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Esposito, Elena (2007): Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität ...

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fastforeword (1-08)<br />

<strong>Esposito</strong>, <strong>Elena</strong> (<strong>2007</strong>): <strong>Die</strong> <strong>Fiktion</strong> <strong>der</strong> <strong>wahrscheinlichen</strong> <strong>Realität</strong>,<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-12485-7; 128 S.; 8,50<br />

EUR.<br />

Rezensiert von Stefan Meißner<br />

<strong>Elena</strong> <strong>Esposito</strong>s Essay über die Parallelität von „fiction“ und Wahrscheinlichkeitstheorie<br />

beginnt mit <strong>der</strong> Vermutung, dass <strong>der</strong>en gleichzeitige Entstehung<br />

nicht zufällig sei, son<strong>der</strong>n „daß im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t ein historisch<br />

neuartiges Verhältnis zur <strong>Realität</strong> entstand, ja, daß hier“, so fährt sie fort,<br />

„zum ersten Mal jene <strong>Realität</strong>sverdopplung erfahrbar wurde, die typisch ist<br />

für mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften“ (S. 8). Damit ist mit wenigen Worten das<br />

Problem beschrieben, das die Autorin mit systemtheoretischen Denkmitteln,<br />

aber trotzdem flott lesbar auf den nächsten reichlich einhun<strong>der</strong>t Seiten<br />

bearbeitet.<br />

Ausgehend von <strong>der</strong> Prämisse, dass immer nur etwas bezeichnet werden<br />

kann, wenn es von allem an<strong>der</strong>en unterschieden wird, dass also von <strong>Realität</strong><br />

nur gesprochen werden kann, wenn <strong>Realität</strong> von irgendetwas an<strong>der</strong>en<br />

abgrenzt wird, geht es <strong>der</strong> Autorin vorzugsweise um ‚<strong>Fiktion</strong>’ und ‚Wahrscheinlichkeit’<br />

als zwei Kandidaten für die Bezeichnung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

<strong>der</strong> Unterscheidung. <strong>Die</strong> dann zu stellenden Fragen liegen auf <strong>der</strong> Hand:<br />

Wie ist <strong>der</strong>en Verhältnis zu bestimmen, welche (begriffs-)historischen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

sind zu beobachten und was bedeutet das für unser gegenwärtiges<br />

– man sollte hinzufügen: mo<strong>der</strong>nes – Verständnis von <strong>Realität</strong><br />

und Wirklichkeit<br />

Mit dem Beginn <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (so u.a. Kosellecks These) treten Erfahrungsraum<br />

und Erwartungshorizont auseinan<strong>der</strong>. Gemachte Erfahrungen sind<br />

nicht mehr direkt auf eine zu erwartende Zukunft projizierbar. Zukunft<br />

wird insofern ungewiss – o<strong>der</strong> um es genauer auszudrücken: sie wird kontingent,<br />

also we<strong>der</strong> als notwendig noch als unmöglich erfahren. Das ist die<br />

Zentralformel des mo<strong>der</strong>nen Weltverhältnisses – es gibt we<strong>der</strong> Orientierung<br />

durch Traditionen o<strong>der</strong> auctoritas, noch gibt es eine Möglichkeit <strong>der</strong><br />

Vorhersage <strong>der</strong> Zukunft. <strong>Die</strong>s alles än<strong>der</strong>t sich genau in <strong>der</strong> Zeit, in <strong>der</strong><br />

sowohl <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Roman erfunden wird als auch die Wahrscheinlichkeitstheorie<br />

zu Tage tritt. Beide sind Reaktionen auf die Entstehung mo<strong>der</strong>ner<br />

Verhältnisse. Während <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Roman eine ‚fiktive <strong>Realität</strong>’<br />

vorstellt, „die so plausibel ist, dass sie wahr sein könnte“ (S. 13), stellt die<br />

Wahrscheinlichkeitstheorie eine ‚reale <strong>Fiktion</strong>’ dar, da sie Prognosen über<br />

die Zukunft einer als unsicher vorgestellten Welt anbietet.<br />

Roman und Wahrscheinlichkeitstheorie sind somit zwei Fälle des beson<strong>der</strong>en<br />

Verhältnisses zwischen <strong>Realität</strong> und Nicht-<strong>Realität</strong> in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Damit ist auch das zentrale Thema des Essays angesprochen – denn im<br />

Folgenden erfahren wir nur wenig und dann zumeist nichts Neues über die<br />

Entstehung <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitstheorie o<strong>der</strong> des mo<strong>der</strong>nen Romans.<br />

Doch die Enttäuschung darüber hält sich in Grenzen, da <strong>der</strong> Leser umso<br />

mehr über das aktuelle Verständnis von <strong>Fiktion</strong>, Wahrscheinlichkeit und<br />

<strong>Realität</strong> erfährt, wie bspw.: „<strong>Die</strong> <strong>Realität</strong> ist unwahrscheinlich, und das ist<br />

das Problem.“ (S. 50)<br />

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fastforeword (1-08)<br />

Solche Sätze wi<strong>der</strong>sprechen zunächst aller Alltagsplausibilität, denn <strong>Realität</strong>,<br />

scheint uns, ist geradezu beängstigend wahrscheinlich. <strong>Esposito</strong><br />

schafft es jedoch, mit Hilfe des Rückgriffs auf historisch verschiedene Vorstellungen<br />

des Verhältnisses von <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> und des Nicht-Realen, diese<br />

Quasi-Gewissheit zu erschüttern und dient damit geradezu als verlockende<br />

Einladung, eigene Denkroutinen zu verlassen und sich für ein paar Stunden<br />

mit an<strong>der</strong>en Denkmöglichkeiten zu beschäftigen. Das ist die eigentliche<br />

Stärke des vorliegenden Essays. Er bietet sowohl für den (system-<br />

)theoriegeschulten, wie für den historisch gebildeten Leser nur wenig materiell<br />

Neues, verhilft jedoch zum Denken – und das ist manchmal mehr<br />

wert als etwas Neues präsentiert zu bekommen.<br />

Denn – um auf das Beispiel zurückzukommen – warum ist die <strong>Realität</strong><br />

unwahrscheinlich<br />

Einfache Antwort: Wenn sie wahrscheinlich wäre, wäre sie berechenbar.<br />

Das ist sie jedoch nicht. Soweit so trivial, doch wie schaffen wir es mit einer<br />

hochkomplexen, nicht berechenbaren <strong>Realität</strong> umzugehen <strong>Esposito</strong>s<br />

erster Teil <strong>der</strong> Antwort – nur nebenbei gesagt, Niklas Luhmanns Antwort<br />

wäre sicher ähnlich – besteht darin, dass wir gelernt hätten, durch <strong>Fiktion</strong>en<br />

Erwartungen gegenüber zukünftigen Situationen aufzubauen. Bestes<br />

Beispiel ist <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Liebesroman, bei dem <strong>der</strong> Leser bestimmte mögliche<br />

Situationen durchspielt, die in <strong>der</strong> zukünftigen <strong>Realität</strong> auf ihn zukommen<br />

können. Sicher zielen auch Groschenromane und die Fernseh-<br />

Soaps in dieselbe Richtung, nämlich auf zukünftige Konstellationen vorbereitet<br />

zu sein – dies wird auch in einem kurzen Kapitel über das so genannte<br />

„Reality-TV“ angedeutet.<br />

Der zweite Teil ihrer Antwort liegt darin, dass wir gelernt hätten mit Wahrscheinlichkeit<br />

umzugehen. Wahrscheinlichkeit ließe sich mit Blumenberg<br />

als „Schein <strong>der</strong> Wahrheit“ beschreiben. In <strong>der</strong> Rede von Schein ist nämlich<br />

eine semantische Doppeldeutigkeit eingeschrieben: „Schein als Abglanz,<br />

Ausstrahlung, Aura, Durchscheinen, vertretendes und richtungsweisendes<br />

Aufscheinen einerseits“ und „Schein als leere Prätention, irreführendes<br />

Trugbild, Vortäuschung, anmaßliche Einschleichung in die legitime Signatur<br />

an<strong>der</strong>erseits“. 1<br />

Damit wird schon semantisch auf den fiktionalen Charakter von Wahrscheinlichkeit<br />

und damit auch von <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitstheorie verwiesen,<br />

denn <strong>der</strong>en Prämisse einer Gleichwahrscheinlichkeit von Ereignissen<br />

ist in <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> nicht anzutreffen, genauso wie Zufallsziehungen fast<br />

zwangsläufig an <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> scheitern (müssen). Und doch, so <strong>Esposito</strong>,<br />

könne anhand von Wahrscheinlichkeit gelernt werden: jedoch nicht auf<br />

<strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> zukünftigen Gegenwart, son<strong>der</strong>n vielmehr auf <strong>der</strong> Ebene<br />

<strong>der</strong> gegenwärtigen Zukunft, d.h. <strong>der</strong> Zukunft, wie sie sich in <strong>der</strong> Gegenwart<br />

darstellt.<br />

So lernen Politiker täglich anhand <strong>der</strong> Umfrage-Ergebnisse, welche Aussagen<br />

und Handlungen zu welchen Verän<strong>der</strong>ungen geführt haben, ein Heer<br />

1 Blumenberg, Hans (1998): Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M: Suhrkamp,<br />

S. 117.<br />

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fastforeword (1-08)<br />

von Marktforschern untersucht immerfort das Konsumentenverhalten, und<br />

je<strong>der</strong> Börsenmakler rechnet mit den Zahlen und Prognosen <strong>der</strong> Unternehmen.<br />

Und alle sind sich einig, dass sie nichts über die Zukunft wissen können,<br />

aber sehr viel über die Gegenwart in Erfahrung bringen, indem die<br />

Prognosen über die gegenwärtige Zukunft beobachtet werden.<br />

Denn zur gegenwärtigen Orientierung dienen weniger die aktuellen Umfragen<br />

und Aktienkurse als vielmehr die Erwartung zukünftiger Wahlerfolge,<br />

zukünftiger Konsumtrends o<strong>der</strong> zukünftiger Aktienkurse. Dabei wird einberechnet,<br />

dass sowohl die erwarteten Wahlerfolge, Konsumtrends o<strong>der</strong> Aktienkurse<br />

an<strong>der</strong>s ausfallen können, als auch die Erwartungen selbst sich<br />

än<strong>der</strong>n können. Orientierung in <strong>der</strong> gegenwärtigen mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft<br />

ist also hochgradig fiktional, und diese <strong>Fiktion</strong>en – und hier kommen wie<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Roman und die Wahrscheinlichkeitstheorie zusammen –<br />

wirken wie ein Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigene Kontingenz reflektiert<br />

und so lernt, mit <strong>der</strong> gegenwärtigen Zukunft umzugehen.<br />

<strong>Esposito</strong> schließt ihr Büchlein mit ein paar Bemerkungen zur Virtualität ab,<br />

also jenem gegenwärtig wohl prominentesten Gegenspieler zur <strong>Realität</strong>.<br />

Damit lässt sich <strong>der</strong> Essay auch an<strong>der</strong>s lesen als hier vorgestellt, nämlich<br />

als kleine Einübung in die Verhältnisse einer zunehmend ‚virtuellen’ Gesellschaft.<br />

…<br />

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