Experimentatoren e<strong>in</strong>st verweigerten, können e<strong>in</strong>en solchen<br />

schnellen Nutzen nicht vorweisen. Was Philologen, Historiker und<br />

Philosophen leisten, sche<strong>in</strong>t zu zeitlos schön, um gleich wichtig zu se<strong>in</strong>. So<br />

nimmt die breite Öffentlichkeit davon wenig Notiz. Wenn von <strong>den</strong><br />

Geisteswissenschaften die Rede ist, geht es häufig um ihre verme<strong>in</strong>tliche<br />

„Krise“.<br />

Die Volkswagenstiftung wollte schon zur Jahrtausendwende ke<strong>in</strong>e Klagen<br />

mehr hören, sondern förderungswürdige Anträge sehen. Sie forderte<br />

Geistes- und Kulturwissenschaftler heraus, <strong>in</strong> <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Teams zu<br />

arbeiten und zwar „zu aktuellen, <strong>in</strong> der Gesellschaft diskutierten<br />

Fragestellungen“. Dafür bot die VW-Stiftung ihnen im Programm<br />

„Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ für drei bis fünf Jahre bis zu


Re<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Labor<br />

e<strong>in</strong>er Million Euro Projektförderung. Nach e<strong>in</strong>er Zwischenbilanz von elf<br />

Gruppen des Programms <strong>in</strong> der Akademie der Wissenschaften ist klar:<br />

Wenn sich Geisteswissenschaftler entschließen, mit anderen Diszipl<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong>s Labor zu gehen, schicken sie sich an, eben jene von du Bois vermissten<br />

„Keime des Großen“ hervorzubr<strong>in</strong>gen.<br />

„Was ist Natur“ fragen Ethnologen, Historiker, Sprach-, <strong>Medien</strong>-,<br />

Literaturwissenschaftler und Küstenforscher beherzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> Hamburg,<br />

Geesthacht und Esbjerg angesiedelten Projekt. In ihrer Fallstudie „Natur im<br />

Konflikt. Naturschutz, Naturbegriff und Küstenbilder“ geht es um die<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen um <strong>den</strong> Nationalpark Schleswig-Holste<strong>in</strong>isches<br />

Wattenmeer. Die Konfliktparteien: Küstenbewohner, die mit und von dieser<br />

Natur leben müssen und wollen; Touristen, die sie als Erholungsraum<br />

brauchen; Naturschützer, die sie vor Nutzung schützen wollen; Politiker, die<br />

zwischen <strong>den</strong> Positionen vermitteln und Entscheidungen fällen müssen.<br />

Und alle haben e<strong>in</strong>en anderen, historisch gewachsenen Begriff von „Natur“.<br />

<strong>Das</strong> Wattenmeer wird von <strong>den</strong> e<strong>in</strong>en als „heilende Natur“ begriffen, von<br />

anderen als „latent bedrohliches Natursubjekt“. Klimaforscher und Biologen<br />

prallen mit ihren Argumenten auf die ebenso mythischen wie unbeirrbaren<br />

Vorstellungen der Laien. Projektleiter Ludwig Fischer von der Uni Hamburg<br />

glaubt nicht, dass „das Recht auf <strong>den</strong> kulturell hervorgebrachten<br />

Küstenraum und die Pflicht zu se<strong>in</strong>em Schutz“ mite<strong>in</strong>ander zu vere<strong>in</strong>baren<br />

s<strong>in</strong>d. Beide Positionen müssten gleichberechtigt nebene<strong>in</strong>ander stehen<br />

bleiben – und von <strong>den</strong> Praktikern vor Ort verstan<strong>den</strong> und vermittelt wer<strong>den</strong>.<br />

Verstehen, was die Menschen wirklich brauchen: Darum geht es auch e<strong>in</strong>er<br />

Gruppe von Sprachwissenschaftlern und Soziologen, die die<br />

landwirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit mit dörflichen<br />

Geme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong> Afrika und Südostasien erforscht. Die These der<br />

Forscher: Nur wer die Lokal-, National- und Kolonialsprachen kennt und<br />

ihre Funktionen für die jeweilige Community entschlüsselt, kann mit ihr<br />

effektiv zusammenarbeiten. Wie etwa mit <strong>den</strong> Tura, e<strong>in</strong>em Volk an der<br />

Elfenbe<strong>in</strong>küste, das vom Maniok-Anbau lebt, aber durch Übernutzung der<br />

Bö<strong>den</strong> e<strong>in</strong>er Katastrophe entgegengeht. Die Forscher versuchen, die Tura<br />

anzuregen, neue Produkte anzubauen – und zwar über <strong>den</strong> eigenen Bedarf<br />

h<strong>in</strong>aus. <strong>Das</strong> Ziel ist, lokale Sprachen als Schlüssel nachhaltiger<br />

Entwicklung zu etablieren, sagt Bearth.<br />

„Begeisternde Projekte!“ lobt der Essener Sozialpsychologe Harald Welzer<br />

die Kollegen. Sie hätten theoriefähige Themen aus der Feldforschung<br />

heraus entwickelt und nebenbei „def<strong>in</strong>iert, was gesellschaftliche Relevanz<br />

ist“, anstatt dieses Ans<strong>in</strong>nen empört zurückzuweisen. Mit solchen<br />

Forschungsthemen zeigten die Geistes- und Sozialwissenschaften: „Wir<br />

gehören zur Öffentlichkeit, wir können qua Kompetenz <strong>in</strong>teressante D<strong>in</strong>ge<br />

mitteilen.“ Welzer und se<strong>in</strong> Team schöpfen ihr Selbstbewusstse<strong>in</strong> aus ihrem<br />

Projekt „Er<strong>in</strong>nerung und Gedächtnis“.<br />

Noch e<strong>in</strong> Schlüsselthema ist schließlich Emil du Bois-Reymonds Großlabor.<br />

<strong>Das</strong> von ihm selbst entworfene Gebäude <strong>in</strong> der Dorotheenstraße 35 <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong>-Mitte ist bis heute erhalten. Am Berl<strong>in</strong>er <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> arbeiten Historiker, Kunsthistoriker Psychologen<br />

geme<strong>in</strong>sam an e<strong>in</strong>er „Kulturgeschichte der Lebenswissenschaften“ und<br />

damit im historischen Vorfeld des aktuellen wissenschaftlichen<br />

Boombereichs Biowissenschaften.<br />

Je<strong>den</strong>falls ist die 1882 vorgebrachte Klage des Berl<strong>in</strong>er Physiologen<br />

hochaktuell. Gerade Naturforscher stehen unter e<strong>in</strong>em enormen<br />

gesellschaftlichen Druck. „Es ist nicht mehr möglich, die Wissenschaft im<br />

Labor zu halten“, sagt Mart<strong>in</strong> Carrier, Wissenschaftsphilosoph aus<br />

Bielefeld. Dies führe zu vorschnellen Veröffentlichungen und Fehlern, die


Re<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Labor<br />

dann wieder das Vertrauen <strong>in</strong> die Wissenschaft erschütterten. Wie sich<br />

gesellschaftliche Ansprüche und Glaubwürdigkeit vere<strong>in</strong>baren lassen –<br />

darüber <strong>den</strong>ken jetzt <strong>in</strong> Bielefeld Soziologen nach.<br />

Alle „Schlüsselthemen“ im Internet:<br />

www.volkswagenstiftung.de/presse-news/presse03/24102003.htm<br />

2002 © Verlag Der Tagesspiegel GmbH


TU <strong>in</strong>tern November 2003<br />

<strong>Das</strong> Maulwurf-Pr<strong>in</strong>zip<br />

Nr. 11, November 2003<br />

Onl<strong>in</strong>e-Journale unterlaufen die Macht der Wissenschaftsverlage<br />

Gedruckt oder virtuell Onl<strong>in</strong>e-Publikationen kämpfen um<br />

Anerkennung <strong>in</strong> der Wissenschaft<br />

Am 22. Oktober 2003 wurde <strong>in</strong> der Hauptstadt die "Berl<strong>in</strong>er Erklärung über<br />

<strong>den</strong> offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen" (Open Access)<br />

unterzeichnet, e<strong>in</strong>e Art Willensbekundung deutscher<br />

Wissenschaftsorganisationen, Forschungsergebnisse jedem frei<br />

zugänglich zu machen. <strong>Das</strong> Internet soll der Ort se<strong>in</strong>, wo wissenschaftliche<br />

Kommunikation und Publikation revolutioniert wer<strong>den</strong>. Aber auch<br />

Bibliotheken und Archive sollen digital zugänglich se<strong>in</strong>.<br />

Die Vorteile des Onl<strong>in</strong>e-Publish<strong>in</strong>g <strong>in</strong> frei zugänglichen Onl<strong>in</strong>e-Journalen liegen<br />

auf der Hand: Der behäbige Prozess herkömmlicher Veröffentlichungspraxis<br />

wird rasant verkürzt, die Ergebnisse, weil kostenlos, s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>em Klick<br />

weltweit und sofort zugänglich, teure Abonnements für gedruckte Zeitschriften<br />

entfallen, und das Ärgernis, dass Wissenschaftler für <strong>den</strong> Download e<strong>in</strong>es<br />

eigenen Artikels im Netz zu zahlen haben, hätte e<strong>in</strong> Ende.<br />

Der Entwicklungspsychologe Dr. Günter Mey von der TU Berl<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong>er der<br />

Gründer des seit 1999 existieren<strong>den</strong> Onl<strong>in</strong>e-Journals "Forum Qualitative<br />

Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research" (FQS), e<strong>in</strong>em Projekt, das<br />

sich dem Gedanken des Open Access verpflichtet fühlte und direkt mit der<br />

Budapest Open Access Initiative verbun<strong>den</strong> ist. FQS als DFG-gefördertes und<br />

an der FU Berl<strong>in</strong> angesiedeltes Projekt, das unter anderem mit dem Zentrum<br />

Technik und Gesellschaft der TU Berl<strong>in</strong> kooperiert, ist mittlerweile die weltweit<br />

führende Onl<strong>in</strong>e-Zeitschrift für qualitative Sozialwissenschaften. FQS wird als<br />

<strong>in</strong>ternationales Forum <strong>in</strong> Deutsch, Englisch und Spanisch angeboten, ist


TU <strong>in</strong>tern November 2003<br />

<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är ausgerichtet und erfüllt damit Forderungen an die Wissenschaft,<br />

die sich, so Mey, mit dem Internet als Kommunikationsort schneller umsetzen<br />

lassen.<br />

Für Mey ist nicht nur die Schnelligkeit und globale Verfügbarkeit des Wissens<br />

Grund, als Herausgeber von FQS zu arbeiten, ihn reizt vor allem, dass per<br />

Internet unmittelbar Ergebnisse diskutiert und <strong>in</strong>terpretiert wer<strong>den</strong> können, und<br />

sich die Autoren "dem Urteil der Kollegen direkt stellen".<br />

Damit das Internet als Publikationsort überhaupt akzeptiert wird, ist es<br />

notwendig, so Mey weiter, dass jeder Text, der <strong>in</strong> FQS veröffentlich wird, e<strong>in</strong>em<br />

qualitätssichern<strong>den</strong> Begutachtungsprozess, dem Peer-Review-Verfahren,<br />

ausgesetzt wird, wie es bei naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen üblich<br />

ist. Zwei unabhängige Gutachter beurteilen die Arbeit. Diese kennen <strong>den</strong><br />

Verfasser nicht, der Autor wiederum kennt die Gutachter nicht. Dieses<br />

unbed<strong>in</strong>gte Bekenntnis des FQS-Teams zu höchster wissenschaftlicher Qualität<br />

hat dazu geführt, dass die Onl<strong>in</strong>e-Zeitschrift weltweit anerkannt ist, und sich<br />

nicht mehr mit jenem "Schmuddel-Image" herumplagen muss, das Internet-<br />

Publikationen anhaftet - "junk science", unseriös und bestenfalls drittklassig zu<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Sybille Nitsche<br />

© TU-Pressestelle 11/2003 |


Freitag 45 - E<strong>in</strong> glücklicher Fund<br />

45 31.10.2003<br />

Magnus Schlette<br />

E<strong>in</strong> glücklicher Fund<br />

SUCHEN, FINDEN, SAMMELN Neue Veröffentlichungen<br />

zur Alltags- und Wissenschaftskultur<br />

Als K<strong>in</strong>d b<strong>in</strong> ich immer mit Andacht <strong>in</strong> das Arbeitszimmer<br />

me<strong>in</strong>es Großvaters e<strong>in</strong>getreten. Denn dort an <strong>den</strong> Wän<strong>den</strong><br />

h<strong>in</strong>gen Scherben mit <strong>den</strong> Abdrücken verste<strong>in</strong>erten Urgetiers<br />

und <strong>in</strong> Glaskästen waren Ste<strong>in</strong>chen mit vielfältiger, mir damals<br />

ganz kostbarer Maserung und Farbe aufbewahrt. Daneben e<strong>in</strong><br />

Hämmerchen, mit dem der Großvater nach der Arbeit<br />

zuversichtlich <strong>in</strong> die ostwestfälische Mul<strong>den</strong>landschaft zog, auf<br />

der Suche nach kle<strong>in</strong>en Schätzen. Er war aber nicht Geologe<br />

oder Lehrer. Se<strong>in</strong> Tun charakterisierte <strong>den</strong> Habitus des<br />

naturgeschichtlich und landeskundlich <strong>in</strong>teressierten<br />

Privatsammlers, von dem es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Generation der vor dem<br />

Ersten Weltkrieg Geborenen noch viele gab.<br />

Dieser Habitus hatte e<strong>in</strong>e Tradition, deren soziale<br />

<strong>Institut</strong>ionalisierung und Entwicklung <strong>in</strong> die wissenschaftliche<br />

Sammlungskultur im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts<br />

führte. <strong>Das</strong> zeigt die von Anke te Heesen und Emma C. Spary<br />

herausgegebene Aufsatzsammlung Sammeln als Wissen. Der<br />

Titel deutet an, dass der Tätigkeit des Sammelns vor 200<br />

Jahren noch e<strong>in</strong>e zentrale Rolle für die Akkumulation<br />

gesellschaftlich bedeutsamen Wissens und die Bildung der<br />

Persönlichkeit zugesprochen wurde. Anke te Heesen zeichnet<br />

das <strong>in</strong> ihrem Beitrag am Beispiel der "Gesellschaft<br />

Naturforschender Freunde zu Berl<strong>in</strong>" nach. Ziel dieser<br />

"›freundschaftliche(n) und patriotische(n) Vere<strong>in</strong>igung‹ von<br />

gleichges<strong>in</strong>nten Männern" war es, e<strong>in</strong>ander mit <strong>den</strong> Preziosen<br />

se<strong>in</strong>es Naturalienkab<strong>in</strong>etts zu ergötzen. Man traf sich<br />

regelmäßig <strong>in</strong> <strong>den</strong> Häusern der Mitglieder und beugte sich dort<br />

über die Schätze des jeweiligen Gastgebers. Zu <strong>den</strong> Besitzern<br />

der Kab<strong>in</strong>ette zählten Prediger ebenso wie Bergfachleute,<br />

Geheimräte und Offiziere. Vere<strong>in</strong>igungen wie diese dienten der<br />

Unterhaltung und Belehrung zugleich und folgten damit dem


Freitag 45 - E<strong>in</strong> glücklicher Fund<br />

Anspruch der Aufklärung, das Angenehme mit dem Nützlichen<br />

zu verb<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />

Die Privatsammlungen bildeten nicht nur, sie verrieten auch die<br />

Persönlichkeit des Sammlers, se<strong>in</strong>e Vorlieben, Kenntnisse,<br />

Wertschätzungen. Ernst Hamm geht sogar so weit, Goethes<br />

m<strong>in</strong>eralogische Sammlung als "Teil der I<strong>den</strong>tität, die er für sich<br />

aufgebaut hatte", zu bewerten. Die Stücke seien über ihren<br />

naturgeschichtlichen Wert h<strong>in</strong>aus immer auch "Zeichen für die<br />

wichtigen Momente se<strong>in</strong>es Lebens" gewesen - die Sammlung<br />

als Autobiographie. Aber die Spezialisierung<br />

naturgeschichtlichen Wissens im 19. Jahrhundert verdrängte<br />

schließlich die privaten Kab<strong>in</strong>ette mit der persönlichen Note<br />

ihres Schöpfers zugunsten der großen universitären<br />

Sammlungen, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> Zusammenhang von Lehre und<br />

Forschung e<strong>in</strong>gebun<strong>den</strong> waren und durch die Adm<strong>in</strong>istration<br />

der Staatsbürokratie organisiert wur<strong>den</strong>.<br />

Wer was wie sammelte, wurde nämlich seit dem 18.<br />

Jahrhundert zunehmend e<strong>in</strong>e Frage des auf Vollständigkeit der<br />

beobachtbaren Unterscheidungen angelegten<br />

Klassifikationssystems, das die unerschöpfliche<br />

Mannigfaltigkeit der Natur erst formatierte, das<br />

Sammlungsobjekt als solches, wie Emma Spary betont, erst<br />

herstellte. L<strong>in</strong>né blieb dabei jeder ästhetische S<strong>in</strong>n für die<br />

E<strong>in</strong>zigartigkeit des Sammlungsobjektes fremd. So ignorierte er<br />

etwa die künstlerische Ornamentierung der Herbariumsblätter,<br />

die ihm von e<strong>in</strong>em holländischen Pflanzensammler dediziert<br />

wor<strong>den</strong> waren: er schnitt sie auf die se<strong>in</strong>em Herbarschrank<br />

entsprechende Größe zurecht. Die künstlerische Sammlung<br />

weicht hier der nüchternen naturgeschichtlichen<br />

Dokumentation, die persönliche Bildung am ästhetisch<br />

ansprechen<strong>den</strong> Objekt der systemkonformen Information.<br />

Für <strong>den</strong> Kieler Philosophen Manfred Sommer s<strong>in</strong>d die<br />

naturhistorischen Sammlungen gleichwohl, zumal im Vergleich<br />

mit dem Abstraktions- und Spezialisierungsgrad der<br />

zeitgenössischen wissenschaftlichen Forschung, "Refugien der<br />

S<strong>in</strong>nlichkeit". Se<strong>in</strong>e Studie Sammeln. E<strong>in</strong> philosophischer<br />

Versuch aus dem Jahr 1999, die jetzt auch als Taschenbuch<br />

erhältlich ist, betont aber, dass das Sammeln mitnichten e<strong>in</strong><br />

vorrangig wissenschaftsgeschichtliches Thema sei. Denn der<br />

Mensch sammle, wo er geht und steht: Gegenstände, auch<br />

E<strong>in</strong>drücke, Erfahrungen, Kenntnisse, am Ende sogar sich<br />

selbst. Ausgehend von der wörtlichen und figurativen


Freitag 45 - E<strong>in</strong> glücklicher Fund<br />

Wortverwendung nimmt sich Sommer dem "Sammeln" vom<br />

Standpunkt e<strong>in</strong>es deskriptiven Phänomenologen an. Er<br />

beschreibt Situationen, die wir gewöhnlich als solche des<br />

Sammelns bezeichnen wür<strong>den</strong>. <strong>Das</strong> tut er im Vertrauen auf die<br />

Erschließungskraft unserer erfahrungsgesättigten<br />

Alltagssprache und die Kunst der genauen Beobachtung, zu<br />

der wir nicht mehr brauchen als unsere Augen,<br />

Unvorgenommenheit und Geduld - e<strong>in</strong> erfrischender<br />

Kontrapunkt <strong>in</strong> der Flut philosophischer Nomenklaturen, <strong>den</strong><br />

nicht en<strong>den</strong> wollen<strong>den</strong> methodischen und methodologischen<br />

Vorklärungen, <strong>den</strong> fe<strong>in</strong> ziselierten, aber eben häufig auch<br />

knäckebrotbröseligen begrifflichen Unterscheidungen, <strong>den</strong>en<br />

der Ma<strong>in</strong>stream <strong>in</strong> der Philosophie gerne huldigt.<br />

Sammeln, stellt Sommer fest, ist e<strong>in</strong>e genu<strong>in</strong> ästhetische<br />

Tätigkeit. Zwar kann man auch ökonomisch sammeln, auf<br />

Hal<strong>den</strong>, <strong>in</strong> Lagern, Silos und Tanks, aber wer das tut, sieht von<br />

der qualitativen Beschaffenheit des Gesammelten ab und zielt<br />

letztlich auf dessen Vernichtung, der er nur e<strong>in</strong>en Aufschub<br />

gewährt: Getreide <strong>in</strong> Silos wird irgendwann zu Brot verarbeitet,<br />

Kohle verbrannt, Sekt getrunken und Geld, für dies alles und<br />

noch mehr, ausgegeben. Wie der Ökonom, so Sommers<br />

versonnene Spekulation, g<strong>in</strong>g wohl auch schon der<br />

wildbeuterische Pilzsammler des Neolithikums vor, der nach<br />

Essbarem suchte, dann aber davon e<strong>in</strong> besonders schönes<br />

Exemplar und daran wiederum e<strong>in</strong>e Freude fand, die der bloß<br />

ökonomische Sammler sich versagt: die der Anschauung des<br />

Besonderen.<br />

Der ästhetisch sensible Mensch, mit e<strong>in</strong>em Wort Nietzsches,<br />

"will tiefe, tiefe Ewigkeit", ortsvergessen vers<strong>in</strong>kt er ganz <strong>in</strong> die<br />

Anschauung se<strong>in</strong>es zufälligen Fundes und trägt ihn, trunken<br />

von Schaulust, <strong>in</strong> der schützen<strong>den</strong> Handmulde heim. Zu Hause<br />

strebt er danach, dieses Ereignis des F<strong>in</strong><strong>den</strong>s erneut zu<br />

erleben und verlegt sich aufs Sammeln dessen, was ihn so<br />

gefangen genommen hat. Dabei übt er sich <strong>in</strong> ästhetischer<br />

Zerstreutheit, die <strong>den</strong> Blick aus der Regie zielgerichteter<br />

Tätigkeit entlässt, er betreibt, <strong>in</strong> Sommers Worten, Mimesis an<br />

die Dispersion der D<strong>in</strong>ge, die er sammeln will. - E<strong>in</strong>iges von<br />

dem, was Adorno unter dem anspruchsvollen Titel e<strong>in</strong>es<br />

"Vorrangs des Objekts <strong>in</strong> der subjektiven Erfahrung" mit<br />

dialektischer Raff<strong>in</strong>esse über <strong>den</strong> ästhetischen<br />

Gegenstandsbezug geschrieben hat, kehrt bei Sommer mit der<br />

Unsche<strong>in</strong>barkeit phänomenologischer Beschreibungen wieder.


Freitag 45 - E<strong>in</strong> glücklicher Fund<br />

Wie nun die Kunstsammlung die "Vollform" der Sammlung ist,<br />

so ist das Sammeln wohl die Vollform des Suchens und<br />

F<strong>in</strong><strong>den</strong>s. Daher kann Sommer <strong>in</strong> <strong>den</strong> Stadien des Sammelns:<br />

dem Abschied von der vertrauen Sphäre, im Weggang zur<br />

Suche und im Ziel beim Fund, dann <strong>in</strong> der Kehre, mit der, das<br />

Kostbare <strong>in</strong> Hän<strong>den</strong>, die Rückkehr angetreten wird, schließlich<br />

<strong>in</strong> der Rückkunft am Ausgangspunkt der Unternehmung,<br />

Grundfiguren erkennen, die immer wieder komplexe kulturelle<br />

Symbolisierungen <strong>in</strong> Mythos und Religion - die Kehre etwa <strong>in</strong><br />

der Gnosis und das Warten der Daheimgebliebenen <strong>in</strong> der<br />

Parusieverzögerung für die Urchristen - erfahren haben.<br />

Und weil, wer sammeln will, zunächst suchen und f<strong>in</strong><strong>den</strong> muss,<br />

hat Sommer se<strong>in</strong>er Studie über das Sammeln gleich e<strong>in</strong>e<br />

weitere über das Suchen und F<strong>in</strong><strong>den</strong> folgen lassen. Etwas<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong>, und der Leser merkt Sommer die phänomenologische<br />

Emphase an, heißt: es sehen. Um etwas bewusst und<br />

e<strong>in</strong>drücklich zu sehen, müssen wir zu aller erst danach suchen.<br />

Dabei tragen wir e<strong>in</strong>en Begriff oder e<strong>in</strong>e Vorstellung von dem<br />

Gesuchten mit uns herum, und gefun<strong>den</strong> haben wir, wenn die<br />

Vorstellung im Kopf mit der s<strong>in</strong>nlichen Gegenwart des Dies und<br />

Hier zur Übere<strong>in</strong>stimmung gelangt. Dieser Augenblick, das<br />

Ereignis der Evi<strong>den</strong>z, ist der Moment, <strong>in</strong> dem wir, emphatisch:<br />

sehen, worauf unsere Augen sich richten. <strong>Das</strong> kann glückshaft<br />

se<strong>in</strong>, und zwar deshalb, weil die Präsenz des Dies und Hier<br />

immer ästhetisch reichhaltiger ist als unsere Vorstellung von<br />

ihm: F<strong>in</strong><strong>den</strong> löst grundsätzlich mehr e<strong>in</strong> als das Suchen<br />

verspricht. Außerdem fühlen wir die Genugtuung, dass unsere<br />

Mühe an ihr Ziel gelangt und Erfüllung erfährt, die Gewissheit<br />

e<strong>in</strong>es gerechten Verhältnisses zwischen Leistung und Lohn,<br />

e<strong>in</strong>er "geheime(n) Entsprechung" zwischen dem, was wir<br />

wollen, und dem, was geschieht. "Jeder glückliche Fund", so<br />

Sommer, "ist e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Theodizee" - man möchte ergänzen:<br />

e<strong>in</strong>e Epiphanie, die Ersche<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>es Gottes.<br />

Vielleicht beruht darauf der Erfolg des Individualverkehrs.<br />

Während der Zugreisende auf se<strong>in</strong>em Vorwärtsdrang <strong>in</strong>s<br />

Unbekannte fest "geschient" ist, kann der Autofahrer<br />

unvorhergesehenen und verheißungsvollen Kurven folgen.<br />

Mehr noch: er kann sich verirren! Sommer, allem Ansche<strong>in</strong><br />

nach passionierter Automobilist, dämpft freilich die Romantik<br />

des Unterwegsse<strong>in</strong>s. Denn der Betriebsamkeit eifriger<br />

Ingenieure haben wir das GPS (Global Position<strong>in</strong>g System) zu<br />

verdanken. Der alltägliche Umgang mit dem digitalen<br />

Navigationssystem macht das Suchen und F<strong>in</strong><strong>den</strong> überflüssig.


Freitag 45 - E<strong>in</strong> glücklicher Fund<br />

Unser unthematisches und reflexionsloses Wissen von der<br />

Lage und Stellung jeweils me<strong>in</strong>es Körpers und von <strong>den</strong> D<strong>in</strong>gen,<br />

die mir im vertrauten Umfeld me<strong>in</strong>es Alltages zuhan<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d,<br />

erweitert sich so <strong>in</strong>s Weltumspannende. GPS verhilft uns zu<br />

e<strong>in</strong>em "globalen Körperschema", das unliebsame<br />

Überraschungen und das Gefühl der Fremdheit, auch der<br />

Fremde, m<strong>in</strong>imiert. Ich weiß immer, wo ich b<strong>in</strong>, wie und wann<br />

ich dorth<strong>in</strong> gelange, woh<strong>in</strong> ich will. <strong>Das</strong> F<strong>in</strong><strong>den</strong> des frem<strong>den</strong><br />

Ortes wird zu e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>f<strong>in</strong><strong>den</strong> zu dem von jeher Bekannten.<br />

Denn während man nur nach Abwesendem suchen kann,<br />

verleiht uns GPS e<strong>in</strong>e Als-ob-Gegenwart an allen Stellen der<br />

kartographierten Erdkugel.<br />

<strong>Das</strong> mag unsere Machtphantasien beflügeln - wer<strong>den</strong> wir so<br />

nicht wie Gott, der Allgegenwärtige -, es treibt unseren Wegen<br />

<strong>in</strong> die Ferne aber auch das Glück aus, on the road zu se<strong>in</strong>.<br />

Denn es ist der Computer neben dem Volant, der der Fremde<br />

das Antlitz des Altbekannten verleiht, nicht me<strong>in</strong>e Erfahrung mit<br />

und <strong>in</strong> ihr, die wir nur beim Suchen machen. Die ehrgeizigsten<br />

Nutznießer des Fortschritts s<strong>in</strong>d allemal sicher: Auf digitale<br />

Navigation setzen die Betreiber von Raketen, deren<br />

Zielsicherheit im Militärjargon e<strong>in</strong>e griffige Umschreibung<br />

gefun<strong>den</strong> hat: "Shoot and forget".<br />

Manfred Sommer: Sammeln. E<strong>in</strong> philosophischer Versuch, Suhrkamp,<br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 2002, 452 S., 15 EUR<br />

Ders., Suchen und F<strong>in</strong><strong>den</strong>. Lebensweltliche Formen, Suhrkamp, Frankfurt am<br />

Ma<strong>in</strong>. 2002, 416 S., 35,90 EUR<br />

Anke te Heesen u. E.C.Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. <strong>Das</strong> Sammeln und<br />

se<strong>in</strong>e wissensschaftsgeschichtliche Bedeutung, Wallste<strong>in</strong>., Gött<strong>in</strong>gen 2001,<br />

223 S., 22 EUR


Der Tagesspiegel Onl<strong>in</strong>e : Wissen &Forschen<br />

31.10.2003<br />

Sie kleben am Papier<br />

Wissenschaftler klagen über teure Fachzeitschriften. Im<br />

Internet zu publizieren, ist schneller und billiger<br />

Von Hermann Horstkotte<br />

Kommt die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum<br />

Erliegen Wissenschaftler br<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> diesen Wochen massive<br />

Klagen gegen die Verlage vor: Sie trieben die Abo-Preise für<br />

Zeitschriften immer höher, obwohl die Autoren meist<br />

honorarfrei schreiben. Heike Andermann von der<br />

Unibibliothek Potsdam weist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Untersuchung für die<br />

Deutsche Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft (DFG) nach, dass die<br />

Preise für weltweit führende Periodika der<br />

Lebenswissenschaften zwischen 1995 und 2001 fast<br />

verdoppelt wur<strong>den</strong>. Die Folge: Uni- und <strong>Institut</strong>sbibliotheken<br />

bestellen immer mehr Zeitschriften ab.<br />

„Vor zehn Jahren hatten wir 5000 laufende Abos, jetzt haben<br />

wir nur noch 3000“, sagt der Direktor der Ol<strong>den</strong>burger<br />

Unibibliothek, Hans-Joachim Wätjen. Aber gerade wegen der<br />

Abbestellungen, also s<strong>in</strong>kender Auflagenzahlen, wer<strong>den</strong> die<br />

Veröffentlichungen noch teurer. E<strong>in</strong>en ähnlichen E<strong>in</strong>druck<br />

erweckt der Markt für Fachbücher. „Me<strong>in</strong>e Stu<strong>den</strong>ten haben<br />

ke<strong>in</strong>en Zugang mehr zu <strong>den</strong> Forschungsergebnissen“, klagt<br />

Mathematikprofessor Mart<strong>in</strong> Grötschel von der Technischen<br />

Universität Berl<strong>in</strong>. Internationale Fusionen wie jüngst die<br />

zwischen der Fachverlagsgruppe Bertelsmann-Spr<strong>in</strong>ger und<br />

e<strong>in</strong>em niederländischen Partner schüren jedes Mal neue<br />

Ängste vor möglichen Monopolisten.


Der Tagesspiegel Onl<strong>in</strong>e : Wissen &Forschen<br />

Marktschelte helfe aber schwerlich weiter, me<strong>in</strong>t Wolf-Dieter<br />

Lukas, Sektionschef für wissenschaftliche Information im<br />

Bundesbildungsm<strong>in</strong>isterium. In Wirklichkeit gehe es um e<strong>in</strong><br />

kompliziertes und rasantes Zusammenspiel von geme<strong>in</strong>- und<br />

eigennützigen, privaten und staatlichen, nationalen und<br />

<strong>in</strong>ternationalen Partnern, das sich im re<strong>in</strong>en Zweierschema<br />

von Angebot und Nachfrage kaum erfassen lässt.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel ist der Wandel gerade <strong>in</strong> der chemischen<br />

Fach<strong>in</strong>formation. So erschien das Beilste<strong>in</strong>-Handbuch der<br />

organischen Chemie von 1881 bis 1998 im Druck. E<strong>in</strong>e<br />

elektronische Fassung des laufen<strong>den</strong> Literaturberichts wird<br />

bis heute von e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>nützigen Stiftung weitergeführt.<br />

Sie bekommt Lizenzgebühren von e<strong>in</strong>er Vertriebsgesellschaft,<br />

die zunächst der Stiftung selbst und e<strong>in</strong>er kommerziellen<br />

Gruppe aus <strong>den</strong> USA gehörte und <strong>in</strong>zwischen an <strong>den</strong><br />

(niederländischen) Elsevier-Verlag verkauft wurde.<br />

Gleichwohl s<strong>in</strong>d deutsche Shareholder nicht ganz aus dem<br />

Rennen: Denn die Beilste<strong>in</strong>-Datenbank ist im vierteljährlichen<br />

Update bei STN (Scientific and Technical Network)<br />

International greifbar, e<strong>in</strong>em Geme<strong>in</strong>schaftsunternehmen des<br />

staatlichen Fach<strong>in</strong>formationszentrums Karlsruhe, der privaten<br />

American Chemical Society und des Japan Center of Science<br />

and Technology.<br />

Die ordnende Hand des Staates muss <strong>in</strong> dieser dynamischen<br />

Umgebung laut Wissenschaftsförderer Lukas hauptsächlich<br />

drei Ziele verfolgen: Fach<strong>in</strong>formationen sollen allen Nutzern<br />

möglichst breit und kostengünstig zugänglich se<strong>in</strong>. Mith<strong>in</strong> ist<br />

e<strong>in</strong>e maximale Vernetzung der elektronischen und gedruckten<br />

Texte notwendig; gleichzeitig brauchen die<br />

Wissensproduzenten als Anreiz <strong>den</strong> vollen Schutz ihres<br />

geistigen Eigentums.<br />

Die „Nutzer“ des explosiven Wissenszuwachses und die<br />

Bibliotheken als ihre Agenten müssen, um <strong>den</strong> Markt zu<br />

bee<strong>in</strong>flussen, selber Marktmacht bil<strong>den</strong>, zum Beispiel e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>kaufsgenossenschaft, wie das sechs Unis <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-<br />

Bran<strong>den</strong>burg schon vor Jahren taten. Sie kamen mit Elsevier<br />

und zwei weiteren Verlagen übere<strong>in</strong>, dass alle Hochschulen<br />

kostenlos auf die abonnierten Zeitschriften elektronisch<br />

zugreifen können und nur e<strong>in</strong>e das traditionelle<br />

Papierexemplar bezahlt. <strong>Das</strong> war auch für die<br />

<strong>Medien</strong>unternehmen e<strong>in</strong>e Alternative zur Abbestellung.<br />

Längst nicht jede <strong>Institut</strong>s-, Uni- oder Landesbibliothek<br />

braucht alles. Der wirtschaftswissenschaftliche<br />

Informationsverbund EconDoc zum Beispiel gewährt (für e<strong>in</strong>e<br />

Nutzungsgebühr von zwischen anderthalb und fünf Euro) <strong>den</strong><br />

elektronischen Zugriff auf gedruckte Zeitschriftenaufsätze. Die<br />

zentrale deutsche Bibliothek für die technischen Fächer, die<br />

TIB <strong>in</strong> Hannover, stellt ihre Sammlung ebenfalls digital zur<br />

Verfügung (www.get<strong>in</strong>fo-doc.de).


Der Tagesspiegel Onl<strong>in</strong>e : Wissen &Forschen<br />

Immer mehr Hochschulen wie etwa die Berl<strong>in</strong>er Humboldt-<br />

Universität bieten ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern<br />

hauseigene Publikationsmöglichkeiten im Netz. Über <strong>den</strong><br />

Computer erreicht man die Fachwelt schneller und zudem viel<br />

billiger als mit der Druckmasch<strong>in</strong>e. Auch die <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<br />

Gesellschaft hat <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong> Internetportal für ihre<br />

Forschungsergebnisse eröffnet.<br />

Die deutsche Wissenschaft brauche e<strong>in</strong>en Mentalitätswandel,<br />

sagt Wolf-Dieter Lukas. Die Wissensproduzenten „klebten“ an<br />

prestigereichen Verlags- und Zeitschriftentiteln. Und sie träten<br />

<strong>den</strong> <strong>Medien</strong>unternehmen alle Rechte ab, statt zeitlich<br />

begrenzte Lizenzen von ihren geistigen Produkten zu<br />

vergeben. Lukas spricht von e<strong>in</strong>er gewohnheitsmäßigen<br />

Neigung der Gelehrten zur Selbstenteignung, die nur durch<br />

Aufklärung korrigiert wer<strong>den</strong> könne. Mittlerweile entstehen<br />

allerd<strong>in</strong>gs schon an <strong>den</strong> Traditionsverlagen vorbei im Internet<br />

alternative „Markennamen“ etwa für sozialwissenschaftliche<br />

oder mediz<strong>in</strong>ische Publikationsreihen. Wie bei <strong>den</strong><br />

Pr<strong>in</strong>tmedien sortieren dort Herausgeber die Spreu vom<br />

Weizen.<br />

1995 - 2003 © Verlag Der Tagesspiegel GmbH


Der Tagesspiegel Onl<strong>in</strong>e : Wissen &Forschen<br />

31.10.2003<br />

Wissenschaft nur noch onl<strong>in</strong>e<br />

Die „Public Library of Science“ konkurriert mit<br />

Fachverlagen<br />

Affen können e<strong>in</strong>en Roboterarm alle<strong>in</strong> mit ihren Gedanken<br />

steuern. <strong>Das</strong> hat der amerikanische Forscher Miguel Nicolelis<br />

kürzlich herausgefun<strong>den</strong>. Über das Ergebnis berichtete der<br />

Neurologe der Duke-Universität <strong>in</strong> North Carol<strong>in</strong>a aber nicht<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der traditionellen Fachzeitschriften. Der Artikel<br />

erschien ausschließlich <strong>in</strong> der Onl<strong>in</strong>e-Ausgabe des<br />

Wissenschaftsmagaz<strong>in</strong>s „Plos Biology“.<br />

Die Abkürzung „Plos“ steht für „Public Library of Science“ –<br />

e<strong>in</strong> Internet-Verlag, der erstmals e<strong>in</strong>e Zeitschrift<br />

herausgegeben hat. Initiiert wurde das Projekt von dem New<br />

Yorker Krebsforscher Harold Varmus. Der Nobelpreisträger<br />

für Mediz<strong>in</strong> des Jahres 1989 kämpft gegen die traditionelle Art<br />

des Publizierens. Er ist entschlossen, die Macht der Verlage<br />

zu brechen, die mit <strong>den</strong> Resultaten von Forschern viel Geld<br />

verdienen.<br />

Nun sieht Varmus Geldverdienen nicht als verwerflich an. In<br />

diesem Fall jedoch gehe das Geschäft zu sehr auf Kosten der<br />

Autoren. Die Forscher erbr<strong>in</strong>gen nicht nur die<br />

wissenschaftliche Leistung, sie müssen zudem für die<br />

Veröffentlichung bezahlen und <strong>den</strong> Verlagen das unbefristete<br />

Recht zur weiteren Verwertung des Artikels e<strong>in</strong>räumen.


Der Tagesspiegel Onl<strong>in</strong>e : Wissen &Forschen<br />

Auch die Nutzer der Zeitschriften sieht Varmus zu sehr zur<br />

Kasse gebeten. Abonnements kosten oft Tausende von<br />

Dollar. E<strong>in</strong>zelne Artikel aus dem Internet herunterzula<strong>den</strong>,<br />

kostet wieder Gebühren – selbst für <strong>den</strong> Autor. Aus<br />

öffentlichen Geldern f<strong>in</strong>anzierte Wissenschaft müsse frei<br />

zugänglich se<strong>in</strong>, fordert Varmus. <strong>Das</strong> Paradebeispiel ist für<br />

ihn das Humangenomprojekt, das die Daten des<br />

menschlichen Genoms im Internet für alle verfügbar machte.<br />

Die Verlage sollten e<strong>in</strong> paar Monate nach dem Ersche<strong>in</strong>en die<br />

Artikel kostenlos onl<strong>in</strong>e zur Verfügung stellen, forderte<br />

Varmus schon vor drei Jahren. Und mehr als 30000 Forscher<br />

schlossen sich ihm an. Die Antwort fiel negativ aus. Varmus<br />

reagierte mit der Gründung der „Public Library of Science“.<br />

Bezahlen müssen die Autoren allerd<strong>in</strong>gs auch hier, <strong>den</strong>n es<br />

fallen Kosten etwa für Technik und Gutachter an. „E<strong>in</strong>e<br />

Veröffentlichung kostet 1500 Dollar“, sagt Mark Patterson, der<br />

die Londoner Abteilung des Onl<strong>in</strong>e-Verlages betreut. Es seien<br />

aber Rabatte oder Preiserlass möglich. Die Resonanz sei bei<br />

der Premiere überwältigend gewesen, erklärt Patterson. Der<br />

Nicolelis-Artikel über die „<strong>den</strong>ken<strong>den</strong> Affen“ wurde <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

ersten Tagen mehr als 75 000 Mal heruntergela<strong>den</strong>.<br />

Der Erfolg ermutigt Wissenschaftler wie Robert Schlögl vom<br />

Berl<strong>in</strong>er Fritz-Haber-<strong>Institut</strong>, e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<br />

Gesellschaft (MPG). Die MPG gehört zu <strong>den</strong> <strong>in</strong>sgesamt 19<br />

nationalen und <strong>in</strong>ternationalen Wissenschaftsorganisationen,<br />

die vor kurzem <strong>in</strong> der „Berl<strong>in</strong>er Erklärung“ ebenfalls e<strong>in</strong>en<br />

„freien und kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichem<br />

Wissen“ gefordert haben.<br />

„Es geht nicht darum, Verlage kaputt zu machen“, erklärt der<br />

MPG-Chemiker. Allerd<strong>in</strong>gs gebe es e<strong>in</strong> „Oligopol von drei bis<br />

vier Verlagen“. Deren „Re<strong>in</strong>gew<strong>in</strong>nen von bis zu 50 Prozent“<br />

stün<strong>den</strong> ke<strong>in</strong>e entsprechen<strong>den</strong> Leistungen gegenüber. So<br />

müssten die Autoren ihre eigenen Werke zurückkaufen.<br />

Zukünftig sollten die Urheberrechte nur befristet an die<br />

Verlage gehen, bevor sie nach e<strong>in</strong> paar Monaten wieder<br />

zurückfielen. Danach sollten die Resultate öffentlich<br />

geförderter Forschung <strong>in</strong>s Internet gestellt wer<strong>den</strong>. „Auch<br />

Onl<strong>in</strong>e-Artikel müssen sorgfältig begutachtet wer<strong>den</strong>“, sagt<br />

Schlögl. Nur so ließen sie sich von dem „vielen Müll“<br />

unterschei<strong>den</strong>, der auch im Internet zu f<strong>in</strong><strong>den</strong> sei. E<strong>in</strong> Anfang<br />

ist mit dem „Edoc-System“ der MPG bereits gemacht. Paul<br />

Janositz<br />

1995 - 2003 © Verlag Der Tagesspiegel GmbH


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LIFESTYLE<br />

AUTO & REISE<br />

Forscher fordern leichteren Zugang zu Onl<strong>in</strong>e-<br />

Fach<strong>in</strong>formationen<br />

Berl<strong>in</strong> (dpa) - Große deutsche und <strong>in</strong>ternationale Wissenschaftsorganisationen haben e<strong>in</strong>en<br />

leichteren Zugang zu Fach<strong>in</strong>formationen im Internet gefordert. Zum Abschluss e<strong>in</strong>er Tagung <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> verabschiedeten sie e<strong>in</strong>e «Berl<strong>in</strong>er Erklärung» mit der Aufforderung, Wissenschaft und<br />

Kultur sollten für alle Internet- Nutzer <strong>in</strong> deutlich größerem Umfang als bisher kostenlos<br />

zugänglich gemacht wer<strong>den</strong>, teilte die <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft am Donnerstag <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> mit.<br />

Die Empfehlungen zum «offenen Zugang» (open access) richten sich an<br />

Forschungse<strong>in</strong>richtungen sowie an Kultur<strong>in</strong>stitutionen wie Bibliotheken, Archive oder auch<br />

Museen. Autor und Urheber sollten dabei allen Nutzern e<strong>in</strong> Recht auf Zugang zu ihren Daten<br />

e<strong>in</strong>räumen. Dazu gehöre die Genehmigung, das Werk unter korrekter Angabe der Autorenschaft<br />

zu kopieren und digital weiterzuverbreiten. Die vollständige Arbeit sollte zusammen mit allen<br />

ergänzen<strong>den</strong> Materialien über e<strong>in</strong> noch zu schaffendes Onl<strong>in</strong>e-Archiv elektronisch bereitgestellt<br />

wer<strong>den</strong>.<br />

Die Erklärung richtet sich <strong>in</strong>direkt gegen Fachverlage, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen Jahren die Preise<br />

für Fachzeitschriften deutlich erhöht hatten und <strong>den</strong> Zugang zu Internet-Ausgaben begrenzen.<br />

Viele Universitäten sahen sich gezwungen, Abonnements zu kündigen und <strong>den</strong> Bestand zu<br />

kürzen.


<strong>Das</strong> Physikportal pro-physik.de - Die F<strong>in</strong>demasch<strong>in</strong>e<br />

Leichteren Zugang zu Internet-Fach<strong>in</strong>formationen<br />

gefordert<br />

24-10-2003<br />

Leichteren Zugang zu Internet-Fach<strong>in</strong>formationen gefordert<br />

Berl<strong>in</strong> (dpa) - Große deutsche und <strong>in</strong>ternationale<br />

Wissenschaftsorganisationen haben e<strong>in</strong>en leichteren Zugang zu<br />

Fach<strong>in</strong>formationen im Internet gefordert. Zum Abschluss e<strong>in</strong>er<br />

Tagung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> verabschiedeten sie e<strong>in</strong>e «Berl<strong>in</strong>er Erklärung» mit<br />

der Aufforderung, Wissenschaft und Kultur sollten für alle Internet-<br />

Nutzer <strong>in</strong> deutlich größerem Umfang als bisher kostenlos zugänglich<br />

gemacht wer<strong>den</strong>, teilte die <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft am Donnerstag<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> mit.<br />

Die Empfehlungen zum «offenen Zugang» (open access) richten sich<br />

an Forschungse<strong>in</strong>richtungen sowie an Kultur<strong>in</strong>stitutionen wie<br />

Bibliotheken, Archive oder auch Museen. Autor und Urheber sollten<br />

dabei allen Nutzern e<strong>in</strong> Recht auf Zugang zu ihren Daten e<strong>in</strong>räumen.<br />

Dazu gehöre die Genehmigung, das Werk unter korrekter Angabe der<br />

Autorenschaft zu kopieren und digital weiterzuverbreiten. Die<br />

vollständige Arbeit sollte zusammen mit allen ergänzen<strong>den</strong><br />

Materialien über e<strong>in</strong> noch zu schaffendes Onl<strong>in</strong>e-Archiv elektronisch<br />

bereitgestellt wer<strong>den</strong>.<br />

Die Erklärung richtet sich <strong>in</strong>direkt gegen Fachverlage, die <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

vergangenen Jahren die Preise für Fachzeitschriften deutlich erhöht<br />

hatten und <strong>den</strong> Zugang zu Internet-Ausgaben begrenzen. Viele<br />

Universitäten sahen sich gezwungen, Abonnements zu kündigen und<br />

<strong>den</strong> Bestand zu kürzen.<br />

Weitere Infos:<br />

●<br />

Berl<strong>in</strong>er Erklärung über offenen Zugang zu<br />

wissenschaftlichem Wissen:<br />

http://www.mpg.de/pdf/openaccess/Berl<strong>in</strong>Declaration_dt.pdf<br />

Copyright © 2003


Open access w<strong>in</strong>s German support<br />

Friday 24 October 2003<br />

Nature 425, 752 (23 October 2003); doi:10.1038/425752b<br />

Open access w<strong>in</strong>s German support<br />

QUIRIN SCHIERMEIER<br />

[MUNICH] Germany's ma<strong>in</strong> scientific organizations have issued a jo<strong>in</strong>t statement<br />

back<strong>in</strong>g <strong>in</strong>itiatives that provide free scientific <strong>in</strong>formation over the Internet.<br />

After a three-day meet<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, organizations <strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g the <strong>Max</strong> <strong>Planck</strong> Society<br />

(MPS) and Germany's ma<strong>in</strong> research-fund<strong>in</strong>g agency, the DFG, were due to issue the<br />

call for open access on 22 October. Open-access backers say this is the first time that<br />

they have won formal support from all major research organizations <strong>in</strong> a large nation.<br />

The MPS, for example, is chang<strong>in</strong>g scientists' employment contracts, requir<strong>in</strong>g them<br />

to return the copyright of their work to the society. Researchers will still be able to<br />

publish <strong>in</strong> scientific journals, but after a grace period — the length of which is still<br />

be<strong>in</strong>g discussed — their papers must be deposited <strong>in</strong> at least one onl<strong>in</strong>e repository.<br />

The declaration evolved from a European Union-funded digital project, European<br />

Cultural Heritage Onl<strong>in</strong>e (ECHO), which facilitates access to cultural materials (see<br />

Nature 424, 491; 2003).<br />

Robert Schlögl, a chemist at the MPS's Fritz Haber <strong>Institut</strong>e <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, and coorganizer<br />

of the meet<strong>in</strong>g, emphasizes that a smooth transition is necessary. "This has<br />

noth<strong>in</strong>g to do with confrontation, but it has everyth<strong>in</strong>g to do with start<strong>in</strong>g a dialogue<br />

with publish<strong>in</strong>g houses about a new division of labour," he says.<br />

© 2003 Nature Publish<strong>in</strong>g Group


MaerkischeAllgeme<strong>in</strong>e.de - Land Bran<strong>den</strong>burg im Internet - Aktuelle Berichte<br />

AKTUELLE BERICHTE<br />

23.10.03 - 20:19 UHR:<br />

Forscher fordern leichteren Zugang zu Onl<strong>in</strong>e-<br />

Fach<strong>in</strong>formationen<br />

Berl<strong>in</strong> (dpa) - Große deutsche und <strong>in</strong>ternationale Wissenschaftsorganisationen haben<br />

e<strong>in</strong>en leichteren Zugang zu Fach<strong>in</strong>formationen im Internet gefordert. Zum Abschluss<br />

e<strong>in</strong>er Tagung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> verabschiedeten sie e<strong>in</strong>e "Berl<strong>in</strong>er Erklärung" mit der<br />

Aufforderung, Wissenschaft und Kultur sollten für alle Internet- Nutzer <strong>in</strong> deutlich<br />

größerem Umfang als bisher kostenlos zugänglich gemacht wer<strong>den</strong>, teilte die <strong>Max</strong>-<br />

<strong>Planck</strong>-Gesellschaft am Donnerstag <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> mit.<br />

Die Empfehlungen zum "offenen Zugang" (open access) richten sich an<br />

Forschungse<strong>in</strong>richtungen sowie an Kultur<strong>in</strong>stitutionen wie Bibliotheken, Archive oder<br />

auch Museen. Autor und Urheber sollten dabei allen Nutzern e<strong>in</strong> Recht auf Zugang zu<br />

ihren Daten e<strong>in</strong>räumen. Dazu gehöre die Genehmigung, das Werk unter korrekter<br />

Angabe der Autorenschaft zu kopieren und digital weiterzuverbreiten. Die vollständige<br />

Arbeit sollte zusammen mit allen ergänzen<strong>den</strong> Materialien über e<strong>in</strong> noch zu<br />

schaffendes Onl<strong>in</strong>e-Archiv elektronisch bereitgestellt wer<strong>den</strong>.<br />

Die Erklärung richtet sich <strong>in</strong>direkt gegen Fachverlage, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen Jahren<br />

die Preise für Fachzeitschriften deutlich erhöht hatten und <strong>den</strong> Zugang zu Internet-<br />

Ausgaben begrenzen. Viele Universitäten sahen sich gezwungen, Abonnements zu<br />

kündigen und <strong>den</strong> Bestand zu kürzen.<br />

© 2003 Märkische Verlags- und Druck-Gesellschaft mbH Potsdam


CORDIS: News service<br />

European research <strong>in</strong>stitutes pledge support for 'open access' to scientific<br />

knowledge<br />

[Date: 2003-10-23]<br />

Representatives of some of Europe's lead<strong>in</strong>g research<br />

<strong>in</strong>stitutes signed a declaration on 22 October, pledg<strong>in</strong>g<br />

to promote greater dissem<strong>in</strong>ation of scientific<br />

knowledge and human reflection via the Internet.<br />

Signed by research organisations from France,<br />

Germany, Hungary, Italy and Norway, the 'Berl<strong>in</strong><br />

declaration on open access to knowledge <strong>in</strong> sciences<br />

and humanities' advocates better use of the Internet<br />

as a tool for dissem<strong>in</strong>ation, stat<strong>in</strong>g that for the first<br />

time ever, the Internet offers the possibility of mak<strong>in</strong>g<br />

knowledge universally accessible.<br />

'The Internet has fundamentally changed the practical<br />

and economic realities of distribut<strong>in</strong>g scientific knowledge and cultural heritage. [It] now<br />

offers the chance to constitute a global and <strong>in</strong>teractive representation of human knowledge,<br />

<strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g cultural heritage and the guarantee of worldwide access,' states the declaration.<br />

However, the declaration claims that the development of a viable dissem<strong>in</strong>ation procedure will<br />

necessitate a huge amount of support and commitment from 'each and every <strong>in</strong>dividual<br />

producer of scientific knowledge and holder of cultural heritage', given the significant<br />

repercussions that the Internet will have on the nature of scientific publish<strong>in</strong>g, as well as the<br />

exist<strong>in</strong>g system of quality assurance.<br />

For their part, the signatories will support progress <strong>in</strong> this area by encourag<strong>in</strong>g their<br />

researchers and grant recipients to publish their work accord<strong>in</strong>g to the pr<strong>in</strong>ciples of the 'open<br />

access paradigm'.<br />

In order to ma<strong>in</strong>ta<strong>in</strong> the standards of quality assurance and good scientific practice, the<br />

signatories will also develop methods to evaluate open access contributions and onl<strong>in</strong>e<br />

journals, and promote the merit of contributions to an open access <strong>in</strong>frastructure by<br />

software tool development, content provision, metadata creation, or the publication of<br />

<strong>in</strong>dividual articles.<br />

For further <strong>in</strong>formation, please consult the follow<strong>in</strong>g web address:<br />

http://www.mpg.de/pdf/openaccess/Berl<strong>in</strong>Declaration_en.pdf<br />

Data Source Provider: The <strong>Max</strong> <strong>Planck</strong> <strong>in</strong>stitute<br />

Document Reference: Based on <strong>in</strong>formation from the <strong>Max</strong> <strong>Planck</strong> <strong>in</strong>stitute<br />

CORDIS RTD-NEWS / © European Communities.


Wissenschaftler drohen mit dem Internet<br />

Politik<br />

23.10.2003<br />

Wissenschaftler drohen mit dem Internet<br />

Die „Berl<strong>in</strong>er Erklärung“: Aus Ärger über die Verlage wollen Forscher<br />

nicht länger für Fachzeitschriften schreiben<br />

Von Paul Janositz<br />

„Wir wollen ke<strong>in</strong>e Revolution“, sagte Peter Gruss, Präsi<strong>den</strong>t der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<br />

Gesellschaft (MPG). E<strong>in</strong>e Umwälzung wäre es aber schon, würde die<br />

„Berl<strong>in</strong>er Erklärung" Wirklichkeit, die am Mittwoch verabschiedet wurde. Es<br />

geht um „offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen“ im Internet.<br />

Elektronisch soll Publizieren schneller, besser und billiger gehen als auf<br />

konventionelle Art. Zudem soll das Recht von Autoren gestärkt und die<br />

Abhängigkeit von <strong>den</strong> Verlagen verr<strong>in</strong>gert wer<strong>den</strong>. Die Deklaration wurde<br />

von <strong>in</strong>sgesamt 19 nationalen und <strong>in</strong>ternationalen<br />

Wissenschaftsorganisationen unterzeichnet.<br />

Derzeit s<strong>in</strong>d Veröffentlichungen <strong>in</strong> renommierten Fachzeitschriften immer<br />

noch e<strong>in</strong> Muss für die Karriere – Internet-Publikationen <strong>in</strong>des ke<strong>in</strong><br />

anerkannter Ersatz. <strong>Das</strong> liegt auch an der schlechten Präsentation.<br />

„Qualität ist vor lauter Müll oft schwer zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>", sagte Jürgen Renn vom<br />

<strong>Max</strong>- <strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>.<br />

Qualitätskontrollen und der E<strong>in</strong>satz von Experten, die die Artikel<br />

überprüfen, sollen dies ändern. Und: „Sämtliche Quellen und Daten, auf die<br />

sich die Publikation stützt, müssen im Netz zugänglich se<strong>in</strong>", betonte der<br />

Chemiker Robert Schlögl vom Berl<strong>in</strong>er Fritz-Haber-<strong>Institut</strong>.<br />

<strong>Das</strong> provoziert Streit mit <strong>den</strong> Verlagen, die sich je<strong>den</strong> Zugriff auf<br />

wissenschaftliche Artikel bezahlen lassen. „E<strong>in</strong>mal herunterla<strong>den</strong> kostet 25<br />

Dollar“, erklärte Schlögl. Um das zu ändern, braucht es e<strong>in</strong> neues<br />

Urheberrecht. Derzeit erhält der Verlag vom Autor das Recht zur<br />

unbegrenzten kommerziellen Nutzung. Dieses Recht solle künftig an e<strong>in</strong>e<br />

Frist geknüpft wer<strong>den</strong>, forderte Gruss. Autoren sollten allen Nutzern „e<strong>in</strong><br />

freies, unwiderrufliches und weltweites Recht auf <strong>den</strong> Zugang zu <strong>den</strong><br />

Daten“ e<strong>in</strong>räumen, e<strong>in</strong>schließlich des Rechts, zu kopieren und digital<br />

weiterzuverbreiten.<br />

Ke<strong>in</strong> Wunder, dass sich die Verlage sträuben. Viel Geld steht auf dem<br />

Spiel, und die <strong>Institut</strong>ionen müssen sparen. Alle<strong>in</strong> die <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<br />

Gesellschaft gibt rund 15 Millionen Euro im Jahr für Fachzeitschriften aus.<br />

Da wer<strong>den</strong> selbst gestan<strong>den</strong>e Wissenschaftler zu Umstürzlern.<br />

2002 © Verlag Der Tagesspiegel GmbH


Berl<strong>in</strong>Onl<strong>in</strong>e: Wissenschaft für jedermann umsonst<br />

Donnerstag, 23. Oktober 2003<br />

Wissenschaft für jedermann umsonst<br />

Berl<strong>in</strong>er Erklärung über <strong>den</strong> offenen Zugang zu<br />

Wissen<br />

Lisa Eversmann<br />

Tagesthema<br />

Seite 3<br />

Me<strong>in</strong>ung<br />

Wer e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Veröffentlichung im Internet lesen will, muss sich meist als Nutzer<br />

registrieren und erhält Informationen zu neuem Wissen nur gegen e<strong>in</strong>e Gebühr. So kostet der Zugriff<br />

auf e<strong>in</strong>en Artikel <strong>in</strong> dem renommierten Wissenschaftsblatt Science rund zehn Euro pro Tag. Solche<br />

Ausgaben könnten bald der Vergangenheit angehören. Peter Gruss, Präsi<strong>den</strong>t der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<br />

Gesellschaft (MPG), sowie führende deutsche und <strong>in</strong>ternationale Wissenschaftler unterzeichneten am<br />

gestrigen Mittwoch die "Berl<strong>in</strong>er Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen". Damit<br />

bekommt die seit längerem bestehende Forderung, Forschungsarbeiten sowohl aus Geistes- als auch<br />

aus Naturwissenschaften unentgeldlich zu veröffentlichen, erstmals e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Stimme.<br />

Außerdem forderten die Wissenschaftler, dass auch Informationen aus Bibliotheken, Archiven und<br />

Museen der Allgeme<strong>in</strong>heit zur Verfügung gestellt wer<strong>den</strong>.<br />

"Es ist e<strong>in</strong>e eigene Mission der Wissenschaft, Erkenntnisse aus der Forschung möglichst schnell und<br />

universell zugänglich zu machen", sagte Jürgen Renn vom <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für die Geschichte der<br />

Wissenschaft. E<strong>in</strong> Beispiel für die Vorteile des öffentlichen Zugangs zu Forschungsergebnissen ist das<br />

Humangenom-Projekt. Dabei konnten die Forscher fortwährend auf <strong>den</strong> Arbeiten anderer<br />

Wissenschaftler aufbauen und das Projekt so früher als ursprünglich erwartet abschließen.<br />

Ergänzung zu Zeitschriften<br />

Politik<br />

Wirtschaft<br />

Sport<br />

Die MPG hat bereits e<strong>in</strong>e elektronische Bibliothek namens eLib entwickelt. Auch die Vertreter anderer<br />

deutscher Forschungse<strong>in</strong>richtungen - beispielsweise der Helmholtz-Geme<strong>in</strong>schaft, der Deutschen<br />

Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft und der Leibniz-Geme<strong>in</strong>schaft - wollen ihre Forscher ermutigen, eigene<br />

Arbeiten nach dem Pr<strong>in</strong>zip des offenen Zugangs zu veröffentlichen. Außerdem wollen die<br />

Unterzeichner darauf h<strong>in</strong>wirken, dass diese Onl<strong>in</strong>e-Publikationen genauso von der wissenschaftlichen<br />

Geme<strong>in</strong>schaft anerkannt wer<strong>den</strong>, wie gedruckte Artikel <strong>in</strong> Fachzeitschriften.<br />

Denn noch führen die frei zugänglichen Onl<strong>in</strong>e-Journale e<strong>in</strong> Schattendase<strong>in</strong>. Mit der Berl<strong>in</strong>er Erklärung<br />

wird dagegen ihre Koexistenz zu <strong>den</strong> gedruckten Journalen angestrebt: "Wir wollen nicht Science und<br />

Nature <strong>in</strong> die Knie zw<strong>in</strong>gen, wir wollen e<strong>in</strong>e parallele Lösung f<strong>in</strong><strong>den</strong>", sagte Gruss.<br />

Der Erklärung vorausgegangen war e<strong>in</strong>e Konferenz <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> auf der <strong>in</strong>ternationale Experten über die<br />

Herausforderungen und Möglichkeiten des Internets als Medium zur Wissensverbreitung berieten.<br />

Berl<strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

Bran<strong>den</strong>burg<br />

Feuilleton


NETZEITUNG INTERNET: Forscher für freien Wissens-Zugang im Internet<br />

Probeabo | Guided Tour | Log<strong>in</strong><br />

Forscher für freien Wissens-<br />

Zugang im Internet<br />

23. Okt 16:04<br />

Wissenschaftliche Zeitschriften machen<br />

weltweit die Ergebnisse des<br />

Forschungsbetriebs onl<strong>in</strong>e verfügbar – gegen<br />

Bezahlung. In e<strong>in</strong>er «Berl<strong>in</strong>er Erklärung»<br />

fordern Wissenschaftler nun freien Zugang.<br />

Wissenschaftler aller großen deutschen<br />

Forschungsorganisationen wollen künftig über<br />

das Internet kostenlos auf alle<br />

Forschungsergebnisse zugreifen können. Diese<br />

Forderung ist nachzulesen <strong>in</strong> der so genannten<br />

Berl<strong>in</strong>er Deklaration, die zum Abschluss e<strong>in</strong>er<br />

dreitägigen Konferenz der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<br />

Gesellschaft (MPG) von <strong>den</strong> Repräsentanten der<br />

E<strong>in</strong>richtungen unterzeichnet wurde. Es sei e<strong>in</strong>e<br />

«eigene Mission der Wissenschaft», Erkenntnisse<br />

aus der Forschung möglichst schnell und<br />

universell zugänglich zu machen, sagte Jürgen<br />

Renn vom <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für die Geschichte<br />

der Wissenschaft.<br />

Im Klartext heißt das: Der Zugriff auf Artikel soll<br />

<strong>in</strong> Zukunft nichts mehr kosten («Open Access»).<br />

Als e<strong>in</strong> Beispiel für die Vorteile des öffentlichen<br />

Zugangs zu Forschungsergebnissen nennt die<br />

«Berl<strong>in</strong>er Zeitung» das Humangenom-Projekt der<br />

MPG. Dabei hätten die Forscher ständig auf <strong>den</strong><br />

Arbeiten anderer Wissenschaftler aufbauen und<br />

das Projekt so früher als ursprünglich erwartet<br />

abschließen können, schreibt das Blatt.<br />

Quellen verfügbar machen<br />

US-amerikanische Organisationen haben zudem<br />

vor gut e<strong>in</strong>er Woche die erste Ausgabe e<strong>in</strong>er frei<br />

zugänglichen Biologiezeitschrift publiziert.<br />

Diesem Beispiel folgte am Montag die MPG mit<br />

der Kulturzeitschrift Echo («European Cultural<br />

Heritage Onl<strong>in</strong>e»). Damit sollten kulturelle


NETZEITUNG INTERNET: Forscher für freien Wissens-Zugang im Internet<br />

Informationen und historischen Quellen im<br />

Internet verfügbar gemacht und gleichzeitig e<strong>in</strong>e<br />

Infrastruktur aufgebaut wer<strong>den</strong>, die es erlaube,<br />

mit diesen Objekten wissenschaftlich zu arbeiten,<br />

so Wissenschaftler Renn.<br />

Der «Berl<strong>in</strong>er Erklärung» war e<strong>in</strong>e Konferenz <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> vorausgegangen, auf der sich <strong>in</strong>ternationale<br />

Experten über die Herausforderungen und<br />

Möglichkeiten des Internets als Medium zur<br />

Wissensverbreitung austauschten. (nz)<br />

NZ Netzeitung GmbH · Albrechtstr. 10 · 10117 Berl<strong>in</strong> · Tel.: 030 240 888-0 · Fax: 030 240 888 801<br />

Alle Rechte © 2003 NZ Netzeitung GmbH<br />

http://www.netzeitung.de/<strong>in</strong>ternet/259150.html (2 von 2) [24.10.2003 11:51:26 Uhr]


The Scientist :: Open access Europe<br />

October 22, 2003<br />

Open access Europe<br />

Lead<strong>in</strong>g centers say they'll encourage researchers to<br />

publish <strong>in</strong> open-access journals | By Ned Stafford<br />

Representatives of major European research <strong>in</strong>stitutes meet<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

on Wednesday (October 22) issued a declaration <strong>in</strong> support of openaccess<br />

publish<strong>in</strong>g of scientific and scholarly research.<br />

The declaration, dubbed the Berl<strong>in</strong> Declaration on Open Access to<br />

Knowledge <strong>in</strong> the Sciences and Humanities, says, "The Internet now<br />

offers the chance to constitute a global and <strong>in</strong>teractive representation<br />

of human knowledge, <strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g cultural heritage and the guarantee of<br />

worldwide access."<br />

"Our organizations are <strong>in</strong>terested <strong>in</strong> the further promotion of the new<br />

open access paradigm to ga<strong>in</strong> the most benefit for science and society.<br />

Therefore, we <strong>in</strong>tend to make progress by encourag<strong>in</strong>g our<br />

researchers/grant recipients to publish their work accord<strong>in</strong>g to the<br />

pr<strong>in</strong>ciples of the open access paradigm," it says.<br />

Robert Schlögl, of the Fritz Haber <strong>Institut</strong>e of the <strong>Max</strong> <strong>Planck</strong> Society,<br />

told The Scientist that signatories <strong>in</strong>cluded all major research <strong>in</strong>stitutes<br />

<strong>in</strong> Germany and France, as well as others throughout Europe, <strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g<br />

Norway and Hungary. A similar document for US-based <strong>in</strong>stitutes has<br />

not yet been signed, he said.<br />

"Europeans are faster this time," he said. "We have overtaken the<br />

Americans."<br />

Open-access publish<strong>in</strong>g allows readers to access, copy, and distribute<br />

research papers freely, subject to proper attribution of authorship. In<br />

both its commercial guise, as pioneered by BioMed Central (a partner<br />

with The Scientist), and the not-for-profit version be<strong>in</strong>g developed by,<br />

among others, the Public Library of Science (PLoS), open-access


The Scientist :: Open access Europe<br />

publish<strong>in</strong>g is ga<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>in</strong>creas<strong>in</strong>g attention <strong>in</strong> the current <strong>in</strong>ternational<br />

debate about scholarly communication.<br />

Declaration will be updated by Thursday (October 23) to allow other<br />

European <strong>in</strong>stitutions to sign <strong>in</strong> support of the declaration.<br />

He also said that US representatives attend<strong>in</strong>g the conference had<br />

agreed to hold a jo<strong>in</strong>t conference on open access <strong>in</strong> April at a location<br />

yet to be determ<strong>in</strong>ed. Earlier this year, a meet<strong>in</strong>g of <strong>in</strong>terested parties<br />

<strong>in</strong> the United States produced the Bethesda Statement on the pr<strong>in</strong>ciples<br />

of open-access publish<strong>in</strong>g.<br />

The <strong>Max</strong> <strong>Planck</strong> Society strongly supports open access and has made<br />

"several hundred thousand euros" available to help cover the cost of<br />

the transition from current practices, Schlögl said.<br />

Rather than charg<strong>in</strong>g readers to access research, open-access<br />

publishers charge researchers or their <strong>in</strong>stitutions to publish.<br />

Schlögl was reluctant to specify the extra cost of publish<strong>in</strong>g dur<strong>in</strong>g the<br />

transition period. But when pressed, he said the <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Society<br />

has estimated the additional cost at around 10%. "That is just an<br />

estimate," he said. "We will see how it goes."<br />

When the transition is complete, publish<strong>in</strong>g costs for open access will<br />

be about the same as now for paper, he said. That transition time will<br />

vary accord<strong>in</strong>g to scientific discipl<strong>in</strong>e, he said. For example, physics and<br />

mathematics research publish<strong>in</strong>g is already advanced while "life<br />

sciences is on the slow end of the spectrum," he said.<br />

He estimated it would take around 5 years to make the total transition<br />

to open access.<br />

L<strong>in</strong>ks for this article<br />

Berl<strong>in</strong> Declaration on Open Access to Knowledge <strong>in</strong> the Sciences and<br />

Humanities<br />

http://www.zim.mpg.de/openaccess-berl<strong>in</strong>/berl<strong>in</strong>declaration.html<br />

Robert Schlögl<br />

http://w3.rz-berl<strong>in</strong>.mpg.de/ac/director/director.html<br />

Fritz Haber <strong>Institut</strong>e of the <strong>Max</strong> <strong>Planck</strong> Society<br />

http://www.fhi-berl<strong>in</strong>.mpg.de/grz/fhi_new.html<br />

BioMed Central<br />

http://www.biomedcentral.com


The Scientist :: Open access Europe<br />

Public Library of Science<br />

http://www.publiclibraryofscience.org<br />

Bethesda Statement on Open-access Publish<strong>in</strong>g<br />

http://www.earlham.edu/~peters/fos/bethesda.htm<br />

©2003, The Scientist Inc. <strong>in</strong> association with BioMed Central.


Deutschlandfunk - Forschung Aktuell - Befreiung aus dem Elfenbe<strong>in</strong>turm<br />

Forschung aktuell • Aus Naturwissenschaft und Technik<br />

22.10.2003<br />

Befreiung aus dem Elfenbe<strong>in</strong>turm<br />

Wissenschaftsorganisationen fordern freien Zugang zu<br />

Forschungsergebnissen<br />

Per Internet sollen<br />

Wissenschaftler kostenlos<br />

auf alle<br />

Forschungsergebnisse<br />

zugreifen können. (Foto:<br />

AP)<br />

Forschungspolitik. - Rund 24.000<br />

wissenschaftliche Zeitschriften, unter<br />

<strong>den</strong>en "Nature" oder "Science" nur die<br />

bekanntesten s<strong>in</strong>d, verteilen weltweit die<br />

Ergebnisse des Forschungsbetriebs, und<br />

das lassen sich die Verleger zunehmend<br />

teuer bezahlen. Im vergangenen<br />

Jahrzehnt haben sich die Kosten für die<br />

Publikationen um das Fünffache erhöht:<br />

Zeitschriftenabonnements kosten bis zu<br />

20.000 Euro pro Jahr. Große deutsche<br />

und <strong>in</strong>ternationale<br />

Wissenschaftsorganisationen wollen nun<br />

e<strong>in</strong>en Paradigmenwechsel. Open Access<br />

heißt das Schlagwort der am Mittwoch unterzeichneten "Berl<strong>in</strong>er<br />

Erklärung", die <strong>den</strong> freien Zugang zu Forschungsergebnissen im<br />

Internet fordert.<br />

Nach e<strong>in</strong>er dreitägigen Tagung der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft wurde die<br />

"Berl<strong>in</strong>er Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen"<br />

am Mittwoch unterzeichnet. <strong>Das</strong>s wissenschaftliche Zeitschriften quasi<br />

alle<strong>in</strong> für die, zudem kostenpflichtige, Verbreitung von Wissen zuständig<br />

s<strong>in</strong>d, ist nach Ansicht des Wissenschaftshistorikers Professor Jürgen Renn<br />

im Zeitalter des Internets nicht mehr angemessen: "Ich f<strong>in</strong>de, dass wir <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er äußerst spannen<strong>den</strong> Übergangsphase leben. Die gegenwärtige<br />

Internetrevolution ist ja vergleichbar mit der Erf<strong>in</strong>dung des Buchdrucks.<br />

Auch <strong>in</strong> der Vergangenheit war ja nicht alles selbstverständlich, was wir<br />

heute so empf<strong>in</strong><strong>den</strong>: E<strong>in</strong> Buch mit Inhaltsverzeichnis und Fußnoten, das<br />

musste ja erst e<strong>in</strong>mal im gesellschaftlichen Dialog festgelegt wer<strong>den</strong>.<br />

Solche Formen müssen für das Internet erst noch gefun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>." Und<br />

das müsse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em breiten gesellschaftlichen Dialog geschehen, so Renn.<br />

E<strong>in</strong>en Schritt <strong>in</strong> diese Richtung unternahmen US-amerikanische<br />

Organisationen vor gut e<strong>in</strong>er Woche mit der ersten Ausgabe e<strong>in</strong>er frei<br />

zugänglichen Biologiezeitschrift. Die <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft folgte dem<br />

Beispiel und veröffentlicht seit Montag die Kulturzeitschrift Echo<br />

("European Cultural Heritage Onl<strong>in</strong>e"). "Sie soll zum e<strong>in</strong>en die Menge an<br />

relevanten kulturellen Informationen und historischen Quellen im Internet<br />

verfügbar machen und gleichzeitig e<strong>in</strong>e Infrastruktur aufbauen, die es<br />

erlaubt, mit diesen Objekten wissenschaftlich zu arbeiten", erklärt Renn.<br />

Fußnoten und Quellangaben <strong>in</strong> <strong>den</strong> Texten von Echo sollen dann als L<strong>in</strong>ks<br />

direkt zu <strong>den</strong> Quellen führen. Dabei gilt es auch, das allgegenwärtige<br />

Chaos im Internet zu vermei<strong>den</strong>, wo Webseiten ihre Adressen ändern oder<br />

gar ganz verschw<strong>in</strong><strong>den</strong>. Außerdem sollen Onl<strong>in</strong>e-Fachzeitschriften auf<br />

allen Computerplattformen funktionieren.<br />

Neben technischen Problemen müssen auch die Verleger überzeugt


Deutschlandfunk - Forschung Aktuell - Befreiung aus dem Elfenbe<strong>in</strong>turm<br />

wer<strong>den</strong>, wissenschaftliche Arbeiten auch im Internet anzubieten. Bei<br />

dieser sanften Lobbyarbeit wollen die großen Organisationen wie<br />

Deutsche Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft, Helmholtz-Geme<strong>in</strong>schaft oder der<br />

Wissenschaftsrat an e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Strang ziehen. Professor Peter<br />

Gruss, Präsi<strong>den</strong>t der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft, hofft auf freiwillige<br />

Beiträge der Verleger: "<strong>Das</strong> Hauptproblem ist doch, dass gegenwärtig über<br />

solche Zeitschriften ja nicht nur e<strong>in</strong>e Veröffentlichung, sondern auch e<strong>in</strong><br />

Qualitätskriterium erzeugt wird. Dieses Qualitätskriterium ist besonders<br />

jungen Wissenschaftlern wichtig. <strong>Das</strong> heißt: Es muss sich <strong>in</strong> der<br />

Wissenschaftsgeme<strong>in</strong>schaft die Überzeugung breit machen, dass wir<br />

Abstand nehmen von Journalen und uns nur noch um die Inhalte<br />

kümmern. Wenn wir dah<strong>in</strong> gelangen, dass wir Inhalte prüfen und nicht<br />

mehr <strong>den</strong> Ersche<strong>in</strong>ungsort, dann wird es zwangsläufig auch dazu führen,<br />

dass die jungen Wissenschaftler e<strong>in</strong> Interesse daran haben, im S<strong>in</strong>ne des<br />

Open Access zu publizieren."<br />

[Quelle: Wolfgang Noelke]


taz 10.10.2003 Vom Garnichts und vom Etwas<br />

Vom Garnichts und vom Etwas<br />

In der Neuköllner Werkstatt des Wissens erforschen K<strong>in</strong>der das Nichts. <strong>Das</strong> hat<br />

viele Gesichter. Vom leeren Kühlschrank über negative Zahlen bis zu Ground<br />

Zero. K<strong>in</strong>derwissen ernst genommen, eröffnet auch Wissenschaftshistorikern<br />

neue Erkenntnisse<br />

von WALTRAUD SCHWAB<br />

Was ist das Nichts - Geradezu vermessen ist es, dazu K<strong>in</strong>der zu befragen. Dennoch<br />

läuft im Neuköllner Comeniusgarten und der damit verbun<strong>den</strong>en Werkstatt des<br />

Wissens e<strong>in</strong> groß angelegtes Experiment, bei dem K<strong>in</strong>der das Nichts erforschen.<br />

Wissenschaftshistoriker und -historiker<strong>in</strong>nen begleiten sie. Denn - so der Anspruch<br />

des Projekts - <strong>in</strong>dem die Wissenschaft die Fragen der K<strong>in</strong>der ernst nimmt, wird auch<br />

der Blickw<strong>in</strong>kel der Akademiker erweitert.<br />

Phrasen aus Zeitungen zeigen <strong>den</strong> Weg zum Projektraum: "Ground Zero. Ins Nichts<br />

verschlagen. Die schwarze Null. Null Bock. Nullnummer. Dichte Leere. Bl<strong>in</strong>der Fleck."<br />

Für alle, die angesichts der Fragestellung e<strong>in</strong>e Ratlosigkeit ereilt, bieten diese<br />

Schlagwörter schon e<strong>in</strong> paar H<strong>in</strong>weise.<br />

Was kann das Nichts se<strong>in</strong> In der Physik ist es das Vakuum. Für die Mathematik wäre<br />

es die Null. Auch die negativen Zahlen. Die allerd<strong>in</strong>gs beschäftigen die Philosophen<br />

ebenso. In der Psychologie ist das Nichts vielleicht als Leere zu bezeichnen und <strong>in</strong> der<br />

Biologie als Tod, Verwandlung, Metamorphose. Im Denken aber sei das Nichts das<br />

Ne<strong>in</strong>, wie Henn<strong>in</strong>g Vierck, der Initiator des Projekts sagt. "Um <strong>den</strong>ken zu können,<br />

brauchen wird das Ne<strong>in</strong>." Warum An die Verne<strong>in</strong>ung sei Entscheidungsfähigkeit und<br />

<strong>in</strong>dividuelle Wahrnehmung gebun<strong>den</strong>.<br />

Zu allen Aspekten des Nichts wird <strong>in</strong> der Werkstatt des Wissens experimentiert. Seit<br />

Wochen rennen die Neuköllner K<strong>in</strong>der dem Projekt die Türen e<strong>in</strong>. Denn es hat sich<br />

herumgesprochen, dass dort kle<strong>in</strong>e Wunder geschehen: Schmetterl<strong>in</strong>ge schlüpfen aus<br />

Puppen, Wasser fliegt durch die Luft, Menschen verschw<strong>in</strong><strong>den</strong> im Nebel. Die Fragen<br />

und die Welterklärungen der K<strong>in</strong>der dazu wer<strong>den</strong> ernst genommen. Belehrt wird hier<br />

niemand.<br />

"Was ist das Nichts", fragt die Wissenschaftshistoriker<strong>in</strong> Stephanie Giese die K<strong>in</strong>der,<br />

die <strong>in</strong> <strong>den</strong> Projektraum kommen. "Eben gar nichts", sei e<strong>in</strong>e Antwort, die oft gegeben<br />

wird. "Was ist das Gegenteil vom Nichts", fragt Giese, die eigentlich vom <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-


taz 10.10.2003 Vom Garnichts und vom Etwas<br />

<strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> kommt, weiter. "Etwas." - "Und wo ist das<br />

Nichts" Oft antworteten die K<strong>in</strong>der: "Ke<strong>in</strong> Geld <strong>in</strong> der Tasche.", "Nichts im<br />

Kühlschrank.", "E<strong>in</strong> leeres Zimmer."<br />

Letzteres ist e<strong>in</strong> Stichwort. Die K<strong>in</strong>der wer<strong>den</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en White Cube, e<strong>in</strong>en weiß<br />

gestrichenen, Raum, geführt. "Ist hier wirklich nichts", fragt Giese. Allmählich<br />

entdecken die K<strong>in</strong>der, dass doch allerhand da ist: die Wand, die Steckdose, du, ich,<br />

die Luft, das Licht, der Schatten, die Zeit, das Loch <strong>in</strong> der Wand, das als Tür<br />

i<strong>den</strong>tifiziert ist. "Ist das wirklich e<strong>in</strong>e Tür", fragt die Wissenschaftler<strong>in</strong>. "Kann e<strong>in</strong><br />

Raum so leer se<strong>in</strong>, dass alles fehlt", will sie weiter wissen. E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d antwortet: "Man<br />

muss e<strong>in</strong>en Jogurtbecher leer essen und putzen und <strong>den</strong> Deckel wieder drauf kleben."<br />

- "Und wie bekommen wir die Luft raus" - "Mit dem Staubsauger."<br />

Wie gew<strong>in</strong>nen K<strong>in</strong>der Erkenntnisse Und lassen sich daraus Konsequenzen für die<br />

Vermittung von Erkenntnis <strong>in</strong> Kunst und Wissenschaft ziehen Dies s<strong>in</strong>d Fragen,<br />

<strong>den</strong>en <strong>in</strong> diesem Projekt, das eigentlich als Ausstellung bezeichnet wird, weil die<br />

Erkenntnisse der K<strong>in</strong>der dokumentiert und ausgestellt wer<strong>den</strong>, nachgegangen wird.<br />

"Durch die Fragen der K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d die Wissenschaftshistoriker mit etwas konfrontiert,<br />

auf das sie selbst nicht mehr kommen", erläutert Initiator Hennig Vierck. "Durch die<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit K<strong>in</strong>dern s<strong>in</strong>d die Wissenschaftler selbst gezwungen, e<strong>in</strong>fach<br />

zu se<strong>in</strong>. Und punktuell bekommt man von <strong>den</strong> K<strong>in</strong>dern Antworten, die <strong>in</strong> der<br />

Wissenschaftsentwicklung tatsächlich e<strong>in</strong>e Rolle spielen."<br />

Viercks Liebl<strong>in</strong>gserlebnis mit <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Rabauken Ibrahim und Steven verdeutlicht,<br />

was er me<strong>in</strong>t. "Was ist zwei m<strong>in</strong>us drei", fragt er die Achtjährigen. "Komisch, aber ich<br />

würde sagen: e<strong>in</strong>s", antwortet Steven. "<strong>Das</strong> muss doch weniger se<strong>in</strong>", wirft Ibrahim<br />

e<strong>in</strong>. "Vielleicht m<strong>in</strong>us e<strong>in</strong>s."<br />

Vierck gibt bei<strong>den</strong> Recht und verdeutlicht das Problem an zwei Buntstiften. "Wie muss<br />

der dritte Buntstift aussehen", fragt er. "Wie e<strong>in</strong> Geist", antwortet Ibrahim. Für Vierck<br />

e<strong>in</strong>e Sternstunde der Erkenntnis, <strong>den</strong>n es muss etwas geben, um die Negativität<br />

e<strong>in</strong>zuführen. E<strong>in</strong>e geistige Größe. Fantasie, Schöpfungskraft. "Reflektionslogisches<br />

Substrat", nennt es Vierck. Ibrahim hat das auf <strong>den</strong> Punkt gebracht.<br />

Die Experimente, die die K<strong>in</strong>der durchführen, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach: e<strong>in</strong> Blatt immer weiter<br />

zerreißen und fragen, was passiert, wenn es wirklich nicht mehr kle<strong>in</strong>er zu kriegen ist<br />

Dazu drei Vermutungen der K<strong>in</strong>der, die das Kle<strong>in</strong>stmögliche erklären: "Ich kann nicht<br />

mehr weitermachen, weil ich es nicht mehr sehe.", "Ich kann nicht mehr<br />

weitermachen, weil das Mikroskop nicht mehr groß genug ist.", "Ich kann nicht mehr<br />

weitermachen, weil es nicht mehr weiter zerkle<strong>in</strong>ert wer<strong>den</strong> kann." Mit letzter Antwort<br />

s<strong>in</strong>d die K<strong>in</strong>der nicht weit vom Atom entfernt.<br />

Natürlich ist genug Stoff zum Staunen da. Wenn e<strong>in</strong> schrumpliger Apfel im Vakuum


taz 10.10.2003 Vom Garnichts und vom Etwas<br />

wieder schön wird. Warum Wenn man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er spiegeln<strong>den</strong> Halbkugel außen mehr<br />

sehen kann, als mit dem Auge und <strong>in</strong>nen <strong>in</strong> der Kugel das, was zu sehen ist, auf dem<br />

Kopf steht. Warum Wenn sich e<strong>in</strong>e Luftblase <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gefüllten Glas durch Druck auf<br />

<strong>den</strong> Deckel nach unten bewegt. Warum Mit welchen Metho<strong>den</strong> gehen die K<strong>in</strong>der vor,<br />

wenn sie all das erklären sollen Dazu Vierck: "Sie machen wenig Analogieschlüsse.<br />

Es ist fasz<strong>in</strong>ierend, wie oft Gott und Geister das Ganze erklären." Dazu die<br />

neunjährige Sarah: "Die Luft ist das Nichts. <strong>Das</strong> Nichts ist Gott." - "Und atmen wir ihn<br />

e<strong>in</strong>" - "Manchmal."<br />

Aus all <strong>den</strong> Fragen zum Nichts s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>den</strong> viere<strong>in</strong>halb Monaten, seit das Projekt läuft,<br />

neue Fragen entstan<strong>den</strong>. Als Stichworte hängen sie an <strong>den</strong> Wän<strong>den</strong>: Tod,<br />

Verwandlung, verkehrte Welt, Weltende, Verschw<strong>in</strong><strong>den</strong>, sichtbar und unsichtbar,<br />

außen und <strong>in</strong>nen. Die Gedanken der K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d an <strong>den</strong> Wän<strong>den</strong> zu lesen. Die 6-<br />

jährige Ronja erklärt sich das Weltende so: "Da fliege ich geradewegs zum<br />

Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong>nenberg, auf dem e<strong>in</strong>e Blume ist." Gemalt hat sie die Szene auch.<br />

Die Ausstellung, die <strong>in</strong> der Werkstatt des Wissens entsteht, heißt "Künstler,<br />

Wissenschaftler, K<strong>in</strong>der und das Nichts". Noch bis Anfang November entsteht sie. Wer<br />

sie sehen will, muss bereit se<strong>in</strong>, sich mit dem Nicht-Ausgestellten zu beschäftigen.<br />

Fertig ist die Ausstellung erst, wenn sie geschlossen ist.<br />

"Künstler, Wissenschaftler, K<strong>in</strong>der und das Nichts" läuft noch bis 2. November, täglich<br />

von 16 bis 19 Uhr. Gruppen nach Vere<strong>in</strong>barung. Tel: 0 30/68 23 73 04.<br />

Comeniusgarten, Richardstraße 35, 12043 Berl<strong>in</strong>-Neukölln<br />

taz Berl<strong>in</strong> lokal Nr. 7178 vom 10.10.2003, Seite 21, 247 TAZ-Bericht WALTRAUD SCHWAB<br />

© Contrapress media GmbH<br />

Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags


Sonntag, 10. August 2003<br />

<strong>Das</strong> Staunen über die Welt ist seit<br />

300 Jahren aus der Mode.<br />

Professor Lorra<strong>in</strong>e <strong>Das</strong>ton bedauert das<br />

zutiefst - schließlich befasst sie sich mit<br />

Wundern<br />

Von Matthias He<strong>in</strong>e<br />

Journal<br />

Programm<br />

Service<br />

Manchmal ist Schweigen e<strong>in</strong>e vertrauensbil<strong>den</strong>de<br />

Maßnahme: "Geben Sie mir e<strong>in</strong>e Woche<br />

Vorbereitungszeit und sechs Stun<strong>den</strong> zum Re<strong>den</strong> -<br />

dann könnte ich Ihnen sicher e<strong>in</strong>iges dazu sagen,"<br />

verweigert Professor Lorra<strong>in</strong>e <strong>Das</strong>ton e<strong>in</strong>e flotte Antwort<br />

auf die Frage, wie es geschehen konnte, dass die e<strong>in</strong>st<br />

technologisch-rational so überlegene Kultur der<br />

arabischen Welt seit dem Mittelalter weit h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong><br />

Westen zurückgefallen ist. Wenn ständig im Fernsehen<br />

"Experten" jedes gewünschte Menschheitsrätsel <strong>in</strong> nur<br />

20 Sekun<strong>den</strong> lösen, tut solche Aufrichtigkeit gut. Auch<br />

wenn der Interviewer nur das Schnaufen der<br />

Klimaanlage der tschechischen Botschaft an der<br />

Wilhelmstraße aufs Tonband bekommt. In dem Beton-<br />

Ufo residiert das <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> als Mieter. Lorra<strong>in</strong>e <strong>Das</strong>ton ist<br />

hier Direktor<strong>in</strong>.<br />

Im Gegensatz zu Peter Scholl-Latour und <strong>den</strong> anderen<br />

allzu ständigen <strong>Medien</strong>plauderern hat <strong>Das</strong>ton aber auch<br />

e<strong>in</strong>en Ruf zu verlieren. Die Direktion e<strong>in</strong>es MPI<br />

entspricht <strong>in</strong> der akademischen Welt e<strong>in</strong>em Posten im<br />

Spitzenmanagement e<strong>in</strong>es Konzerns - da belastet man<br />

se<strong>in</strong>e Reputation und se<strong>in</strong>e knappe Zeit nicht mit<br />

vagem Gerede.<br />

Seit 1995 steht sie der Abteilung II des MPI vor, die<br />

"Ideale und Praktiken der Rationalität" erforscht. <strong>Das</strong><br />

Angebot war e<strong>in</strong> glücklicher Zufall auch <strong>in</strong> privater<br />

H<strong>in</strong>sicht: 1997 kam ihr Mann Gerd Gigerenzer nach<br />

Berl<strong>in</strong>, wo er nun <strong>den</strong> Bereich "Adaptives Verhalten und<br />

Kognition" am ebenfalls <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> ansässigen MPI für<br />

Bildungsforschung leitet. Vorher hatten beide<br />

Ehepartner <strong>in</strong> Chicago gelehrt und geforscht.<br />

<strong>Das</strong>ton, die Englisch, Deutsch, Französisch und<br />

Griechisch, die Sprache ihrer Vorfahren, beherrscht, ist<br />

mit Deutschland nicht nur durch dieses biographische<br />

Detail verbun<strong>den</strong>: Ihre akademische Laufbahn führte sie


auch schon nach Konstanz, Bielefeld und Gött<strong>in</strong>gen, wo<br />

sie von 1990 bis 1992 das <strong>Institut</strong> für<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> leitete.<br />

Also fragen wir sie als nächstes etwas zu Deutschland -<br />

schließlich soll nicht noch mehr von der kostbaren<br />

halben Stunde verloren gehen, die sie <strong>in</strong> ihrem dichten<br />

Term<strong>in</strong>kalender gefun<strong>den</strong> hat: Wie kommt es, dass e<strong>in</strong><br />

Land, das zu Beg<strong>in</strong>n des letzten Jahrhunderts auf<br />

Nobelpreise und Grundlagenpatente nahezu abonniert<br />

war, heute <strong>in</strong> der Forschung nur noch h<strong>in</strong>teres<br />

Mittelmaß darstellt "Wirklich schlagartig hat sich die<br />

Situation ab 1933 durch <strong>den</strong> Exodus deutscher und<br />

österreichischer Wissenschaftler <strong>in</strong> die USA geändert",<br />

sagt sie. "Man kann selten von e<strong>in</strong>er so klaren Ursache<br />

re<strong>den</strong>, aber <strong>in</strong> diesem Falle schon. Dieser Bruch war<br />

katastrophal für Deutschland und Österreich und für die<br />

USA e<strong>in</strong> Geschenk ohne Beispiel."<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> rührt also genauso an Fragen<br />

von Leben und Tod wie jene Historie, die die<br />

Schlachten und Revolutionen zählt: "Ich <strong>in</strong>teressierte<br />

mich für Mathematik und Astronomie, Geschichte und<br />

Philosophie. Die <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> erlaubte mir<br />

schließlich, alles zu verb<strong>in</strong><strong>den</strong>", erläutert <strong>Das</strong>ton die<br />

Wahl ihres Fachgebiets. Heute untersucht sie vor allem<br />

die psychologischen Grundlagen der Wissenschaft.<br />

Alle<strong>in</strong> schon, dass es solche gibt und dass sie<br />

möglicherweise E<strong>in</strong>fluss auf "objektive"<br />

Forschungsergebnisse haben, bezweifeln manche<br />

Kollegen.<br />

Doch die 52-jährige ist ke<strong>in</strong>e Esoteriker<strong>in</strong> oder<br />

Prediger<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es kulturellen Relativismus, auch wenn<br />

sie sich <strong>in</strong> ihren Büchern immer wieder mit "Wundern"<br />

beschäftigt. "Verwirrend ist, dass die deutsche Sprache<br />

dasselbe Wort für zwei Begriffe benutzt, die <strong>in</strong> anderen<br />

Sprachen unterschiedlich benannt wer<strong>den</strong>. Die<br />

übernatürlichen Wunder, late<strong>in</strong>isch miracula genannt,<br />

können ke<strong>in</strong>e Wunder für die Wissenschaft se<strong>in</strong>. Dann<br />

gibt es aber auch noch natürliche Wunder, mirabilia.<br />

<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Ereignisse, die selten und nur durch e<strong>in</strong>e sehr<br />

komplizierte und zufällige Verflechtung von Ursachen<br />

zu Stande kommen. Diese s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Herausforderung<br />

für die Wissenschaft, weil sich diese sonst nur mit<br />

Erklärungen für Regelmäßigkeiten befasst."<br />

In der frühen Neuzeit, das beschreiben <strong>Das</strong>ton und ihre<br />

Harvard-Kolleg<strong>in</strong> Kathar<strong>in</strong>e Park <strong>in</strong> dem Buch "Wunder<br />

und die Ordnung der Welt" (Eichborn Verlag, 29,90<br />

Euro), gab es e<strong>in</strong>e ganze Wissenschaft, die sich<br />

ausschließlich mit Wundern beschäftigte. Die<br />

Entdeckungsreisen nach West und Ost, die Begegnung<br />

mit neuen Kulturen und Naturen hatten das Staunen als


wissenschaftliche Kraft entfesselt. Sehr zum Bedauern<br />

von <strong>Das</strong>ton kam das Staunen seit dem 18. Jahrhundert<br />

wieder aus der Mode. Es wurde als e<strong>in</strong>e<br />

vorwissenschaftliche Emotion für K<strong>in</strong>der und Laien<br />

tabuisiert. Dabei spiele das Staunen, so <strong>Das</strong>ton,<br />

natürlich immer noch e<strong>in</strong>e Rolle bei der Rekrutierung<br />

von Wissenschaftlern: "Warum sonst sollte sich jemand<br />

e<strong>in</strong>er so anstrengen<strong>den</strong> Karriere unterwerfen, die ihn <strong>in</strong><br />

Labors und Bibliotheken festhält"<br />

Solche Grundlagen der Forschungspsychologie<br />

wechseln aber nicht nur von Epoche zu Epoche,<br />

sondern auch von Land zu Land. <strong>Das</strong> hat Lorra<strong>in</strong>e<br />

<strong>Das</strong>ton <strong>in</strong> ihrem akademischen Leben selbst oft genug<br />

erfahren: In Amerika etwa sei es verpönt, biographische<br />

Details wie die Ehe mit e<strong>in</strong>em Kollegen im<br />

akademischen Lebenslauf zu erwähnen. In Deutschland<br />

wiederum sei e<strong>in</strong>e Professor<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>e mittlerweile 16-<br />

jährige Tochter erziehe, ohne ihre Karriere<br />

unterbrochen zu haben, immer noch e<strong>in</strong> Wunder.<br />

Wenn sie mal wieder über etwas ganz anderes staunen<br />

möchte, geht Lorra<strong>in</strong>e <strong>Das</strong>ton <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e der vier Berl<strong>in</strong>er<br />

Opern, wobei sie die Neuköllner Oper deutlich<br />

hervorhebt. Man kann dieses Interesse auch beruflich<br />

deuten: Die Oper ist ja das e<strong>in</strong>zige wunderbare<br />

Monstrum, das <strong>in</strong> der frühen Neuzeit geboren wurde<br />

und bis heute Neugier erregt. Ebenso wenig überrascht<br />

ihre Liebl<strong>in</strong>gslektüre: Sie schätzt die englischen<br />

"Methaphysical Poets". Die Gruppe, zu der John<br />

Donne, George Herbert, Andrew Marvel und Abraham<br />

Cowley gehörten, versuchte zu Beg<strong>in</strong>n des<br />

17. Jahrhunderts die Naturwissenschaften mit der<br />

Dichtung zu verweben. Lorra<strong>in</strong>e <strong>Das</strong>ton verschwendet<br />

ganz offensichtlich auch <strong>in</strong> ihren Mußestun<strong>den</strong> ke<strong>in</strong>e<br />

Zeit.<br />

© Berl<strong>in</strong>er Morgenpost 2003


ooks and arts<br />

Onl<strong>in</strong>e database<br />

Island <strong>in</strong>vestigations<br />

More than a hundred European<br />

scientific expeditions went to<br />

the Canary Islands dur<strong>in</strong>g the<br />

eighteenth and n<strong>in</strong>eteenth<br />

centuries. Many were on their<br />

way to more distant dest<strong>in</strong>ations<br />

— but others were there to map<br />

and study the natural history of<br />

the islands themselves, and led<br />

to many scientific discoveries of<br />

general importance.<br />

The orig<strong>in</strong>al reports of these<br />

expeditions, physically scattered<br />

around the world, are now be<strong>in</strong>g<br />

brought together courtesy of a major European<br />

Commission-funded digital project known as<br />

ECHO (European Cultural Heritage Onl<strong>in</strong>e).<br />

Some of the works have already been widely<br />

seen. The 1856 expedition of Charles Piazzi-<br />

Smith, for example, was recorded <strong>in</strong> his popular<br />

work An Astronomer’s Experiment (1858), held<br />

<strong>in</strong> several libraries <strong>in</strong> Spa<strong>in</strong> and Brita<strong>in</strong>. Piazzi-<br />

Smith made astronomical observations at<br />

different altitudes on El Teide, Tenerife’s highest<br />

peak, show<strong>in</strong>g for the first time that more stars<br />

can be seen at the top of a mounta<strong>in</strong>.<br />

By contrast, the work of the Norwegian<br />

botanist Christen Smith, who accompanied<br />

German volcanologist Leopold von Buch <strong>in</strong> his<br />

1814 expedition, was thought to be lost, as<br />

Smith cont<strong>in</strong>ued on to the Congo where he died.<br />

But his manuscripts and diaries, describ<strong>in</strong>g<br />

some 600 different plants, about 50 of which<br />

were new to science at the time, were recently<br />

found <strong>in</strong> a library <strong>in</strong> Oslo.<br />

The picture shows illustrations of volcanoes<br />

taken from Atlas des Isles Canaries (1836)<br />

by von Buch, who developed his theory of<br />

volcanoes <strong>in</strong> the Canaries. Alison Abbott<br />

http://humboldt.mpiwg-berl<strong>in</strong>.mpg.de<br />

© 2003 Nature Publish<strong>in</strong>g Group


FORSCHUNG & Gesellschaft WISSENSCHAFTSgeschichte<br />

Wissenschaft aus dem Zettelkasten<br />

Berl<strong>in</strong>, bei der Anke te Heesen ihre Ergebnisse<br />

präsentierte. „Ich war selbst überrascht, auf<br />

welch breite Resonanz das Thema gestoßen ist“,<br />

sagt die Forscher<strong>in</strong> heute. <strong>Das</strong> Begriffspaar „Cut<br />

and Paste“ ist aus der Computersprache entlehnt:<br />

Übersetzt mit „Ausschnei<strong>den</strong> und E<strong>in</strong>fügen“,<br />

s<strong>in</strong>d diese Befehle heute auf jeder<br />

Menüleiste e<strong>in</strong>es Computers enthalten. <strong>Das</strong> Bearbeiten<br />

von Textelementen ist gängige Praxis<br />

jedes Computerbenutzers, verweist aber zugleich<br />

auf e<strong>in</strong>e tradierte Kulturtechnik. Seit der techni-<br />

Es gibt Forscher, die sammeln nicht nur Wissen, sondern alles, was ihnen <strong>in</strong> die F<strong>in</strong>ger<br />

kommt – zum Beispiel Zeitungsausschnitte über sich selbst oder über Fachkollegen.<br />

DR. ANKE TE HEESEN vom MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR WISSENSCHAFTSGESCHICHTE<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> arbeitet mit dieser „Zettelwirtschaft“ und hebt dabei manchen historischen Schatz.<br />

Rudolf Virchow besaß viele Talente. Der berühmte<br />

Arzt und Wissenschaftler war nicht<br />

nur e<strong>in</strong> Pionier auf dem Gebiet der Pathologie,<br />

sondern auch Ideen- und Ratgeber für jüngere<br />

Kollegen, Autor e<strong>in</strong>er Fülle von Büchern und<br />

Zeitschriftenartikeln, Sozialreformer und Mitbegründer<br />

des Pathologischen <strong>Institut</strong>s an der<br />

Charité. Als Politiker <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wahlheimatstadt<br />

Berl<strong>in</strong> – viele Jahre saß er dort im Preußischen<br />

Landtag – setzte sich Virchow für bessere Hygiene<br />

und das Gesundheitswesen <strong>in</strong> der Hauptstadt<br />

e<strong>in</strong>; auch der Bau e<strong>in</strong>es zentralen, nach<br />

modernen Maßstäben entwickelten Vieh- und<br />

Schlachthofs geht auf se<strong>in</strong>e Initiative zurück.<br />

Als er 1902 im Alter von 80 Jahren starb,<br />

schrieb die englische Zeitung THE STANDARD respektvoll:<br />

„It is felt that the nation has lost its<br />

greatest man of science.“<br />

Nicht nur wegen se<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Erfolge<br />

lebt der Name Virchow heute weiter. Auch<br />

als Sammler, der sich unermüdlich für neue<br />

Ausstellungen e<strong>in</strong>setzte und nicht zuletzt das<br />

Pathologische Museum der Charité <strong>in</strong>s Leben<br />

rief, erwarb sich der Arzt bleibende Verdienste.<br />

Die zu se<strong>in</strong>em 60. Geburtstag gegründete „Rudolf-Virchow-Stiftung“<br />

half ihm, anthropologische<br />

Gegenstände im Ausland zu kaufen und<br />

se<strong>in</strong>e Sammlung pathologischer Präparate stetig<br />

zu erweitern, die 1901 mehr als 23 000 Objekte<br />

umfasste.<br />

Es war e<strong>in</strong> reiches wissenschaftliches Leben,<br />

das Rudolf Virchow bis <strong>in</strong>s hohe Alter führte.<br />

Zeitungen berichteten regelmäßig über se<strong>in</strong>e<br />

Aktivitäten: Virchow war zur öffentlichen Person<br />

gewor<strong>den</strong>. Um das <strong>Medien</strong>echo zu dokumentieren,<br />

legte er 1889 e<strong>in</strong>e weitere, bisher wenig<br />

bekannte Sammlung an, die ganz alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Person galt; Virchow sammelte sämtliche<br />

Zeitungsnotizen und Artikel, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en se<strong>in</strong> Name<br />

oder der se<strong>in</strong>es Museums erwähnt wurde. Im<br />

se<strong>in</strong>em Nachlass f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich heute 18 Kartons<br />

mit vergilbtem Zeitungspapier – streng etikettiert<br />

und vom jeweiligen Zeitungsausschnittdienst<br />

mit Datums- und Quellenangabe versehen.<br />

Lange Zeit ruhten die Holzkästen mit Virchows<br />

Zeitungsausschnitten mehr oder weniger unberührt<br />

im Archiv der Berl<strong>in</strong>-Bran<strong>den</strong>burgischen<br />

Akademie der Wissenschaften. Bis die Wissenschaftshistoriker<strong>in</strong><br />

Anke te Heesen die Konvolute<br />

sah. Als sie vor vier Jahren für e<strong>in</strong>e Ausstellung<br />

im Dresdner Hygienemuseum die Abteilung<br />

„Der <strong>in</strong>ventarisierte Mensch“ betreute, stieß<br />

sie erstmals auf Virchows Archivkästen und die<br />

dort erhaltenen Zeitungsartikel. Als sie e<strong>in</strong>ige<br />

Zeit später e<strong>in</strong> zweites Mal mit e<strong>in</strong>er umfangreichen<br />

Sammlung von Zeitungsausschnitten<br />

konfrontiert wurde, beschloss sie, sich dieser<br />

bisher nicht behandelten Sammlungsform<br />

zu widmen. Die 38-jährige Forscher<strong>in</strong> am <strong>Max</strong>-<br />

<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> war bald fasz<strong>in</strong>iert von der Akribie und<br />

Ausdauer, mit der Virchow se<strong>in</strong>e Sammlung<br />

führte. „Es g<strong>in</strong>g ihm darum, se<strong>in</strong>en Ruhm zu<br />

konservieren, aber auch zu kontrollieren“, sagt<br />

te Heesen über <strong>den</strong> Mann, der als liberaler Politiker<br />

im Reichstag zeitweise als e<strong>in</strong>er der Gegenspieler<br />

von Reichskanzler Otto von Bismarck<br />

wirkte.<br />

Waren die Zettelkästen nur die Schrulle e<strong>in</strong>es<br />

eitlen Mannes, der sich se<strong>in</strong>er eigenen Bedeutung<br />

versichern wollte Ja und ne<strong>in</strong>. Natürlich<br />

spielte auch Eitelkeit e<strong>in</strong>e Rolle, doch an erster<br />

Stelle stand das Bewusstse<strong>in</strong> Virchows, wie<br />

wichtig die Tagespresse als Träger der öffentlichen<br />

Me<strong>in</strong>ung war und welche zentrale Rolle<br />

sie <strong>in</strong> der Popularisierung wissenschaftlicher Inhalte<br />

spielte. Die Sammlung Virchows machte<br />

Anke te Heesen mit e<strong>in</strong>er Praxis vertraut, die <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Jahren um 1900 weit verbreitet war. Die<br />

Wissenschaftler<strong>in</strong>, deren Forschungsschwerpunkt<br />

die Geschichte des gelehrten Sammelns<br />

ist, stöberte weiter <strong>in</strong> Archiven und Nachlässen<br />

– und entdeckte zahlreiche Zeitungssammlun-<br />

FOTOS: WOLFGANG FILSER<br />

Was vom Sammeln<br />

übrig blieb:<br />

Fe<strong>in</strong> säuberlich<br />

sortiert, harren<br />

alte Zeitungsausschnitte<br />

der<br />

systematischen<br />

Auswertung.<br />

gen von Wissenschaftlern und Künstlern. „Es<br />

geht mir dabei sowohl um die Inhalte der Artikel<br />

und Sammlungen, als auch um Motive und<br />

Metho<strong>den</strong> der Sammler“, sagt die Historiker<strong>in</strong>,<br />

die ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse vor<br />

kurzem auch der Öffentlichkeit zugänglich<br />

machte.<br />

„Cut and Paste um 1900 – Der Zeitungsausschnitt<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Wissenschaften“ hieß die viel beachtete<br />

Ausstellung im <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für<br />

<strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> <strong>in</strong> der Wilhelmstraße <strong>in</strong><br />

60 M AXP LANCKF ORSCHUNG 2/2003<br />

2/2003 M AXP LANCKF ORSCHUNG 61


FORSCHUNG & Gesellschaft<br />

WISSENSCHAFTSgeschichte<br />

schen Revolution des Buchdrucks im 15. Jahrhundert<br />

war das Ausschnei<strong>den</strong> von Texten bei<br />

gebildeten Lesern e<strong>in</strong> probates Mittel zur Wissenskonservierung<br />

– damals nahmen die Leser<br />

allerd<strong>in</strong>gs noch Schere, Klebstoff und Papier zur<br />

Hand. Der S<strong>in</strong>n des Ausschnei<strong>den</strong>s aber ist im<br />

Pr<strong>in</strong>zip der gleiche geblieben: Immer geht es<br />

dem Sammler darum, das Gefun<strong>den</strong>e zu sichern<br />

und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen Zusammenhang zu überführen.<br />

Kulturgeschichtlich steht das Ausschnei<strong>den</strong><br />

und Verwerten von Wissensbrocken <strong>in</strong> der langen<br />

Tradition des Exzerpierens, die seit dem<br />

Mittelalter an <strong>den</strong> Universitäten gelehrt wurde.<br />

Zitatbücher oder commonplace books dienten<br />

Gelehrten wie Schülern des 16. und 17. Jahrhunderts<br />

als private Nachschlagewerke, die bei<br />

Bedarf für <strong>den</strong> eigenen Gebrauch geplündert<br />

wur<strong>den</strong>: Michel de Montaignes Essays etwa<br />

strotzen nur so vor gelehrten Zitaten, mit <strong>den</strong>en<br />

er se<strong>in</strong>e Gedanken untermauert.<br />

Weil das Abschreiben, Ordnen und Rekomb<strong>in</strong>ieren<br />

von Texten seit E<strong>in</strong>führung des Buchdrucks<br />

und der damit verbun<strong>den</strong>en Publikationsflut<br />

immer mühseliger wurde, entstan<strong>den</strong> bald<br />

neue Techniken der Wissenssicherung. <strong>Das</strong> Abschreiben<br />

langer Textpassagen galt <strong>den</strong> Lesern<br />

nun als zu mühselig und zeitaufwändig. Stattdessen<br />

riet etwa der Pädagoge Sigmund Jacob<br />

Ap<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er 1728 verfassten Anleitung dazu,<br />

Bilder und Texte aus gelehrten Werken auszuschnei<strong>den</strong><br />

und <strong>in</strong> „hölzerne Capsuln“ zu ordnen.<br />

„Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war das<br />

Schnei<strong>den</strong> und Kleben von Papier so selbstverständlich<br />

gewor<strong>den</strong>, dass man es nicht mehr eigens<br />

erwähnen musste“, sagt Anke te Heesen.<br />

Die „Industrialisierung“ des Lesens<br />

Besonders aufschlussreich für die Wissenschaftshistoriker<strong>in</strong><br />

ist die Zeit vor dem Ersten<br />

Weltkrieg, <strong>in</strong> der sich die Wissensgesellschaft<br />

aufgrund e<strong>in</strong>er zweiten Revolution der Drucktechnik<br />

neu formierte. Am Ende des 19. Jahrhunderts<br />

– nach der Erf<strong>in</strong>dung des Rotationsdrucks –<br />

hatten sich Zeitungen <strong>in</strong> Europa als Massenmedium<br />

etabliert. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Deutschland existierten<br />

nicht weniger als 3000 Zeitungen, und mit der<br />

Publikationsflut wuchs auch der Wunsch der Leser,<br />

<strong>den</strong> Überblick über das Gedruckte zu bewahren.<br />

F<strong>in</strong>dige Unternehmer stellten sich auf dieses<br />

Bedürfnis e<strong>in</strong>: Die Idee zum Zeitungsausschnittbüro<br />

war geboren. 1879 öffnete <strong>in</strong> Paris das <strong>Institut</strong><br />

„Argus de la Presse“, und auch <strong>in</strong> Deutsch-<br />

land arbeiteten bald professionelle Zeitungsausschneider<br />

für e<strong>in</strong>en wachsen<strong>den</strong> Kun<strong>den</strong>kreis.<br />

Für Anke te Heesen hat dies auch mit der „Industrialisierung<br />

des Lesens“ zu tun: „Im frühen<br />

19. Jahrhundert mussten Gelehrte wie Alexander<br />

von Humboldt noch selbst zur Schere greifen,<br />

um ihre Sammlungen zu aktualisieren. <strong>Das</strong><br />

besorgten nun die <strong>Institut</strong>e, die <strong>in</strong> ihrer Werbung<br />

e<strong>in</strong>e möglichst vollständige Suche versprachen.“<br />

Wie professionell manche dabei vorg<strong>in</strong>gen,<br />

zeigt das Beispiel des Neuroanatomen Oskar<br />

Vogt, Direktor des Kaiser-Wilhelm-<strong>Institut</strong>s für<br />

Hirnforschung, der <strong>in</strong> <strong>den</strong> zwanziger Jahren<br />

gleich mehrere Zeitungsausschnittsdienste für<br />

sich arbeiten ließ: die „Argus de la Presse“ <strong>in</strong> Paris,<br />

„Argus Suisse“ <strong>in</strong> Genf, Dr. <strong>Max</strong> Goldschmidts<br />

„Büro für Zeitungsausschnitte“ <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

sowie vier weitere Büros. Nutzte Vogt se<strong>in</strong>e<br />

Zeitungsausschnittsammlung als Archiv für se<strong>in</strong>e<br />

populärwissenschaftlichen Artikel und für Öffentlichkeitsarbeit<br />

<strong>in</strong> eigener Sache, so verfolgte<br />

der Physiker Ernst Gehrcke e<strong>in</strong> anderes Ziel.<br />

Gehrcke, <strong>in</strong> <strong>den</strong> zwanziger Jahren e<strong>in</strong> angesehener<br />

Spezialist auf dem Gebiet der Optik, galt als<br />

e<strong>in</strong>er der schärfsten Kritiker von Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s<br />

Relativitätstheorie und der theoretischen Physik.<br />

In se<strong>in</strong>em Nachlass (aufbewahrt im <strong>Max</strong>-Plack-<br />

<strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong>) f<strong>in</strong>det sich<br />

e<strong>in</strong>e Sammlung von mehr als 5000 Zeitungsausschnitten<br />

und Aufsätzen, die sich mit E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong><br />

und der Relativitätstheorie befassen.<br />

Gehrcke versuchte, <strong>den</strong> allgeme<strong>in</strong>en Siegeszug<br />

der Relativitätstheorie als e<strong>in</strong> Phänomen der<br />

modernen Gesellschaft darzustellen. In se<strong>in</strong>er<br />

Schrift „Die Massensuggestion der Relativitätstheorie“<br />

(Berl<strong>in</strong>, 1924) griff er im Wesentlichen<br />

auf Material aus se<strong>in</strong>er Sammlung zurück, um<br />

die ihm verhassten „Relativitätsakrobaten“ zu<br />

entlarven. Neid auf <strong>den</strong> erfolgreichen E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>,<br />

aber auch der eigene Bedeutungsverlust als Ver-<br />

Zwei Kulturtechniken<br />

der<br />

Wissenskonservierung<br />

treffen<br />

aufe<strong>in</strong>ander:<br />

Was früher<br />

Sammler von<br />

Zeitungsausschnitten<br />

mit<br />

Schere und<br />

Kleber leisteten,<br />

betreibt Anke<br />

te Heesen heute<br />

per Computer.<br />

Kunstform: Der<br />

Maler und Grafiker<br />

George Grosz<br />

(1893 bis 1959)<br />

nutzte se<strong>in</strong>e<br />

Sammlung von<br />

Zeitungs- und<br />

Illustriertenausschnitten<br />

für<br />

Collagen.<br />

treter der experimentellen Physik veranlassten<br />

Gehrcke dazu, selbst kuriose Berichte, Fotos und<br />

Karikaturen zu sammeln; sogar Nachrichten<br />

über die E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Begeisterung <strong>in</strong> Japan fan<strong>den</strong><br />

se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit. Die Schnipsel dienten<br />

Ernst Gehrcke als Beweis dafür, dass es sich bei<br />

E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s Werk um unseriöse Sensationsmache<br />

handele. <strong>Das</strong>s er damit selbst <strong>in</strong> die <strong>Medien</strong>falle<br />

tappte, weil er e<strong>in</strong>erseits die Seriosität der Zeitungen<br />

bezweifelte, sich aber andererseits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Argumentation auf die Presse bezog, sah er<br />

nicht: Bei Gehrcke war das Sammeln längst zur<br />

Sucht gewor<strong>den</strong>.<br />

Neben Wissenschaftlern griffen auch Politiker<br />

auf die Hilfe der Textverwerter zurück. Reichskanzler<br />

Otto von Bismarck, stets um se<strong>in</strong> Bild <strong>in</strong><br />

der Öffentlichkeit besorgt, hatte die Macht der<br />

Zeitungen klar erkannt und es verstan<strong>den</strong>, e<strong>in</strong>zelne<br />

Journalisten geschickt für se<strong>in</strong>e Zwecke<br />

e<strong>in</strong>zuspannen. Um Angriffe politischer Gegner<br />

zu kontern und auf der Höhe der Zeit zu se<strong>in</strong>,<br />

wurde das Zeitungsstudium zur Politikerpflicht.<br />

Der Gründer des ersten Berl<strong>in</strong>er Ausschnittbüros,<br />

Clemens Freyer, kannte die Anforderungen<br />

se<strong>in</strong>er Kun<strong>den</strong> genau, unter <strong>den</strong>en auch e<strong>in</strong>ige<br />

Reichstagsabgeordnete waren: „In dem Lesesaal<br />

des Reichstages lagen wohl weit über 100<br />

politische Tageszeitungen aus, alle<strong>in</strong> zum<br />

Durchlesen dieser Unmenge von Blättern fehlte<br />

es <strong>den</strong> Abgeordneten an Zeit, so daß sie oft nur<br />

durch Bekannte erfuhren, wenn <strong>in</strong> der Presse e<strong>in</strong><br />

Angriff auf sie erfolgt war. Inzwischen waren<br />

aber gewöhnlich schon Tage oder Wochen vergangen,<br />

und die betreffende Zeitung konnte<br />

nur unter großem Aufwand von Mühe, Zeit und<br />

Kosten beschafft wer<strong>den</strong>.“<br />

In diese Marktlücke stießen nun arbeitsteilige<br />

Büros, die Zeitungen systematisch auswerteten<br />

und <strong>den</strong> Kun<strong>den</strong>wünschen gemäß nach Schlagworten<br />

filterten. Auch als historische Quelle<br />

wurde das oft der Unzuverlässigkeit bezichtigte<br />

Medium nun anerkannt – wie auf dem Internationalen<br />

Historischen Kongress 1908 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

betont wurde.<br />

E<strong>in</strong> Leichenhaus von Schnipseln<br />

Aus der Tageszeitung, die am nächsten Tag<br />

bereits veraltet ist, entstand etwas Haltbares:<br />

Der ausgeschnittene Artikel wanderte <strong>in</strong> die persönliche<br />

Materialsammlung, aus der dann vielleicht<br />

etwas Neues, Eigenes entstehen konnte –<br />

oder auch nicht, wenn die ausgeschnittenen<br />

Wissensfragmente ungenutzt <strong>in</strong> der Sammlung<br />

verschwan<strong>den</strong>. E<strong>in</strong>e morgue, e<strong>in</strong> Leichenhaus,<br />

hat der Künstler George Grosz se<strong>in</strong>e eigene<br />

Schnipselsammlung genannt, wohl wissend,<br />

dass er viele Ausschnitte im eigenen Archiv bestattete<br />

– <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em papierenen Leichenhaus, das<br />

aber jederzeit zum Leben erwachen kann, sobald<br />

62 M AXP LANCKF ORSCHUNG 2/2003<br />

2/2003 M AXP LANCKF ORSCHUNG 63


FORSCHUNG & Gesellschaft<br />

NEU erschienen<br />

der Benutzer e<strong>in</strong>en Zettelkasten ans Tageslicht<br />

befördert.<br />

<strong>Das</strong> Ausschnei<strong>den</strong> von Zeitungsartikeln als<br />

kreativer Akt, mit dem sich e<strong>in</strong> Teil der chaotischen<br />

Wirklichkeit zerlegen und neu zusammensetzen<br />

lässt – dieses Motiv liegt <strong>den</strong> Sammlungen<br />

der Dadaisten und anderer Künstler der<br />

klassischen Moderne zu Grunde. Aus Zeitungspapier<br />

fertigten sie eigene Kunstwerke, die e<strong>in</strong>e<br />

fragmentierte, von <strong>den</strong> Massenmedien <strong>in</strong>szenierte<br />

Wirklichkeit zeigten. George Grosz, der<br />

später vor <strong>den</strong> Nationalsozialisten <strong>in</strong>s amerikanische<br />

Exil flüchten musste, besaß zum Beispiel<br />

e<strong>in</strong>e umfangreiche Sammlung von Zeitungsund<br />

Illustriertenausschnitten, die er für se<strong>in</strong>e<br />

Collagen benutzte: Ganze Serien von Vulkanen<br />

und Gebissen, Hochhäusern und Damenaccessoires,<br />

Ru<strong>in</strong>en, Köpfen und mediz<strong>in</strong>ischen Phänomenen<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich heute <strong>in</strong> <strong>den</strong> Mappen, die<br />

im Grosz-Nachlass <strong>in</strong> der Akademie der Künste<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> erhalten s<strong>in</strong>d.<br />

Sammeln ist nicht gleich Ordnen<br />

<strong>Das</strong> triste Großstadtleben, aber auch die sozialen<br />

Probleme nach dem Ersten Weltkrieg spiegelten<br />

sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> Zeitungsartikeln. „George<br />

Grosz g<strong>in</strong>g es, ganz ähnlich wie dem Schriftsteller<br />

Alfred Döbl<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Roman ,Berl<strong>in</strong> Alexanderplatz’,<br />

weniger um <strong>den</strong> ordnen<strong>den</strong> Aspekt.<br />

Beide wollten mit ihren Montagetechniken Realität<br />

und Fiktion vermischen – und dadurch ihre<br />

eigene, subjektive Wirklichkeit schaffen“, analysiert<br />

Anke te Heesen, und verweist damit auch<br />

auf Unterschiede des künstlerischen und des<br />

wissenschaftlichen Sammelns.<br />

Seit zwei Jahren forscht die Historiker<strong>in</strong> nun<br />

über Zeitungsausschnitte und die Zettelwirtschaft<br />

von Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern.<br />

Die dreidimensionale Art der Wissensaneignung<br />

– mithilfe von Schere, Kleister, Papier<br />

und Zettelkasten – hat die Historiker<strong>in</strong> an<br />

ihrem Forschungsgegenstand besonders gereizt.<br />

„Es ist spannend zu verfolgen, wie Wissenschaftler<br />

ihre Tatsachen räumlich ordnen.“<br />

<strong>Das</strong>s sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> längst vergilbten Zeitungsausschnittsammlungen<br />

früherer Jahrhunderte e<strong>in</strong>en<br />

kulturhistorisch spannen<strong>den</strong> Stoff entdeckt hat,<br />

besche<strong>in</strong>igen ihr nicht nur die Kollegen vom<br />

<strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong>.<br />

Bestätigung hat Anke te Heesen auch von<br />

Kollegen erfahren, die auf ähnliche Zettelarchive<br />

stießen, sie als historische Quelle wahrnahmen,<br />

aber die dah<strong>in</strong>terstehende Schneidepraxis<br />

und ihre <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Verschränkungen<br />

bisher nicht beachteten. <strong>Das</strong> Schnei<strong>den</strong> und Kleben<br />

aber ist ke<strong>in</strong>esfalls nur auf e<strong>in</strong>en bestimmten<br />

Personenkreis beschränkt. Nach e<strong>in</strong>em Artikel<br />

<strong>in</strong> der ZEIT über ihr Forschungsprojekt bekommt<br />

te Heesen nun auch Post von Lesern, die<br />

ke<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Zwecke verfolgen, sondern<br />

wie e<strong>in</strong>st Rudolf Virchow oder Ernst<br />

Gehrcke dem Sammeln verfallen s<strong>in</strong>d.<br />

Auch wenn sich deren Zeugnisse und Selbstbeschreibungen<br />

wohl nicht <strong>in</strong> ihr Projekt e<strong>in</strong>b<strong>in</strong><strong>den</strong><br />

kann, so bleibt ihr Interesse doch <strong>den</strong><br />

neueren Forschungen verbun<strong>den</strong>, die wissenschaftliche<br />

und nicht-wissenschaftliche Praktiken<br />

vergleichend mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

br<strong>in</strong>gen. Zurzeit arbeitet sie deshalb an e<strong>in</strong>er<br />

umfänglichen Monographie über Arbeitstechniken<br />

und Notationsweisen, über Papier und<br />

Schere, Zeitungsausschnitte und Zettel <strong>in</strong> Kunst<br />

und Wissenschaft um 1900. CHRISTIAN MAYER<br />

Ordnung im<br />

Kasten: Rudolf<br />

Virchow (1821<br />

bis 1902)<br />

dokumentierte<br />

seit 1884 das<br />

<strong>Medien</strong>echo um<br />

se<strong>in</strong>e Person.<br />

Neues aus aller<br />

Welt: Blatt aus<br />

der Zeitungsausschnitt-Sammlung<br />

des Physikers<br />

Ernst Gehrcke<br />

(1878 bis 1960)<br />

zum Potsdamer<br />

„E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>turm“.<br />

Wissenschaft<br />

populär<br />

DUNKLE MATERIE, RÖNTGENSTERNE,<br />

GAMMABLITZE – UND DIE STRUKTUR DES<br />

KOSMOS, 155 Seiten mit Abbildungen,<br />

Wissenschaft für jedermann, Band 1,<br />

Deutsches Museum, München, und Kosmos<br />

Verlag, Stuttgart 2001, 19,90 Euro.<br />

VON ZWERGEN UND QUANTEN –<br />

STRUKTUR UND TECHNIK DES KLEINSTEN,<br />

128 Seiten mit Abbildungen,<br />

Wissenschaft für jedermann, Band 2,<br />

Deutsches Museum, München,<br />

und Kosmos Verlag, Stuttgart<br />

2002, 16,90 Euro.<br />

Wissenschaft <strong>in</strong> verständliche<br />

Sprache<br />

übersetzen, für Forschung<br />

und Technik begeistern:<br />

Seit e<strong>in</strong>em Jahrhundert<br />

widmet sich das Deutsche<br />

Museum <strong>in</strong> München erfolgreich<br />

diesen Zielen.<br />

Zum pädagogischen Konzept<br />

gehören neben <strong>den</strong><br />

Ausstellungen traditionell<br />

auch populäre Vorträge<br />

hochkarätiger Wissenschaftler<br />

– die naturgemäß<br />

nur e<strong>in</strong> sehr begrenztes<br />

Publikum erreichen.<br />

Die neue Buchreihe<br />

„Wissenschaft für jedermann“<br />

soll die Türen des<br />

Hörsaals weit aufstoßen, <strong>den</strong> Dialog<br />

mit der Öffentlichkeit vertiefen und<br />

das public understand<strong>in</strong>g of science<br />

fördern. „Wesentlich ist, dass Ihnen<br />

(...) die Entdeckungen, Erf<strong>in</strong>dungen<br />

und Probleme der Wissenschaft und<br />

Technik näher gebracht wer<strong>den</strong>,<br />

möglichst nahe, so dass Sie nach<br />

dem Lesen klüger und zufrie<strong>den</strong>er<br />

s<strong>in</strong>d als zuvor“, schreibt Museumsdi-<br />

Henn<strong>in</strong>g Genz: WIE DIE NATURGESETZE WIRKLICHKEIT<br />

SCHAFFEN, Über Physik und Realität, 368 S., Hanser,<br />

München 2002, 24,90 Euro.<br />

Verband deutscher Biologen (Hg.): WOHIN DIE REISE GEHT ...,<br />

Lebenswissenschaften im Dialog, 140 S., Wiley-VCH,<br />

We<strong>in</strong>heim 2002, 15,90 Euro.<br />

rektor Wolf Peter Fehlhammer im<br />

Vorwort zum ersten Band mit dem<br />

Titel „Dunkle Materie, Röntgensterne,<br />

Gammablitze – und die Struktur<br />

des Kosmos“.<br />

<strong>Das</strong> Buch behandelt die „heißen“<br />

Themen aus Astrophysik und Kosmologie:<br />

Geburt und Evolution des<br />

Universums, Entstehung und Entwicklung<br />

von Galaxien oder Suche<br />

nach der om<strong>in</strong>ösen Dunklen Materie.<br />

E<strong>in</strong> geschichtlicher Exkurs („Von<br />

Fraunhofer bis zu <strong>den</strong> Quasaren“)<br />

sowie der Blick auf e<strong>in</strong>e<br />

moderne Forschungsorganisation<br />

(die Europäische<br />

Südsternwarte) erlauben<br />

tiefe E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die Arbeitsmetho<strong>den</strong><br />

der Astronomen.<br />

Der zweite Band der<br />

Reihe, „Von Zwergen und<br />

Quanten – Struktur und<br />

Technik des Kle<strong>in</strong>sten“,<br />

schließt nahtlos an <strong>den</strong><br />

ersten an und bietet e<strong>in</strong>e<br />

Reise <strong>in</strong> <strong>den</strong> Mikrokosmos.<br />

Im Mittelpunkt steht<br />

die Quantenphysik, die <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> vergangenen Jahrzehnten<br />

unser Bild von<br />

der atomaren Welt revolutioniert<br />

hat. E<strong>in</strong> Abstecher<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Nanokosmos<br />

– h<strong>in</strong> zu molekularen Masch<strong>in</strong>en<br />

– beschließt das<br />

Buch, dem ebenso wie dem ersten<br />

Band e<strong>in</strong> großer Leserkreis zu wünschen<br />

ist.<br />

Die Texte der bei<strong>den</strong> Bände erfordern<br />

Konzentration, die Lektüre ist<br />

aber aller Mühe wert. Und für die<br />

wissenschaftliche Qualität garantieren<br />

die Namen der Autoren; übrigens<br />

arbeitet mehr als die Hälfte an <strong>Max</strong>-<br />

<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong>en. HELMUT HORNUNG<br />

Weitere Empfehlungen<br />

Wissenschaft<br />

kompakt<br />

JAHRBUCH 2002 DER MAX-PLANCK-<br />

GESELLSCHAFT, 904 Seiten, 486 Farbabbildungen,<br />

148 S/W-Abbildungen und<br />

CD-ROM, Verlag Van<strong>den</strong>hoeck & Ruprecht,<br />

Gött<strong>in</strong>gen 2002, 76 Euro.<br />

Wie e<strong>in</strong> Muskel funktioniert,<br />

darüber haben sich schon die<br />

alten Griechen <strong>den</strong> Kopf zerbrochen.<br />

Rasmus Schröder vom Heidelberger<br />

<strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für mediz<strong>in</strong>ische<br />

Forschung geht dem „Ruderschlag“<br />

der Filamente Myos<strong>in</strong> und Akt<strong>in</strong> auf<br />

<strong>den</strong> Grund. Ungewöhnliches hat auch<br />

Robert Schlögl, Direktor am Fritz-<br />

Haber-<strong>Institut</strong> der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, bei der Styrol-<br />

Synthese entdeckt: Die eigentliche<br />

Katalyse erfolgt an Schichten von<br />

Kohlenstoff, die sich zu Beg<strong>in</strong>n am<br />

Katalysator abschei<strong>den</strong>. Bevor<br />

die Wissenschaftler genauer<br />

h<strong>in</strong>sahen, hielt man<br />

diesen Kohlenstoff für e<strong>in</strong>en<br />

Störfaktor.<br />

Diese Beispiele zeigen,<br />

wie vielfältig die Forschungen<br />

an <strong>den</strong> E<strong>in</strong>richtungen<br />

der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft<br />

s<strong>in</strong>d. <strong>Das</strong> Jahrbuch<br />

dokumentiert außerdem die<br />

Re<strong>den</strong> und Vorträge der Hauptversammlung<br />

und enthält die Nachrufe<br />

auf verstorbene Wissenschaftliche<br />

Mitglieder. Zum „Paket“ gehört e<strong>in</strong>e<br />

CD-ROM mit der Bibliographie der<br />

<strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft aus <strong>den</strong><br />

Jahren 1998 bis 2001. <strong>Das</strong> Jahrbuch<br />

2002 ist das letzte se<strong>in</strong>er Art: In der<br />

bisherigen Struktur wird es nicht<br />

mehr gedruckt. Die Berichte der <strong>Institut</strong>e<br />

wer<strong>den</strong> im Internet und auf<br />

CD-ROM ersche<strong>in</strong>en. GOTTFRIED PLEHN<br />

Von jetzt an <strong>in</strong>formieren wir an dieser Stelle über Neuersche<strong>in</strong>ungen – Bücher von <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Wissenschaftlern,<br />

über <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Wissenschaftler und rund um das Thema Wissenschaft und Forschung.<br />

Oliver Meckes und Nicole Ottawa, DIE FANTASTISCHE WELT<br />

DES UNSICHTBAREN, Entdeckungen im Mikrokosmos, 208 S.,<br />

GEO im Verlag Gruner und Jahr, Hamburg 2002, 49 Euro.<br />

Klaus Koch und Christian Weymayr: MYTHOS KREBS-<br />

VORSORGE, Scha<strong>den</strong> und Nutzen der Früherkennung, 293 S.,<br />

Eichborn Verlag, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 2003, 19,90 Euro.<br />

64 M AXP LANCKF ORSCHUNG 2/2003<br />

2/2003 M AXP LANCKF ORSCHUNG 65


Die Quellen von Wissen und Weisheit drohen zu versiegen<br />

Die Quellen von Wissen und Weisheit drohen zu<br />

versiegen<br />

Abo-Preise bis 18 000 Euro pro Fachzeitschrift s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> öffentlicher Skandal<br />

von Hanns-J. Neubert<br />

Hamburg - Für Michael B. Eisen ist es e<strong>in</strong> Skandal, dass wissenschaftliche Ergebnisse, die von<br />

Steuerzahlern f<strong>in</strong>anziert wur<strong>den</strong>, nicht allen Menschen frei zugänglich s<strong>in</strong>d. Eisen, e<strong>in</strong> Biologe<br />

der Universität Berkley <strong>in</strong> Kalifornien, ist Mitbegründer der Public Library of Science. Die vor<br />

zwei Jahren gegründete öffentliche Bibliothek der Wissenschaft will das ändern.<br />

Im Herbst ersche<strong>in</strong>t das erste, für Leser kostenlose Wissenschaftsjournal "PLoS Biology" im<br />

Internet. Im Vorfeld starteten die Herausgeber jetzt e<strong>in</strong>e öffentliche Kampagne, um Forscher <strong>in</strong><br />

aller Welt für ihre Sache zu gew<strong>in</strong>nen. Mehr als 33 000 Unterstützer fan<strong>den</strong> die Initiatoren bisher,<br />

darunter 13 Nobelpreisträger wie <strong>den</strong> Mitentdecker der DNA, James Watson.<br />

E<strong>in</strong>er der Herausgeber ist selbst e<strong>in</strong> Nobelpreisträger. Harold E. Varmus erhielt diese Ehrung<br />

1989 für se<strong>in</strong>e Arbeiten zur Genetik von Krebserkrankungen. Er ist überzeugt: "Der ungeh<strong>in</strong>derte<br />

Zugang zu wissenschaftlichen Forschungen beschleunigt Entdeckungen und mediz<strong>in</strong>ische<br />

Fortschritte." E<strong>in</strong> Beispiel ist der freie Internet-Zugang zu <strong>den</strong> Daten des menschlichen Genoms,<br />

dem Ergebnis zehnjähriger Forschungsarbeiten des weltweiten Humangenomprojektes. Varmus<br />

me<strong>in</strong>t, dass sich nur aus diesem Grund die biologischen Wissenschaften <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen<br />

Jahren so rasant entwickelten.<br />

Rückendeckung erhalten die Initiatoren von dem Abgeordneten der Demokratischen Partei Mart<strong>in</strong><br />

O. Sabo aus M<strong>in</strong>nesota. Sabo unterbreitete dem amerikanischen Senat <strong>den</strong> Entwurf e<strong>in</strong>es neuen<br />

Gesetzes, das allen wissenschaftlichen Arbeiten, die wesentlich von der Regierung gefördert<br />

wur<strong>den</strong>, <strong>den</strong> Urheberrechtsschutz versagt, damit sie frei verbreitet wer<strong>den</strong> können.<br />

Auch deutsche Forscher suchen <strong>in</strong> Zeiten knapper Budgets nach neuen Publikationsmodellen. Der<br />

Leiter der Hamburger Staatsbibliothek "Carl von Ossietzky", Prof. Dr. Peter Rau, sieht nicht e<strong>in</strong>,<br />

dass die Verlage die Forschungsergebnisse nicht zu akzeptablen Bed<strong>in</strong>gungen zur Verfügung<br />

stellen. Er kritisiert, dass die Preisgestaltung der Verlage pervertierte und nicht mehr<br />

nachvollziehbar sei. Für Top-Zeitschriften, wie das Hirnforschungsmagaz<strong>in</strong> "Bra<strong>in</strong> Research" des<br />

Elsevier-Verlags müssen Bibliotheken mal eben 18 000 Euro pro Jahr h<strong>in</strong>blättern.<br />

Bei der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft verschl<strong>in</strong>gen die Zeitschriftenabonnements rund 7,5 Millionen<br />

Euro pro Jahr. Prof. Jürgen Renn vom <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-<strong>Institut</strong> für <strong>Wissenschaftsgeschichte</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

unterstützt deshalb ebenfalls das Verlangen der Forscher nach freiem Zugang zu ihren eigenen<br />

Resultaten. Se<strong>in</strong>e Gesellschaft hat selbst verlegerische Erfahrungen mit e<strong>in</strong>er Vielzahl von<br />

hauseigenen Publikationen. Für ihn s<strong>in</strong>d die gegenwärtigen Publikationsmetho<strong>den</strong> obsolet. Denn


Die Quellen von Wissen und Weisheit drohen zu versiegen<br />

es sei fraglich, ob heute noch alle Produktionsschritte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand se<strong>in</strong> müssen, wie<br />

beispielsweise die fremdsprachliche Edition, die er lieber eigenen Mitarbeitern anvertraut.<br />

Zusammen mit <strong>den</strong> <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Professoren Robert Schlögel, Ian Baldw<strong>in</strong> und der Leiter<strong>in</strong> des<br />

Zentrums für Informationsmanagement (ZIM), Theresa Vel<strong>den</strong>, experimentiert er mit neuen<br />

Zugangsmodellen für wissenschaftliche Veröffentlichungen. Im Herbst will die Gruppe dazu neue<br />

Vorschläge unterbreiten.<br />

Die Forderung nach "Open Access" zu Forschungsergebnissen hat die etablierte Verlagswelt<br />

bereits aufgeschreckt. Wie der Bertelsmann-Spr<strong>in</strong>ger-Verlag mit se<strong>in</strong>em Onl<strong>in</strong>eangebot<br />

"Spr<strong>in</strong>gerL<strong>in</strong>k", stellen auch andere die aktuellen Manuskripte bereits vor dem Druck der<br />

Pr<strong>in</strong>tausgaben im Internet bereit - aber eben nur für zahlende Abonnenten. "Wir arbeiten durchaus<br />

mit <strong>den</strong> Verlagen zusammen", ergänzt Renn. "Viele nehmen diese neuen Möglichkeiten mit<br />

Interesse wahr und sehen dabei für sich auch neue Chancen."<br />

Denn ganz ohne Geld geht es nicht. Die Public Library of Science will sich die Artikel von <strong>den</strong><br />

Autoren und ihren <strong>Institut</strong>en mit 1 500 Dollar pro Artikel bezahlen lassen. Allerd<strong>in</strong>gs: Wer das<br />

Geld nicht aufbr<strong>in</strong>gen kann, erhält Rabatt oder zahlt gar nichts. Für die Anfangsf<strong>in</strong>anzierung<br />

stellte e<strong>in</strong>e Stiftung <strong>den</strong> Initiatoren im vergangenen Dezember neun Millionen Dollar zur<br />

Verfügung. <strong>Das</strong> Argument der Verlage, dass die Internetversionen der Zeitschriften auf nur<br />

ger<strong>in</strong>ge Akzeptanz bei <strong>den</strong> Lesern stoßen, kann Renn nicht teilen. Eigene Untersuchungen bei <strong>den</strong><br />

Mitarbeitern der <strong>Max</strong>-<strong>Planck</strong>-Gesellschaft haben gezeigt, dass seit E<strong>in</strong>führung der elektronischen<br />

Veröffentlichungen die Akzeptanz dramatisch gestiegen ist.<br />

Artikel erschienen am 6. Jul 2003<br />

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