27.12.2014 Aufrufe

1jgbmrt

1jgbmrt

1jgbmrt

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Zeitung für Literatur und Gesellschaft<br />

Redaktion: Alida Bremer und Saša Ilić<br />

Ausgabe: 11. März 2014 • Zur Leipziger Buchmesse 2014<br />

1. Jahrgang, Nr. 1<br />

Alida Bremer<br />

2<br />

Birgit Pölzl<br />

18<br />

Selvedin Avdić<br />

3<br />

Andrej Nikolaidis<br />

19<br />

Svetlana Slapšak<br />

4<br />

Tomislav Marković<br />

20<br />

Emir Imamović Pirke<br />

6<br />

Lamija Begagić<br />

21<br />

Dragana Mladenović<br />

7<br />

János Háy<br />

22<br />

Daša Drndić<br />

8<br />

Faruk Šehić<br />

23<br />

Filip Hameršak<br />

9<br />

Ivana Simić Bodrožić<br />

24<br />

Adisa Bašić<br />

10<br />

Jeton Neziraj<br />

24<br />

Aleš Debeljak<br />

11<br />

Nenad Veličković<br />

25<br />

Svetislav Basara<br />

12<br />

Kristian Novak<br />

26<br />

Ivana Sajko<br />

13<br />

Ivana Šojat-Kuči<br />

27<br />

György Spiró<br />

15<br />

Nikola Gelevski<br />

29<br />

S. K. Rietberg<br />

16<br />

László Végel<br />

30<br />

Davor Korić<br />

17<br />

Saša Ilić<br />

31<br />

BETON INTERNATIONAL wird in<br />

mehreren Veranstaltungen auf der Leipziger<br />

Buchmesse vorgestellt.


Alida Bremer<br />

Über die erste<br />

Ausgabe von BETON<br />

INTERNATIONAL<br />

Spezialthema: Was bedeutet das Attentat<br />

von Sarajevo für Autorinnen und Autoren<br />

aus Südosteuropa im Jahr 2014<br />

Die Vorgeschichte dieser ersten Ausgabe<br />

von BETON INTERNATIONAL ist einfach:<br />

Entgegen allen ungünstigen realpolitischen,<br />

ideologischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten,<br />

in denen die Länder Südosteuropas<br />

stecken, gibt es unter den SchriftstellerInnen,<br />

PhilosophInnen, SoziologInnen, FeministInnen,<br />

gesellschaftlichen AktivistInnen und vielen<br />

anderen Bürgerinnen und Bürgern unzählige<br />

Initiativen und Projekte, die auf Begegnungen<br />

ausgerichtet sind und die engen nationalen<br />

Rahmen durch ständige Grenzüberschreitungen<br />

unterwandern – in der Hoffnung auf<br />

bessere und gerechtere Gesellschaften. Diese<br />

Durchlässigkeit bezieht sich natürlich nicht nur<br />

auf die Grenzen dieser Länder untereinander,<br />

sondern auch auf die Grenzen zwischen ihnen<br />

und anderen europäischen Ländern. BETON<br />

INTERNATIONAL ist Produkt einer derartigen<br />

Initiative.<br />

In Serbien erscheint seit 2006 eine Beilage<br />

der Tageszeitung „Danas“, die sich unter dem<br />

bewusst an Thomas Bernhard erinnernden<br />

Namen BETON einer Auseinandersetzung mit<br />

den kulturellen Grundlagen des politischen<br />

Geschehens im Land widmet. Am Anfang ein<br />

Produkt des Enthusiasmus von vier kritischen<br />

Geistern, wurde sie zunehmend zu einer wichtigen<br />

Stimme, die weit über die Grenzen Serbiens<br />

hinaus im ganzen Gebiet des ehemaligen<br />

Jugoslawien vernommen wurde.<br />

Ich erfuhr von BETON zum ersten Mal über<br />

Kruno Lokotar, einen kroatischen Verlagslektor,<br />

der bekannt dafür ist, dass er im ganzen<br />

Kulturraum des ehemaligen Jugoslawien zuverlässig<br />

neue literarische Talente aufspürt und<br />

ihnen zu ersten Büchern verhilft. Seitdem verbindet<br />

mich mit Saša Ilić – einer der Gründer<br />

von BETON und meines Erachtens einer der<br />

wichtigsten serbischen Autoren der mittleren<br />

Generation – neben einer Freundschaft auch<br />

eine fruchtbare Zusammenarbeit.<br />

Wir diskutierten über die Notwendigkeit<br />

einer Analyse der öffentlichen Diskurse in unseren<br />

Herkunftsländern und die dringende<br />

Notwendigkeit von Toleranz und Empathie,<br />

die nicht nur bei den Völkern Südosteuropas<br />

an Bedeutung zu verlieren scheinen. Wir waren<br />

uns einig, dass kritische Stimmen aus Südosteuropa<br />

in anderen europäischen Ländern<br />

wenig vernommen werden bzw. dass sie häufig<br />

in bestimmte Muster gepresst werden, wobei<br />

die Autorinnen und Autoren aus diesem unruhigen<br />

Gebiet unserer Meinung nach viel zu sagen<br />

hätten, was auch für andere Europäer von<br />

Interesse sein könnte. Zugleich wird in den<br />

europäischen Diskursen die balkanische Komplexität<br />

überbetont, so als wären die gesellschaftlichen<br />

Prozesse in diesem Gebiet etwas<br />

vollständig Fremdes und Exotisches – und nicht<br />

etwas durch und durch Europäisches, wenn<br />

auch die Entwicklungen nicht immer synchron<br />

mit denen in anderen – vor allem den wohlhabenderen<br />

– Ländern Europas verlaufen. Wir<br />

wollten etwas unternehmen, damit es zu einem<br />

verstärkten Austausch zwischen Autorinnen<br />

und Autoren gesellschaftskritischer Orientierung<br />

kommt – in einem Europa, das zumindest<br />

beim Austausch von Gedanken ein Europa ohne<br />

Grenzen sein sollte.<br />

Mit Hilfe des Netzwerks TRADUKI wurden<br />

daraufhin die Redaktionsmitglieder von BE-<br />

TON zu regelmäßigen Gästen in dem von TRA-<br />

DUKI geförderten Programm „Fokus Südosteuropa“<br />

auf der Leipziger Buchmesse, das ich<br />

seit 2008 kuratiere. Vor vier Jahren unterstützte<br />

das Netzwerk TRADUKI zum ersten Mal<br />

eine deutschsprachige Ausgabe von BETON, in<br />

der zur Leipziger Buchmesse 2010 eine Auswahl<br />

der wichtigsten BETON-Texte seit 2006<br />

veröffentlicht wurde. Im Rahmen des „Fokus<br />

Südosteuropa“ 2010 begegneten sich auch der<br />

kosovo-albanische Autor Jeton Neziraj und<br />

Saša Ilić, und aus dieser Begegnung entstanden<br />

gemeinsame Projekte. Im Jahr 2011 überraschte<br />

BETON – weiterhin mit Hilfe von TRADUKI<br />

– mit einer Nummer, in der sich junge kosovoalbanische<br />

und serbische SchriftstellerInnen<br />

gemeinsam in deutscher Sprache vorstellten.<br />

Im Jahr 2012 widmete sich die deutschsprachige<br />

Ausgabe von BETON dann dem Thema „Krise“<br />

und befragte dazu vor allem slowenische<br />

Autorinnen und Autoren, und im Jahr 2013<br />

hieß die Fragestellung: „Welche Ideen wirken<br />

in Südosteuropa subversiv“, wobei Subversion<br />

gegen engstirnige nationalistische Ideologien<br />

und gegen die Verbreitung von Korruption und<br />

Misswirtschaft in Südosteuropa gemeint war.<br />

In dieser Ausgabe ging es auch um (subversive)<br />

Wege aus der weltweiten Krise, da die wachsenden<br />

Unterschiede zwischen Reich und Arm<br />

nicht nur ein Problem der postsozialistischen<br />

Gesellschaften sind.<br />

Da Saša Ilić und ich bei der Erstellung der<br />

deutschsprachigen Ausgaben von Anfang an<br />

eng zusammenarbeiteten, entschlossen wir uns<br />

Ende Dezember 2013 – nachdem die ursprüngliche<br />

BETON-Redaktion in Belgrad auseinandergegangen<br />

war – BETON INTERNATIONAL<br />

zu gründen. Mit dem neuen Namen sollen unserer<br />

Verbundenheit mit der ursprünglichen<br />

Zeitung und unserer Absicht, international<br />

sichtbarer zu werden, Ausdruck verliehen werden.<br />

Wir waren uns einig, dass die Autorinnen<br />

und Autoren aus Südosteuropa mehr Vernetzung<br />

mit anderen Europäern benötigen, um<br />

nicht in ihrer südlichen geographischen Ecke<br />

isoliert zu bleiben, die dazu mit vielen Vorurteilen<br />

und Stereotypen belegt ist.<br />

Nicht auf der Suche nach einem Konsensus,<br />

sondern auf der Suche nach Mehrstimmigkeit<br />

entschlossen wir uns, die erste Nummer von<br />

BETON INTERNATIONAL einem in Südosteuropa<br />

hochumstrittenen, hochsymbolischen<br />

und hochaktuellen Thema zu widmen: dem Attentat<br />

von Sarajevo.<br />

Ironischerweise entpuppen sich die scheinbar<br />

rückständigen Südosteuropäer bisweilen<br />

als eine Art negativer europäischer Avantgarde.<br />

Das Attentat von Sarajevo aus dem Jahr 1914 war<br />

ein Ausdruck lokal brodelnder machtpolitischer,<br />

militärischer, klerikaler, sozialdemokratischer,<br />

modernistischer, revolutionärer und revolutionär-romantischer,<br />

sozial- und national-emanzipatorischer<br />

und nationalistischer Ideen und<br />

Kräfte sowie des Bestrebens nach einer neuen<br />

geopolitischen Ordnung. Von träumenden Gymnasiasten<br />

und gewaltverherrlichenden Dichtern<br />

über fortschrittliche Denker bis hin zu Reaktionären,<br />

von hungrigen Bauern und Arbeitern bis<br />

hin zu hinterlistigen Geheimpolizisten und dem<br />

gestärkten und siegessicheren Militärapparat –<br />

alles, was man in Südosteuropa vor dem Attentat<br />

auf allen Seiten antreffen konnte, war auch<br />

im restlichen Europa vorhanden. Dass sich am<br />

blutigen Ereignis in Sarajevo der Erste Weltkrieg<br />

entzünden konnte, ist ein Zeichen dafür, dass in<br />

Südosteuropa bestimmte Kräfteverschiebungen<br />

genauso wirksam waren wie in den anderen Teilen<br />

Europas.<br />

Als 1928 im Parlament des Königreichs der<br />

Serben, Kroaten und Slowenen ein serbischmontenegrinischer<br />

Nationalist tödliche Schüsse<br />

auf die kroatischen Delegierten abfeuerte,<br />

gehörten diese zu den ersten Vorzeichen eines<br />

neuen europäischen Unheils, die sich nur noch<br />

verstärkten, als kroatische und mazedonische<br />

Faschisten 1934 im Hafen von Marseille den<br />

serbischen (inzwischen jugoslawischen) König<br />

ermordeten. Der Idee einer homogenen staatstragenden<br />

Nation standen die Ideen der Selbstbestimmung<br />

kleinerer Völker bzw. der Überwindung<br />

jeder Nationalität im Namen der Solidarität<br />

der Klassen gegenüber; dem Erstarken des<br />

Militärs und des Staatsapparats standen Rufe<br />

nach mehr sozialer und individueller Gerechtigkeit<br />

entgegen. Diverse biologistische, aggressivmodernistische,<br />

militaristische und umstürzlerische<br />

Vorstellungen begleiteten diese Ideen.<br />

Auch dieses Wirrwarr aus Mythen, Vorurteilen,<br />

Bestrebungen, Plänen und mehr oder weniger<br />

dringenden Anliegen der politischen und zivilgesellschaftlichen<br />

Akteure aus dem Süden Europas<br />

waren nicht so ungewöhnlich und entsprachen<br />

jenen im restlichen Europa.<br />

Die verächtliche Bezeichnung des Balkans<br />

als ewiges Pulverfass ist deshalb unserer Meinung<br />

nach eine Projektion. Die Balkanregion<br />

ist eigentlich eine durch und durch europäische<br />

Region, mit dem restlichen Europa untrennbar<br />

verbunden. Sogar die Kriege im ehemaligen Jugoslawien<br />

der Neunziger – im Zuge des Zusammenbruchs<br />

des Sozialismus ausgelöst – lagen<br />

nicht derart außerhalb des europäischen geistigen<br />

Horizonts, wie man sie gemeinhin darstellt.<br />

Aufgebaut auf bestimmten – schon wieder allgemein<br />

europäischen – Widersprüchlichkeiten,<br />

war das Land besonders anfällig, als die großen<br />

Blöcke verschwanden und das Korsett der sozialistischen<br />

Staatsordnung entfiel. Auch der<br />

Gedanke, dass vermeintlich „reine“ Nationen<br />

bzw. Staatsgebilde, in denen alle Vertreter eines<br />

Volkes zusammenleben, einzig mögliche Träger<br />

einer stabilen staatlichen Ordnung sein können,<br />

ist ein gefährlicher und anachronistischer,<br />

aber durchaus europäischer Gedanke. Dieser<br />

schien in den Neunzigern im restlichen Europa<br />

zwar tatsächlich überwunden zu sein, doch in<br />

den letzten Jahren stellt man sich zunehmend<br />

die Frage, ob hier nicht der Schein trog. Die Geschehnisse<br />

in den Neunzigern auf dem Balkan<br />

wirken angesichts der aktuellen Stärkung xenophober<br />

Tendenzen in vielen Teilen Europas<br />

nicht mehr so exklusiv.<br />

Doch es gibt auch positive Botschaften aus<br />

dem Süden Europas, und unsere Zeitung ist<br />

nicht die einzige davon. Es ist eine Binsenweisheit,<br />

dass nur Konzerne und Wirtschaftsmonopole<br />

ausdrücklich übernational sind: Auch sie<br />

werden von den mächtigsten Nationen Europas<br />

bestimmt. Die Dominanz dieser globalen wirtschaftlichen<br />

Kräfte hat sich vor allem in den<br />

postsozialistischen Gesellschaften als verheerend<br />

gezeigt, da dort die korrupten Eliten sehr<br />

wenig für den Schutz der heimischen Produktion<br />

unternahmen und ihre Länder sehr schnell<br />

in Kolonien eines neuen Typus umwandelten.<br />

Diese Eliten verschanzten sich hinter dem Nationalismus<br />

und schürten Ängste und Missverständnisse,<br />

während sie sich gleichzeitig maßlos<br />

bereicherten.<br />

Die Unhaltbarkeit eines nationalistischen<br />

Denkens angesichts der sozialen Probleme, die<br />

unter einer derartigen Dominanz entstehen,<br />

wurde in den letzten Wochen ausgerechnet in<br />

Bosnien und Herzegowina wieder deutlich. In<br />

dem Land, in dem vor hundert Jahren Thronfolger<br />

Ferdinand erschossen wurde und das<br />

durch ein ethnisch definiertes Friedensabkommen<br />

seit zwanzig Jahren zwar befriedet, aber<br />

vollständig gelähmt ist, regen sich nun lautstark<br />

Stimmen, die diese unmögliche Situation<br />

ändern wollen. Die Bürgerinnen und Bürger<br />

des vom Krieg schwer traumatisierten Landes<br />

haben den Mut aufgebracht, sich gegen die eigenen<br />

Eliten zu wehren, die sich unter dem Deckmantel<br />

des Interessensschutzes der jeweiligen<br />

Ethnie bereichert haben, ohne irgendetwas für<br />

die wirtschaftliche Perspektive des gesamten<br />

Landes und das Wohl aller Bürger zu tun. Dass<br />

sie nicht darauf warten, dass EU oder UN eine<br />

rettende Entscheidung über ihre Köpfe hinweg<br />

treffen, sondern das Schicksal selbst in die<br />

Hand nehmen, direkte Demokratie in Form von<br />

Plenen umsetzen, sich über soziale Netzwerke<br />

verständigen und in Kategorien jenseits der<br />

veralteten nationalistischen Staatsentwürfe<br />

denken, all das kann einem naiv und zum Scheitern<br />

verurteilt vorkommen.<br />

Aber warum nicht hoffen, dass hundert Jahre<br />

nach dem Attentat von Sarajevo aus dieser<br />

Stadt ein ganz neues Signal kommen kann: dass<br />

eine friedliche Welt möglich ist, dass zwischen<br />

Menschen, die zufällig aus verschiedenen Ethnien<br />

und Religionsgemeinschaften stammen,<br />

eine produktive Zusammenarbeit sowie Toleranz<br />

und gegenseitiger Respekt möglich sind<br />

– und dass die Allianz zwischen einheimischen<br />

und ausländischen Profiteuren entlarvt werden<br />

muss, damit es zu einer gerechteren Verteilung<br />

der Ressourcen, der Arbeit und der Gewinne<br />

kommt Zumindest in unserer Zeitung ist<br />

es möglich, dass der Text des Enkels von Ivan<br />

Kranjčević, einem Mitglied der Verschwörergruppe<br />

aus Sarajevo, die 1914 das Attentat<br />

verübt hat, neben dem eines Verwandten der<br />

ermordeten Sophie Gräfin Chotek von Chotkowa<br />

und Wognin, Herzogin von Hohenberg<br />

veröffentlicht wird. Und dass Texte serbischer,<br />

kroatischer, bosniakischer (bosnisch-muslimischer),<br />

montenegrinischer, slowenischer, mazedonischer<br />

und kosovarischer AutorInnen neben<br />

welchen aus Österreich und Ungarn stehen,<br />

wobei nicht die Herkunft der Autoren, sondern<br />

nur ihre Phantasie und ihre Gedanken zählen.<br />

Alida Bremer<br />

Geboren 1959 in Split / Kroatien. Literarische<br />

Übersetzungen aus dem Kroatischen, Serbischen<br />

und Bosnischen. Freie Mitarbeiterin<br />

der S. Fischer Stiftung (Projekt TRADUKI). In<br />

ihrem Roman Olivas Garten (Eichborn Verlag<br />

2013) beschreibt sie das Leben von fünf Frauengenerationen<br />

ihrer Familie, wobei ein Panorama<br />

der kroatischen Geschichte der letzten<br />

hundert Jahre entsteht.<br />

Beton International März 2014 2


Selvedin Avdić<br />

Die kleine<br />

Taschenbibliothek des<br />

Attentäters<br />

William Morris: Kunde von Nirgendwo<br />

Ein Exemplar mit den Unterschriften von<br />

Princip und Čabrinović ist erhalten. Sie lasen<br />

es 1912 und kennzeichneten Stellen, die ihnen<br />

besonders gefielen.<br />

Princip unterstrich: „weil wir Zentralisierung<br />

vermeiden“, und Čabrinović: „… über das<br />

fehlende Interesse der Arbeiter in der kommunistischen<br />

Gesellschaft“.<br />

Svetozar Marković: Srpske obmane<br />

(Serbische Täuschungen)<br />

Wenn es um Bücher gehe, verstehe er keinen<br />

Spaß, sagte Gavrilo Princip zu seinem Arzt<br />

Dr. Morris Pappenheim, als er in Zimmer 33 der<br />

geschlossenen Abteilung des Krankenhauses in<br />

Theresienstadt lag:<br />

„Ständig in Bibliotheken, allein und einsam<br />

… Bücher sind mein Leben. Deshalb ist es jetzt<br />

ohne Lesen so schwer …“<br />

Nedeljko Čabrinović stellte für seine Kollegen,<br />

andere Druckereilehrlinge, eine Liste mit<br />

Büchern zusammen, die sie lesen müssten, „um<br />

in den Worten der Popen Wahrheit und Lüge<br />

unterscheiden zu können“. Diese Liste umfasst<br />

26 Titel und ist bis heute erhalten, darunter<br />

auch: Prvi maj 1907 (Der erste Mai 1907); Program<br />

i organizacija socijaldemokratske stranke<br />

u Hrvatskoj (Programm und Organisation der<br />

sozialdemokratischen Partei in Kroatien); Das<br />

kommunistische Manifest; Proleterijat i klasna<br />

borba (Proletariat und Klassenkampf ); Kako<br />

buržoazija nova pljačka radnike (Wie die neue<br />

Bourgeoisie die Arbeiter ausbeutet); Ispovijed<br />

pape Aleksandra II Bordžije (Die Bekenntnisse<br />

des Papstes Alexander II. Borgia) …<br />

Danilo Ilić übersetzte buchstäblich bis zum<br />

Tag des Attentats Bücher. In der letzten Nacht<br />

beendete er die Übersetzung eines Buches von<br />

Oscar Wilde. Er übersetzte auch Kierkegaard,<br />

Strindberg, Ibsen, Edgar Allan Poe…<br />

***<br />

Jeder Jungbosnier wollte Dichter werden.<br />

Princip hatte zwar nur wenig Talent, schrieb aber<br />

beharrlich, um besser zu werden. Bei zwei Gelegenheiten<br />

zeigte er Freunden seine Verse, das<br />

ist belegt. Beim ersten Mal las er Dragutin Mras<br />

ein Gedicht vor, das von Rosen handelte, die am<br />

Meeresgrund für das geliebte Mädchen blühen.<br />

Mras gefiel das Gedicht nicht. Beim anderen Mal<br />

erzählte Princip Ivo Andrić von seinen Gedichten.<br />

Er versprach, sie ihm zu zeigen, was er aber<br />

nie tat. Als Andrić ihn danach fragte, antwortete<br />

er, er habe sie vernichtet. Der einzige vollständig<br />

erhaltene lyrische Text Princips stammt aus dem<br />

Jahr 1911 und steht im Gästebuch der Bergsteigerhütte<br />

auf dem Berg Bjelašnica.<br />

1911 war auch das Jahr, das Princip gegenüber<br />

Dr. Pappenheim als kritisches Jahr in seinem<br />

Leben beschrieb. Damals entwickelten sich<br />

seine „Ideale über das Leben“ und er schloss<br />

sich der Organisation „Junges Bosnien“ an. In<br />

diesem Jahr verliebte er sich auch. Seine letzten<br />

Zeilen schrieb er einige Tage vor seinem Tod an<br />

eine Wand, er schrieb über Schatten, vor denen<br />

die feine Gesellschaft bei Hofe sich fürchtete.<br />

Mangel an Mitteilsamkeit hatte den über das<br />

allgemein Menschliche hinausgehenden Eindruck,<br />

den er auf mich machte, noch gesteigert,<br />

und er erschien mir manchmal als einsamer<br />

Fels im Meer, als Verstandesmensch ohne Herz,<br />

ebenso bar menschlicher Sympathie wie hervorragend<br />

durch seine Intelligenz.“<br />

Nikolaj Černiševski:<br />

Was getan werden muss<br />

Nedeljko Čabrinović war 14 Jahre alt, als er<br />

das Buch Was getan werden muss las. Sein Vater<br />

Vaso erwischte ihn bei der Lektüre, gab ihm<br />

eine Ohrfeige und schraubte die Glühbirne aus<br />

der Fassung.<br />

Černiševski hatte den Roman 1862 im Gefängnis<br />

geschrieben, während er auf sein Verfahren<br />

wegen der Anklage auf revolutionäre Umtriebe<br />

wartete. Er schrieb über die Bildung einer<br />

gerechteren Gesellschaft durch Familienbetriebe.<br />

Als er das Manuskript beendet hatte, wurde<br />

er verurteilt und nach Sibirien deportiert.<br />

Guy De Maupassant: Mont-Oriol<br />

Als Major Vasić von der „Narodna odbrana“<br />

(„Volkswehr“) Čabrinović im Park traf und in<br />

dessen Tasche dieses Buch sah, war er sehr<br />

enttäuscht. Er bevorzugte serbische Volksdichtung<br />

und schenkte Čabrinović eine Sammlung<br />

mit Heldenliedern, eine gebundene Ausgabe,<br />

die wie für einen Soldaten gemacht war,<br />

weil sie in der Brusttasche seines Hemdes eine<br />

Kugel abfangen und dem Mann das Leben retten<br />

konnte.<br />

Trifko Grabež und Gavrilo Princip wollten<br />

Čabrinović nicht mitnehmen, als sie Voja<br />

Tankosić, ein Mitglied der „Schwarzen Hand“,<br />

besuchten, weil Nedeljko ständig lächelte („das<br />

ist mein ganz normaler Gesichtsausdruck“, verteidigte<br />

er sich vergeblich). Der arrogante Komita<br />

Tankosić mochte keine lächelnden Menschen.<br />

Er glaubte, dass sie hinter der freundlichen<br />

Miene etwas versteckten. In Gesellschaft<br />

von Fanatikern fühlte er sich wohl. Den Jungbosniern<br />

schenkte er Pistolen und Bomben und<br />

gab ihnen Taschengeld für die Reise.<br />

Jules Payot: Die Erziehung des Willens<br />

Die Erziehung des Willens las Čabrinović<br />

1912 im Gefängnis in Trebinje, wo er drei Tage<br />

verbrachte, weil man ihn verdächtigte, Streiks<br />

der Druckereiarbeiter organisiert, Maschinen<br />

zerstört und Streikbrecher angegriffen zu haben.<br />

Ob nun wegen der Erziehung des Willens<br />

oder weil Čabrinović stärker geworden war, auf<br />

jeden Fall wurde er von da an nie wieder von seinem<br />

Vater geschlagen.<br />

Nedeljko wurde erwachsen und Herr seines<br />

eigenen Lebens. Und seines Todes natürlich,<br />

wie das eben so ist. Im Prozess sagte er:<br />

„Ich will meinem Vater nicht die Schuld geben,<br />

aber wäre die Pädagogik besser gewesen,<br />

würde ich nicht auf dieser Bank hier sitzen.”<br />

Die Jungbosnier teilten Markovićs Haltung,<br />

man könne die Gesellschaft durch das Wirken<br />

moralisch starker Einzelner mit sozialem Bewusstsein<br />

verändern, ihr Beispiel könne dazu<br />

beitragen, einen neuen, besseren Typ Mensch<br />

hervorzubringen.<br />

Vladimir Gaćinović versuchte, in Paris<br />

Trotzki davon zu überzeugen, dass alle Jungbosnier<br />

ein moralisches und bescheidenes<br />

Leben anstrebten, dass sie alle der Reihe nach<br />

revolutionäre Asketen und Puritaner seien. Er<br />

versuchte Trotzki zu überzeugen, in seiner Organisation<br />

herrsche das Prinzip ausnahmsloser<br />

Abstinenz von der Liebe.<br />

Im Fall von Princip stimmte das. Im Gefängnis<br />

gestand er Dr. Pappenheim, das er nie eine<br />

sexuelle Beziehung gehabt hatte. Er trug einen<br />

Gefängniskittel aus grobem Stoff und ohne<br />

Knöpfe. Mit seiner gesunden Hand versuchte<br />

er, ihn vorne zuzuhalten.<br />

Oscar Wilde: Der glückliche Prinz<br />

Einmal traf Princip Čabrinovićs Schwester<br />

Vukosava bei der Lektüre des Schundromans<br />

Die Geheimnisse des Hofes von Konstantinopel<br />

an. Er kritisierte ihren literarischen Geschmack<br />

und brachte ihr Geschichten von Oscar Wilde<br />

mit. Jahre später beschrieb Vukosava Princip<br />

als zurückhaltenden Knaben, manchmal geistreich,<br />

sogar sarkastisch, mit tiefliegenden Augen,<br />

schönen Zähnen und sehr hoher Stirn. Leo<br />

Pfeffer, Richter in Sarajevo, sah ihn kurz nach<br />

der Verhaftung und beschrieb ihn so:<br />

„Der junge Mann war klein, schwächlich,<br />

mit langem, gelblich bleichem Gesicht, man<br />

konnte sich nur schwer vorstellen, wie er, so<br />

klein wie er war, so still und bescheiden, sich<br />

zu einem solchen Attentat hatte entschließen<br />

können.“<br />

Milutin Uskoković: Došljaci<br />

(Die Zugezogenen)<br />

Neben Wilde borgte Princip Vukosava<br />

auch Uskokovićs Roman Došljaci. Warum hätte<br />

Uskoković der jungen Frau gefallen sollen<br />

Wäre ein Gedichtband vielleicht passender gewesen<br />

Milutin Uskoković sprang am 15. Oktober<br />

1915 in den Fluss Toplica und ertrank. Seine<br />

Freunde sahen den Grund im „Untergang des<br />

Vaterlands“.<br />

Oscar Wilde: Kunst als Kritik<br />

Danilo Ilić übersetzte dieses Buch im Jahr<br />

1913, zu einer Zeit, als er intensiv mit den Vorbereitungen<br />

des Attentats beschäftigt war. Kurz<br />

vor der Tat überlegte er es sich anders.<br />

Bis zum letzten Tag versuchte er Princip<br />

und Grabež zu überzeugen, den Plan vom Attentat<br />

aufzugeben. Seine Versuche waren, wie<br />

wir wissen, vergeblich.<br />

***<br />

Die Bücher aus der Taschenbibliothek des<br />

Attentäters fand ich verteilt auf den Seiten des<br />

zweibändigen Buches Sarajevo 1914 (Prosveta,<br />

Beograd, 1978) von Vladimir Dedijer. Soweit<br />

mir bekannt ist, sind diese Bücher bis jetzt nie<br />

an einem Ort zusammengestellt worden.<br />

Ein Buch aus der Bibliothek hallte, auswendig<br />

gelernt, jahrelang im Kopf eines Attentäters<br />

wieder. Es ist immer gefährlich, wenn ein Buch<br />

im Kopf nachhallt. Leider kommt das auch<br />

heutzutage häufig vor.<br />

***<br />

In die Taschenbibliothek des Attentäters<br />

sortierte ich folgende Bücher ein:<br />

Arthur Conan Doyle:<br />

Die Abenteuer des Sherlock Holmes<br />

Sima Pandurović:<br />

Dani i noći (Tage und Nächte)<br />

An Pandurovićs Poesie schätzte Princip<br />

am meisten den Pessimismus. Jovan Skerlić<br />

schrieb, zu der Zeit habe Pessimismus die ganze<br />

serbische Literatur „überflutet“: „Nie wurden<br />

so viele Friedhöfe besungen, nie schien das Nirvana<br />

ein so strahlendes Ideal wie in diesen düsteren,<br />

traurigen Zeiten.“<br />

Henrik Ibsen: Catilina<br />

Henrik Ibsen sah im permanenten Aufstand<br />

das oberste Gesetz des Lebens:<br />

Und ist das Leben nicht steter Kampf<br />

feindlicher Mächte in unserer Seele<br />

Und ist nicht dieser Kampf das einzige Leben<br />

dieser gleichen Seele<br />

Friedrich Schiller: Wilhelm Tell<br />

Gavrilo Princip las gerne Abenteuerromane,<br />

Alexandre Dumas, Walter Scott und besonders<br />

die Abenteuer von Sherlock Holmes.<br />

Bestimmt hat er diese Passage gelesen, in<br />

der Watson seinen Freund beschreibt: „Dieser<br />

Dieses Stück las Bogdan Žerajić wie ein Besessener,<br />

während er das Attentat auf General<br />

Marijan Varešanin vorbereitete. Er gab fünf<br />

Schüsse auf den Gouverneur ab, mit dem sechsten<br />

tötete er sich selbst. In seiner Hosentasche<br />

Beton International März 2014 3


fand die Polizei ein Notizbuch voller Zitate aus<br />

Wilhelm Tell.<br />

Im Gefängnis behauptete Princip, er habe<br />

bereits 1912 an Žerajićs Grab Rache geschworen.<br />

In der Nacht vor dem Attentat klaute er<br />

Blumen von anderen Gräbern und legte sie auf<br />

Žerajićs Grab.<br />

Peter Kropotkin: Die französische<br />

Revolution<br />

Bei Žerajić fand die Polizei neben seinem<br />

Notizbuch eine Anstecknadel, die der Inspektor<br />

in seinem Bericht so beschrieb:<br />

„… sie besteht aus einem roten kreisförmigen<br />

Stück Karton mit einem Durchmesser von 10 cm<br />

und einem ebenfalls roten erhöhten Rand und<br />

zeigt das Porträt eines Mannes mit Haaren und<br />

ohne Bart; sein Gesicht ist schrecklich schief, der<br />

Mund geöffnet und das Haar zerzaust.“<br />

Dem Leichnam Bogdan Žerajićs ließ die<br />

Polizei den Kopf abtrennen und beerdigte den<br />

Rest auf dem Teil des Sarajevoer Friedhofs, der<br />

Selbstmördern und Obdachlosen vorbehalten<br />

war. Sein Kopf wurde im Kriminalmuseum<br />

ausgestellt. Zu der Zeit war die Theorie des Kriminologen<br />

Lombroso populär, nach der Kriminelle<br />

einen speziellen Schädeldefekt aufweisen,<br />

und die Polizei glaubte, Žerajićs Kopf könnte<br />

der Wissenschaft nützen und die Öffentlichkeit<br />

interessieren. Nach dem Fall der Habsburger<br />

Monarchie wurde auch der Kopf in Žerajićs<br />

Grab gelegt.<br />

Sergej Stepnjak: Podzemna Rusija<br />

(Russischer Untergrund)<br />

Kritiker heben an Podzemna Rusija gewöhnlich<br />

die Wärme und Zuneigung hervor,<br />

mit der Stepnjak von seinen Freunden und Mitkämpfern<br />

spricht.<br />

Grabež und Princip waren bis zum letzten<br />

Tag der Meinung, Čabrinović sei nicht dazu fähig,<br />

das Attentat auszuführen. Grabež hielt ihn<br />

für leichtgläubig; er neige dazu, „in jedem Menschen<br />

einen Freund zu sehen“. Gegenüber Dr.<br />

Pappenheim beschrieb Princip ihn als „Wortklauber“<br />

von geringer Intelligenz. Danilo Ilić<br />

sagte einmal, Čabrinović habe die Bombe nur<br />

geworfen, um das Vertrauen seiner Freunde zurückzugewinnen.<br />

In der Nacht vor dem Attentat las Nedeljko<br />

Čabrinović zum wiederholten Mal Podzemna<br />

Rusija. Am Morgen steckte er das Buch neben<br />

den Bomben in seine Tasche und ging zur verabredeten<br />

Stelle an der Miljacka.<br />

Jasija Torunda:<br />

Kada se zemljaci sretnu i druge priče<br />

(Wenn sich Landsleute treffen und andere<br />

Geschichten)<br />

An den Rändern dieses Buches notierte Princip:<br />

„Was dein Feind nicht wissen darf, das verrate<br />

keinem Freund. Wenn ich über das Geheimnis<br />

schweige, wird es zu meinem Sklaven. Wenn ich<br />

es verrate, werde ich zu seinem Sklaven.“<br />

Leonid Andrejev: Priča o sedam obješenih<br />

(Die Geschichte von den sieben Gehängten)<br />

Andrejev schreibt über die Hinrichtung von<br />

zwei Kriminellen und fünf politischen Häftlingen,<br />

wie sie mit dem Tod umgehen, was sie<br />

durchleben und was sie kurz vor der Hinrichtung<br />

empfinden. Bevor Danilo Ilić hingerichtet<br />

wurde, schrieb er drei Briefe an seine Mutter. In<br />

zwei Briefen bat er sie um neue Kleidung, was er<br />

im dritten schrieb, werden wir nie erfahren. Die<br />

Ermittler fanden ihn im Haus von Ilićs Mutter<br />

und zerrissen ihn.<br />

Er wurde zusammen mit Miška Jovanović<br />

und Veljko Čubrilović am 3. Februar 1915 gehängt.<br />

Der Henker Alois Seyfried erzählte später<br />

in Interviews, sie seien an der Hinrichtungsstätte<br />

ungewöhnlich ruhig gewesen. Er wisse<br />

nicht mehr genau, welcher von den dreien zu<br />

ihm gesagt habe:<br />

„Ich bitte Sie nur, mich nicht lange zu quälen.“<br />

Der Henker habe geantwortet:<br />

„Keine Sorge, ich bin sehr erfahren in meinem<br />

Beruf, es wird nicht mal eine Sekunde dauern.“<br />

Petar Kropotkin: Zapisi revolucionara<br />

(Aufzeichnungen eines Revolutionärs)<br />

In der Nacht vor dem Attentat saß Princip<br />

in Gesellschaft bis nachts um elf in der Kneipe.<br />

Aus der Kneipe ging er dann auf den Friedhof an<br />

Žerajićs Grab, streifte danach durch die Stadt<br />

und ging schließlich nach Hause. Weil er nicht<br />

müde war, verbrachte er den Rest der Nacht mit<br />

diesem Buch.<br />

Kropotkin war einer der Lieblingsautoren der<br />

Jungbosnier. In seinem Buch Anarchismus und<br />

Moral schreibt er: „Zum Teufel mit dem ‚blauen<br />

Blut‘, das sich das Recht nimmt, Menschen, die<br />

sich nahe stehen und vertrauen, gegeneinander<br />

auszuspielen! Wir wollen es nicht und werden es<br />

bei jeder Gelegenheit vernichten.“<br />

Milan Rakić: Pjesme (Gedichte)<br />

In schweren Zeiten, und es gab selten andere,<br />

verkaufte Princip seine Bücher, um sich<br />

Lebensmittel kaufen zu können. Rakićs Gedichtband<br />

verkaufte er jedoch nie. Sein Lieblingsgedicht<br />

war „Na Gazimestanu“ (Auf dem<br />

Gazimestan), und darin die Strophe:<br />

Auch heute in der letzten Schlacht<br />

Ohne den verblassten alten Glanz,<br />

Werd ich für dich mein Leben geben, Vaterland,<br />

Im Wissen, was ich gebe und warum ich gebe.<br />

Im Gefängnis von Theresienstadt wurde<br />

Princip von der Tuberkulose aufgefressen. Auf<br />

seiner Brust eiterten Wunden und sein rechtes<br />

Ellbogengelenk war so porös, dass man Oberund<br />

Unterarm mit Silberdraht verbunden hatte.<br />

Er starb am 28. April 1918 um 18.30 Uhr.<br />

Petar Petrović Njegoš: Gorski vijenac<br />

(Der Bergkranz)<br />

Ein Buch, das sie alle beherrschte. Der<br />

Bergkranz ist das wichtigste Buch in dieser Bibliothek.<br />

Es konnte nicht gestohlen, verbrannt<br />

oder zerstört werden. Gavrilo Princip kannte es<br />

auswendig.<br />

Princip wuchs in einem Haus auf, das unterhalb<br />

des Dorfes Crni Potok stand, wo 1875<br />

die Aufständischen ihr größtes Lager hatten.<br />

Später eroberten es die Türken und töteten 150<br />

Aufständische.<br />

Als der dreizehnjährige Princip zum ersten<br />

Mal nach Sarajevo kam, floh er aus einem Gasthaus,<br />

weil ihn die Kleidung, die die Moslems damals<br />

trugen, erschreckte. Er schrie: „Türken!“<br />

und rannte hinaus. Es dauerte lange, bis er seine<br />

Angst abgelegt hatte. Während er sich eingewöhnte,<br />

lernte er den Bergkranz auswendig.<br />

Ja, der Wolf hat auf das Schaf sein Anrecht<br />

So wie der Tyrann auf schwache Menschen;<br />

Doch Tyrannen in den Nacken treten<br />

Sie zu zwingen zu des Rechts Erkenntnis,<br />

Ist des Menschen heiligste Verpflichtung!<br />

Ein natürliches Recht auf Mord.<br />

Tja …<br />

***<br />

Aus der Bibliothek können wir auf ihren Besitzer<br />

schließen. Zu welchem Zweck wurde die<br />

Taschenbibliothek des Attentäters, wie ich sie<br />

nenne, zusammengestellt<br />

In ihr sind, so will Dedijer uns glauben lassen,<br />

die wichtigsten Bücher der Attentäter enthalten.<br />

Bücher, die man in ihren Zimmern fand,<br />

die sie in Gesprächen erwähnten, an die sich<br />

ihre Freunde erinnern, in denen sie ganze Sätze<br />

unterstrichen und an deren Ränder sie Bemerkungen<br />

notierten.<br />

Doch es wäre unseriös, in der kleinen Bibliothek<br />

den Auslöser für Mord und Selbstmord<br />

zu sehen. Sie ist bescheiden, beinhaltet gerade<br />

mal 20 Titel. Sie würde in einen Rucksack passen<br />

und man könnte sie im Laufe eines Sommers<br />

lesen. Die Jungbosnier lasen viel, das wird<br />

vielerorts bezeugt, es können also nicht alle Titel<br />

sein. Wo sind die anderen Bücher<br />

Es scheint als hätten diese Bücher das<br />

Schicksal ihrer Besitzer geteilt. Jeder setzte<br />

sie, wie auch mit ihren Besitzern geschehen,<br />

für seine Zwecke ein, wie es ihm gerade gefiel<br />

– Tankosić, Apis, Pašić, die österreichischen<br />

Ermittler, Generäle und Politiker, Nationalisten,<br />

Romantiker, ein bisschen hier, ein bisschen<br />

dort… Am Ende waren sie verschwunden<br />

oder zu etwas geworden, was sie nie gewesen<br />

sind.<br />

Wie viele solcher Bücher gab es tatsächlich<br />

und wie sähe die Taschenbibliothek des Attentäters<br />

mit ihnen aus Wo sind Princips lyrische<br />

Gedichte über Rosen am Meeresgrund, die er<br />

Ivo Andrić versprochen hatte<br />

Das interessiert mich.<br />

Aus dem Bosnischen von<br />

Blanka Stipetić<br />

Selvedin Avdić<br />

Geboren 1969 in Zenica. Chef-Redakteur des<br />

Online-Magazins „Žurnal“. Er schreibt Erzählungen<br />

und Romane. Über seinen Roman<br />

Sedam strahova (Sieben Ängste; Titel der engl.<br />

Übersetzung Seven Terrors) schrieb unlängst<br />

ein „The Guardian“-Kritiker: “this remarkable<br />

debut illuminating the Bosnian war is like<br />

nothing I’ve ever read before”.<br />

Svetlana Slapšak<br />

Die Revolution<br />

der Frauen<br />

Ein vernachlässigter Aspekt<br />

des Ersten Weltkriegs<br />

Der Erste Weltkrieg hätte lediglich ein weiterer<br />

europäischer Erbfolgekrieg mit zivilen<br />

Kollateralschäden sein können – diese Kriege<br />

hatte es in Europa praktisch seit dem Mittelalter<br />

ohne Unterbrechung gegeben. Doch der<br />

Streit zwischen königlichen Verwandten hob<br />

sich dieses Mal durch ein unbekanntes Element<br />

hervor – Waffen, mittelbare und unmittelbare,<br />

die der brodelnde industrielle Kapitalismus<br />

für die Nationalstaaten produzierte, vor allem<br />

für Deutschland. Die ritterlichen und aufgestachelten<br />

europäischen Männer in Uniform<br />

(eine Minderheit widersetzte sich dem Kriegswahnsinn<br />

allerdings) waren mit Instrumenten<br />

der Massenvernichtung konfrontiert, deren<br />

tatsächliche Wirkung bis dahin nicht erforscht<br />

war: schwere Geschütze, Panzer und gepanzerte<br />

Fahrzeuge, Maschinengewehre, chemische<br />

Kampfstoffe, Flugzeuge, das Radio, die Telegraphie…<br />

Europäische Männerkörper wurden<br />

massenweise zerhackt und verunstaltet, der<br />

Krieg in den Schützengräben hatte keinen strategischen<br />

Nutzen und entwickelte sich zum<br />

Schlachthaus.<br />

Eine Entwicklung ist jedoch bis jetzt historisch<br />

nie analysiert und beschrieben, ja eigentlich<br />

nicht einmal bemerkt worden. Es kam zu<br />

einer revolutionären Veränderung der Stellung<br />

der Frau. Nur ein Aspekt dieser Entwicklung ist,<br />

dass Frauen nach dem Krieg in einigen europäischen<br />

Ländern das Wahlrecht bekamen. Ein<br />

entscheidender revolutionärer Umstand war<br />

die Veränderung des weiblichen Körpers und<br />

ihres Verhaltens. Beides hatte seine Ursache<br />

unmittelbar im Ersten Weltkrieg.<br />

Es war schnell klar, dass der Krieg an der<br />

Front und in den Schützengräben nicht ohne<br />

Frauen auskam – Krankenschwestern, Chauffeurinnen,<br />

Stenotypistinnen, Telefonistinnen,<br />

wie an der Front so auch im Hinterland. Die<br />

Kriegsindustrie verlangte nach Arbeitern, die<br />

aber gerade an der Front starben: Sie wurden<br />

durch Frauen ersetzt. Hunderttausende Frauen<br />

in Europa und auf anderen Kontinenten<br />

mussten ihre Körper und das, worin sich diese<br />

Körper bewegten, völlig neuen Bedingungen<br />

anpassen: Sie kürzten ihre Haare und kürzten<br />

ihre Röcke, zogen Hosen an, entledigten sich<br />

der beengenden Unterwäsche, zogen bequeme<br />

Schuhe an. Dem neuen Körper stellte die Industrie<br />

der Populärkultur den ganzen Schönheitsapparat<br />

aus der neuesten und populärsten<br />

Kunst an die Seite – aus dem Film: starke<br />

Schminke, verführerische Stoffe, Tänze, die den<br />

Körper betonten. So eröffneten sich den Frauen<br />

neue Räume für den Ausdruck ihrer Wünsche,<br />

und so reihten sie sich folgerichtig in die Masse<br />

der Verbraucher ein: Ihnen wurde suggeriert,<br />

dass das Angebot ihre Bedürfnisse befriedige.<br />

Außerdem wurden Frauen schnell und uneinholbar,<br />

Sportlerinnen, Rennfahrerinnen, Pilotinnen:<br />

Sie einzufangen war im wörtlichen<br />

wie auch im übertragenen Sinn nicht mehr so<br />

leicht.<br />

Als der Mann verunstaltet, verkrüppelt und<br />

häufig impotent aus dem Krieg zurückkehrte,<br />

erwartete ihn eine neue Frau, die überlebt<br />

hatte und nicht nur selbständig war, sondern<br />

auch egoistisch, wie sie es von ihrem stärksten<br />

Verbündeten, dem Kapital, gelernt hatte. In<br />

der mitteleuropäischen Literatur, besonders<br />

der serbischen und kroatischen, findet man erschreckende<br />

Zeugnisse traumatisierter Männer<br />

– sie, die „Hündin“, hatte überlebt und weiß Gott<br />

was getrieben, während er an der Front gelitten<br />

hatte. Das einzige, was er tun konnte, war – sie zu<br />

bestrafen. In Serbien war ein Drittel der Männer<br />

im Krieg umgekommen, da kann man vielleicht<br />

Verständnis aufbringen, doch nur als Grundlage<br />

für eine neue bürgerliche Bildung. Wohin ist<br />

die allmächtige expressionistische Göttin verschwunden<br />

Hass und offene Misogynie betreffen<br />

vor allem urbane Frauen.<br />

Das kapitalistische und das kommunistische<br />

System unterschieden sich beim Thema<br />

Frau, was in den Medien und der Kultur am offensichtlichsten<br />

wurde: Die kommunistische<br />

Ideologie durfte nicht riskieren, ihre größte<br />

Unterstützergruppe zu verlieren, die Frauen,<br />

die man durch eine Erweiterung ihrer Rechte<br />

und eine neue gesellschaftliche Anerkennung<br />

gewonnen hatte, und der Kapitalismus konnte<br />

es nicht riskieren, seine neuen Konsumentinnen<br />

zu verlieren. So trafen „weiblich“ und „unweiblich“<br />

in einem verlogenen und berechnenden<br />

Widerstreit und als „Dilemma“ der Frauen<br />

zum ersten Mal aufeinander. Diese unnatürliche<br />

Verbindung verwirrt auch heute noch viele<br />

Beton International März 2014 4


Frauen, denn sie erkennen nicht die Nutznießer<br />

hinter Forderungen, die ihnen die kostbarste<br />

Zeit und Lebensfreude rauben.<br />

Auch ohne Blick auf diese Extreme und Abschweifungen<br />

wurden weiblicher Körper und<br />

weibliches Verhalten nach dem Ersten Weltkrieg<br />

nie wieder wie früher. Versuche, den weiblichen<br />

Körper nach dem Zweiten Weltkrieg wieder<br />

zu disziplinieren – wie zum Beispiel durch<br />

Diors „A-Linie“, durch Korsetts, steife Stoffe<br />

und Reifröcke – hatten nur teilweise und nicht<br />

auf der ganzen Welt Erfolg. Als die patriarchale<br />

Struktur nach dem Zweiten Weltkrieg die<br />

grundlegenden Errungenschaften der Frauenrechte,<br />

auch aus der Zeit vor und während<br />

des Ersten Weltkriegs, offensichtlich zunichte<br />

machte, schrieb Simone de Beauvoir einen verzweifelten<br />

Aufschrei des Feminismus, Das andere<br />

Geschlecht (1949).<br />

Die vielleicht interessanteste „Ikone“ der<br />

populären Kultur ist der Vamp. In ihm spiegeln<br />

sich Ambivalenz und Verwirrung angesichts des<br />

neuen Frauenkörpers und der neuen Stellung<br />

der Frau in der Gesellschaft wider. Gleichzeitig<br />

jedoch enthält diese Ikone Spuren unterschiedlicher<br />

Strategien, ritueller Narrationen und des<br />

Bedürfnisses, eine solche Frau für den Diskurs<br />

zu nutzen: Der Vamp entspringt dem Film, dem<br />

globalen Medium, das bis heute Verhaltensmodelle<br />

formt.<br />

Der Begriff „Vamp“ ist ein Produkt der<br />

Massenkultur des 20. Jahrhunderts, eine Abkürzung<br />

für „Vampir“, im Übrigen eines der<br />

wenigen Wörter serbokroatischen Ursprungs,<br />

das man in französischen, englischen oder<br />

deutschen Sätzen hört. Die Popularität dieser<br />

Art Phantasiefrau steht in Verbindung mit<br />

dem Trauma des Ersten Weltkriegs: Die Frau<br />

blieb hinter der Front und wartete auf den geschwächten,<br />

verkrüppelten und verängstigten<br />

Mann, fordernd und voller neuer Ideen über<br />

ihre Rechte, mehr an sexuellen Erfahrungen<br />

als an einer monogamen Beziehung interessiert.<br />

Die Angst der Männer vor der Untreue<br />

ihrer Frauen und alle Kastrationsphobien konzentrierten<br />

sich im bedrohlichen Bild einer<br />

Frau, die selbst über ihr Vergnügen bestimmt.<br />

Doch Phantasien lassen immer mehrere Deutungen<br />

zu: Das Bild des Vamps diente auch zur<br />

Disziplinierung der Frauen, als Negativbeispiel,<br />

als drohende Strafe für Regelbruch. In<br />

allen Filmen, Romanen, Comics und Feuilletons<br />

ergeht es den Vamps schlecht, unabhängig<br />

davon, wie viele Männer und Frauen sie in<br />

ihren unheilvollen Liebesabenteuern vernichten.<br />

Während des Zweiten Weltkriegs erfand<br />

man für die amerikanischen Soldaten und<br />

Männer eine vereinfachte Form des Vamps<br />

– das Pin-up-Girl, eine Fotofrau, die man an<br />

die Wand hängen kann: Betty Grable und Rita<br />

Hayworth. Zeitweise leidet das Pin-up-Girl an<br />

der eigenen Attraktivität, doch es ist nicht provokativ<br />

wie der Vamp und erwartet auch keine<br />

umfangreichen Liebeserfahrungen. Seine<br />

Weiblichkeit „geschieht“ ihm, es missbraucht<br />

sie nicht wie der Vamp. Anders gesagt, nach<br />

ungefähr zwanzig Jahren hatte die Zensur den<br />

Vamp eingeholt und jegliches Entwicklungspotential<br />

dieser Figur ausgelöscht.<br />

Wenn man sich mit der Emanzipation der<br />

Frau beschäftigt, darf man den Anteil der Massenkultur<br />

an diesem Prozess nicht vernachlässigen,<br />

die Schlüsselfunktion von Bildern,<br />

Symbolen, narrativen Einheiten, Erfolgsgeschichten,<br />

kurz gesagt die Mythologie einer<br />

bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes.<br />

In der westlichen fortschrittlichen Welt<br />

entdecken Historiker erst jetzt, wie sehr die<br />

Emanzipation durch den Ersten Weltkrieg beschleunigt<br />

und durch den Zweiten Weltkrieg<br />

gebremst wurde – ein Prozess, der in den Ländern<br />

Mitteleuropas unterschiedlich verlief,<br />

von den außereuropäischen Ländern gar nicht<br />

zu sprechen.<br />

Doch trotz der offensichtlichen Unterschiede<br />

sind auf der Weltkarte der Vamps einige<br />

Eigenschaften in allen Kulturen gleich:<br />

Der Vamp entspricht dem Bild einer Welt, in<br />

der die Geschlechter einander unversöhnlich<br />

gegenüberstehen und in der der ständige Konflikt<br />

immer wieder von Neuem die Macht des<br />

Mannes sichert. Ohne Herausforderung wäre<br />

diese Macht langweilig, deshalb wird hier ein<br />

Raum der „Ungewissheit“ umrissen, den der<br />

Vamp symbolisiert. Anders gesagt dient die<br />

Vampfrau einer weiteren absehbaren männlichen<br />

Strategie. Eine starke Männerhand ist<br />

auch deshalb erforderlich, weil Frauen ohne<br />

Kontrolle zum Vamp werden könnten und<br />

dann Männern zur Unterhaltung dienen würden.<br />

Die Möglichkeit, dass ein Mann einem<br />

Vamp „verfällt“, ist nicht weniger attraktiv als<br />

andere Verführungstechniken. In den meisten<br />

Geschichten über Vamps kann sich der<br />

Mann „retten“. Seine Sexualität wird dadurch<br />

nur bestätigt und gestärkt, während die der<br />

Frau bei intensivem Einsatz „geschwächt“<br />

wird. Tatsächlich ist es nahezu umgekehrt.<br />

Deshalb kann man die sinkende männliche<br />

Selbstsicherheit an der Veränderung des Bildes<br />

von Phantasiefrauen beobachten. Nach<br />

der Vampfrau, die über emanzipatorische Energie<br />

verfügte, und dem passiven Pin-up-Girl<br />

kam in Filmen und Populärkultur die Variante<br />

der Verführerin der 60er und 70er Jahre, die<br />

„Nymphe“, eine übertrieben junge, aber sexuell<br />

verführerische Kindfrau. Diese Tendenz<br />

zur Infantilisierung weiblicher Sexualität setzt<br />

sich bis heute fort. Daraus entwickelte sich<br />

auch ein interessanter Strang: Im amerikanischen<br />

Film als dem kulturellen Ursprungsraum<br />

des Vamps entstand durch Parodie der<br />

Vamp-Filme die Gestalt einer selbständigen,<br />

klugen und ein wenig übergeschnappten Frau<br />

in den Komödien der dreißiger Jahre (screwball<br />

comedy) - eine moderne Protagonistin, die<br />

in der Zeit der Wirtschaftskrise den erniedrigten<br />

und verunsicherten Mann rettet.<br />

Das hundertjährige Jubiläum des Ersten<br />

Weltkriegs müsste diesen Kanal öffnen und uns<br />

mit allzu lange verborgenen und vernachlässigten<br />

Informationen aus der Geschichte der<br />

Frauen versorgen. Ich fürchte allerdings, dass<br />

viele Hundertjahrfeiern sich darauf beschränken<br />

werden, Orden um Denkmäler, Friedhöfe<br />

und Bilder von schnauzbärtigen Offizieren,<br />

Fahnen, Uniformen, Waffen und Ähnlichem<br />

herum zu tragen. Auf allen Seiten gibt es ausreichend<br />

Daten, Erinnerungen, literarische<br />

und künstlerische Bearbeitungen, um die große<br />

Revolution der Frauen zu rekonstruieren, die<br />

während des Ersten Weltkriegs stattfand. Im<br />

besten Fall wird es eine Erinnerung an die feministische<br />

Bewegung geben, die nach dem Ersten<br />

Weltkrieg überall in Europa neuen Schwung bekam<br />

und neue Formen annahm.<br />

Doch diese neue Frau, die die Universitäten,<br />

die Wissenschaft und Technik eroberte,<br />

die ihre neue Sensibilität im Jazz äußerte, eine<br />

neue Sexualethik, Verhütung und bewusste<br />

Mutterschaft einforderte, unterstützt durch<br />

Psychoanalyse und Reformpädagogik, wurde<br />

zum wichtigsten Erkennungszeichen der neuen<br />

Zeit.<br />

Die Parallele zwischen einer Zeit des Wohlstands<br />

und einer voller sozialer Spannungen,<br />

einer noch nie dagewesenen Entwicklungsgeschwindigkeit<br />

der Medien und der Technik<br />

und gleichzeitig einer Zeit der schmerzlichen<br />

Blindheit gegenüber den Gefahren solcher<br />

Spannungen heute, wie es auch vor dem Ersten<br />

Weltkrieg gewesen ist, ist offensichtlich. An<br />

der Geschichte der Frauen erkennt man, dass<br />

der Erste Weltkrieg nicht „beendet“ ist und<br />

nicht zu Versöhnung und gegenseitigem Verständnis<br />

geführt hat. Was soll man da erst zu<br />

dem noch nicht beendeten Zweiten Weltkrieg<br />

sagen Die sozialen Spannungen und Probleme<br />

im neuen Finanzkapitalismus, begleitet<br />

von der globalen Rückkehr in die Sklavenhaltergesellschaft,<br />

versprechen nichts Gutes: Im<br />

Gegenteil, es ist genau die explosive Mischung,<br />

die bei der harmlosesten Ursache hochgehen<br />

kann, bei irgendeinem Vorfall irgendwo auf<br />

der Welt. Die Rechte der Frauen wurden mit<br />

dem Fall der sozialistischen Staaten zurückgedrängt<br />

und erlebten einen backlash, den<br />

man nun wirklich nicht mit der Einführung<br />

der Demokratie begründen kann. Aber genau<br />

das passiert schon seit zwanzig Jahren in den<br />

postsozialistischen Gesellschaften. Ein globales<br />

weibliches Gebet würde heute darauf gerichtet<br />

sein, dass wir verschont bleiben mögen<br />

davor, dass erst ein neuer Weltkrieg uns Frauen<br />

unsere alten Rechte zurückgibt und neue<br />

hinzufügt.<br />

1913 erschien den Hochgebildeten Europas<br />

ein wahnsinniger Krieg unvorstellbar. Uns<br />

bleibt noch etwas Zeit, das heute Unvorstellbare<br />

zu bedenken.<br />

Aus dem Serbischen von<br />

Blanka Stipetić<br />

Svetlana Slapšak<br />

Geboren 1948 in Belgrad. Zusammen mit der<br />

Gruppe 1000 Frauen für den Frieden wurde sie<br />

2005 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.<br />

Gastdozentin an zahlreichen europäischen<br />

und amerikanischen Universitäten. Professur<br />

für Anthropologie antiker Welten, Gender Studies<br />

und Balkanologie (seit 2003), Dekanin des<br />

ISH (Institutum Studiorum Humanitatis) in<br />

Ljubljana. Sie veröffentlichte über 40 Bücher<br />

und Sammelschriften und über 400 Studien,<br />

über 100 Essays, einen Roman, Übersetzungen<br />

aus dem Alt- und Neugriechischen, Lateinischen,<br />

Französischen, Englischen und Slowenischen.<br />

Beton International März 2014 5


Emir Imamović Pirke<br />

Ergänzungen zur Biographie<br />

Franz Ferdinands<br />

nen, ist, dass niemand aus der Geschichte lernt“,<br />

zitierte Eva am Ende ihres ersten und einzigen<br />

Gesprächs über den Krieg Bismarck.<br />

Also widmete sich Mirza seiner Arbeit und<br />

Eva der ihren. Sie beschlossen, keine Kinder zu<br />

bekommen, und hatten so genügend Zeit, sich<br />

weiterzubilden, und genügend Raum, um beim<br />

Abendessen über das Klonen oder die Geschichte<br />

zu sprechen, insbesondere über die Ursachen<br />

des Ersten Weltkriegs, ein Thema, von dem Eva<br />

fasziniert war.<br />

„Weißt du, mein Schatz“, sagte sie einmal zu<br />

ihm, „es wäre großartig, die Akteure jener Ereignisse<br />

in unserer Gegenwart zu treffen. Aber<br />

ich meine nicht die Könige und die Minister, die<br />

Generäle und so weiter, sondern Menschen wie<br />

Gavrilo Princip.“<br />

„Warum denn, mein Schatz“, fragte Mirza<br />

und nahm einen Schluck vom australischen Wein.<br />

„Weißt du, mein Schatz, Gavrilo Princip war<br />

achtzehn Jahre alt, als er neunzehnhundertvierzehn<br />

Franz Ferdinand tötete. Das heißt,<br />

bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr war er<br />

ein kränklicher Bauer aus irgendeinem Kaff.<br />

Dann verließ er seine Familie, formte seine<br />

politischen Einstellungen und bereitete sich<br />

praktisch auf das Ende seines Lebens vor“, antwortete<br />

Eva.<br />

„Ich verstehe nicht, mein Schatz … Die Welt<br />

war damals noch einfacher“, sagte Mirza.<br />

„Ja, eben, mein Schatz“, fuhr Eva fort.<br />

„Weißt du, Princip war nicht irgendein Idiot.<br />

Dumm war er jedenfalls nicht. Stell dir mal vor,<br />

was jemand täte, der eine so klar ausformulierte<br />

Meinung von seiner damaligen Welt hatte,<br />

wenn er nur knappe achtzig Jahre später mit<br />

der heutigen Welt konfrontiert würde“<br />

„Na ja, mein Schatz, er wäre halt mit dem<br />

Krieg konfrontiert, und dabei setzte er sich<br />

doch, wenn ich mich recht erinnere, für eine<br />

Vereinigung auf dem Balkan ein, Bosnien mit<br />

Serbien, irgend so etwas, und gerade die führen<br />

ja heute Krieg …“, sagte Mirza.<br />

„Dieser Krieg wird doch auch irgendwann<br />

vorbei sein, mein Schatz“, antwortete Eva.<br />

„Denkst du“, fragte Mirza und schaute sie<br />

so an, dass sie spürte, wie ihre Brustwarzen steif<br />

wurden.<br />

In dieser Nacht liebten sie sich auf der<br />

Couch und tranken in den Pausen einen Shiraz<br />

Cabernet Malbec. Es war Freitag, am nächsten<br />

Tag konnten sie ausschlafen. Am Wochenende<br />

ließ Mirza sein Lauftraining ausfallen. Eva ging<br />

sowieso nie laufen.<br />

Über das Ansehen, das Eva unter Historikern<br />

genoss, wusste Fadil Zulfikarpašić nicht alles,<br />

aber jedenfalls genug: Er selbst war ebenfalls<br />

von Geschichte fasziniert. Als Begründer eines<br />

Balkaninstituts hörte er von seinen Freunden,<br />

hochgeschätzten Historikern vom Balkan und<br />

aus Europa, viel über Eva. Doktor Zenić erzählte<br />

ihm eines Abends bei einer Tasse Tee von Mirza<br />

und davon, was über ihn gesprochen wurde. Dies<br />

reichte aus, um den reichen bosnischen Emigranten<br />

von mysteriöser Herkunft zu veranlassen,<br />

seinem jungen Neffen eine Geldsumme zu<br />

überweisen, die es ihm ermöglichen sollte, sich<br />

noch intensiver seiner wissenschaftlichen Arbeit<br />

zu widmen und keine Zeit mehr auf Dinge<br />

zu verschwenden, mit denen er die Erwartungen<br />

seiner Bewunderer nicht erfüllen würde, die<br />

über die Kenntnisse und Talente des jungen Kollegen<br />

mit dem schwer auszusprechenden Nachnamen<br />

staunten.<br />

Das Geld, von dem gemunkelt wurde, es<br />

stamme aus dem Waffenhandel, kam auch Eva<br />

zugute. Es erleichterte ihr, Studienreisen zu<br />

unternehmen, Forschungen zu betreiben und<br />

Von Doktor Z. konnte man zumindest bis<br />

zum Jahr 2001 nicht behaupten, er hätte mehr<br />

Glück als Verstand. Von beidem hatte er nämlich<br />

eigentlich mehr als die meisten. Ab 2001<br />

waren jedoch seine wenigen und nicht allzu<br />

engen Freunde – eher würde man von guten Bekannten<br />

sprechen – steif und fest davon überzeugt,<br />

dass ihn zuerst das Glück und später auch<br />

der Verstand allmählich im Stich ließen. Es war<br />

in diesem Jahr, dass die angesehene Schweizer<br />

Historikerin Eva Zulfikarpašić auf der Rückreise<br />

von einer Fachtagung über das „Junge Bosnien“<br />

in Wien bei einem Verkehrsunfall ums Leben<br />

kam, was das Leben von Doktor Z. vollkommen<br />

veränderte. Nein, der hochgeschätzte Genetiker<br />

bosnisch-herzegowinischer Herkunft<br />

Dr. Mirza Zulfikarpašić gab sich nicht etwa dem<br />

Alkohol hin, er wachte nicht tagelang am Grab<br />

seiner Gattin, er verwandelte ihr gemeinsames<br />

luxuriöses Heim nicht in ein Mausoleum, und<br />

er ließ sich auch nicht gehen. Eigentlich blieb<br />

scheinbar alles beim Alten, außer dass er seine<br />

Arbeitsstelle kündigte: An Werktagen stand er<br />

um sechs Uhr morgens auf, lief fünf Kilometer,<br />

aß ein weichgekochtes Ei zum Frühstück und<br />

trank dazu einen frischgepressten Saft, las Le<br />

Monde, duschte morgens und abends, rasierte<br />

sich einmal täglich, schnitt alle fünf Tage seine<br />

Nägel und ging alle fünfzehn Tage zum Friseur.<br />

Das Haus verließ er immer tadellos gekleidet<br />

und wichtige Theatervorstellungen ließ er nicht<br />

aus. Einen Tag, nachdem er die Todesnachricht<br />

erhalten hatte, warf er alle Aschenbecher, die<br />

seine nunmehr tote Frau mit der Asche selbstgedrehter<br />

Zigaretten der Marke „Drum“ zu füllen<br />

pflegte, kurzerhand in den Müll.<br />

Als Spross zweier angesehener bosnischer<br />

Familien namens Kreševljaković und<br />

Zulfikarpašić war Mirza, damals Kreševljaković<br />

nach seinem Vater, mit Privatlehrern für Geige,<br />

Deutsch und Französisch, einer Gouvernante<br />

und einem Tennistrainer aufgewachsen. Mit sieben<br />

besaß er eine eigene Kinderbibliothek, die<br />

fast hundert Titel umfasste. Zum ersten Schultag<br />

wurde er mit einer Jahreskarte des Volkstheaters<br />

in Sarajevo belohnt. Schon damals wusste<br />

er, dass im Gebäude des Volkstheaters zur Zeit<br />

der österreichisch-ungarischen Monarchie das<br />

Gemeindezentrum untergebracht war. Mit zehn<br />

konnte er problemlos auf Deutsch lesen, mit<br />

zwölf reiste er zum ersten Mal nach Zürich, und<br />

mit vierzehn ließ er alle wissen, dass er nicht vorhabe,<br />

wie sein Vater Wasserkraftwerke im Irak<br />

und Militärstützpunkte in Libyen zu planen<br />

und die Bauarbeiten zu beaufsichtigen, sondern<br />

dass er wie seine Mutter den Arztberuf ergreifen<br />

wolle. Der Cousin seiner Mutter – Fadil<br />

Zulfikarpašić, ein Millionär und Emigrant mit<br />

Schweizer Staatsbürgerschaft – ermöglichte<br />

Mirza eine Ausbildung in seiner neuen Heimat,<br />

und so wurde Mirza gleich nach seinem Abitur<br />

zum Medizinstudenten und erhielt eine Wohnung<br />

und eine beträchtliche Summe Geldes zur<br />

Deckung seiner laufenden Kosten zur Verfügung<br />

gestellt. Allerdings waren zwei Bedingungen<br />

daran geknüpft: Er musste einen hervorragenden<br />

Studienerfolg vorweisen, und er musste<br />

seinen Nachnamen ändern. So wurde aus Mirza<br />

Kreševljaković zunächst Mirza Zulfikarpašić<br />

und einige Jahre später Doktor Z. Den neuen<br />

Nachnamen konnten die Kollegen genauso wenig<br />

aussprechen wie den alten, mit Ausnahme<br />

von Doktor Miha Zenić, der aus Šibenik stammte<br />

und dessen Tochter Eva nach ihrer Hochzeit<br />

am Genfer See am 9. Mai 1993 ebenfalls den<br />

Nachnamen Zulfikarpašić annahm.<br />

Nachdem die Eheleute in ihrer Hochzeitsnacht<br />

mehrere Orgasmen gehabt hatten – Mirza<br />

drei und Eva zwei – , sahen die beiden gemeinsam<br />

auf CNN, wie die Alte Brücke in Mostar zerstört<br />

wurde, und beschlossen daraufhin, keine<br />

Nachrichten aus ihren Heimatländern mehr<br />

zu verfolgen: seine bosnisch-muslimische und<br />

ihre kroatisch-katholische Herkunft hätten ihre<br />

Meinungen über den muslimisch-kroatischen<br />

Konflikt in Bosnien und Herzegowina definieren<br />

und, so dachten sie, ihre Beziehung belasten<br />

können. „Was wir aus der Geschichte lernen könan<br />

diverse Dokumente aus der Zeit vor dem Ersten<br />

Weltkrieg heranzukommen. Indessen veröffentlichte<br />

Mirza seine Arbeiten in wichtigen<br />

Fachzeitschriften, besuchte Kliniken, hielt Vorlesungen<br />

ab und arbeitete mit den allerbesten<br />

Spezialisten der Welt zusammen. Mit einigen<br />

von ihnen präsentierte er schon 1997 der ganzen<br />

Welt Dolly, das erste geklonte Schaf, und<br />

gemeinsam mit anderen plante er für 2001 den<br />

Versuch, einen Menschen zu klonen.<br />

Am Freitag, den 8. März 2001, sollte Eva aus<br />

Wien zurückkehren. Mirza hatte einen Flug für<br />

Sonntag, den zehnten, gebucht. Zum Frauentag<br />

hatte er ihr eine Halskette besorgt und dazu<br />

einen Ratgeber, der ihr dabei helfen sollte, mit<br />

dem Rauchen aufzuhören. Ein Telefonanruf<br />

unterbrach seinen Lesenachmittag: Man informierte<br />

ihn, dass Eva bei einem Verkehrsunfall<br />

ums Leben gekommen war. Sie hatte die Kontrolle<br />

über ihr Auto verloren, weil sie ihr Feuerzeug<br />

gesucht hatte.<br />

Doktor Zenić beschloss, seine Tochter einäschern<br />

zu lassen. Einen Teil von Evas Asche bewahrte<br />

Mirza fortan in der Schachtel auf, in der<br />

sie ihm ihr erstes Geschenk überreicht hatte. Der<br />

Rest wurde zum Grab der Familie Zenić auf dem<br />

Friedhof der Heiligen Anna in Šibenik gebracht.<br />

Mirza kam nicht zur Trauerfeier, was überall auf<br />

Unverständnis stieß. Er saß an diesem Tag am<br />

Esstisch, an dem Platz, wo üblicherweise Eva gesessen<br />

war, und dachte lange über einen Wunsch<br />

nach, den er Eva erfüllen wollte.<br />

Doktor Z. war geradezu besessen von der<br />

Idee eines Gavrilo Princip im einundzwanzigsten<br />

Jahrhundert. Den Verstand hatte er allerdings<br />

nicht verloren. Der hochgeschätzte Genetiker<br />

spielte nicht etwa mit dem Gedanken,<br />

Princip zu klonen. Abgesehen davon, dass er<br />

sich über die Unmöglichkeit eines solchen Un-<br />

Beton International März 2014 6


terfangens im Klaren war, widersetzte er sich<br />

auch jedem Versuch, Menschen zu klonen, mit<br />

aller Kraft. In die USA hatte er nämlich nur reisen<br />

wollen, um sich am Misserfolg jener Kollegen<br />

zu ergötzen, die ihm übertriebene Skepsis<br />

vorgeworfen hatten. Mirzas Plan war ein ganz<br />

anderer. Er beschloss, ein Neugeborenes zu<br />

finden und zu adoptieren oder zu kaufen oder<br />

was auch immer, und dieses Kind unter genau<br />

den gleichen Bedingungen aufzuziehen, unter<br />

denen auch Princip aufgewachsen war. Er wollte<br />

das Kind von der Wirklichkeit abschirmen<br />

und seine Ansichten auf genau jener Grundlage<br />

formen, auf der damals der Sohn eines Postangestellten<br />

zum Mörder des Thronfolgers Franz<br />

Ferdinand und seiner Gattin Sophie geworden<br />

war. Dazu benötigte Doktor Z. Zeit und Raum<br />

– Geld hatte er genug, und sollte er mehr brauchen,<br />

könnte er jederzeit eine Immobilie verkaufen,<br />

die er von seinem reichen Onkel geschenkt<br />

bekommen hatte.<br />

Mirza Zulfikarpašić änderte wieder seinen<br />

Nachnamen: Genau genommen holte er einfach<br />

den väterlichen Nachnamen zurück und schrieb<br />

sich als Kreševljaković für das Geschichtsstudium<br />

ein, das seine verstorbene Frau abgeschlossen<br />

hatte. Er wusste alles über Eva, kannte jeden<br />

wichtigen Augenblick ihres Lebens, von<br />

den ersten Erinnerungen bis zur verfluchten<br />

Nikotinsucht. Nach zwölf Jahren des Studiums,<br />

des Lernens und Forschens in Bibliotheken und<br />

Archiven, als Mirza mühevoll alle wichtigen Informationen<br />

über das „Junge Bosnien“ und seine<br />

Mitglieder zusammengetragen hatte, stand<br />

sein einschlägiges Wissen dem Evas um nichts<br />

nach. Der angesehene Doktor Z. mit seiner brillanten<br />

Karriere als Genetiker, der von den besten<br />

Kliniken und Instituten eingeladen wurde,<br />

der in den besten Fachzeitschriften publizierte<br />

und dessen Zukunftsaussichten in der Kollegenschaft<br />

Neid hervorriefen, hörte für immer<br />

auf zu existieren.<br />

Der Schweizer Staatsbürger Mirza Kreševljaković<br />

passierte problemlos die Passkontrolle<br />

am Flughafen von Sarajevo und nahm ein Taxi<br />

zum Hotel Europa. Das Grab des Vaters und die<br />

Mutter im Altersheim wollte er erst aufsuchen,<br />

nachdem er das, weshalb er gekommen war, erledigt<br />

hatte: ein Baugrundstück erwerben, weit<br />

weg von der Zivilisation und groß genug, um darauf<br />

eine Welt für seinen Gavrilo zu erschaffen. In<br />

seinem Zimmer im fünften Stock blätterte der<br />

einstige Doktor Z. im Telefonbuch und fand darin<br />

drei Familien mit dem Nachnamen Princip. Er<br />

rief die erste Telefonnummer an: Eine metallische<br />

Frauenstimme sagte ihm, dass die gewählte<br />

Telefonnummer nicht existierte. Die andere Telefonnummer<br />

funktionierte. Mirza ließ es lange<br />

läuten. Schließlich meldete sich ein alter Mann<br />

mit einer Piepsstimme. Mirza legte einfach auf.<br />

Die Telefonnummer 033455939 gehörte dem<br />

fünfunddreißigjährigen Braco Princip, von dem<br />

Mirza noch am selben Abend erfahren sollte,<br />

dass es sich bei ihm um einen Bergwerkstechniker<br />

handelte, der derzeit als Chauffeur für das<br />

Türkische Kulturzentrum „Yunus Emre“ tätig<br />

war. Die beiden verabredeten sich genau dort,<br />

wo Gavrilo Princip auf den Thronfolger geschossen<br />

hatte. Braco hatte sich zu dem Treffen bereit<br />

erklärt, weil er eine Aufwandsentschädigung in<br />

Höhe von hundert Euro erhalten sollte.<br />

„Ich bin Mirza“, sagte der ehemalige Doktor<br />

Z. und streckte dem hochgewachsenen,<br />

kahlköpfigen Mann im weißen T-Shirt mit dem<br />

Zeichen der Hypo Alpe Adria Bank und einem<br />

blauen Nilpferd seine Hand hin.<br />

„Braco“, antwortete Princip. Sein Lächeln<br />

war breit genug, um zu offenbaren, dass ihm der<br />

vierte Zahn links oben fehlte.<br />

„Ein ungewöhnlicher Name“, sagte Mirza.<br />

„Kein Name, es ist ein Spitzname“, erklärte<br />

Braco.<br />

„Wie lautet denn dein Name“, fragte Mirza.<br />

Auf die Antwort musste er etwa fünfzehn<br />

Sekunden warten, und dann sprach Braco genau<br />

in dem Augenblick, als eine Straßenbahn<br />

mit einer Werbung des ungarischen Mineralölkonzerns<br />

MOL an ihnen vorbeifuhr. Mirza<br />

musste seinen Gesprächspartner bitten, die<br />

Antwort zu wiederholen.<br />

„Gavrilo“, sagte Braco leise.<br />

„Gavrilo Princip“, fragte Mirza erstaunt.<br />

„Ja“, murmelte Braco.<br />

„Aber das ist doch …“, Mirza konnte seine<br />

Begeisterung kaum verhehlen.<br />

„Das ist furchtbar, Bruder“, entgegnete<br />

Gavrilo Braco Princip.<br />

Hätte Mirza Kreševljaković an diesem<br />

Abend im Restaurant „Dom“ nicht eine Rechnung<br />

von hundertfünfzig bosnischen Mark<br />

oder fünfundsiebzig Euro bezahlt, hätte er einige<br />

hunderttausend Euro verloren – und zwar<br />

im besten Fall. Braco erzählte ihm, dass die jugoslawischen<br />

Polizisten ihm regelmäßig Ohrfeigen<br />

verpasst hätten, wenn er seinen Namen<br />

gesagt habe, ohne seinen Ausweis zu zeigen,<br />

weil sie überzeugt gewesen seien, dass er sie<br />

nur provozieren wolle. Er erzählte aber auch,<br />

nur seinem Nachnamen habe er wenigstens das<br />

bisschen Schulbildung zu verdanken; er habe es<br />

nämlich gehasst, zu lernen. Dann erzählte er,<br />

sie hätten im letzten Krieg wegen seiner Mutter<br />

vor den Serben fliehen müssen, die Moslems<br />

hätten ihn aber wegen seines Namens verach-<br />

tetet. Jetzt kam Mirza nicht mehr mit, also erklärte<br />

ihm Braco, dass seine Mutter Muslimin<br />

sei und dass sie ihretwegen nicht im Stadtteil<br />

Grbavica hätten bleiben können, der von der<br />

serbischen Armee kontrolliert worden sei.<br />

Nachdem es ihnen dank ihres Schmucks und<br />

des guten Ansehens seines Vaters irgendwie<br />

gelungen sei, die Miljacka zu überqueren, sei er<br />

von der bosnisch-herzegowinischen Militärpolizei<br />

verhaftet und zusammengeschlagen worden,<br />

nur weil er so hieß wie der, wie sie sagten,<br />

„Terrorist, der den österreichischen Herrn und<br />

seine feine, schwangere Frau umgebracht hat“.<br />

Er fügte hinzu, dass man ihn sogar an die Front<br />

geschickt hätte, wenn er nicht an Tuberkulose<br />

erkrankt wäre.<br />

„Aber Princip war doch ein Idealist, er<br />

kämpfte gegen die Besatzer“, sagte Mirza.<br />

„Ach geh, er war ein Idiot. Ein richtiger Idiot.<br />

Gestorben mit knapp über zwanzig und nur<br />

vierzig Kilo, für nichts, so wie jeder andere Idiot,<br />

der denkt, er könnte etwas verändern“, antwortete<br />

Braco darauf.<br />

„Er kämpfte für die Freiheit“, wandte Mirza<br />

ein, bereit, sein Wissen zu demonstrieren.<br />

„Na, das ist ihm ja bestens gelungen, alle<br />

Achtung“, sagte Braco, bestellte sich ein Bier<br />

und gab weiter zum Besten, was er von seinem<br />

Namensvetter, der in einem tschechischen Gefängnis<br />

gestorben war, hielt.<br />

Mirza und Braco gingen spät auseinander,<br />

etwa um halb drei Uhr nachts. Braco wollte<br />

die versprochenen hundert Euro nicht annehmen.<br />

Auf einem A4-Blatt mit dem Namen<br />

des Hotels, darüber einer Krone und darunter<br />

der Zahl 130, schrieb Mirza einen Brief an Eva.<br />

Nachdem er mit „für immer Dein Mirza“ unterzeichnet<br />

hatte, machte er das Fenster auf,<br />

faltete einen Papierflieger und ließ ihn aus<br />

dem Hotel Europa segeln, hin zum Minarett<br />

der Begova-Moschee.<br />

„Mein Schatz, ich habe Gavrilo Princip im<br />

einundzwanzigsten Jahrhundert getroffen.<br />

Er ist Angestellter eines türkischen Kulturzentrums,<br />

Kunde einer österreichischen Bank<br />

und Konsument einer ungarischen Tankstelle.<br />

In Belgrad war er nur einmal, in Titos Mausoleum<br />

‚Haus der Blumen‘, im Alter von sieben<br />

Jahren. Ich schreibe Dir aus Sarajevo, aus dem<br />

Zimmer eines Hotels, in dem auch ein Wiener<br />

Kaffeehaus untergebracht ist und das, wie Du<br />

bestimmt weißt, Ende des neunzehnten Jahrhunderts<br />

von Gligorije Jeftanović erbaut wurde,<br />

einem serbischen Politiker aus Bosnien.<br />

Meine Liebste, Du hast mir immer gesagt, dass<br />

Du von Genetik keine Ahnung hast. Ich dagegen<br />

bin nicht sicher, ob irgendjemand in der Lage<br />

ist, die Geschichte dieses Landes zu verstehen.<br />

Hier ist eigentlich auch die Gegenwart nichts<br />

anderes als Geschichte. Mein Schatz, ich habe<br />

sehr lange …“ Das war zu lesen auf dem, was von<br />

Mirzas Brief an Eva übriggeblieben war. Der<br />

Rest des Textes war unleserlich: Der Papierflieger<br />

war nämlich in einer Pfütze gelandet.<br />

Nur ein Teil war unerklärlicherweise trocken<br />

geblieben.<br />

Mirza Kreševljaković ging nicht zum Grab<br />

seines Vaters, und auch seine Mutter im Altersheim<br />

besuchte er nicht. Er kehrte für<br />

kurze Zeit in die Schweiz zurück und tat etwas,<br />

was seinen wenigen und nicht allzu engen<br />

Freunden – eher würde man von guten<br />

Bekannten sprechen – endgültig den Beweis<br />

dafür lieferte, dass er nun für immer den Verstand<br />

verloren hatte. Schon wieder ließ er seinen<br />

Nachnamen ändern, aber diesmal änderte<br />

er noch dazu den Vornamen: Er nannte sich<br />

Franz Ferdinand. Nur Miha Zenić stellte ihm<br />

die Frage: „Warum denn, um Himmels willen“<br />

Fadil Zulfikarpašić war schon tot, und der Rest<br />

von Mirzas Schweizer Familie kämpfte vor Gericht<br />

um das Erbe. „Was wir aus der Geschichte<br />

lernen können, ist, dass niemand aus der Geschichte<br />

lernt, sagte Otto von Bismarck“, antwortete<br />

Mirza Evas Vater und fragte ihn, ob er<br />

möglicherweise jemanden kenne, dem er das<br />

Haus verkaufen könnte.<br />

Mirza Kreševljaković, Mirza Zulfikarpašić,<br />

Mirza Kreševljaković, also Franz Ferdinand, ist<br />

heute der Besitzer des Restaurants „Young Bosnia“<br />

in New York. Noch immer steht er jeden<br />

Morgen um sechs Uhr auf, läuft jeden Tag fünf<br />

Kilometer, isst zum Frühstück ein weichgekochtes<br />

Ei und trinkt dazu einen frischgepressten<br />

Saft, duscht morgens und abends, rasiert<br />

sich einmal täglich, schneidet alle fünf Tage<br />

seine Nägel und geht alle fünfzehn Tage zum<br />

Friseur. Das Haus verlässt er immer tadellos gekleidet.<br />

Er plant, am 28. Juni 2014 nach Sarajevo<br />

zu fahren. Gavrilo Princip hat ihn an diesem<br />

Tag zu seiner Hochzeit eingeladen.<br />

Aus dem Bosnischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Emir Imamović Pirke<br />

Geboren 1973 in Tuzla, Bosnien-Herzegowina.<br />

Journalist (Gracija, BBC, ORF, RAI, Radio B92,<br />

Dani) und Drehbuchautor der quotenstärksten<br />

kroatischen TV-Soap. Als Kriegsreporter im<br />

Kosovo, in Mazedonien und Afghanistan. Autor<br />

mehrerer Romane voller schwarzen Humors.<br />

Dragana Mladenović<br />

DAS PRINZIP DER<br />

GEGENSÄTZLICHKEIT<br />

ich bin das prinzip<br />

der gegensätzlichkeit<br />

ein verirrtes flugblatt<br />

ein tödliches geschoss<br />

furchtlos an der ecke<br />

stehe ich alleine<br />

ich zittere<br />

ich bin princip<br />

ich stehe an der ecke des automobils<br />

ich bewege mich<br />

bin neunzehn jahre alt<br />

jung brenne ich alt wie<br />

die zündschnur die miljacka das zyanid<br />

ich schieße nicht ich explodiere<br />

ich schieße<br />

stille<br />

hey ihr slawen<br />

ich bin das prinzip<br />

der gegensätzlichkeit<br />

mit einem bluterguss unter dem auge<br />

mit einem eisigen auge ohne<br />

bluterguss ohne auge<br />

ich verstehe es zu ertragen<br />

ich habe keinen laut von mir gegeben<br />

geschrien habe ich<br />

der schmerz tut keinem gut<br />

der schmerz tut gut<br />

ich bin das prinzip<br />

der gegensätzlichkeit<br />

brutal wie eine amputierte hand<br />

weich wie ein schwarzer handschuh<br />

lang wie eine pelerine<br />

kurz<br />

ein hustenanfall<br />

fieber<br />

ich zittere am ganzen körper<br />

ich bin das prinzip<br />

der gegensätzlichkeit<br />

eine idee, die den körper ignoriert<br />

ein körper, der an tuberkulose zerbricht<br />

es gab eine jelena<br />

ich habe verkehrt<br />

ich habe nicht mit frauen verkehrt<br />

ich habe eine gesunde natur<br />

die sinnlichkeit ist sophies sünde<br />

ist nicht sophies sünde<br />

hey ihr slawen<br />

mein körper ist ein kurzer gewehrlauf<br />

ein trog eine wanne ein grab<br />

ein fluss in den ich nie<br />

gestiegen bin<br />

zweimal<br />

nass<br />

zweimal<br />

trocken<br />

ich bin das prinzip<br />

der gegensätzlichkeit<br />

ich könnte<br />

die ganze stadt in eine<br />

streichholzschachtel stecken und anzünden<br />

mein kuss ist so<br />

fest und feucht<br />

ich bin das prinzip<br />

der gegensätzlichkeit<br />

ich bin tot geboren nein<br />

ich werde niemals sterben<br />

bin unsterblich wie miloš<br />

miloš hat es nie gegeben<br />

es hat ihn gegeben<br />

hey ihr slawen<br />

ich bin ein zahnrad in einem mechanismus<br />

ein mechanismus der sich<br />

mit blut entzündet<br />

keuchend wie eine million<br />

leichen ein golgatha<br />

wie die freiheit das kino<br />

wie das blut<br />

millionen von leichen die repression<br />

das lager die freiheit hej ihr slawen<br />

hört wie es keucht<br />

tausende von betrieben<br />

hunderte von fabriken schulen häusern<br />

blumen<br />

ich bin das prinzip<br />

der gegensätzlichkeit<br />

ein zahnrad in einem mechanismus<br />

ein mechanismus der sich<br />

mit blut entzündet und keucht<br />

wie eine traktorenkolonne eine<br />

kühlwagenkolonne eine panzerkolonne<br />

tausende leichen<br />

ich bin das prinzip der gegensätzlichkeit<br />

der keim einer idee<br />

das geschoss einer idee<br />

ein geschoss<br />

Anmerkungen:<br />

Aus dem Serbischen von<br />

Jelena Dabić<br />

„Princip“ ist im Serbischen /Kroatischen/ Bosnischen<br />

sowohl „das Prinzip“ als auch ein (seltener)<br />

Familienname.<br />

Miljacka: der Fluss, an dem Sarajevo liegt.<br />

Zyanid: Gavrilo Princip und der zweite Attentäter<br />

Čabrinović hatten sich vor dem geplanten<br />

Attentat je eine Zyanidkapsel besorgt und diese<br />

nach dem Schuss auch genommen; das Gift hat<br />

allerdings nicht gewirkt.<br />

Hej Sloveni („hey ihr slawen“): der Beginn der jugoslawischen<br />

Nationalhymne von 1945 bis 2003.<br />

Miloš: Miloš Obilić, serbischer Adeliger und<br />

Nationalheld, fiel 1389 in der Schlacht auf dem<br />

Amselfeld im Kampf gegen die Türken.<br />

häuser / blumen: Anspielung auf das „Haus der<br />

Blumen“, das Mausoleum von Josip Broz Tito<br />

im Belgrader Stadtteil Dedinje.<br />

Dragana Mladenović<br />

Geboren 1977 in Frankenberg, lebt in Pančevo,<br />

Serbien. Seit 2003 sind sieben Gedichtbände<br />

in serbischer Sprache erschienen; in der Übersetzung<br />

von Jelena Dabić ist ihr Gedichtband<br />

Verwandtschaft im Verlag Edition Korrespondenzen<br />

2011 veröffentlicht worden.<br />

Beton International März 2014 7


Daša Drndić<br />

Der Kriegstanz<br />

Galizien, Galizien, pflegte mein Großvater<br />

zu wiederholen. Während er an seinem Malvasier-Wein<br />

aus Eigenanbau nippte, in den er einige<br />

Löffel Honig von seinen Bienen hineingetan<br />

hatte, erzählte er und erzählte, und ich hörte<br />

immer nur Galizien, Galizien. Ich war sieben<br />

Jahre alt. Auch später, wenn wir jeden Sommer<br />

von Belgrad bis ins Herz Istriens fuhren, saß<br />

Galizien so lange, wie Großvater am Leben war,<br />

stets mit uns am Tisch. Mit Galizien frühstückten<br />

mein Bruder und ich, mit Galizien legten<br />

wir uns schlafen.<br />

Galizien kullerte durch die Zimmer wie ein<br />

Geheimnis, wie ein schwarzer flauschiger Ball,<br />

der mal größer, mal kleiner wurde und den man<br />

nicht zu fassen kriegte, und der schließlich davonhüpfte,<br />

in einen Mythos hinein. Galizien<br />

war nicht schön, Galizien war furchteinflößend,<br />

geheimnisvoll und neblig. Niemals restlos verstanden,<br />

niemals restlos zu Ende gehört.<br />

Mein Großvater ist nicht mehr, seit fast vierzig<br />

Jahren, und seit fast vierzig Jahren ist Galizien<br />

nicht mehr bei uns gewesen, vermutlich<br />

ist es mit ihm weggegangen oder er hat es mit<br />

sich gezogen. Hinein in die verdrängte, getrübte<br />

Erinnerung. Während der Zweite Weltkrieg in<br />

meiner Jugend und auch später und sogar bis<br />

heute von überallher seine Geschichte hinausposaunt<br />

hat, seine unterschiedlichen Geschichten,<br />

und damit auch die Rolle meiner Familie,<br />

meines Vaters, meiner Mutter und ebenjenes<br />

Großvaters wie durch ein Megaphon hinausgebrüllt<br />

wurde, hatte der Erste, der Große Krieg,<br />

den Kopf zwischen die Schultern gezogen, uns<br />

allen auf Zehenspitzen den Rücken gekehrt und<br />

sich in eine Höhle des Vergessens verkrochen.<br />

Doch jetzt, da der hundertste Geburtstag näher<br />

rückt, für diesen Krieg und für das unglückselige<br />

Galizien meines Großvaters, kommen sie<br />

wieder, Großvater und Galizien, sie betreten in<br />

ganz anderer Aufmachung meinen Raum, Seite<br />

an Seite mit einer Geschichte, deren Stücke ich<br />

in ein riesiges, im Zerfallen begriffenes Puzzle<br />

einzufügen versuche. Großvater und Galizien<br />

fallen ein in ein abgewetztes und verbrauchtes<br />

Bild, in eine Erzählung ohne Umrisse, ohne<br />

Wände, ohne Rahmen, in einen Nebelschleier,<br />

der von der verbrannten Vergangenheit nur Mikroteilchen<br />

des Fortwährens in die Höhe hebt,<br />

geruchlos, stimmlos.<br />

Galizien und die Erfrierungen an den Füßen<br />

meines Großvaters. Galizien, die ferne Ostfront,<br />

die Karpaten, die Russen, die österreichisch-ungarische<br />

und die deutsche Armee. Hunger und<br />

der Exodus aus Istrien, angeordnete Evakuierungen,<br />

Umsiedlungen, wer weiß, die wievielte<br />

es ist seit Menschengedenken. Wiederholungen.<br />

Traurig und unheilvoll zugleich. Drohgebärde<br />

und Trauergesang unserer Herrin – nicht Gott<br />

ist gemeint, sondern die Geschichte.<br />

Erst jetzt, erst heute, hundert Jahre<br />

später, tritt das Bild aus der Abstraktion heraus<br />

und wächst sich zu einer monströsen Farce des<br />

repetitiven Absurden aus. Im Jahr 1915 wurde<br />

der Londoner Vertrag unterschrieben, durch<br />

den Italiens Eintritt in den Krieg gegen Deutschland<br />

und die österreichisch-ungarische Monarchie<br />

besiegelt wurde. Um Italien auf ihre Seite<br />

zu ziehen, sicherte ihm die Entente große Teile<br />

der Monarchie zu, darunter auch Istrien. Aber<br />

zu diesem Zeitpunkt schlug sich mein Großvater<br />

als „Freiwilliger“ bereits Richtung Karpaten<br />

durch. Seine Füße waren in Lumpen gewickelt.<br />

Um zu überleben, musste er mit seinen Kameraden<br />

das Fleisch gefallener (und getöteter) Pferde<br />

zerstückeln und mit klammen Fingern über<br />

schwacher Flamme drehen, zwischen dem eisigen<br />

Himmel und der frostigen Erde. Es war diese<br />

Schlacht in den Karpaten im Jahr 1915, in der die<br />

österreichische Armee große Verluste an Stellungen<br />

und Menschenleben hinnehmen musste,<br />

es war das „Stalingrad des Ersten Weltkrieges“,<br />

das am wenigsten, am oberflächlichsten und damit<br />

auch am fragwürdigsten beschrieben wurde.<br />

Über diesen unmenschlichen (und sinnlosen)<br />

Feldzug bestehen nach wie vor Zweifel, die in<br />

verlegten Briefen und unvollständigen, halbvergessenen<br />

Geschichten lediglich angedeutet<br />

werden. Eine Million Kämpfer wurden von jeder<br />

Seite in die Kampfhandlungen hineingedrängt:<br />

Die einen mussten die Grenzen der Monarchie<br />

verteidigen, die anderen sollten in die Ungarische<br />

Tiefebene vorstoßen. In einer unwegsamen,<br />

offenen Gebirgslandschaft, die unter einer<br />

dicken Schneedecke lag, bei eisigen Stürmen, im<br />

Nebel, ohne Schutz und ohne Schützengräben<br />

wurde (ein weiterer) sinnloser Krieg geführt,<br />

fast bis zur totalen Ausrottung. Hundertneunzigtausend<br />

(190.000) russische Soldaten fielen<br />

im Kampf, hundertdreißigtausend (130.000)<br />

gefangene, geschwächte und durchfrorene Untertanen<br />

der österreichisch-ungarischen Monarchie<br />

befanden sich in der Festung Przemyśl,<br />

in der auch mein Großvater hockte, während der<br />

Weiße Tod seine Kameraden mit einer lautlosen,<br />

leichten, geradezu mütterlichen Berührung en<br />

gros holte.<br />

Österreich-Ungarn siedelte große Teile der<br />

Bevölkerung um, so auch die Bewohner Istriens.<br />

Der Besitz der Menschen wurde beschlagnahmt,<br />

das Vieh wurde beschlagnahmt, das<br />

Leben wurde aus seiner Einbettung herausgezerrt,<br />

durchschnitten und zerrissen. Intellektuelle<br />

(und andere) kamen ins Lager; wer konnte,<br />

flüchtete in Dörfer im Landesinneren. Die<br />

Waggons standen bereit. Viehwaggons. Im Mai<br />

1915 wurden im Laufe von nur fünf Tagen achttausend<br />

Menschen in Züge hineingepfercht, die<br />

aus je fünfunddreißig Waggons bestanden und<br />

täglich achtmal aus Pula wegfuhren. Auf jedem<br />

Waggon stand mit Kreide geschrieben: sechs<br />

Pferde oder vierzig Personen. Es füllten sich die<br />

Lager in Österreich, in Mähren, in Ungarn. Der<br />

Typhus wütete. Die Cholera wütete. Die meisten<br />

evakuierten Bewohner Istriens wurden ins<br />

Gmünder Lager gepfercht, das ohnehin schon<br />

aus allen Nähten platzte und wo Kinder wie<br />

Fliegen starben. Zwischen November 1915 und<br />

Juli 1916 starben in Gmünd 3000 Menschen.<br />

Da sich für die österreichisch-ungarische Armee<br />

auf dem Schlachtfeld in Galizien bereits<br />

eine vernichtende Niederlage abzeichnete,<br />

wurden in Gmünd Plätze für die Verwundeten<br />

freigehalten. So auch für meinen Großvater. In<br />

welchem Regiment er gekämpft hatte, weiß ich<br />

nicht, aber das ist weder für mich noch für die<br />

Geschichte von Bedeutung.<br />

Meinem Großvater blieb das Lager in<br />

Gmünd erspart. Mit Erfrierungen an den Füßen<br />

und einer beginnenden Gangräne ging oder<br />

kroch er sogar bis Istrien, nunmehr nicht zu<br />

seinem Haus in Pazin, sondern zum Haus seiner<br />

Frau, meiner Großmutter, im kleinen Dorf<br />

Karojba, wo er auch seinen neugeborenen Sohn<br />

vorfand.<br />

Im Laufe des Zweiten Weltkriegs war in<br />

diesem Haus die Zentrale des antifaschistischen<br />

Widerstands in Istrien untergebracht.<br />

In Jugoslawien wurden daran zwei Gedenktafeln<br />

angebracht, die daran erinnern sollten,<br />

dass hier die erste Parteiführung für Istrien<br />

gegründet wurde. In der Unabhängigen Republik<br />

Kroatien unter der Regierung der Kroatischen<br />

Demokratischen Union (Hrvatska demokratska<br />

zajednica, HDZ) und also auch mit<br />

dem Segen des damaligen Vorsitzenden Franjo<br />

Tuđman wurden diese Gedenktafeln mit Vorschlaghammern<br />

zerstört.<br />

Heute haben Schriftsteller die Möglichkeit,<br />

in Gmünd an einem Artist-in-Residence-<br />

Programm teilzunehmen. Manchmal sind auch<br />

Schriftsteller aus Istrien darunter; in Kroatien<br />

wird indessen weiterhin auf Gedenktafeln herumgehämmert.<br />

Ich habe hier nicht genug Platz für Namen,<br />

Einzelschicksale, einzelne umgepflügte Leben.<br />

Dabei sind es gerade sie, die Einzelpersonen,<br />

die das Gewebe einer jeden Erzählung über die<br />

Welt bilden – so auch für die Erzählungen von<br />

Kriegen. Daher ist diese meine Kurzgeschichte<br />

eigentlich gar keine richtige Geschichte, sie ist<br />

klein und unausgegoren.<br />

Im Jahr 1917 herrschte in Istrien eine große<br />

Dürre, die unvorstellbare Hungersnöte nach<br />

sich zog. Der Krieg war noch im Gange, die spanische<br />

Grippe stand vor der Tür, und der italienische<br />

Faschismus kündigte einen längeren Besuch<br />

an. Im Jahr 1920 unterzeichneten das Königreich<br />

der Serben, Kroaten und Slowenen und<br />

das Königreich Italien den Grenzvertrag von<br />

Rapallo, in dem festgehalten wurde, dass neben<br />

anderen Städten und Regionen auch Istrien Italien<br />

zugesprochen wurde. Ein weiterer Exodus<br />

des kroatischen Volkes zeichnete sich ab. Mein<br />

Großvater Edo wurde zu Edoardo, kroatische<br />

Namen wurden sogar auf Grabsteinen italianisiert,<br />

kroatische Kulturzentren wurden in<br />

Brand gesteckt, die kroatische Sprache wurde<br />

aus der Öffentlichkeit verbannt, immer mehr<br />

Menschen wurden verhaftet und gezwungen,<br />

Rizinusöl zu trinken, eine neue große Serie von<br />

Tragödien für Einzelpersonen und Familien<br />

zeichnete sich ab. Mein Großvater zog mit seiner<br />

Frau und zwei Söhnen nach Jugoslawien,<br />

nach Split, und kehrte erst 1941 nach Istrien<br />

zurück, um sich der Volksbefreiungsbewegung<br />

anzuschließen. Die weiteren Ereignisse haben<br />

nur scheinbar nichts mit dem Ersten Weltkrieg<br />

zu tun. Die Geschichte setzte abermals, wie ein<br />

Kreisel, ein lustiges Spielzeug für Kinder, zu<br />

einem Danse Macabre an, und die Melodie war<br />

ganz genau dieselbe. Nach dem Fall des Faschismus<br />

kündigte sich in Istrien ein weiterer Exodus<br />

an, wie ein kleineres, dumpfes Erdbeben.<br />

Diesmal war es der Exodus des italienischen<br />

Volkes, eine stille und scheinbar gewaltlose<br />

Umsiedlung. Und dann wurde 1975 der Vertrag<br />

von Osimo unterzeichnet, Osimo bei Ancona,<br />

was dazu führte, dass im Jahr 1977 schließlich<br />

und endlich – wenn auch nicht unbedingt dauerhaft<br />

– die Grenzen zwischen der Sozialistischen<br />

Föderativen Republik Jugoslawien und<br />

der Republik Italien festgelegt wurden. Dieser<br />

Vertrag resultierte aus dem Wunsch, dass es<br />

nie wieder zu einem Bevölkerungsaustausch<br />

im Namen zweifelhafter politischer Ziele und<br />

territorialer Ansprüche kommen sollte; er sollte<br />

dafür garantieren. Das entpuppte sich keine<br />

dreizehn Jahre später (im Jahr 1990) als Trugbild.<br />

Bei der Unterzeichnung des Vertrags von<br />

Osimo waren die Söhne meines Großvaters<br />

direkt beteiligt, indirekt auch mein Großvater,<br />

der seine durch die Erfrierungen entstellten<br />

Füße und sein durch die vielen Umsiedlungen<br />

zerrupftes Leben nur noch durch eine sinnlose<br />

Hoffnung zu heilen versuchte.<br />

Ich habe keine Briefe von meinem Großvater<br />

aus dem eisigen Galizien. Es existieren keine<br />

Tagebucheinträge, keine Fotografien. Geblieben<br />

ist nur das Echo: Galizien, Galizien. Ein Echo,<br />

das wie ein Klagelied (oder ein Fluch) bis in meine<br />

Zeit hineingetragen wird. In Schneestürmen,<br />

gefangen im Eis, bei Temperaturen von minus<br />

fünfzehn Grad oder sogar noch darunter konnte<br />

kaum jemand Briefe nach Hause schreiben oder<br />

sich fotografieren lassen. Aber nicht alle Kämpfe<br />

in Galizien fanden im Winter statt. Die Jahreszeiten<br />

wechselten sich ab, und so gibt es Geschichten,<br />

die im Gedächtnis bleiben konnten.<br />

Mein Urgroßvater Marko aus einem Ort bei<br />

Gospić wurde in Galizien verwundet. Ein Granatsplitter<br />

schlug ihm ein Auge aus, und nach einer<br />

gewissen Zeit kamen nach und nach Metallstücke<br />

aus seiner Nase. Er hatte ein Glasauge, das er vor<br />

dem Schlafengehen in ein Glas legte, so wie andere<br />

Leute ihre Zahnprothese ablegen. Er wurde mit<br />

einer silbernen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet,<br />

die sich inzwischen in meinem Besitz befindet.<br />

Er erzählte mir, dass der Hunger an der Front<br />

Beton International März 2014 8


so groß war, dass er einmal einem lokalen Bauern<br />

neun Goldstücke für zwei Eier bezahlte.<br />

Ich besitze das Tagebuch meines Großvaters,<br />

der als österreichisch-ungarischer Soldat<br />

nach Serbien versetzt wurde, dort in Gefangenschaft<br />

geriet und später in Russland<br />

kämpfte. Danach kehrte er über Japan und<br />

Australien nach Hause. Es ist mir nicht gelungen,<br />

den gesamten Text des Tagebuchs zu<br />

entziffern, zumal einige Passagen auf Kyrillisch<br />

sind, noch dazu ziemlich unleserlich.<br />

Mein Urgroßvater war in Gefangenschaft in<br />

Russland. Er arbeitete bei einem Gutsherrn,<br />

aber kurz nach der Revolution flüchtete er aus<br />

Russland und kehrte einige Monate später nach<br />

Hause zurück.<br />

Ich weiß noch, dass er Kartoffeln hasste, weil er<br />

sie dort ständig zu essen bekam. Ich habe noch<br />

die Soldatenmarke, die er um den Hals trug.<br />

Darin befand sich ein Zettel mit Namen, Brigade<br />

und Adresse des Vaters.<br />

Damals gab es noch keine Soldatenmarken aus<br />

Metall mit eingravierten Angaben. Das ist alles,<br />

was ich weiß.<br />

Ich habe über einen Russlandgefangenen<br />

gelesen, der erst im Jahr 1929 zurückkehrte,<br />

nachdem er einige Jahre in der Mandschurei<br />

und in China verbracht hatte. Dort hatte er<br />

Kroaten und Serben kennengelernt, die es<br />

niemals schafften, zurückzukehren. Manche<br />

blieben sogar für immer in Russland.<br />

Auch mein Großvater landete in der russischen<br />

Kriegsgefangenschaft, irgendwo im Osten. Er<br />

entkam irgendwie über die Mandschurei. Dann<br />

landete er in Shanghai, von wo aus er einen Brief<br />

nach Hause schrieb und bat, ihm Geld für die<br />

Schiffsreise zu schicken. Von dieser Reise erholte<br />

er sich niemals ganz, er starb früh an einem Herzinfarkt.<br />

Ich habe ihn nicht einmal kennengelernt.<br />

Eure Angehörigen sind alle zurückgekehrt.<br />

Mein Urgroßvater brach in Bjelovar auf, aber<br />

er kehrte niemals zurück. Niemand weiß<br />

heute, wohin er gefahren ist oder wo er möglicherweise<br />

sein Ende gefunden hat. Ein hundertprozentiger<br />

unknown soldier. Zuvor hatte<br />

er als Beamter in der Sparkasse gearbeitet.<br />

Er war verheiratet und hatte ein kleines Kind.<br />

Ich glaube nicht, dass er freiwillig zur Armee<br />

gegangen ist, er war ein ganz gewöhnlicher<br />

Soldat. Man sagt, er sei zu Beginn des Krieges<br />

weggegangen, vermutlich im Jahr 1914, als er<br />

27 Jahre alt war. Das ist alles, was ich weiß.<br />

Mein Urgroßvater mütterlicherseits war ein<br />

Freiwilliger, ein Infanterist. Er meldete sich<br />

1914 freiwillig zum Krieg, ließ seine schwangere<br />

Frau zurück und fiel im Alter von einundzwanzig,<br />

gleich im August, in der ersten Schlacht<br />

des Ersten Weltkriegs, in der Schlacht von Cer<br />

bei Šabac. Von ihm blieben nur dieses Foto und<br />

ein Brief, der ein halbes Jahr nach seinem Tod<br />

ankam. Man weiß nicht, wo er begraben wurde.<br />

Wenn jemand Hinweise darüber hat, wo unsere<br />

gefallenen Soldaten nach der Schlacht von Cer<br />

begraben wurden, wäre ich sehr dankbar ...<br />

Natürlich ist Galizien noch lange nicht das<br />

Ende der Geschichte, denn keine Geschichte<br />

über den Krieg ist jemals zu Ende. Beziehungsweise<br />

über das Leben. Dem Vergessen zum<br />

Trotz, meinem, deinem, unserem, allgemeinem,<br />

erzwungenem oder freiwilligem Vergessen.<br />

Denn all das, unser Verbleib hier, ist nichts<br />

anderes als ein groß angelegter Versuch, die<br />

verstreuten Stücke eines unfertigen Puzzles<br />

zusammenzusetzen, eines Puzzles, das einen<br />

gigantischen Umhang für die gesamte Erde<br />

darstellen sollte. Aber dieser launische, aus<br />

Träumen gewebte Umhang, dessen Teilchen<br />

sich jeglicher Ordnung widersetzen, ist voller<br />

Leerstellen, die sich nicht füllen lassen, er ist<br />

allzu brüchig, zu stark verschlissen, um noch<br />

irgendetwas oder irgendjemanden umhüllen<br />

und beschützen zu können. Uns bleibt nur noch<br />

übrig, weiterhin im Lager seiner Bestandteile<br />

herumzuwühlen, in der Hoffnung, eines Tages<br />

doch noch die richtigen Teilchen zu finden und<br />

das Muster zu vervollständigen.<br />

Aus dem Kroatischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Daša Drndić<br />

Geboren 1946 in Zagreb. Sie schrieb zwölf Prosabücher;<br />

ihr Roman Sonnenschein wurde in<br />

zehn Sprachen übertragen. Im Jahr 2013 kam<br />

der Roman Sonnenschein (in der englischen<br />

Übersetzung unter dem Titel Trieste) in die engere<br />

Auswahl für den Preis der Zeitschrift „Independent“<br />

für das beste fremdsprachige Buch.<br />

Filip Hameršak<br />

Die dunkle Seite des Mars<br />

1914–2014: Der Erste Weltkrieg aus<br />

kroatischer Perspektive<br />

Dieser Tage sind einige von uns in Kroatien<br />

mit den Gedenkveranstaltungen zum 100. Jahrestag<br />

des Ersten Weltkriegs befasst, und wenn<br />

wir uns mit Kollegen aus anderen europäischen<br />

Ländern abstimmen, wird uns bewusst, dass<br />

es keine einheitliche Perspektive auf dieses<br />

unglückliche Ereignis gibt. Die Perspektiven<br />

werden nicht nur durch den Verlauf nationaler<br />

Grenzen bestimmt, sondern unterscheiden sich<br />

auch durch ihre Methodik. Historiker, Publizisten,<br />

Literaturwissenschaftler und Politiker<br />

waren in den vergangenen Jahrzehnten uneins<br />

in der Deutung der Ursachen und Folgen des<br />

Krieges: darin, ob man einen Schuldigen ausmachen<br />

kann, aber auch darin, auf welchen<br />

Bereich wir uns konzentrieren sollten – diese<br />

oder jene Kampfarena, Politik, Wirtschaft oder<br />

Kultur, Taktik oder Technik, die Elite oder „gewöhnliche“<br />

Menschen.<br />

Ein Konsens scheint weder möglich noch<br />

erwünscht, würde er doch einen Grad an Homogenität<br />

voraussetzen, der unvereinbar ist<br />

mit der Freiheit der Wissenschaft. So birgt das<br />

Jubiläum 2014 die Gefahr einer Neubelebung<br />

alter Zwistigkeiten in sich, aber auch die Chance,<br />

unterschiedliche Sichtweisen endlich einmal<br />

in Ruhe zu diskutieren, und sei es nur aus<br />

Pietät gegenüber den Opfern auf allen Seiten.<br />

Doch wenn die Rede von nationalen Perspektiven<br />

ist, sollte man auch diese nicht als<br />

homogene Einheiten betrachten. Einer der gemeinsamen<br />

Nenner für kroatische Bürger ist,<br />

dass der Erste Weltkrieg für sie ein vergessener<br />

Krieg ist, wie jüngst der Historiker Višeslav Aralica<br />

lakonisch bemerkte. Der Zweite Weltkrieg,<br />

der auf heutigem kroatischem Staatsgebiet<br />

1941 begann und 1945 endete, wurde nicht als<br />

eine Fortsetzung des Krieges von 1914 bis 1918<br />

gesehen. Noch viel mehr gilt das für den Krieg<br />

um die kroatische Unabhängigkeit in der ersten<br />

Hälfte der 1990er Jahre. Diese beiden letzten<br />

Kriege sind in der kroatischen öffentlichen Erinnerung<br />

ungleich gegenwärtiger als der Erste<br />

Weltkrieg, nicht nur weil Betroffene noch leben<br />

oder weil sie größere Zerstörung hinterlassen<br />

haben, sondern weil mit ihnen Erinnerungsrituale<br />

verbunden sind, die vom Staat unterstützt<br />

werden.<br />

Im Gegensatz dazu wurde hinsichtlich der<br />

kroatischen Beteiligung am Ersten Weltkrieg<br />

weniger der Verlauf des Krieges und seine direkten<br />

Folgen für Soldaten und Zivilisten hervorgehoben,<br />

sondern der Zerfall Österreich-<br />

Ungarns und der Beitritt kroatischer Territorien<br />

zum neuen jugoslawischen Staat, zusammen<br />

mit dem ehemaligen Kriegsgegner, dem Königreich<br />

Serbien.<br />

Die offiziellen Erinnerungsrituale sowohl<br />

des royalen als auch des kommunistischen Jugoslawiens<br />

stützten sich auf die Erfahrungen<br />

der serbischen Armee und taten sich schwer<br />

damit, dass ein großer Teil der Bevölkerung des<br />

nun gemeinsamen Staates vier Jahre lang auf<br />

Seiten des „Aggressors“ gekämpft hatte. Geschichtswissenschaft,<br />

Publizistik und Literatur<br />

der ehemals zu Habsburg gehörenden Teile<br />

Jugoslawiens zeichneten sich dadurch aus,<br />

dass sie Tatsachen verschwiegen oder nur von<br />

einer Seite beleuchteten, wobei der Zwang zur<br />

Waffe und die Auflehnung von Kroaten, Serben,<br />

Slowenen und anderen Südslawen in den österreichisch-ungarischen<br />

Verbänden überbetont<br />

wurden.<br />

Doch auch hier gab es einige Unterschiede.<br />

Da Soldaten aus den Ländern der Habsburger<br />

Monarchie, die ethnisch Slowenen waren, nicht<br />

in serbische Kriegsgebiete geschickt wurden,<br />

sondern vorwiegend in Russland und Italien<br />

kämpften, was Slowenien nach 1947 einen Gebietszuwachs<br />

bescherte (das Isonzo-Tal, das für<br />

zwölf blutige Schlachten berühmt ist), war das<br />

Thema in Slowenien etwas weniger problembehaftet.<br />

Im Gegensatz dazu erinnerten auf dem<br />

Gebiet der ehemaligen jugoslawischen Republiken<br />

Kroatien und Bosnien und Herzegowina<br />

nur noch die infrastrukturellen Einrichtungen<br />

(Kasernen, Befestigungen etc.), die von allen<br />

nach 1918 begründeten Regimen weitergenutzt<br />

wurden, an die Zugehörigkeit zur Habsburger<br />

Monarchie.<br />

Hinzu kam, dass die österreichisch-ungarischen<br />

Soldaten aus den Gebieten des heutigen<br />

Kroatien und Bosnien und Herzegowina im<br />

Gegensatz zu ihren slowenischen Kameraden<br />

gleich 1914 nach Serbien geschickt wurden, wo<br />

sie 1915 zum Teil an der Besetzung des Landes<br />

teilnahmen.<br />

Das Gebiet des alten Kroatiens und Slawoniens<br />

(das sich größtenteils mit den nördlichen<br />

Gebieten des heutigen Kroatien deckt) nahm<br />

außerdem eine staatsrechtliche Sonderstellung<br />

ein, die auch für die dort stationierten ungarischen<br />

Honvéd- und österreichischen Landwehrverbände<br />

galt – das Recht auf kroatische<br />

Amtssprache, eigene Flagge, eigenen Eid und<br />

Ähnliches. Die Verbände dieser „Heimwehr“<br />

waren deshalb einzigartig und sie kennzeichneten<br />

- wenn auch nur symbolisch - innerhalb des<br />

engen Rahmens, den der „Ausgleich“ von 1867<br />

und 1868 vorgab, den Beginn einer modernen<br />

Nationalarmee.<br />

Als 1941 im Rahmen des Achsenbündnisses<br />

der Unabhängige Staat Kroatien gegründet<br />

wurde, vertraute man den Aufbau und die Organisation<br />

der regulären Armee ehemaligen<br />

österreichisch-ungarischen Offizieren an, die<br />

den Traditionen des vorangegangenen Krieges<br />

folgten und sogar die Bezeichnung „Heimwehr“<br />

verwendeten. Die Verbände der kroatischen<br />

Parallelarmee Ustaša, analog zur SS, waren<br />

wegen ihrer Kampfbereitschaft und Brutalität<br />

gegenüber Zivilisten weitaus bekannter. Auf jeden<br />

Fall trug diese persönliche und symbolische<br />

Kontinuität nicht dazu bei, die alte „Heimwehr“<br />

und die österreichisch-ungarischen Kampfverbände<br />

zu einem beliebten Forschungsgegenstand<br />

nach 1945 zu machen.<br />

Und eine Kuriosität hatte vielleicht entscheidenden<br />

Einfluss – bis zu seinem Tod im<br />

Jahr 1980 stand an der Spitze der jugoslawischen<br />

kommunistischen Partei der Kroate<br />

Josip Broz Tito, der 1914 als Offizier der Heimwehrverbände<br />

ebenfalls an den Kämpfen in<br />

Serbien teilgenommen hatte. Doch diese Angabe<br />

wurde in seinen Biographien systematisch<br />

ausgelassen. Grund dafür waren Animositäten<br />

der serbischen Bevölkerung gegenüber der<br />

„Schwabenarmee“, ausgelöst durch die Repressalien<br />

der Besatzungsverwaltung im Ersten<br />

Weltkrieg. Da Tito in Jugoslawien Objekt eines<br />

Personenkults war, ist es nicht ausgeschlossen,<br />

dass die Thematik von Südslawen als mehr oder<br />

weniger loyalen Soldaten in den österreichischungarischen<br />

Streitkräften als Wespennest galt,<br />

in das zu stechen zwar nicht verboten, aber<br />

auch nicht opportun war.<br />

Auf jeden Fall wurden bis 1990 nur wenige<br />

wissenschaftliche Arbeiten publiziert, die sich<br />

mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigten, und<br />

auch bei den übersetzten Werken sah es nicht<br />

besser aus. Abgesehen davon, dass mehr oder<br />

weniger prohabsburgisch orientierte Parteien<br />

und Personen nicht bearbeitet wurden,<br />

wie etwa die Generäle Svetozar Boroević und<br />

Stjepan Sarkotić, die an der Spitze Österreich-<br />

Ungarns standen, wurden auch Standardthemen<br />

gemieden, also solche, die frei waren<br />

von Ideologie, etwa die Rekonstruktion des<br />

allgemeinen Militärsystems, die Analyse der<br />

Kriegsentwicklung einzelner Einheiten oder<br />

die Dokumentation von Soldatenfriedhöfen<br />

und menschlichen und materiellen Verlusten.<br />

Schätzungen zufolge kamen 1914 bis 1918 zwischen<br />

80.000 und 120.000 Menschen aus dem<br />

heutigen kroatischen Staatsgebiet ums Leben,<br />

von denen viele in der heutigen Ukraine begraben<br />

liegen.<br />

Nach 1990 besserte sich die Forschungslage<br />

allmählich. Die Arbeit der Wissenschaftler<br />

konzentrierte sich zunächst auf die Untersuchung<br />

der prohabsburgischen Eliten, nicht zuletzt<br />

deshalb, weil Jugoslawien ebenso wie einst<br />

Österreich-Ungarn zerfiel und sich die Frage<br />

stellte, ob Jugoslawien nicht ein misslungenes<br />

Staatsexperiment war (in diesem Licht neigen<br />

einige Wissenschaftler dazu, die Habsburger<br />

Monarchie mit der Europäischen Union zu<br />

vergleichen, positiv zwar, aber auch besorgt um<br />

deren Zukunft). Erst allmählich, vor allem nach<br />

2000, beschäftigen sich Forscher im Einklang<br />

mit den neuesten methodologischen Trends in<br />

den Sozial- und Kulturwissenschaften auch mit<br />

anderen Aspekten des Krieges.<br />

Doch auch wenn sich Wissenschaftler viele<br />

Jahrzehnte lang nur zögerlich äußerten, war die<br />

literarische Tätigkeit der Veteranen wesentlich<br />

ausgeprägter. Die sichtbarste Spur hinterließen<br />

die Novellen und Dramen des berühmten<br />

Schriftstellers Miroslav Krleža, die auch ins<br />

Deutsche übersetzt wurden und die die Ereignisse<br />

1914 bis 1918 mit einer deutlichen antihabsburgischen<br />

und pazifistischen Botschaft<br />

versahen, dazu mit einer scharfen Kritik an<br />

der institutionalisierten Religion aus der Perspektive<br />

eines zerstreuten Intellektuellen, aber<br />

auch aus der eines ungebildeten, unpolitischen<br />

Bauern. Wegen ihrer künstlerischen Kraft, aber<br />

auch wegen des gesellschaftlichen Kontextes,<br />

wurden die Werke Krležas zum Synonym für<br />

die kroatische Perspektive.<br />

Im Gegensatz dazu blieben an die vierzig<br />

veröffentlichte autobiographische Bücher im<br />

weiter gefassten kroatischen Korpus, deren<br />

Autoren direkt am Krieg teilgenommen hatten<br />

(niedere Dienstgrade, Unteroffiziere, gewöhnliche<br />

Soldaten) bis vor Kurzem nahezu völlig<br />

unerforscht, auch wenn sie eine ausgezeichnete<br />

Basis für eine Herangehensweise „von<br />

unten“ bieten, wie sie beispielsweise bereits<br />

von J. Keegan, E. Leed, R. Holmes, W. Wette,<br />

O. Luthar, L. W. Smith und F. Rousseau angewendet<br />

wurde.<br />

Schaut man sich die Texte dieser 40 Autoren<br />

an, von denen die interessantesten in<br />

den 1930er Jahren veröffentlicht wurden (auf<br />

Deutsch sind nur die Erinnerungen des Berufsoffiziers<br />

Pero Blašković und des Österreichers<br />

Georg von Trapp, der in der dalmatinischen<br />

Stadt Zadar geboren und im Film Meine Lieder<br />

– Meine Träume porträtiert wurde, zugänglich),<br />

kann man feststellen, dass sich diese scheinbar<br />

homogene kroatische Perspektive in Wirklichkeit<br />

in eine Vielzahl persönlicher Standpunkte<br />

verzweigt.<br />

Einige dieser Einblicke bestätigen Krležas<br />

Beobachtungen, andere stehen im Gegensatz<br />

zu ihnen. So waren zwar nur wenige Kriegsteilnehmer<br />

mit der Stellung Kroatiens in der Monarchie<br />

zufrieden, es gab jedoch nur wenige, die<br />

sich eine Abspaltung oder gar eine Vereinigung<br />

mit den Serben wünschten. Die meisten Soldaten<br />

konnten nicht einmal lesen und schreiben<br />

und hatten nur verschwommene Vorstellungen,<br />

wobei die Ergebenheit gegenüber Franz<br />

Joseph dominierte.<br />

Im Verlauf des Krieges wurde bei vielen der<br />

Begriff der Ehre – obwohl sich die Propaganda<br />

verstärkte – vom Begriff Eigeninteresse verdrängt,<br />

sei es auf nationaler (eine unabhängige<br />

kroatische Republik) oder auf persönlicher<br />

Ebene (bedingungslose Rückkehr nach Hause).<br />

Ähnliche Veränderungen kann man in den<br />

Autobiographien auch auf anderen Gebieten<br />

verfolgen – es veränderte sich nicht nur die<br />

Motivation der Soldaten, sondern auch ihr Verhältnis<br />

zu den Kameraden, dem Feind, Stress,<br />

Zivilisten, Sexualität, Religion oder Alkohol.<br />

Aus dem Kroatischen von<br />

Blanka Stipetić<br />

Filip Hameršak<br />

Geboren 1975 in Zagreb / Kroatien. Er studierte<br />

Jura, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft<br />

in Zagreb. 2013 promovierte er<br />

mit einer Arbeit über kroatische Autobiographien<br />

und den Ersten Weltkrieg, die vor kurzem<br />

unter dem Titel Tamna strana Marsa (Die<br />

dunkle Seite des Mars) erschienen ist.<br />

Beton International März 2014 9


dem Baby und zwei bettlägerigen Greisen im<br />

verlassenen Dorf.<br />

Die Geschichte jagt mir bis heute Schauer<br />

über den Rücken. Ich verstehe Großmutters<br />

Entschlossenheit gut, aber ihr Mut raubt mir<br />

immer wieder aufs Neue die Fassung. Den Ersten<br />

Weltkrieg hatte sie als Baby überlebt, im<br />

Zweiten hat sie ihr Baby gerettet. Großmutters<br />

Durchhaltevermögen verdanke ich mein Leben,<br />

was mir ermöglicht, ihr und dem Augenblick, in<br />

dem sie beschloss, Papa nicht zurückzulassen,<br />

dieses kleine Denkmal zu schreiben.<br />

Überlebt hat sie dank Sekul, einem serbischen<br />

Nachbarn, der ihr half, mit dem Kind<br />

durch die Kontrollen zu kommen und sich zu<br />

Fuß zum nächstgelegenen freien Territorium<br />

durchzuschlagen. Mit dem Dorf wollte sie<br />

nichts mehr zu tun haben. Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg wurden Flüchtlinge gesetzlich verpflichtet,<br />

dahin zurückzugehen, wo sie vor dem<br />

Krieg gewohnt hatten. Doch Großmutter zog<br />

mit der Familie, so schnell es eben ging, nach<br />

Sarajevo. Jahrzehntelang waren sie dort nicht<br />

gemeldet, damit die übereifrige sozialistische<br />

Regierung sie nicht in ein Dorf zurückschickte,<br />

in dem sie mit knapper Not dem Tod entgangen<br />

waren. Bis zum heutigen Tag hat meine Familie<br />

deswegen Scherereien mit der Bürokratie. Egal<br />

welches Dokument mein Vater benötigt, die Beschaffung<br />

artet zu einer Odyssee aus. Obwohl er<br />

seit beinahe siebzig Jahren in der Stadt wohnt,<br />

fehlen ihm oft die Papiere, um es zu beweisen.<br />

Adisa Bašić<br />

Mama, Papa, der Jahrgang 1914<br />

und ich (um Gavrilo erst gar<br />

nicht zu erwähnen)<br />

1. Abzählreim<br />

„Ich bin noch nicht dran. Hadschi Šefik<br />

kommt vor mir, der ist 1911 geboren. Dann die<br />

Sulejmaniginica, Jahrgang 1912. Frau Lauka<br />

1913, und dann erst ich mit 1914.“ Wir alle wussten,<br />

dass die Großmutter Jahrgang 1914 war, wir<br />

kannten ihre halb scherzhafte Aufzählung, wer<br />

in der Straße älter war als sie bzw. sterben sollte,<br />

bevor sie diese Welt verließ. Das war in einer<br />

Zeit, als wir mit einem, wie wir glaubten, unerschütterlichen<br />

Gefühl für Ordnung und Anstand<br />

lebten, an das man sich selbst bei der Reihenfolge<br />

im Sterben tunlichst zu halten hatte.<br />

Über Omas Geburt ist wenig bekannt. In unserer<br />

Gegend herrscht ein chronischer Mangel<br />

an lebenden Zeitzeugen, die sich zuverlässig zu<br />

Ereignissen äußern könnten, an die man selbst<br />

keine Erinnerung haben kann. 1914 war die<br />

Geburt eines Mädchens wahrscheinlich kein<br />

besonderer Grund zur Freude, aber die Großmutter<br />

war das erste Kind ihrer Eltern, also<br />

stelle ich mir vor, dass ihr Auf-die-Welt-Kommen<br />

doch etwas Besonderes war. Ihr Vater war<br />

einige Jahre beim österreichisch-ungarischen<br />

Heer, die Großmutter wurde bei seinem letzten<br />

Urlaub kurz vor der Entlassung gezeugt. Kaum<br />

zurück zu Hause, kaum dass sein erstes Kind da<br />

war, musste er in den Krieg ziehen, der ihn für<br />

weitere vier Jahre nach Bosnien verschlug.<br />

„Erst Hadschi Šefik, der ist 1911. Dann die<br />

Sulejmaniginica, die ist 1912. Frau Lauka ist<br />

1913. Und dann erst ich, 1914“, sagte die Großmutter<br />

jahrelang, und dann verschwanden die<br />

Nachbarn aus ihrem Abzählreim. Nicht genau<br />

in der Reihenfolge, in der sie sie aufzählte, aber<br />

alle drei vor ihr. Als wir sie damit aufzuziehen<br />

begannen, dass sie jetzt keine Ausrede mehr<br />

hätte, brach der Krieg aus, der dritte in ihrem<br />

Leben. Die Großmutter verlor eine Tochter und<br />

zwei Enkel. Die Geschichte von der Reihenfolge,<br />

in der man sterben sollte, bekam einen bitteren<br />

Beigeschmack; die Großmutter hat sie nicht<br />

mehr wiederholt.<br />

2. Erfundene Geburtstage<br />

Mich interessierte das genaue Geburtsdatum<br />

der Großmutter, also fragte ich ihren Sohn,<br />

meinen Papa: „An welchem Tag hatte Großmutter<br />

eigentlich Geburtstag“ Er ist inzwischen<br />

selbst über siebzig, seine Erinnerung lahmt<br />

manchmal, aber diese Antwort kam wie aus der<br />

Pistole geschossen: „Am 25. Mai, am Tag der Jugend<br />

und Titos Geburtstag!“ Gewohnt, dass er<br />

mit Daten aus der Vergangenheit zögernd und<br />

unsicher herausrückte, verblüffte mich seine<br />

Gewissheit. Er ist im Herbst 1942 geboren, aber<br />

keiner weiß das genaue Datum. Auf dem Land<br />

wurde ein Neugeborenes erst nach einiger Zeit<br />

ins Geburtsregister eingetragen, erst wenn die<br />

Familie dachte, es würde überleben, und wenn<br />

einer sowieso etwas in der nächstgelegenen<br />

Stadt zu tun hatte und den Behördengang nebenbei<br />

miterledigen konnte. Wir feiern Papas<br />

Geburtstag am 21. Oktober, aber dieses Datum<br />

ist Fiktion, genauer eine Rekonstruktion, gewonnen<br />

durch eine einfache Rechnung: Als<br />

die Muslime 1942 aus Papas Heimatdorf flohen,<br />

weil es hieß, die Tschetniks wären im Anmarsch,<br />

war Papa ein rund vierzig Tage altes<br />

Baby. Die Flucht war am Tag vor Neujahr. So<br />

kam es zu dem unzuverlässigen Datum von Papas<br />

Geburtstag.<br />

„Aber woher wissen wir, dass Großmutter<br />

genau am 25. Mai 1914 geboren wurde“, fragte<br />

ich. Papa ließ mich nicht lange raten. „In den<br />

1970ern hat sie sich einen Personalausweis besorgt<br />

und musste ein genaues Datum in das Formular<br />

eintragen, und da habe ich mir das ausgedacht,<br />

ich fand es schön, dass sie im Frühjahr<br />

und am selben Tag wie Tito Geburtstag haben<br />

würde.“ Ob Titos Geburtsdatum glaubwürdig<br />

ist, daran habe ich auch so meine Zweifel, das<br />

verstärkte mein Interesse an Papas Einfall nur<br />

noch. „Und das hast du dem Beamten einfach<br />

so mitgeteilt“ „Aber nein.“ Papa holte zu einer<br />

umfassenden Erklärung aus. „Ich habe das Datum<br />

eigenhändig in die Geburtsurkunde eingetragen,<br />

denn da stand nichts, aber im Gemeindeamt<br />

wollten sie partout eine genaue Angabe.<br />

Ich habe einen Füllfederhalter benutzt, dann<br />

einen Wattebausch mit Ammoniakreiniger beträufelt<br />

und die Schrift damit abgetupft. Die<br />

neue Tinte bleichte aus und sah dann genauso<br />

alt aus wie die anderen Einträge in der Geburtsurkunde.“<br />

Papa als hemmungsloser, gewiefter Fälscher<br />

– das war mir vollkommen neu. Mein<br />

Bruder und ich hörten zu und staunten nicht<br />

schlecht. Eine ganz neue Seite an unserem Vater<br />

kam da zum Vorschein. Innerfamiliär galt er<br />

glasklar als Musterknabe. Trotz Armut, schwieriger<br />

Familienverhältnisse und dem Zwang, von<br />

frühester Jugend an Geld zu verdienen, war er<br />

ein hervorragender Schüler und guter Sportler.<br />

Über Jahrzehnte schmückte ein Foto, das ihn<br />

als Pionierleiter zeigt, die Aula seiner Grundschule.<br />

Generationen unserer nicht weniger<br />

brillanten, fleißigen Schüler mussten sich davor<br />

die Frage gefallen lassen, ob sie sich nicht<br />

vor dem Mann schämten, an dem sie sich ein<br />

Vorbild nehmen sollten. Papa war das Vorbild,<br />

das in der Aula hing, und auf einmal enttarnte<br />

er sich als Fälscher, der mit einem Wattebausch<br />

Tinte auf Omas Geburtsurkunde aufgehellt und<br />

sich der Bürokratie zuliebe ein Geburtsdatum<br />

für sie ausgedacht hatte.<br />

Aber 1914 ist zu lang her, als dass man in<br />

unserer Gegend irgendetwas mit Gewissheit<br />

feststellen könnte. Auch nicht für 1942. Wir haben<br />

es nicht so mit exakten Daten, von unserer<br />

Vergangenheit erfahren wir durch mündliche<br />

Überlieferung. Papa brach das Gesetz für seine<br />

Mama: Erst als ich das begriffen hatte, glaubte<br />

ich es auch. Die beiden hatten schon immer<br />

ein sehr besonderes Verhältnis. Auch darüber<br />

haben wir familieninterne Anekdoten. Die uns<br />

geläufigste ist die Geschichte von der Flucht.<br />

Großmutter wurde 1914 geboren, und ihr<br />

Vater überlebte wie durch ein Wunder den<br />

Krieg, konnte sich nach Hause durchschlagen<br />

und weiterhin für die Familie sorgen. Eine<br />

Zeitlang arbeitete er in einem Sägewerk, um<br />

das herum unter den Habsburgern eine regelrechte<br />

Kleinstadt herangewachsen war. Straße,<br />

Bahnlinie, Sägewerk, Post, das war die Welt,<br />

in der meine Großmutter als junges Mädchen<br />

lebte. Die Ehe verschlug sie dann in eine recht<br />

abgelegene Gebirgsregion, ein Bergdorf, in dem<br />

sie 1942 ihr erstes männliches Kind zur Welt<br />

brachte, meinen Vater. Und damit sind wir wieder<br />

beim Neujahr 1943, als die Muslime aus dem<br />

Dorf flohen. Alle packten in aller Eile und voller<br />

Angst, und dann ereilte die Großmutter die niederschmetternde<br />

Nachricht: Für das Baby war<br />

in der Kolonne kein Platz. Einige Bauern hatten<br />

die Verantwortung übernommen, die Leute auf<br />

geheimen Wegen durch den Wald zu führen.<br />

Ein Baby wäre ein zu hohes Risiko gewesen, es<br />

hätte mit seinem Weinen die ganze Gruppe verraten<br />

können. Die Großmutter selbst und ihre<br />

älteren Töchtern durften mit, aber den neugeborenen<br />

Sohn musste sie im Dorf lassen und<br />

dem sicheren Tod preisgegeben. Der Moment<br />

des Aufbruchs rückte immer näher, und meine<br />

Großmutter hatte sich klar entschieden. Ihre<br />

Töchter, die schon laufen konnten, schickte sie<br />

mit Verwandten auf die Flucht. Sie blieb mit<br />

3. Gavrilos Fusabdruck<br />

Als ich ein kleines Mädchen war, hat mich<br />

Papa oft zu Spaziergängen mitgenommen. Er<br />

hatte Zeit für meine tausend Fragen, antwortete<br />

geduldig und erschöpfend. Gewöhnlich<br />

nahm er mich zu Orten mit, die ihn interessierten,<br />

und mit der Zeit übertrug sich seine<br />

Begeisterung auf mich. Mein Vater ist Handwerker<br />

und liebte Elektrotehne, ein Geschäft<br />

mit Werkzeugen, Schrauben, Rohren und ähnlichen<br />

Dingen. Mit sieben Jahren kannte ich<br />

Worte wie Zollstock, Schraubstock, Rohrzange,<br />

Isolierband...<br />

Am liebsten war es mir aber doch, wenn wir<br />

die Oma besuchten, Papas Mama. Mit der Straßenbahn<br />

fuhren wir bis zur Princip-Brücke.<br />

Ich war noch ganz klein, da wusste ich schon<br />

ganz genau, wo wir aussteigen mussten, um<br />

zur Großmutter zu gehen. Die Brücke hatte ein<br />

grünliches Geländer, dessen Form an alte Radiatoren<br />

erinnerte. Es sah aus, als wäre sie zu<br />

beiden Seiten von einem langen gusseisernen<br />

Heizkörper mit unzähligen Rippen gesäumt.<br />

Papa erklärte mir während der Tramfahrt,<br />

die immer entlang der Miljacka führte, wie die<br />

einzelnen Brücken über den Fluss hießen. „Das<br />

ist die Drvenija, die Hölzerne, siehst du, denn<br />

sie ist ganz aus Holz … Das ist die Ćumurija, die<br />

Holzkohlenbrücke, da haben die Leute Holzkohle<br />

drüber getragen … Das ist die Princip-<br />

Brücke, die ist nach Gavrilo Princip benannt …“<br />

Später lernte ich, wer Gavrilo Princip gewesen<br />

war, damals war es mir gleichgültig. Ich hatte<br />

keine Ahnung, was auf dieser Brücke geschehen<br />

war, aber Papa zeigte mir einen Fußabdruck im<br />

Beton. Jedes Mal, wenn wir die Großmutter<br />

besuchten, gingen wir daran vorbei. Als ich ein<br />

bisschen größer war, fragte ich Papa, wer den<br />

Fußabdruck hinterlassen habe. „Hier stand der<br />

Mann, der den Thronfolger Franz Ferdinand<br />

und dessen Frau getötet hat“, sagte Papa trocken.<br />

Geschichte interessierte ihn nicht sonderlich.<br />

Viel spannender fand er das Geschäft<br />

für Kunsthandwerkerbedarf in der Nähe, dort<br />

blieben wir deutlich länger als bei Gavrilos Fußabdruck.<br />

Ich war voller Zweifel. So viel Zufall wollte<br />

mir nicht in den Kopf: Ausgerechnet die einzige<br />

Stelle, an der der Beton frisch gegossen war, soll<br />

sich dieser Mann ausgesucht haben, um jemanden<br />

umzubringen. Wer hinterlässt denn seinen<br />

Fußabdruck zum Beweis und zur Erinnerung an<br />

eine solche Tat! In meinem kindlichen Verstand<br />

wirkte das spektakulär. So ein Zufall kann nicht<br />

sein, dachte ich und bewunderte es gleichzeitig,<br />

dass wir ein so einmaliges historisches Zeugnis<br />

bekommen hatten. Komisch fand ich es aber<br />

doch, dass Gavrilo so ein Tollpatsch war, nicht<br />

zu schauen, wo er sich hinstellte.<br />

Lange glaubte ich, der Fußabdruck neben<br />

der Princip-Brücke sei vom echten Gavrilo,<br />

aber entmutigt von Vaters fehlendem Interesse<br />

an dem Thema fragte ich nicht groß nach.<br />

Bei einem der unzähligen Male, als wir daran<br />

vorbeigingen, wollte ich seine Meinung über<br />

das Denkmal erfahren. Konkret fragte ich, ob<br />

es 1914 wirklich schon Beton gegeben habe und<br />

warum die Leute damals nur diesen kleinen<br />

Fleck betoniert hätten, in den Gavrilo dann getreten<br />

sei. Papa sah mich erst an, ohne zu verstehen,<br />

was ich meinte, und brach dann in Lachen<br />

aus. Er erklärte, es sei eine Replik von Gavrilos<br />

Beton International März 2014 10


Fußabdruck (das Wort habe ich damals zum ersten<br />

Mal gehört und mir gemerkt). Irgendein<br />

Arbeiter sei mit seinem Schuh in frischen Beton<br />

getreten, um die genaue Stelle zu markieren,<br />

von der aus Gavrilo geschossen hatte. Ich fühlte<br />

mich betrogen. Das Denkmal erschien mir wie<br />

eine Fälschung. Meine Wut richtete sich gegen<br />

Papa; ich glaubte, er hätte mich absichtlich zum<br />

Narren gehalten und den Irrtum nicht aufgeklärt.<br />

In Wirklichkeit war ich wütend, weil ich<br />

vor Papa als Närrin dastand. Er vergaß die Geschichte<br />

zum Glück schnell und erzählte sie keinem<br />

weiter, aber ich schämte mich noch etliche<br />

Jahre für dieses Missverständnis.<br />

Nach der Jahrtausendwende beschäftigte<br />

ich mich noch einmal mit Gavrilo: Als frisch<br />

gebackene Journalistin bekam ich die Aufgabe,<br />

das Schicksal zweier Denkmäler nachzuzeichnen,<br />

die an das Attentat von Sarajevo erinnerten.<br />

Gavrilos Fußabdruck war infolge der neu<br />

ausgerichteten historischen Optik unattraktiv<br />

geworden. Die Handwerker, die mit der Überarbeitung<br />

von Vergangenheit und Gegenwart beauftragt<br />

waren, rissen im Eifer des Gefechts die<br />

Betonplatte aus dem Trottoir. Fünfzehn Jahre<br />

lang verstaubte sie irgendwo und fand dann im<br />

umgestalteten Museum über das Attentat einen<br />

Platz, allerdings nicht als Exponat: Sie steht<br />

kommentarlos in der Ecke bei der Kasse am<br />

Eingang. Mit keinem Wort ist erklärt, wann und<br />

wie die Replik entstand oder wann und warum<br />

sie entfernt wurde. Die Touristen machen im<br />

Wesentlichen einen Bogen um den Betonklotz;<br />

ich verweile etwas länger, schließlich teilen er<br />

und ich gemeinsame Erinnerungen.<br />

Das andere Denkmal, das heute nicht mehr<br />

neben der ehemaligen Princip-Brücke steht, ist<br />

der Obelisk, der zur Erinnerung an die Opfer<br />

des Attentats aufgestellt wurde. Als die Donaumonarchie<br />

von der historischen Bühne abtrat,<br />

wurde er zu einem Riesendorn im Auge der<br />

neuen Herren und deshalb entfernt. Mein Fotograf<br />

und ich hatten einige Mühe, die Überreste<br />

aufzuspüren: In Einzelteile zerschlagen war er<br />

im ehemaligen Aufzugsschacht der Kunstgalerie<br />

deponiert worden. Auch über dieses Denkmal<br />

erfahren weder Touristen noch Besucher<br />

der Galerie etwas. Sie können es nicht einmal<br />

sehen.<br />

Mein Artikel gipfelte in dem Vorschlag, beide<br />

Denkmäler mit je einer Erklärung wieder an<br />

ihrem ursprünglichen Ort aufzustellen. Interessiert<br />

hat das kaum jemanden. Der Redakteur<br />

lobte die Fotos, den Text hat er wahrscheinlich<br />

nicht bis zum Ende gelesen.<br />

Meine Entdeckung nutzte ich dennoch<br />

ein paar Jahre später anlässlich einer wissenschaftlichen<br />

Konferenz zum Thema kulturelles<br />

Gedächtnis. Ein großserbischer Kunsthistoriker<br />

trauerte um das Denkmal für den Attentäter.<br />

Er verteidigte Gavrilos Idee, rechtfertigte<br />

seine Tat, hielt ihn für einen Helden, nicht für<br />

einen Terroristen. Ich war da anderer Meinung,<br />

aber der Kunsthistoriker war ein hübscher Kerl<br />

und ich ließ ihn seine Theorie weitschweifig<br />

erklären. Nach der Sitzung forderte ich ihn<br />

auf, seine Überlegungen im Detail darzulegen.<br />

Andere Konferenzteilnehmer widersprachen<br />

höflich, aber bestimmt, sie argumentierten, einen<br />

Mord zu romantisieren sei nicht angezeigt.<br />

Ich erzählte vom Schicksal der beiden Denkmäler<br />

und stellte die Forderung in den Raum,<br />

sie an ihren alten Ort zurückzustellen, um so<br />

die verschiedenen Sichtweisen auf die Ereignisse<br />

in den letzten hundert Jahren erlebbar<br />

zu machen. Eine ehrgeizige Postdiplomandin<br />

kritisierte den Vorschlag als unausführbar: Wir<br />

müssten gegenüber der Vergangenheit Position<br />

beziehen, behauptete sie, da könne es nicht angehen,<br />

alle im Laufe der Geschichte abgerissenen<br />

Denkmäler wieder hinzustellen. Mein Ehrgeiz<br />

richtete sich gar nicht auf alle Denkmäler<br />

der Welt, sondern auf diese beiden konkreten,<br />

aber sie verallgemeinerte meine Idee, um sie<br />

als kolossale Dummheit herauszustreichen.<br />

Ich hörte mir ihre Argumente an und blieb bei<br />

meinem ursprünglichen Vorschlag. Mir gefiel<br />

die Geschichte von den Denkmälern, ihrer Aufstellung,<br />

ihrer Entfernung, dem Verstecken und<br />

Verschweigen. Von meinem einstigen Missverständnis<br />

mit Gavrilos Fußabdruck habe ich<br />

niemandem erzählt.<br />

Aus dem Bosnischen von<br />

Brigitte Döbert<br />

Adisa Bašić<br />

Geboren 1979 in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina.<br />

Sie arbeitet als Journalistin und<br />

Literaturkritikerin für die Wochenzeitschrift<br />

Slobodna Bosna (www.slobodna-bosna.ba). Sie<br />

war DAAD-Stipendiatin. Die Lyrikerin gewann<br />

2012 den Preis „Bank Austria Literaris“ für ihren<br />

Gedichtband Ein Werbespot für meine Heimat<br />

(Wieser Verlag, 2012)<br />

Aleš Debeljak<br />

Grenzen,<br />

Nationalismen und das<br />

gemeinsame Europa<br />

Auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften<br />

vom Menschen zog ich in den neunten<br />

Bezirk in Wien. Wie jeder Neuankömmling<br />

begann ich sogleich, mich mit meiner neuen<br />

Umgebung vertraut zu machen: Hier ist das<br />

Geschäft, dort die U-Bahn und die Straßenbahnhaltestelle,<br />

da das Kaffeehaus und der<br />

Frisör, dort die Bank und die Post. Dem Viertel<br />

war nichts anzukreiden. Es hatte alles, was<br />

wir Bewohner zur Befriedigung all unserer<br />

Bedürfnisse benötigten, wenn nicht gar all unserer<br />

Wünsche. Der Bezirk hatte dabei nicht<br />

nur seine Einrichtungen und Institutionen; er<br />

hatte auch seine Grenzen. Seine Geografie war<br />

leicht zu eruieren, da die Gassen, Plätze und<br />

Straßen in der Stadt denselben Zweck haben<br />

wie Flüsse, Bergketten und Meeresküsten in<br />

der Natur.<br />

Die äußeren Grenzen des Alsergrunds, so<br />

heißt der Bezirk nämlich, sind deutlich erkennbar<br />

und unmissverständlich. Im Nordwesten<br />

wird er vom Gürtel und im Osten vom Donaukanal<br />

begrenzt, im Süden dagegen zieht sich die<br />

Grenze an den drei großen Straßen Maria-Theresien-Straße,<br />

Universitätsstraße und Alser<br />

Straße entlang.<br />

Gegenüber dem kleinen Biedermeierhaus,<br />

das ich ganz in der Nähe der Lichtentaler Pfarrkirche<br />

bewohne, in der Franz Schubert getauft<br />

wurde, liegt ein weitläufiger Park. In der Nachmittagssonne<br />

des späten Septembertags klettern<br />

Kinder auf den Spielgeräten herum, die<br />

Kleineren wühlen im Sandkasten, während die<br />

Jugendlichen ein paar Körbe werfen. Die Tischtennisplatten<br />

stehen einsam und verlassen da.<br />

Die Zelluloidbälle würden von dem recht anständigen<br />

Lüftchen ohnehin zu sehr umhergewirbelt.<br />

Unter den Kindern und Erwachsenen,<br />

unter den wachsamen Augen der Eltern und<br />

unter den Dauerspaziergängern gibt es wohl<br />

nicht viele, die die Grenzen des Bezirkes auch<br />

nur im Geringsten interessieren würden.<br />

Deutsche, polnische, türkische und kroatische<br />

Rufe erfüllen die milde Luft und ich würde<br />

wetten, dass viele Parkbesucher, die ich heute<br />

betrachte, einst auf der Suche nach einem besseren<br />

Leben und mehr Sicherheit viel wichtigere<br />

Grenzen passieren mussten. Mehr noch:<br />

Wenn wir unter Europäern Menschen verstehen,<br />

die auf diesem Kontinent mehr als ein<br />

sprachliches und kulturelles Verständnis zur<br />

Verfügung haben, dann sind Europäer im besten<br />

Sinne des Wortes ausgerechnet Migranten.<br />

Ich sitze auf einer grün gestrichenen Bank.<br />

Mein Fahrrad lehnt an dem schmalen Metallmast<br />

eines Schildes, das Hundebesitzer auf eine<br />

unweit gelegene Hundewiese verweist. Ich sitze<br />

da und beobachte, sitze da und gebe mich meinen<br />

Tagträumen hin, vielleicht auch meinen<br />

Bedenken. Wahrlich, nichts hat den Europäern<br />

in der Geschichte ihres Daseins so viel Übel beschert<br />

wie die Grenzfrage. Europäische Grenzen<br />

waren nämlich noch nie deutlich erkennbar<br />

und unmissverständlich.<br />

Von diesem Blickpunkt gesehen ist und<br />

bleibt Europa weiterhin schlechter ausgestattet<br />

als etwa Stadtbezirke wie der Alsergrund. Während<br />

die Natur auf diesem Kontinent mit den<br />

Küsten des Mittelmeers im Süden sowie dem<br />

Atlantik im Westen und Norden für geografische<br />

Abgrenzungen gesorgt hatte, stellte die<br />

weiche Flanke im Osten ein ernstes Problem<br />

dar. Offene Ebenen und weite getreidereiche<br />

Felder bieten leider keinerlei „natürliche“ Stütze<br />

beim Bestimmen der Grenzen und der Kontrolle<br />

eines Landes.<br />

Im Wettlauf um die Kontrolle eines Landes<br />

liegt der ursprüngliche Auslöser aller europäischen<br />

Konflikte und Gefechte. Europa<br />

muss nämlich wie eine Enzyklopädie von Völkerwanderungen<br />

und Eroberungen gelesen<br />

werden, von Vertreibungen und Besatzungen,<br />

von Pogromen und Ausrottung. Es handelt<br />

sich dabei nicht nur um längst vergangene<br />

Schlachten, nicht nur um die alten Griechen<br />

und Perser, um mittelalterliche Christen und<br />

Muslime, sondern um die jüngste Geschichte,<br />

die nicht unwesentlich auf unser leibhaftiges<br />

Jetzt einwirkt.<br />

Unser leibhaftiges Jetzt ist vom Aufstieg<br />

des Nationalismus definiert. Die liberale und<br />

emanzipatorische Ideologie des 19. Jahrhunderts,<br />

die gegen aristokratische und kirchliche<br />

Privilegien ankämpfte, kehrte sich im 20. Jahrhundert<br />

in eine „exklusivistische“ Ideologie<br />

um. Es galt, der Freiheit des Volkes Vorrang zu<br />

geben vor der Freiheit des Einzelnen. Warum<br />

ist Nationalismus anziehend Weil er sich auf<br />

eine einfache Formel verdichten lässt, die die<br />

Welt in „wir“ und „die anderen“ teilt. Der Nationalismus<br />

macht den Menschen mit seinem Aufruf<br />

zur heimatliebenden Wachsamkeit größer,<br />

als er in Wirklichkeit ist. Das Volk wird zu einer<br />

metaphysischen Idee, die unter Verwendung aller<br />

Mittel, auch der moralisch verwerflichsten,<br />

gesichert werden soll.<br />

Kein Opfer ist dafür zu groß. Das wusste<br />

auch der junge serbische Nationalist Gavrilo<br />

Princip nur zu gut, als er am 28. Juni 1914 in Sarajevo<br />

seinen Revolver auf den österreichischen<br />

Erzherzog und Thronfolger Franz Ferdinand<br />

richtete. In der damaligen internationalen Öffentlichkeit<br />

gingen zahlreiche Erklärungen für<br />

dieses Ereignis um. Für manche stellte es ein<br />

revolutionäres Signal für den Beginn des Zerfalls<br />

des österreichisch-ungarischen „Völkerkerkers“<br />

dar, für andere wiederum war es ein<br />

Zeichen nationalistischen Terrors. Die einen<br />

verurteilten die Gewalt des Pöbels, während die<br />

anderen den Volksaufstand als Befreiung vom<br />

kaiserlichen Stiefel bejubelten.<br />

Niemand jedoch erwartete die völlige Umwälzung<br />

der europäischen Landkarte, die vier<br />

Jahre nach dem Schuss in Sarajevo erfolgte.<br />

Die Ideologie des romantischen Nationalismus,<br />

der ohne Rücksicht auf „die anderen“ und „andere“<br />

forderte, dass jede Nation ihre politische<br />

Souveränität zu erhalten habe, siegte. Der Nationalstaat<br />

wurde nach dem Ende des Ersten<br />

Weltkrieges die Grundeinheit internationaler<br />

Beziehungen schlechthin. Es gelang dem Nationalismus,<br />

die vorhergehenden Formen von<br />

Beziehungen und Verbindungen (sei es beruflichen,<br />

status- oder ortsbezogenen) unter<br />

Einzelpersonen und der breiteren Gesellschaft<br />

erfolgreich zu verdrängen, da er sich als das<br />

Nonplusultra des Gemeinschaftssinns auf einem<br />

bestimmten Territorium durchsetzte.<br />

Es ging nämlich immer nur um Territorien.<br />

Das scheint gerade durch den Erfolg des Nationalismus<br />

selbstverständlich. Aber betrachten<br />

wir doch einmal das Schicksal der europäischen<br />

Roma und Sinti, und wir werden alsbald bemerken,<br />

wie verhängnisvoll die Vorstellung von der<br />

Kontrolle über Grenzen sein kann! Die Gedanken-<br />

und Gefühlswelt der europäischen Halbnomaden<br />

ist vollkommen anders als die des Nationalismus,<br />

da sie keine Forderung nach einem<br />

eigenen Gebiet und dessen Selbstverwaltung<br />

stellt. Obwohl sie über ein Drittel der Staaten<br />

auf diesem Kontinent bewohnen, suchen wir<br />

sie vergeblich in den Vorstellungen, die Nationalstaaten<br />

von sich pflegen.<br />

Blut und Boden – das war der laute Schlachtruf<br />

des kriegsführenden Nationalismus im vergangenen<br />

Jahrhundert. Eine führende Rolle<br />

spielte er aber auch beim Zerfall des zweiten<br />

Jugoslawiens. Noch heute gibt es allerdings keinen<br />

europäischen Nationalstaat, der tatsächlich<br />

nur von Angehörigen eines Volkes bevölkert<br />

wäre. Das Zusammenleben ist also unser<br />

Schicksal. Die Frage, in welchem politischen<br />

Rahmen es verläuft, bleibt dagegen immer noch<br />

offen.<br />

Die Europäische Union ist der aktuelle,<br />

nicht aber der erste Versuch, die Grenzen nationaler<br />

Exklusivismen zu überwinden und<br />

sich auf die Suche nach politischem Miteinander<br />

zwischen kulturell verschiedenen Gemeinschaften<br />

zu begeben. Die k. u. k. Monarchie ist<br />

ein schönes Beispiel dafür. Unter anderen Umständen<br />

bestätigte sie jenes (selbe) politische<br />

Ziel, das wir heute unter dem europäischen<br />

Motto „In Vielfalt geeint“ kennen.<br />

Der multilinguale Vielvölkerorganismus,<br />

in dem religiöse Pluralität herrschte und der<br />

in seiner letzten Verkörperung den Namen<br />

„Österreichisch-Ungarische Monarchie“ trug,<br />

überdauerte ununterbrochene sechs Jahrhunderte,<br />

also dreimal so lang wie die Vereinigten<br />

Staaten und zehnmal länger als das europäische<br />

Vereinigungsprojekt. Seine politische Kultur<br />

wirkte unter dem Druck von Reformen und<br />

Kompromissen. Der Kompromiss mit der ungarischen<br />

Elite des Jahres 1867 – und in Galizien<br />

mit Polen – stelle einen handfesten Beweis<br />

der flexiblen habsburgischen Politik dar, so der<br />

amerikanische Historiker Timothy Snyder bei<br />

einer Konferenz mit dem Titel „The Political<br />

Logics of Disintegration: The Habsburg and the<br />

Yugoslav Experiences“, die im Oktober 2012 am<br />

Institut für die Wissenschaften vom Menschen<br />

in neunten Wiener Bezirk stattfand.<br />

Die Suche nach einem Kompromiss, bei der<br />

man die Verantwortlichen an einen Tisch setzt<br />

und ihnen keine Möglichkeit gibt, zu entkommen,<br />

bevor sie eine annehmbare Lösung gefunden<br />

haben, war für die Habsburger gewiss eine<br />

langweilige Angelegenheit, möglicherweise<br />

sogar ein mühseliger diplomatischer Vorgang.<br />

Aber genau diese Verhandlungsmethode wird<br />

heute von der EU angewandt. Im Namen der<br />

Friedenssicherung ist auf lange Sicht die Politik<br />

der kleinen Schritte eben besser geeignet als<br />

eine Politik unüberlegter Sprünge.<br />

Die Habsburger konnten Sicherheit gegen<br />

die Bedrohungen von außen (Frankreich, Russland,<br />

Osmanisches Reich) gewährleisten, nicht<br />

aber hinsichtlich innerer Konflikte. Als während<br />

des „Völkerfrühlings“ die Forderungen nach der<br />

nächsten Stufe zur Selbstständigkeit im gesamten<br />

Kaiserreich widerhallten, wurde auch den<br />

Beton International März 2014 11


größten Naivlingen am Hof klar, dass der Nationalismus<br />

nicht wieder verschwinden würde.<br />

Auf die Herausforderung der nationalen<br />

Bewegungen antworteten die Habsburger mit<br />

drei Maßnahmen. Kaiser Franz Joseph, der im<br />

Jahr 1848 den österreichischen Thron bestiegen<br />

hatte und ihn bis zu seinem Tod 1916 innehielt,<br />

verkörperte das supranationale Symbol<br />

und die Monarchie als solche. Die zentralisierte<br />

öffentliche Verwaltung und das Heer mit der<br />

Offiziersschicht stellten unter Verwendung<br />

derselben Techniken und Stile in unterschiedlichen<br />

Regionen das bedeutende Bindeglied dar.<br />

Das Parlament machte auf seinen Bänken Platz<br />

für die Vertreter aller Völker.<br />

Das Recht des Volkes auf Selbstbestimmung<br />

steht in grundsätzlicher Opposition zu<br />

vielvölkischen politischen Gebilden. Die Habsburger<br />

Monarchie konnte keine wirksame Art<br />

und Weise finden, die Forderungen nach Selbständigkeit<br />

mit dem Bedürfnis nach einem<br />

gemeinsamen Dach zu vereinbaren. Von diesem<br />

Standpunkt aus betrachtet bedeutete der<br />

deutsche Nationalismus für das Kaiserreich<br />

eine größere Bedrohung als die Nationalismen<br />

der kleinen Völker. Zahlreiche deutschsprachige<br />

Österreicher trachteten nämlich – vor<br />

allem nach dem Jahr 1871 und der Gründung<br />

des preußischen Reichs – nach einer Vereinigung<br />

mit dem „Mutterland“. Gegen die habsburgische<br />

Kompromisspolitik traten auch die<br />

Nationalismen der Balkanvölker an, vor allem<br />

der Serben. Die Idee von einem Zusammenschluss<br />

der Südslawen aus den habsburgischen<br />

Ländern mit jenen aus den ehemaligen Osmanischen<br />

Provinzen war ein explosives Gemisch,<br />

das in den Balkankriegen von 1912-1913 hochging.<br />

Der Feuerweg zum Großen Krieg war geebnet.<br />

Der „Europäische Bürgerkrieg“ endete mit<br />

der Zerstörung des Osmanischen und des Habsburger<br />

Reiches, mit der gesellschaftlichen Revolution<br />

in Russland und dem Regimewechsel in<br />

Deutschland. Die Folgen wurden in einer Wirtschaftskrise<br />

sichtbar, die durch Inflation und<br />

Depression zum Zweiten Weltkrieg und zum<br />

Genozid führte. Und aus dieser Brandstätte erwuchs<br />

die Idee, die heute von der Europäischen<br />

Union verkörpert wird.<br />

Die unterschiedlichen Interessensgruppen<br />

und einflussnehmenden Gemeinschaften stellen<br />

sich – jede auf ihre Art – Europa als gemeinsames<br />

Haus vor. Bildhafte Konzepte reichen<br />

vom christlichen Europa bis zum Europa als<br />

Schmelztiegel, vom Europa als Konföderation<br />

bis zu den Vereinigten Staaten von Europa.<br />

All diese Ideen treten indes in einem Rahmen<br />

auf, der das heutige Europa bereits von<br />

anderen Staatsformen unterscheidet. Wenn<br />

wir die Vereinigten Staaten von Amerika zu den<br />

Hegemonial- und Imperialstaaten zählen, die<br />

auf ihrer kompromisslosen Souveränität insistieren,<br />

Iran zu den modernen Staaten, für die<br />

ein autoritärer Nationalismus kennzeichnend<br />

ist, und Somalia zu den prämodernen Staaten<br />

ohne zentralisierte Macht, dann zählt die EU zu<br />

den postmodernen Staaten.<br />

Postmoderne Staaten zeichnen sich durch<br />

eine weiche Form der Souveränität aus, schreibt<br />

der britische Analytiker und Diplomat Robert<br />

Cooper in seinem Buch The Breaking of Nations<br />

(2003). Das bedeutet, dass postmoderne Staaten<br />

in der Verwendung von Streitkräften und bei Gesetzesbeschlüssen<br />

eingeschränkt sind, also nicht<br />

mehr selbständig im traditionellen Sinne. Was<br />

unter einer traditionellen Art staatlicher Souveränität<br />

zu verstehen ist, erschließt sich aus den<br />

Verträgen zum Westfälischen Frieden, der Mitte<br />

des 17. Jahrhunderts geschlossen wurde. Die<br />

postmoderne Art staatlicher Souveränität wurde<br />

von der EU mit dem Vertrag von Maastricht beschlossen,<br />

der Ende des 20. Jahrhunderts unterzeichnet<br />

worden ist. Mit diesem Vertrag wurde<br />

das Eingreifen in die inneren Angelegenheiten<br />

der Mitgliedsstaaten ein Bestandteil der neuen<br />

europäischen Ordnung.<br />

Der Verzicht auf „harte“ Souveränität kam<br />

für die EU-Mitglieder in einem Paket mit der<br />

Solidarität. Von diesem Gesichtspunkt aus hatten<br />

die Grenzen zwischen den europäischen<br />

Staaten ihre einstige Gewichtigkeit verloren.<br />

Damals schien es, als handle es sich um ein annehmbares<br />

„Geben und Nehmen“. Heute stellt<br />

es sich für viele anders dar. Die große wirtschaftliche<br />

und politische Krise, die bereits fünf<br />

Jahre lang andauert, stellt die EU im Allgemeinen<br />

und die Länder der Eurozone im Besonderen<br />

auf eine beispiellose Probe.<br />

Niemand weiß genau, was zu tun oder zu<br />

unternehmen wäre. Fest steht nur, dass unter<br />

den angebotenen Lösungen zur Rettung des<br />

Euros als Währung und der EU als politisches<br />

Projekt diejenige die schlechteste ist, von der<br />

die EU in ein Werkzeug verwandelt würde, das<br />

um jeden Preis die Ideologie des Sparens aufdrängt.<br />

Wenn die EU zu einer Peitsche internationalen<br />

Kapitals auf den Rücken der Armen<br />

würde, also zu dem, was der Internationale<br />

Währungsfonds in den Achtzigern und Neunzigern<br />

in Lateinamerika repräsentierte, würde<br />

sie von ihrem originärsten Merkmal abrücken:<br />

der institutionellen Solidarität. Sollte das<br />

passieren, würde sich die EU in eine Agentur<br />

für Kapitalverwaltung verwandeln und die<br />

Europäer würden durch die Grenze zwischen<br />

Grille und Ameise, zwischen dem „schuftenden<br />

protestantischen Nordwesten“ und dem<br />

„verschwenderischen katholisch-or thodoxen<br />

Südosten“ geteilt.<br />

Aus dem Slowenischen von<br />

Daniela Kocmut<br />

Aleš Debeljak<br />

Geboren 1961 in Ljubljana. Lyriker und sozialkritischer<br />

Essayist; Debeljak unterrichtet an<br />

der Universität Ljubljana Kulturelle Studien.<br />

Svetislav Basara<br />

Doktor<br />

Destouches,<br />

der<br />

unangenehme<br />

Zeuge<br />

Buddha ist ein riesiger, chinesischer<br />

Volkskommissar<br />

mit dem fettem Hintern eines<br />

Erzbischofs.<br />

Céline<br />

Jeder hundertste Geburtstag sollte feierlich<br />

begangen werden. Nun rückt das hundertjährige<br />

Jubiläum des Jahres 1914 näher – und immer<br />

näher! Eine schöne runde Zahl! Wie geschaffen<br />

für ein Jubiläum! Es wird Empfänge und Galadinners<br />

geben, man wird Reden schwingen.<br />

2014 – das Jahr, in dem vermoderte Leichen<br />

durch die frische Luft gezerrt werden, Toten<br />

rituell auf die Schulter geklopft und passender<br />

Blödsinn abgesondert wird. Sie gaben ihr Leben<br />

für die Freiheit! Helden! Das Opfer war nicht<br />

vergebens! Freiheit! Frieden! Europa! Zukunft!<br />

Wohlstand! Die Massenneurose angesichts des<br />

Jubiläums wird langsam zur Massenpsychose.<br />

Die kleinen Siegerstaaten fürchten, dass die<br />

Geschichte umgeschrieben wird! Sie haben<br />

Angst, jemand könnte ihnen den Sieg nehmen!<br />

Das werden sie nicht zulassen! Die großen Siegerstaaten<br />

halten sich besser – deshalb sind<br />

sie wahrscheinlich groß – auch wenn sie nicht<br />

überzeugt sind, dass ihr Sieg so groß war, wie<br />

er hätte sein können und sollen. Die Verliererstaaten<br />

wiederum fühlen sich gedemütigt.<br />

Vielleicht könnte man da etwas tun! Vielleicht<br />

könnte man diese Ungerechtigkeit ausgleichen.<br />

Man kann nie wissen! Es gibt kein umfassendes<br />

Bild! Im Großen Krieg sieht jeder, was er sehen<br />

will, was er sehen soll, weil es ihm aufgetragen<br />

wurde oder er dafür bezahlt wird. Ich gehöre zufälligerweise<br />

zu der letzten Gruppe. Ich wurde<br />

bezahlt – andernfalls hätte ich nicht eine Zeile<br />

geschrieben –, einen Aufsatz zum Thema 1914<br />

zu schreiben, ein Thema, über das ich – trotz<br />

Bezahlung – nicht ein Wort schreiben würde,<br />

weil es kein einziges Wort verdient, hätte mich<br />

die Aufforderung nicht in einer Art militaristischer<br />

Stimmung erreicht, als ich gerade dabei<br />

war, ein Themenheft des „Gradac“ zum zweiten<br />

Mal zu lesen. Es ist Doktor Destouches alias<br />

Louis-Ferdinand Céline gewidmet.<br />

Als ich den „Gradac“ über Céline las, lag es<br />

in der Natur der Sache, dass ich verlockt war,<br />

die Reise ans Ende der Nacht noch einmal zu lesen,<br />

und ein erneutes Lesen der Reise ans Ende<br />

der Nacht führt den Leser unweigerlich ins Jahr<br />

1914 und ins Zentrum des Geschehens, an die<br />

vorderste Frontlinie des Großen Krieges, bei uns<br />

besser bekannt als Erster Weltkrieg. Céline liest<br />

man – Achtung! – auf eigene Gefahr! Am besten<br />

mit kugelsicherer Weste und Gasmaske in der<br />

Hand. Die Kampfgase, die während der Reise<br />

von den Seiten aufsteigen, sind heilsam, aber<br />

auch gefährlich. Wer die eine oder andere kleine<br />

Wahrheit über das Große Schlachten erfahren<br />

will, über seinen Anlass und – vor allem – die<br />

Folgen, der sollte alle historischen Lügen vergessen<br />

und sich in die Reise ans Ende der Nacht<br />

vertiefen. Und nicht nur in die Reise, sondern<br />

auch in Destouches‘ andere Bücher und sogar in<br />

die Interviews. Besonders die Interviews. In den<br />

Interviews ist Doktor Destouches – unbelastet<br />

von einer Erzählform – am tiefsten und am treffendsten.<br />

Hier spinnt er – entblößt bis auf die<br />

Knochen – zynisch und rücksichtslos seine – aus<br />

Sicht eines Philisters – verrückte Anthropologie<br />

und noch verrücktere Philosophie. Der Mensch<br />

– so sieht es Doktor Destouches – ist gerade so<br />

fähig zur Humanität und Kultur, wie ein Huhn<br />

fliegen kann. Wenn man ein Huhn, so erklärt<br />

Doktor Destouches, kräftig in den Hintern tritt,<br />

erhebt es sich drei, vier Meter in die Luft, gackert,<br />

flattert mit den Flügeln, doch gleich nach<br />

der Landung vergisst es das Fliegen und kehrt<br />

zurück zu seinem bescheidenen Lebensinhalt<br />

– dem Scharren im Dreck. Ähnlich der Mensch.<br />

Wenn man ihm in den Hintern tritt oder ihn –<br />

was wesentlich effektiver ist – prügelt, ausbeutet<br />

und demütigt, zeigt der Mensch eine gewisse Befähigung<br />

zur Kultur und in Ausnahmefällen sogar<br />

zur Religion, doch sobald die Prügel – wegen<br />

der Dekadenz oder Nachlässigkeit des Folterknechts<br />

– aufhören, sobald der Mensch sich irgendein<br />

„Menschenrecht“ erkämpft hat, landet<br />

er – nicht auf der Erde, die ist was für Hühner –<br />

auf einem unterirdischem Grund und kratzt hier<br />

an den Geschlechtsorganen seiner Nächsten,<br />

er landet auf Tafeln voller Fleisch und fettem<br />

Essen, trinkt Unmengen von Alkohol, wird fett,<br />

häuft Geld an, langweilt sich und sucht Zerstreuung,<br />

alles Dinge, die ihn zum Kretin machen,<br />

ihn abstumpfen und degenerieren lassen und<br />

nur durch Krieg zu heilen sind. Gäbe es keinen<br />

Krieg, raunt uns Doktor Destouches zu, gäbe es<br />

kein Schlachten, keinen Hunger und keine Epidemien,<br />

ließe man den Menschen ihren Willen,<br />

würde die menschliche Rasse sich selbst zu einer<br />

Lebensform degradieren, die die Natur nicht<br />

ertragen könnte. Wir führen Krieg, um zu überleben!<br />

Das nackte Überleben – das ist der Sinn<br />

des Krieges. Doktor Destouches ist kein Kriegstreiber!<br />

Nein! Gar nicht! Ganz und gar nicht. Destouches<br />

findet Kriegstreiber abstoßend. Abgestoßen<br />

ist er aber auch von denjenigen, die sich<br />

in den Krieg treiben lassen. Er hat sich selbst<br />

dorthin treiben lassen, das gibt er zu, fröhlich<br />

und voll patriotischer Gefühle, sagt er, zog er in<br />

den Krieg. Vielversprechende Helden, Offiziere,<br />

die den Krieg feiern und in ihm einen Lufterfrischer<br />

sehen, ein Mittel zur Desinfektion, Säuberung<br />

und Stärkung einer Nation, hält Destouches<br />

für komplette Idioten, denn er weiß – und<br />

eigentlich wissen wir es alle, wir stellen uns nur<br />

blöd –, dass dies völlig hirnverbrannt ist, denn<br />

es ist eine schreiende Tatsache, dass in Europa<br />

nach jedem bedeutenden Krieg immer weniger<br />

kräftige, mutige und ehrenvolle Männer geboren<br />

werden, dafür immer mehr Kretins, Idioten und<br />

Weicheier. Nein! Destouches rechtfertigt den<br />

Krieg nicht. Aber er rechtfertigt auch den Frieden<br />

nicht. Für Destouches ist Krieg die Fortführung<br />

des Friedens mit anderen Mitteln. Wer die<br />

Zähne zusammenbeißt, versteht, was ich meine.<br />

Wir haben bekommen, was wir verlangt haben,<br />

und dabei sind wir noch gut weggekommen, wir<br />

Lumpenpack, Sesselpupser und Vielfraße – das<br />

ist in Ungefähr der Inhalt des verschlüsselten<br />

Telegramms, das Céline der kulturinteressierten<br />

Öffentlichkeit schon seit Jahrzehnten schickt,<br />

der Gilde der Versüßer – den Herren Politikern,<br />

Schriftstellern, Schmierfinken und Musikanten,<br />

den Zuckerbäckern mit Diplomen von der<br />

Sorbonne und der École normale supérieure,<br />

die unsere menschliche Wirklichkeit – eine aus<br />

geronnenem Blut, Eiter, Sperma, Vaginalsekret<br />

und Scheiße gebackene Torte – mit Saccharin<br />

und Marzipan überziehen. Ah, belle époque!<br />

Emanzipation! Vaginolatrie! Arschkriecherei!<br />

Kackophilie! Durcheinander! Völlerei! Reizüberflutung!<br />

Kollektiver europäischer Nervenzusammenbruch.<br />

Unausstehlichkeit, die – angeblich<br />

weil es so leichter ist – auf jemand anderen übertragen<br />

wird, sagen wir mal auf den Deutschen,<br />

Beton International März 2014 12


dessen germanischer Urin – wie ein angesehener<br />

französischer Akademiker behauptet – hundertmal<br />

mehr stinkt als der eines durchschnittlichen<br />

Franzosen. Das Dumme ist, dass der Deutsche im<br />

Stande ist, wegen der Beleidigung des deutschen<br />

Urins einen Krieg anzufangen. Er kann es kaum<br />

erwarten, dich umzubringen, nicht nur, weil du<br />

die deutsche Pisse beleidigst – wahrscheinlich<br />

eine der besten Pissen der Welt –, sondern, weil<br />

du Franzose bist, syphilitisch, verweichlicht und<br />

degeneriert, der infolge einer Verstopfung seiner<br />

Harnleiter nicht mehr imstande ist zu pissen. Ob<br />

Céline Schopenhauer gelesen hat Kaum vorstellbar,<br />

dass nicht. Ruysbroek hat er gelesen,<br />

das weiß ich, weil er ihn erwähnt! Vielleicht auch<br />

Meister Eckhart. Ob unter dem Einfluss dieser<br />

Männer oder spontan – das weiß ich nicht, dazu<br />

sagt er nichts – erkennt Céline im Schützengraben,<br />

dass sein Feind im Grunde nicht die Deutschen<br />

sind, sondern die ganze Welt. Doch von da<br />

an und bis zu seinem Tod ist die ganze Welt Célines<br />

Feind und er ist der Feind der ganzen Welt,<br />

aller Manifestationen des Willens der Welt und<br />

aller Zirkusvorstellungen der Welt. Monarchisten!<br />

Horror! Dekadenz! Nieder mit dem König!<br />

Mit dem Kommunismus (er lernt ihn vor Ort in<br />

der UdSSR kennen)! Es lebe König Peter I.! Es<br />

lebe Louis XIV., es lebe Franz Joseph! Die Rechte!<br />

Die Vereinigung der königlichen Mobber!<br />

Die Sesselpupser! Zwiebeln und Wasser! Die<br />

Linke! Der Unsinn! Die Geschmacklosigkeit!<br />

Die Stillosigkeit. Éluard, Aragon, Sartre! Weltberühmte<br />

Gymnasiasten! Es gibt kein Wort,<br />

kein Ereignis, keine Philosophie oder Idee,<br />

keinen Politiker, keinen Menschen, kurz keine<br />

Gruppe, vor der sich Doktor Destouches nicht<br />

ekelt und von der er sich nicht voller Abscheu<br />

abwendet – genau wie die christlichen Mystiker.<br />

Aber Céline ist kein christlicher Mystiker,<br />

oder vielleicht doch, wer weiß – Doktor Destouches<br />

balanciert immer am Rande der Religiosität<br />

– einmal verkündete er, er sei ein Mystiker<br />

– in Frankreich geht das gerade noch durch –<br />

aber mitten in Paris öffentlich zu verkünden, er<br />

glaube an Gott, das ist, als würde er in Teheran<br />

den Propheten beschimpfen. So etwas könnte<br />

Doktor Destouches sich nicht erlauben. Dann<br />

würde doch keiner mehr seine Bücher kaufen,<br />

und er will, dass die Leute seine Bücher kaufen,<br />

damit er sie beleidigen und nebenbei vielleicht<br />

noch einen Groschen verdienen kann, denn sobald<br />

er als Schriftsteller von sich reden machte,<br />

war sein Ansehen als Arzt dahin. Dieser kartesianische<br />

Geist ist nicht zu verachten. Den Geist<br />

kann man getrost Scharlatanen überlassen, um<br />

Lunge und Leber kümmert sich besser ein seriöser<br />

Fachmann.<br />

Niemand hasste den kartesianischen Geist<br />

so sehr wie Céline, und niemand machte sich<br />

so ergeben zu seinem Sklaven wie er. Er schlich<br />

um das Christentum herum wie um den heißen<br />

Brei, von dem ihn nur eine Mauer fetter Bischofshintern<br />

trennte.<br />

„Der praktische Nutzen des Christentums“,<br />

schrieb Céline an einer Stelle in einer Art Katechismus,<br />

„liegt darin, dass es die Pille nicht<br />

versüßt. Es beschwichtigt nicht, ist nicht auf<br />

Wählerfang aus, will nicht gefallen und schaukelt<br />

nicht unsere Wiege. Es greift sich den<br />

Menschen, wenn er noch Windeln trägt, kauft<br />

ihm gleich den Schneid ab und sagt es ihm ins<br />

Gesicht: Du hässlicher, stinkender Wurm! Bis<br />

in alle Ewigkeit bleibst du Abschaum… Von Geburt<br />

an ein Stück Dreck… Hörst du mich Genau<br />

so ist es, das ist ein allgemeingültiges Prinzip!<br />

Doch vielleicht … aber nur vielleicht, wenn man<br />

genauer hinschaut, besteht eine kleine Chance<br />

auf ein kleines bisschen Vergebung dafür, dass<br />

du so abscheulich, abschreckend, abstoßend,<br />

widerwärtig bist!“<br />

Doktor Destouches, ein unangenehmer<br />

Zeuge des Krieges, ist ein noch unangenehmerer<br />

Zeuge des Friedens. Es ist kein Wunder,<br />

dass er – wie auch François Rabelais – von Beruf<br />

Arzt war. Im Grunde war er nie etwas anderes<br />

als Arzt. Alles, was er geschrieben hat – und<br />

das ist nicht wenig – ist eigentlich keine Prosa,<br />

sondern eine Anamnese, eine Auflistung von<br />

Diagnosen, eine entsetzliche Geschichte europäischer<br />

Krankheiten …<br />

Für die es kein Heilmittel zu geben scheint.<br />

Aus dem Serbischen von<br />

Blanka Stipetić<br />

Svetislav Basara<br />

Geboren 1953 in Bajina Bašta, Serbien. Er hat<br />

über 20 Romane und Erzählungen veröffentlicht,<br />

die mit renommierten Literaturpreisen<br />

ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt<br />

wurden. Auf Deutsch sind seine Romane<br />

Führer in die innere Mongolei (Antje Kunstmann<br />

Verlag, 2008, Ü.: Patrik Alac) und Die Verschwörung<br />

der Fahrradfahrer(Dittrich Verlag,<br />

2014, Ü.: Mascha Dabić) erschienen.<br />

Ivana Sajko<br />

1914–2014 und<br />

kollaterale Epochen<br />

Die Geschichte ist wohl bekannt. Zu Beginn<br />

des Sommers 1914 kam Franz Ferdinand in Begleitung<br />

seiner Gemahlin Sophie Chotek nach<br />

Sarajevo, um einem militärischen Manöver beizuwohnen.<br />

Im Rahmen seiner Visite sollte auch<br />

ein feierlicher Empfang im Rathaus stattfinden.<br />

Der Weg dorthin führte über die mit Blumen und<br />

Transparenten geschmückte Flusspromenade<br />

der Miljacka. Auf derselben Route hatten vier<br />

Verschwörer Stellung bezogen. Später hieß es,<br />

zwei von ihnen seien an Tuberkulose erkrankt<br />

und ohnehin dem Tod geweiht gewesen, wodurch<br />

sie die allerhöchste Bereitschaft für eine<br />

Aktion gegen den hohen Gast aus Wien an den<br />

Tag legten. Jeder von ihnen war mit einer Bombe,<br />

einer Pistole und ein wenig Zyanid ausgestattet.<br />

Die Motive waren jeweils unterschiedlich:<br />

Kampf gegen die österreichisch-ungarische Vorherrschaft<br />

in slawischen Gebieten, die Befreiung<br />

der unterworfenen serbischen Brüder und die<br />

Schaffung eines Großserbiens, Rache für die bittere<br />

Armut in Bosnien und so weiter. Um zehn<br />

Uhr morgens empfing eine Menge von Schaulustigen<br />

die Automobilkolonne. Das Thronfolgerpaar<br />

fuhr in einem Wagen mit zurückgeklapptem<br />

Stoffverdeck und genoss lediglich Schutz durch<br />

die lokale Polizei. Einer detaillierten Rekonstruktion<br />

der Ereignisse zufolge fuhr der Wagen<br />

so schnell am ersten Verschwörer vorbei,<br />

dass dieser keine Zeit hatte, zu reagieren. So<br />

erhielt erst der nächste Verschwörer, Nedeljko<br />

Čabrinović, die Gelegenheit, eine Bombe zu<br />

werfen. Der Sprengkörper landete unter den Rädern<br />

des falschen Automobils. Die Insassen und<br />

einige umstehende Schaulustige wurden schwer<br />

verletzt. Der erfolglose Attentäter schluckte Gift<br />

und sprang in den Fluss Miljacka, aber bald darauf<br />

stellte sich heraus, dass das Zyanid abgelaufen<br />

war und lediglich Verdauungsprobleme hervorrief,<br />

während der Fluss nur einige Zentimeter<br />

tief war und bloß seine Kleidung nass machte. Im<br />

Film des Regisseurs Veljko Bulajić aus dem Jahr<br />

1975 wird eine etwas andere Version gezeigt. Wir<br />

sehen Franz Ferdinand, der geschickt die Bombe<br />

einfängt und sie nach hinten wirft. Daraufhin<br />

entsteht Unruhe unter den rotgesprenkelten<br />

Statisten auf der Straße, der Wagen des Thronfolgers<br />

rast indessen zum Städtischen Rathaus.<br />

Nedeljko Čabrinović wird von einem Polizisten<br />

mit einem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen,<br />

verliert das Bewusstsein und wird aus dem<br />

Fluss gezerrt. Dies entbehrt nicht einer gewissen<br />

Komik. Der ungeschickte Terrorist. Das unwirksame<br />

Gift. Und die theatralischen Schreie der<br />

Damen. Aber die Geschichte geht weiter. Eine<br />

Stunde vergeht. Der Wagen mit dem Thronfolger<br />

kehrt über dieselbe Route zurück. Der Fahrer<br />

biegt in die falsche Straße ein, an der Ecke steht<br />

Gavrilo Princip. Der schmächtige junge Mann<br />

mit einem Schnurrbart, wie bald darauf ein Polizeifotograf<br />

festhalten wird, verzehrt gerade<br />

ein Brötchen und erwägt, nach dem ersten misslungenen<br />

Attentat den geplanten Angriffsort zu<br />

verlassen. Durch reinen Zufall steht er plötzlich<br />

dicht vor dem Thronfolger und seiner Gemahlin,<br />

Auge in Auge. In Bulajićs Film erblickt die<br />

Gemahlin als erste den Revolver in der Hand des<br />

jungen Mannes. Die Kamera zeigt eine Großaufnahme<br />

vom Gesicht des Thronfolgers, folgt<br />

anschließend dem Finger, der den Abzug betätigt,<br />

und wendet sich dann der Uniform zu, die<br />

mit zahlreichen Orden bedeckt ist und von der<br />

Kugel durchbohrt wird, und dann ist eine Frauenhand<br />

zu sehen, die an den Gürtel des weißen<br />

Kleides greift, über das sich Blut ergießt. Princip<br />

gibt zwei Schüsse ab. Der erste trifft Franz Ferdinand<br />

in den Hals, der zweite, schlecht gezielte,<br />

den Bauch von Sophie Chotek. Der Wagen setzt<br />

seine Fahrt durch die versammelte Menge an<br />

Schaulustigen fort, das Ehepaar liegt reglos auf<br />

den Sitzen, der überdimensionierte Damenhut<br />

verdeckt den Blick auf ihre Gesichter in tödlicher<br />

Agonie. Die Geschichte geht weiter, aber diesmal<br />

bar jeglicher Komik.<br />

Der 28. Juni 1914 stellt für manche den eigentlichen<br />

Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts<br />

dar. Der englische Historiker Eric Hobsbawm<br />

rekapituliert in seinem Buch The Age of<br />

Extremes die Visite François Mitterrands in Sarajevo<br />

anlässlich des Jahrestags des Attentats im<br />

Jahr 1992 und postuliert, diese Geste des französischen<br />

Präsidenten sei durch das Prisma des<br />

symbolträchtigen Datums und seiner beunruhigenden<br />

Botschaft zu interpretieren. Wie lautete<br />

die Botschaft Mitterrands In erster Linie<br />

lautet die Botschaft, dass die Geschichte jedem<br />

Versuch, ihr Ende herbeizuführen, geschickt<br />

ausweicht; dass historische Aussöhnungen und<br />

Konsolidierungen immer bloß temporäre Erscheinungen<br />

sind; dass Ereignisse von scheinbar<br />

lokaler Reichweite immer wieder dazu neigen,<br />

ihre dislozierten Grenzen zu überschreiten; und<br />

schließlich, dass wir niemals glauben sollten, alle<br />

Akte des historischen Dramas seien schon zu<br />

Ende gespielt. Wie es bei Baudrillard heißt, das<br />

zwanzigste Jahrhundert stellt uns vor die beunruhigende<br />

Tatsache, dass alles möglich ist. Dieses<br />

kurze Jahrhundert, wie Badiou es in seinem<br />

Essayband Le Siècle nennt, strukturiert seine<br />

Geschichte durch mehrere parallele Narrative.<br />

Eines davon ist ganz konventionell und ließe<br />

sich in zwei Worten zusammenfassen: Krieg<br />

und Revolution. Das Jahrhundert artikuliert<br />

sich durch zwei Weltkriege und durch die Etablierung,<br />

Weiterentwicklung und schlussendlich<br />

den Kollaps des kommunistischen Projekts.<br />

Betrachtet durch das Prisma dieser Parameter,<br />

schreibt Badiou, ist es ein Jahrhundert des Kommunismus,<br />

aber betrachtet durch das Prisma des<br />

kollektiven Gedächtnisses ist es ein Jahrhundert<br />

der Apokalypse, das sich weder denken noch begreifen<br />

lässt, ein Jahrhundert, an das man sich<br />

schlicht und ergreifend erinnern muss. Im Zentrum<br />

dieses unbeschreiblichen Spektakels befindet<br />

sich der Holocaust mit seiner Maschinerie:<br />

Konzentrationslager, Gaskammern, Massaker,<br />

Folter und organisiertes staatliches Verbrechen.<br />

Pathologische Vernichtungstechnologien, die<br />

weder denkbar noch begreifbar sind, sprechen<br />

lediglich in Zahlen zu uns, die anhand von Rechenoperationen<br />

den Versuch machen, das ihnen<br />

innewohnende Irrationale zu rationalisieren.<br />

Millionen von Opfern. Tonnen von Asche.<br />

Aber indem das Jahrhundert seine Parameter<br />

verändert, verändert es auch sein Antlitz und<br />

legt dabei noch andere Resultate frei. Das ökonomische<br />

Narrativ schreibt indessen an einer weiteren<br />

Parallelgeschichte, jener Geschichte über<br />

den Liberalismus, die eine Epoche beschließt<br />

und zugleich in die nächste überschwappt, wie<br />

ein Ausgangspunkt, von dem aus unsere aktuelle<br />

historische Dynamik gesponnen wird. Hier<br />

dreht sich die blutig erkämpfte Demokratie zum<br />

Nutzen des globalen Marktes, des Triumphs des<br />

Kapitals und der Abschaffung sozialer Empathie.<br />

Es ist ein Jahrhundert der Mediokritäten,<br />

des Fernsehens und der Abstumpfung, ein Jahrhundert<br />

des Kredits, der Zwangsräumungen und<br />

der Korruption, ein Jahrhundert, in dem unsere<br />

Gegenwart ein langfristiges Pfand darstellt. Die<br />

Position, aus der heraus ein Jahrhundert, sowohl<br />

das vorige als auch das aktuelle, tatsächlich<br />

etwas über sich selbst aussagen kann, und die<br />

uns einer Position näherbringt, in der wir selbst<br />

ebenfalls etwas zu sagen haben, ist eine ästhetische<br />

Position. Die Kunst dient hier als Zeichen<br />

und Symptom der Zeit, und so werden politische<br />

und zivilisatorische Landschaften gerade durch<br />

Beton International März 2014 13


die Dekonstruktion der Gesten und Bilder der<br />

Kunst wiederhergestellt. Diese von neuem konstruierten<br />

Horizonte gemahnen uns an unsere<br />

eigene Verantwortung gegenüber der Realität,<br />

die sich jederzeit in eine unvorstellbare historische<br />

Fiktion verwandeln kann und deren Jahreszahlen<br />

rückblickend tragisch wirken.<br />

Der harmlose Sommertag im Jahre 1914<br />

könnte ein Anlass für uns sein, andere, ebenso<br />

perfid bedeutungslose Daten zu evozieren.<br />

Eine Gegend, die vor Geschichte nur so strotzt,<br />

nämlich das Gebiet Ex-Jugoslawiens, ist voll von<br />

solchen Daten. Am 23. und 24. September 1987<br />

tagte zum achten Mal das Zentralkomitee des<br />

Bundes der Kommunisten Serbiens. Bei dieser<br />

Sitzung hatte Slobodan Milošević den Vorsitz<br />

inne. Laut Experten hatten die Ergebnisse dieser<br />

Sitzung einen entscheidenden Einfluss auf<br />

die weitere Geschichte der gesamten Region.<br />

Zwei Jahrzehnte nach dem erwähnten Ereignis<br />

drehte der niederländische, in Belgrad geborene<br />

Künstler Bojan Fajfrić den Film Theta Rhythm,<br />

in dem er die betreffenden Septembertage durch<br />

eine ganz und gar antihistorische Perspektive<br />

rekonstruiert, nämlich durch die seines Vaters,<br />

der im Rahmen der live übertragenen Sitzung<br />

dadurch auffiel, dass die Kamera ihn schlafend<br />

auf seinem Stuhl erwischte. „Die Tatsache, dass<br />

mein Vater während der Sitzung eingeschlafen<br />

ist, war keine Schande und sorgte für keinen<br />

Skandal. Ganz im Gegenteil, dieser Akt blieb unbemerkt“,<br />

erinnert sich Fajfrić. „Die unschuldige<br />

Geste meines schlafenden Vaters war eine Metapher<br />

für die Unfähigkeit seiner Generation, die<br />

Gegebenheiten der eigenen Zeit in den Griff zu<br />

bekommen und auf diese Weise auf den weiteren<br />

Verlauf der Geschichte einzuwirken.“<br />

Worauf Fajfrić hinaus will, ist der Umstand,<br />

dass sich kein Augenblick aus der Kontinuität,<br />

zu welcher er gehört, isolieren lässt, und dass<br />

das eigentliche Drama in der Diskrepanz zwischen<br />

der Banalität eines „Jetzt“ und der Tragik<br />

seines „Später“ begründet liegt sowie in unserer<br />

Unfähigkeit, die Folgen unserer Unterlassung<br />

abzusehen – in einer falschen Einschätzung des<br />

Augenblicks, den wir verschlafen und verpasst<br />

haben, der sich jedoch in der Rückschau als<br />

entscheidend herausstellt. Wenn wir schließlich<br />

aufwachen, hat die Geschichte bereits ihren<br />

Lauf genommen und wir versuchen ungeschickt,<br />

die Fäden ihrer Erzählung einzufangen,<br />

die richtige Seite und den richtigen Standpunkt<br />

einzunehmen, den einen zu glauben, den anderen<br />

zu misstrauen und eine passende Wahl zu<br />

treffen, loyal, moralisch und unbefleckt zu bleiben<br />

und so bis zum Ende und darüber hinaus<br />

auszuharren, denn die Geschichtsschreibung<br />

erfolgt auch rückwirkend, ihre Produktion ist<br />

ausgerechnet dann am stärksten, wenn die Geschichte<br />

scheinbar zu Ende ist. Gerade dann<br />

ruft sie uns zur Ordnung und belästigt uns mit<br />

Mathematik, öffnet uns die Augen, die wir fest<br />

zugekniffen hatten, und stellt uns vor Fragen,<br />

auf die wir eine Antwort parat haben müssten:<br />

Wie konnte das passieren<br />

Kehren wir zurück. Auf dem Schwarzweißfoto,<br />

das am Morgen des 28. Juni 1914 um ca. 11<br />

Uhr aufgenommen wurde, sehen wir Franz Ferdinand<br />

und seine Gemahlin, wie sie das Rathaus<br />

in Sarajevo verlassen. Sie sind eingehakt und<br />

begrüßen die protokollarischen Gäste auf der<br />

Treppe des Gebäudes. Sie planen, zum Krankenhaus<br />

zu fahren, in dem der erfolglose Bombenwerfer<br />

liegt, aber wir wissen, dass sie dort<br />

niemals ankommen werden. Das Jahrhundert<br />

stellt sich ihnen in den Weg. Zahlen und Asche.<br />

Dutzende nationaler religiöser Konflikte und<br />

solcher, die mit Erdöl zu tun haben, die Zerstörung<br />

staatlicher Volkswirtschaften, Metastasen<br />

des Kapitals, die Entstehung des Prekariats und<br />

die Agonie des verschuldeten Menschen sowie<br />

die misslungene Verwirklichung großer Utopien,<br />

die ein Ende der Geschichte verhindern.<br />

Diejenigen, die dieses Jahrhundert tatsächlich<br />

erlebt haben, diejenigen, die nach den Worten<br />

von Primo Levi „die Gorgo gesehen“ haben,<br />

werden niemals darüber sprechen. Die integralen<br />

Zeugen, die die Geschichte von innen heraus<br />

erzählen könnten, bleiben außerhalb jeder<br />

nacherzählbaren Geschichte, weil ihre eigene<br />

Geschichte in sich eingestürzt ist und niemand<br />

mehr etwas darüber sagen kann.<br />

Alles, was wir tun können, ist lediglich die<br />

verpassten Gelegenheiten zu thematisieren und<br />

mit Badious Beispiel locker abgesteckte historische<br />

Narrative zu konstruieren, in denen sich<br />

eine gewisse Kohärenz abzeichnet. Einer davon<br />

könnte das konventionelle Narrativ sein. Es<br />

würde mit der Gründung der Jugoslawischen<br />

Föderation beginnen, mit der Idee von Brüderlichkeit,<br />

Einheit und Selbstverwaltung der Arbeiter,<br />

mit der Euphorie des Aufbaus, mit den<br />

Arbeitseinsätzen und Parteitagen in Stadien,<br />

und es würde möglicherweise ausgerechnet mit<br />

Mitterrands Visite in Sarajevo enden, als schon<br />

allen klar war, dass wir uns mitten im ultimativen<br />

Zerfall der Grenzen, Fabriken und Menschen<br />

befanden und dass wir nie wieder die Fotos<br />

unserer Großväter und Großmütter, auf denen<br />

sie Straßen und Eisenbahnen bauen, würden<br />

anschauen können, ohne den aufkeimenden<br />

Verdacht zu spüren, dass sie mit geschlossenen<br />

Augen gegraben hatten, weil die große Idee, die<br />

sie antrieb, von jenen kompromittiert wurde, die<br />

nicht bereit waren, für sie zu arbeiten, sondern<br />

deren Bereitschaft sich im Schießen erschöpfte.<br />

Eine andere mögliche Geschichte könnte Ende<br />

September 1987 beginnen, an dem Tag, als der<br />

Vater des damals vierzehnjährigen Bojan Fajfrić<br />

bei der Sitzung des Zentralkomitees des Bundes<br />

der Kommunisten Serbiens eingeschlafen war<br />

und als weder er noch wir alle anderen in der Begrenztheit<br />

unserer Kurzsichtigkeit die Zahlen<br />

zu sehen vermochten. Diese Geschichte hätte im<br />

Falle Kroatiens zumindest nominell und bürokratisch<br />

durch das Spektakel auf dem Zagreber<br />

Hauptplatz am 1. Juli 2013 zu Ende gehen sollen,<br />

als Kroatien seinen EU-Beitritt feierte. Es hätte<br />

so sein sollen, aber dem war nicht so. Die angebliche<br />

Verwirklichung historischer Bestrebungen<br />

wirkte wie ein Scherz, nicht nur deshalb, weil<br />

bei dem sorgfältig geplanten Bankett am 1. Juli<br />

Frau Merkel nicht aufgetaucht war, um ihren<br />

Segen für das Protokoll zu spenden, und nicht<br />

nur deshalb, weil in diesen Tagen über der großen<br />

Bühne das Logo des Billiganbieters Lidl mit<br />

der ironischen Botschaft prangte: Willkommen<br />

zum Europäischen Festmahl, und auch nicht<br />

nur deshalb, weil zur selben Zeit und zu Ehren<br />

desselben Festmahls tausende von Bürgern<br />

Europas auf die Straße gingen, um den griechischen<br />

und türkischen Demonstranten in ihren<br />

Auseinandersetzungen mit den Schutzschilden<br />

einer mehr oder weniger gleichen autistischen<br />

Macht ihre Unterstützung auszudrücken, sondern<br />

auch deshalb, weil das erwähnte Spektakel<br />

wie eine Parade der touristischen Propaganda<br />

und wenig überzeugenden Wohlstandssymbolik<br />

inszeniert war, im Versuch, ein historisches<br />

Narrativ seinem Happy End zuzuführen, um<br />

die Erzählung über den mühseligen Weg in eine<br />

neue und bessere Epoche zu Ende zu bringen.<br />

Diese Erzählung stemmt sich jedoch durch die<br />

Realität ihres Inhalts mit allen Kräften gegen<br />

ihr eigenes Ende.<br />

Das Palais Khuenburg, in dem Franz Ferdinand<br />

geboren wurde, befindet sich etwa hundert<br />

Meter von dem Haus entfernt, in dem ich im<br />

Moment lebe. An der Ecke des Gebäudes ist eine<br />

Steintafel angebracht, auf der neben dem Todesdatum<br />

Franz Ferdinands auch eingemeißelt ist,<br />

dass der fatale 28. Juni 1914 den unmittelbaren<br />

Anlass für den Ersten Weltkrieg darstellte. Ich<br />

wiederhole, es ist eine bekannte Geschichte, die<br />

Geschichte ist überall, eingepflanzt durch vergleichbare<br />

Gegenstände, die uns an sie erinnern<br />

sollen, Denkmäler und Einkerbungen. Aber das,<br />

was mich interessiert, während ich an der Straßenbahnhaltestelle<br />

gegenüber dem imperialen<br />

Geburtshaus stehe und meinen Sohn im Arm<br />

halte, das, worauf alle diese Jahrestage, die wir<br />

kommemorativ begehen, mich hinzuweisen<br />

scheinen, ist eine ganz intime Perspektive, für<br />

die in historischen Erzählungen üblicherweise<br />

kein Platz ist, weil konkrete Dinge im Leben häufig<br />

den großen gesellschaftlichen Abstraktionen<br />

zum Opfer fallen. Aber meine intime Perspektive,<br />

die ich durch die Attribute einer Mutter,<br />

eines gewöhnlichen Menschen oder auch durch<br />

das Attribut einer Schriftstellerin von mittlerer<br />

Bedeutung kennzeichnen könnte, ist bodenständig<br />

in der radikalen Gegenwart verwurzelt,<br />

in der Kreisbewegung der Spirale hinfälliger<br />

politischer und ökonomischer Konzepte, die<br />

uns keinerlei Zukunftsgarantie liefern, für eine<br />

Zukunft, die durch algorithmische Schuldenkategorien<br />

verkauft ist und durch die unsere Kinder,<br />

ob sie wollen oder nicht, hindurch müssen.<br />

In dieser Perspektive sind die imperialistischen<br />

Bestrebungen Franz Ferdinands oder auch die<br />

reaktionären Pläne Gavrilo Princips Teile derselben<br />

politischen Diktatur, die gesellschaftliche<br />

Dynamiken manipuliert, wenn auch ganz<br />

und gar abgeschnitten von ihren eigentlichen<br />

Schicksalen. Wenn ich sage, gewisse historische<br />

Narrative seien unvollendet, auch hundert Jahre<br />

nach ihrer Kontinuität, dann öffne ich damit<br />

mir selbst, als Mutter, Mensch und Schriftstellerin<br />

einen Raum der Hoffnung, in dem die Geschichte<br />

noch immer zu den Menschen zurückkehren<br />

kann, die sie geduldig erdulden, einen<br />

Raum, in dem sich noch etwas unternehmen<br />

lässt, in dem sich etwas noch zu Ende schreiben<br />

lässt, und dieses Etwas müsste gerade hier,<br />

im Erdgeschoss der Geschichte begründet sein,<br />

unter den realen Schicksalen, wo die größte<br />

Panik herrscht und wo unsere Zukunft, durch<br />

schlechte Prognosen und defizitäre Statistiken<br />

angekündigt, bereits im Voraus abgeschafft ist.<br />

Der Zyklus, der durch das Jubiläum geschlossen<br />

wird, verlangt danach, von uns auf der Plattform<br />

unseres eigenen historischen Augenblicks einer<br />

neuerlichen Überprüfung unterzogen zu werden;<br />

wir müssen die nur scheinbar realisierten<br />

Konzepte revidieren, ebenso die Methoden,<br />

anhand derer diese Konzepte generiert wurden,<br />

wir müssen unsere opportunistischen Gewohnheiten<br />

ändern und auch den jämmerlichen<br />

intellektuellen Sarkasmus, wir müssen uns mit<br />

unseresgleichen solidarisieren, mit Menschen,<br />

die nicht in die Geschichte eingehen werden,<br />

aber die dennoch etwas mehr wollen als das, was<br />

die oben erwähnte Diskontkette Lidl ihnen anbieten<br />

kann. Wir müssen die Augen offen halten.<br />

Im Essay L’autre cap mit der Unterüberschrift<br />

“Mémoires, réponses et responsabilités” spricht<br />

Jacques Derrida von einer Sichtweise Europas<br />

als einer Landspitze, eines westlichen Zusatzes<br />

zum asiatischen Kontinent, dessen geographische<br />

Form schon immer die geistige Kartographie<br />

determinierte, denn eine Landspitze ist<br />

Kopf, Extremität, Ziel und Ende, eine ausgestülpte<br />

Spitze, die die Richtung vorgibt, eine<br />

Spitze ist auch ein Bug auf einem Schiff, das von<br />

einem Kapitän gesteuert wird, der die Macht<br />

hat, das Ziel der Reise zu verändern. Europa<br />

war, schreibt Derrida, immer schon offen gegenüber<br />

einer Geschichte, in der ein Kurswechsel<br />

oder das Verhältnis zu einem anderen Kurs für<br />

möglich erachtet wurden. Auf dieser Landspitze<br />

mit dem Blick zum Horizont zu leben, bedeutet,<br />

eine antizipierende historische Position einzunehmen,<br />

die es mit sich bringt, dass wir für uns,<br />

für andere und den anderen gegenüber Verantwortung<br />

tragen.<br />

Aus dem Kroatischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Ivana Sajko<br />

Geboren 1975 in Zagreb. Autorin, Dramatikerin<br />

und Regisseurin. In der Übersetzung von<br />

Alida Bremer sind zwei Theatertrilogien im<br />

Verlag der Autoren erschienen, Archetyp: Medea<br />

/ Bombenfrau / Europa: Trilogie (2008) und<br />

Trilogie des Ungehorsams: Drei Einakter (2012),<br />

und der Roman Rio Bar im Verlag Matthes &<br />

Seitz, 2008.<br />

Beton International März 2014 14


György Spiró<br />

Friedensjagd<br />

(Dramolett)<br />

Personen:<br />

Wilhelm II., Deutscher Kaiser<br />

Nikolaus II., Russischer Zar<br />

Adjutant<br />

Das Gespräch spielt sich am Abend des 28.<br />

Juni 1914 ab.<br />

Adjutant Eure kaiserliche Majestät, Moskau<br />

ist in der Leitung! Darf ich Euch den Zaren<br />

Nikolaus geben<br />

WILHELM Ja. – Votre Majesté, der Zar<br />

NIKOLAUS Votre Majesté, der Kaiser<br />

WILHELM Mein lieber Zarenvetter! Nicki!<br />

NIKOLAUS Mein teurer Kaiservetter! Willi!<br />

WILHELM Wie geht es Ihrer Majestät der Zarin,<br />

meiner Lieblingscousine<br />

NIKOLAUS Der Zarin geht es gut, danke der<br />

Nachfrage, sie lässt dir ihre herzlichsten<br />

und ehrerbietigsten Grüße bestellen! Jede<br />

Woche spricht sie davon, dass ich mich vielleicht<br />

nie getraut hätte, um ihre Hand anzuhalten,<br />

hättest du nicht so hartnäckig auf<br />

mich eingeredet!<br />

WILHELM Es war der achte April vor zwanzig<br />

Jahren … Ich musste dich nicht überreden,<br />

ich habe dir lediglich den Blumenstrauß in<br />

die Hand gedrückt …<br />

NIKOLAUS Das Jahr 1894 war das glücklichste<br />

meines Lebens! Kaum zu glauben, dass bereits<br />

zwanzig Jahre vergangen sind.<br />

WILHELM Wie schön es wäre, wenn ich dich<br />

wieder in Deutschland willkommen heißen<br />

könnte!<br />

NIKOLAUS Und im November werden es vier<br />

Jahre, seit ich zuletzt bei euch jagen war.<br />

WILHELM Es war schon etwas kühl damals.<br />

NIKOLAUS Der Schlamm reichte uns bis zu den<br />

Knien. Aber ich mag den Schlamm. Wie viel<br />

Wild wir erlegt haben! Um die vierzig Hirsche<br />

und mehr als sechzig Rehe … Es war<br />

wunderbar, Willi!<br />

WILHELM Ich hoffe, dich dieses Jahr erneut in<br />

Berlin empfangen zu dürfen.<br />

NIKOLAUS Es wäre mir eine Freude. Bis Mitte<br />

September ist der Krieg bestimmt zu Ende.<br />

WILHELM Wurde dir etwa zugetragen, dass<br />

bald ein Krieg ausbricht<br />

NIKOLAUS Es kann kaum anders kommen, in<br />

Sarajevo wurde heute nämlich der österreichische<br />

Thronfolger Franz Ferdinand<br />

erschossen.<br />

WILHELM Darüber hat man mich noch nicht<br />

verständigt.<br />

NIKOLAUS Ich habe es auch erst vor fünf Minuten<br />

erfahren.<br />

WILHELM Weiß es Franz Joseph schon<br />

NIKOLAUS Er wird es bald wissen. Er wird Serbien<br />

ein Ultimatum stellen, das Serbien zurückweisen<br />

wird; daraufhin werde ich meine<br />

Leute mobilisieren …<br />

WILHELM Ich stelle mich an Franz Josephs<br />

Seite …<br />

NIKOLAUS Es wird zwischen deinen und meinen<br />

Truppen in Ostpreußen zum Kampf<br />

kommen. Als Kriegsschauplatz schlage ich<br />

das Weichselland um Warschau vor, dort<br />

leben sowieso nur Polen, um die ist es nicht<br />

schade. Von meinen Generälen steht Samsonow<br />

schon bereit.<br />

WILHELM Bei mir zieht von Mackensen zu Felde.<br />

Der alte Knabe kann es kaum erwarten,<br />

sich zu messen.<br />

NIKOLAUS In ein paar Wochen, nach einigen<br />

kleineren Siegen meinerseits, schließen wir<br />

auf dem östlichen Kriegsschauplatz Frieden.<br />

Du bist ohnehin nur am französischen<br />

Kriegsschauplatz wirklich interessiert. Ich<br />

werde nichts dagegen haben, wenn du in Paris<br />

einmarschierst.<br />

WILHELM Das ist nett von dir, Nicki.<br />

NIKOLAUS Serbien, Rumänien und der Balkan<br />

gehören weiterhin mir. Polen bleibt nach<br />

wie vor aufgeteilt.<br />

WILHELM Einverstanden.<br />

NIKOLAUS Die Spannung und das Wirrwarr<br />

sind so groß bei uns, und es laufen so viele<br />

Wahnsinnige, Revolutionäre, Gottlose und<br />

erfolgshungrige Generäle herum, dass ich<br />

die Energien irgendwo ableiten muss.<br />

WILHELM Das geht mir genauso. Meine Generäle<br />

quälen mich noch zu Tode, ich kann sie<br />

ja in keinen höheren Rang mehr aufrücken<br />

lassen: von Seeckt, Hindenburg, Ludendorff,<br />

von Falkenhayn, von Moltke … Es ist<br />

mir unmöglich, so viele Militärübungen zu<br />

organisieren, dass sie sich alle beweisen<br />

können … Da kommt ein bisschen Krieg<br />

ganz gelegen, auch wenn ich befürchte, dass<br />

er meine Generäle zu sehr festigt … Sei so<br />

nett und wirke auf Brussilow und deine übrigen<br />

großartigen Generäle ein, dass sie ja<br />

tapfer gegen uns kämpfen!<br />

NIKOLAUS Versprochen. Generäle sind wie Pinscher,<br />

ab und zu man muss sie sich austoben<br />

lassen, damit sie das Halsband nicht ständig<br />

spüren. Es muss schließlich auch der Opposition<br />

etwas geboten werden, soll sie doch<br />

in der Duma schwätzen… Wie geht es eigentlich<br />

den von dir finanzierten russischen<br />

Bolschewiken in der Schweiz<br />

WILHELM Danke der Nachfrage, sie spielen<br />

tagein, tagaus Schach, in Ermangelung einer<br />

sonstigen Aufgabe. Sie sind zu siebenundzwanzigst<br />

und schnauzen sich gegenseitig<br />

in sechs Fraktionen an.<br />

NIKOLAUS Ich begreife einfach nicht, was so<br />

vergnüglich am Schachspielen sein soll.<br />

WILHELM Erzähl doch, wie sich das Attentat<br />

zugetragen hat! Wo ist es gleich passiert<br />

NIKOLAUS In der Innenstadt von Sarajevo.<br />

WILHELM Sarajevo Wo ist das<br />

NIKOLAUS In Serbien. Oder doch nicht, mein<br />

Adjutant schüttelt den Kopf… In Kroatien<br />

Auch nicht Entschuldigung… In Bosnien,<br />

sagt mein Adjutant. Egal. Der erste Attentäter,<br />

ein Muhamed Mehmedbašić, hat sich<br />

nicht getraut zu schießen, obwohl er es zuvor<br />

hoch und heilig gelobt hatte.<br />

WILHELM Ein türkischer Name, nicht wahr<br />

Sind die Attentäter etwa Türken!<br />

NIKOLAUS Ein vertürkter slawischer oder ein<br />

verslawter türkischer Name. Sämtliche Attentäter<br />

sind südslawische Nationalisten,<br />

Mitglieder der Narodna Odbrana. Das bedeutet<br />

so viel wie Volksschutz.<br />

WILHELM Wie viele südslawische Völker gibt<br />

es überhaupt<br />

NIKOLAUS Wie viele südslawische Völker es<br />

gibt – Mein Adjutant sagt, sechs oder sieben…<br />

Die wollen sich alle zu einem kleinen<br />

unabhängigen südslawischen Königreich<br />

zusammenschließen. Ein solcher Staat<br />

steht zwar nicht vollkommen im Interesse<br />

Russlands, aber gegenüber den von Österreich<br />

finanzierten Slawen muss ich die Idee<br />

vorerst unterstützen. Also, dieser Muhamed<br />

hat kalte Füße bekommen und hat<br />

nicht geschossen. Der zweite Attentäter…<br />

Wie heißt er doch gleich Wie bitte Nedeljko<br />

Also Nedeljko hat eine Bombe auf den<br />

Wagen geworfen, aber er hatte sie schlecht<br />

entsichert, sodass sie zehn Sekunden später<br />

explodiert ist und die Insassen des nächsten<br />

Wagens verletzt wurden… Dieser Nedeljko<br />

hat vor Ort Zyankali geschluckt und ist in<br />

den Fluss gesprungen, er wusste ja nicht,<br />

dass der nur zehn Zentimeter tief ist, ein<br />

Wunder, dass er sich nicht das Genick gebrochen<br />

hat… Die Haltbarkeit des Zyankalis<br />

war abgelaufen, also ist ihm überhaupt<br />

nichts passiert... (lacht)<br />

WILHELM Das sind deine zuverlässigsten Agenten<br />

Nicki!<br />

NIKOLAUS Sie sind nicht meine Agenten, ich<br />

finanziere sie nur. Das ist eine billige Sippschaft,<br />

eher verblendet als utilitär. Ich<br />

möchte dich darauf aufmerksam machen,<br />

dass ich noch vor dem ganzen Rest der Welt<br />

von der Verübung des Attentats erfahren<br />

habe.<br />

WILHELM Keine Sorge, ich werde meinen Geheimdienst<br />

deshalb noch heruntermachen.<br />

Eine Schande! Aber erzähl weiter!<br />

NIKOLAUS Die Verletzten wurden ins Krankenhaus<br />

gebracht, und Franz Ferdinand<br />

hat beschlossen, sie zusammen mit Herzogin<br />

Sophie zu besuchen. Eine noble Geste,<br />

wir wurden sofort davon unterrichtet. Der<br />

Chauffeur – einer unserer Männer – hat<br />

sich sozusagen verfahren, ist stehen geblieben<br />

und hat begonnen, zurückzusetzen.<br />

WILHELM Dafür gibt es doch irgendeine offizielle<br />

Bezeichnung...<br />

NIKOLAUS Auf Russisch sagen wir rückwärts.<br />

WILHELM Ja genau!<br />

NIKOLAUS Der Chauffeur hat am Flussufer manövriert,<br />

und man sagt, ihm sei mehrmals<br />

der Motor abgestorben, das hat ein ausgezeichnetes<br />

Ziel geboten. Der nächste Attentäter<br />

hätte schießen sollen, wie ist doch<br />

gleich sein Name – Gavrilo Princip. Danke.<br />

– Er hat auch gezielt, aber es stellte sich<br />

heraus, dass er in der Früh vergessen hatte,<br />

seine Pistole zu laden. Also hat schließlich<br />

einer der Leibwächter im Wagen den<br />

Thronfolger und seine Frau aus einem halben<br />

Meter Entfernung erschossen. Dieser<br />

Kerl namens Gavrilo wurde als Attentäter<br />

festgenommen, der hat ebenfalls Zyankali<br />

geschluckt, aber es in seiner Aufregung<br />

wieder erbrochen, da war wohl auch schon<br />

die Haltbarkeit abgelaufen… Es war noch<br />

ein Landeschef bei ihnen im Wagen… – Wie<br />

bitte Mein Adjutant sagt, sein Name sei Potiorek...<br />

Der blieb unverletzt.<br />

WILHELM Abgelaufenes Zyankali!... (lacht vor<br />

sich hin) Wahrlich unterhaltsam! – Sag, wie<br />

geht es denn dem Thronfolger<br />

NIKOLAUS Seine Bluterkrankheit scheint sich<br />

gebessert zu haben… Er wird durchgehend<br />

von einem genialen Mann mittels Beschwörungsformeln,<br />

Handauflegen und Gebeten<br />

behandelt…<br />

WILHELM Sein Name ist Rasputin, oder Mir<br />

wird ständig über ihn berichtet. Hat er noch<br />

immer so einen großen Einfluss an deinem<br />

Hof<br />

NIKOLAUS Deine Informationen sind exakt.<br />

Meine Frau vergöttert ihn. Er ist in der Tat<br />

ein großer Mann. Das einzige Problem mit<br />

ihm ist, dass er den Krieg ablehnt, er befürchtet,<br />

ein Krieg könnte das Ende des<br />

Hauses Romanow bedeuten, und das verkündet<br />

er auch offen.<br />

WILHELM Ein klares Zeichen von Beschränktheit.<br />

NIKOLAUS Er ist zwar ein genialer Mann, aber<br />

ungebildet. Er versteht meine Situation<br />

nicht. Er versteht nicht, wie viele uns von<br />

wie vielen Seiten angreifen. Nur mit einem<br />

schnellen Krieg kann ich mir etwas Ruhe sichern.<br />

WILHELM Ich kenne die Situation. Wir haben<br />

jetzt Ende Juni. Das Überbringen der<br />

Kriegserklärungen nimmt zwei, drei Wochen<br />

in Anspruch, aber Mitte Juli können<br />

wir schon kämpfen, der August vergeht<br />

noch mit Kriegführen, und im September<br />

können wir dann Frieden schließen.<br />

NIKOLAUS Das entspricht auch meinen Berechnungen.<br />

WILHELM Wie geht es deinem Cousin, König<br />

George Was hast du über seine Intentionen<br />

gehört<br />

NIKOLAUS König George stimmt deiner Erklärung<br />

zu, die du den englischen Blättern gegeben<br />

hast und laut welcher die Engländerfeindlichkeit<br />

in Deutschland wächst. Er für<br />

seinen Teil drängt auf die Deutschenfeindlichkeit<br />

des britischen Volkes und schürt<br />

sie. Er wird an unserer Seite in den Krieg<br />

eintreten, gegen dich.<br />

WILHELM Wir rechnen mit ihm. Er wirbelt<br />

nicht viel Staub auf, England ist weit weg.<br />

Ich plane, gegen die Franzosen Giftgas einzusetzen.<br />

Angeblich kann man damit Hunderttausende<br />

in einer halben Stunde töten,<br />

wir werden sehen, ich habe da so meine<br />

Zweifel. Deine Truppen werde ich mit dem<br />

Gas verschonen. Bitte Nicki, übergib König<br />

George meine herzlichsten Grüße. Ich bin<br />

gespannt, was meine Unterseeboote gegen<br />

seine Flotte ausrichten können.<br />

NIKOLAUS König George hält nicht viel von<br />

Unterseebooten. Er rechnet damit, dass der<br />

Krieg bis Anfang Oktober zu Ende sein wird.<br />

WILHELM Laut meinen Generälen werden wir<br />

seine Flotte um einiges früher zerschlagen.<br />

NIKOLAUS Wie ich höre, kommen bei dir neuartige<br />

Kriegsvehikel zum Einsatz.<br />

WILHELM Ja, die sogenannten Panzer. Sie<br />

walzen alles wahllos nieder. Aber von den<br />

Kampfflugzeugen erwarte ich noch mehr.<br />

Sie werden von oben Granaten auf die Fronten<br />

abwerfen.<br />

NIKOLAUS Ich vertraue auf die Menschen. Die<br />

Tapferkeit und die Zahl des russischen Volkes<br />

sind unerschöpflich.<br />

WILHELM Die Kühnheit der deutschen Soldaten<br />

ist sprichwörtlich. Wir werden die Franzosen<br />

schon auf Zack bringen. – Nun, lieber<br />

Nicki, ich hoffe, ich darf dich zusammen mit<br />

dem britischen Herrscher im September in<br />

Berlin empfangen.<br />

NIKOLAUS Das hoffe ich auch, ich nehme die<br />

Einladung dankend an und leite sie an König<br />

George V. weiter, der sie sicherlich mit<br />

ebenso großer Freude annehmen wird.<br />

WILHELM Übermittle doch bitte Ihrer Majestät<br />

der Zarin meine Ehrerbietung. Königin<br />

Victoria hat immer wieder geäußert, dass<br />

Alix ihr liebstes Enkelkind ist. Und wir übrigen<br />

Enkel haben sie stets beneidet, und<br />

dann auch dich, der du sie geheiratet hast.<br />

NIKOLAUS Sie ist eine wunderbare Frau, bis<br />

heute verbessert sie unermüdlich meine<br />

englische Aussprache. – Ich muss zugeben,<br />

in letzter Zeit ist sie unruhig, die steigende<br />

Deutschenfeindlichkeit in Russland macht<br />

sie nervös, ich versuche vergebens sie davon<br />

zu überzeugen, dass das alles notwendig ist<br />

und nur ein vorübergehender Zustand, der<br />

nach dem Krieg mit einem Schlag zu Ende<br />

sein wird. (lacht) Einen Kopfsprung in zehn<br />

Zentimeter tiefes Wasser machen und am<br />

Leben bleiben! C’est ridicule!<br />

WILHELM (lacht) Abgelaufenes Zyankali! C’est<br />

magnifique! – Alles Gute, mein lieber Nicki,<br />

wir sehen uns als Gegner auf dem Schlachtfeld!<br />

NIKOLAUS Willi, ich wünsche dir und deinen<br />

Truppen viel Glück!<br />

(Klicken)<br />

ADJUTANT Eure kaiserliche Majestät, in der<br />

anderen Leitung möchte Euch General von<br />

Mackensen dringend sprechen.<br />

WILHELM Ja. Gleich. Beginnen Sie unverzüglich,<br />

die Jagd für September zu organisieren.<br />

Es kommen der russische Zar, der britische<br />

Herrscher, Kaiser und König Franz<br />

Joseph, und von mir aus soll auch von den<br />

Franzosen jemand kommen, der noch am<br />

Leben sein wird; es könnte sogar sein, dass<br />

sie nach dem französischen Zusammenbruch<br />

das Königtum wieder einführen.<br />

(lacht) Ich will eine außergewöhnliche,<br />

unvergessliche Friedensjagd! Eine Berliner<br />

Friedensweltausstellung! Aber vorher vergessen<br />

Sie nicht, an alle Betreffenden eine<br />

Kriegserklärung zu übermitteln!<br />

ADJUTANT Jawohl, Eure Majestät!<br />

WILHELM Dass Sie mir ja nicht verwechseln,<br />

wer Freund und wer Feind ist!<br />

ADJUTANT Das wird nicht geschehen, Eure<br />

Majestät!<br />

WILHELM Für die Jagd wünsche ich eine riesige<br />

Menge an Beute. Mindestens achtzig<br />

Hirsche, hundertzwanzig Wildschweine<br />

und dergleichen!<br />

ADJUTANT Jawohl, Eure Majestät!<br />

WILHELM Und Bären! Soll der Zar doch eine<br />

Freude haben! Mindestens zwanzig Eisbären!<br />

ADJUTANT Bei den Russen gibt es keine Eisbären…<br />

WILHELM Eben deshalb! Beschaffen Sie welche<br />

aus Alaska!<br />

ADJUTANT Und wenn auch Amerika in den<br />

Krieg zieht<br />

WILHELM Ich bitte Sie, Amerika ist weit weg<br />

und bleibt neutral!<br />

ADJUTANT Wie Eure Majestät befehlen!<br />

Aus dem Ungarischen von<br />

Sandra Rétháti<br />

György Spiro<br />

Geboren 1946 in Budapest. Er unterrichtete<br />

an der Hochschule für Film und Theater und<br />

an der Universität Budapest. Mehr als zwanzig<br />

Dramen, Komödien und Kabarettstücke. Leider<br />

sind seine berühmten Romane Die X, Der<br />

Ankömmling und Die Gefangenschaft nicht ins<br />

Deutsche übersetzt; im Nischen Verlag sind<br />

sein Roman Der Verruf (2012) und die Novellensammlung<br />

Träume und Spuren (2013) in<br />

deutscher Sprache erschienen.<br />

Beton International März 2014 15


S. K. Rietberg<br />

Das Armband<br />

der Gräfin<br />

1.<br />

Ich war fünfzehn Jahre alt, als mir meine<br />

Großmutter eines Tages ein zartes, zerbrechliches<br />

und etwas altmodisches Armband schenkte.<br />

Mein erster Gedanke war: Wann soll ich<br />

das je tragen Ich blickte verstohlen auf meine<br />

grelle Kunststoffuhr und die ausgeblichenen<br />

Freundschaftsbänder.<br />

„Marguerite, mein Schatz, ich möchte dir<br />

etwas schenken“, sagte meine Großmutter, die<br />

wir Enkel alle ‚Amama‘ nannten. Immer schon<br />

wurden in unserer Familie die Großmütter<br />

‚Amama‘ genannt. Es gab eine Ausnahme, eine<br />

aus Italien stammende Urgroßmutter, die mein<br />

Vater und alle seine Geschwister und Cousins<br />

‚Nonna‘ nannten. Immer wenn Papi von ihr erzählte,<br />

wurde er ganz sanft. Es gab auch einige<br />

‚Omamas‘ auf der österreichischen Seite der<br />

Verwandtschaft. Es war nicht leicht zu durchschauen,<br />

nach welchen Regeln die Verteilung<br />

der Omamas und Amamas jeweils erfolgte.<br />

Amama saß auf dem mit klassischem englischem<br />

Blumenmuster bezogenen Sofa in ihrem<br />

Salon. Sie war eine deutsche Gräfin, vielleicht<br />

sogar Prinzessin. In meiner Generation war es<br />

nicht cool, diese Dinge genau zu wissen.<br />

Meine Großmutter saß aufrecht, ohne sich<br />

anzulehnen, und ihr Gesichtsausdruck hatte etwas<br />

Zeremonielles.<br />

„Setz dich zu mir, Marguerite.“<br />

„Aber ich habe doch nicht Geburtstag oder<br />

Namenstag“, sagte ich.<br />

„Das ist jetzt ganz gleich. Du bist fünfzehn,<br />

eine junge Dame“, sagte meine Großmutter.<br />

Achtung: Erwartungen, dachte ich. Denn<br />

das Wort ‚Dame‘ traf nicht unbedingt auf mich<br />

zu. Amama spürte meine Verkrampfung. Ihre<br />

Stimme wurde weicher.<br />

„Ich war auch fünfzehn, damals. Schau her.“<br />

Neben ihr lag ein kleiner roter Samtbeutel,<br />

mit einem ebenso roten Schnürchen zugebunden.<br />

Sie öffnete den Beutel und ließ das Armband<br />

in ihre linke Hand gleiten. Dann benutzte<br />

sie den Samtbeutel als Unterlage und legte das<br />

Armband darauf.<br />

„Dieses Bracelet“, sagte sie, „hat eine besondere<br />

Geschichte. Es ist ein bissl unpraktisch,<br />

weil es so fragil ist. Vielleicht kann man es<br />

ja irgendwie mit Golddrähten verstärken.“<br />

„Nein, nein“, sagte ich „es ist wunderschön.<br />

Ich werde es natürlich …“, obwohl ich mich fragte,<br />

bei welcher Gelegenheit man solche Armbänder<br />

tragen sollte. „Du warst auch fünfzehn,<br />

als du es bekommen hast“<br />

„Ja“, sagte Amama „und zwar von meiner<br />

Großmutter. Du weißt, sie war eine geborene<br />

Kinsky.“<br />

Ich wusste es nicht. Üblicherweise schaltete<br />

mein Hirn ab, wenn ich das Wort ‚geborene‘<br />

hörte.<br />

„Kinsky, ja, aus Deutschland“, sagte ich.<br />

„Na ja, eigentlich waren die Kinskys Böhmen.<br />

Aber kaisertreue Böhmen, jedenfalls damals.<br />

Und sowieso mit allen in Österreich und<br />

Deutschland verwandt.“<br />

Böhmen war nicht auf meiner Landkarte.<br />

Aber ich wusste, dass es etwas mit Prag zu tun<br />

haben musste.<br />

„O.K.“, sagte ich und Amama lächelte mich<br />

sanft an, denn das Wort ‚O.K.‘ mochte sie nicht<br />

wirklich in einer Konversation.<br />

„Meine Großmutter hat dieses Armband<br />

sehr geliebt. Wir Enkel nannten sie ‚Onana‘.“<br />

Onana, dachte ich. Das war neu … „Hmm.“<br />

„Ja, gell! Nicht ‚Amama‘, das meinst du,<br />

oder Die war eine ‚Onana‘, eine besonders gütige<br />

Großmutter, aber natürlich aus einem anderen<br />

Jahrhundert.“<br />

Aus zwei anderen Jahrhunderten, vermutete<br />

ich.<br />

„Was ist die besondere Geschichte dieses<br />

Brasslö – dieses Armbands, Amama“<br />

„Nun ja“, sagte meine Großmutter, „dieses<br />

Bracelet gehörte der im Jahr 1914 in Sarajevo<br />

ermordeten Herzogin von Hohenberg. Sie war<br />

die Frau des ebenfalls dort ermordeten Thronfolgers<br />

des österreichischen Kaiserreichs, Erzherzog<br />

Franz Ferdinand. Sie sind Seite an Seite<br />

gestorben, im Auto. Der Attentäter war ein serbischer<br />

Revolutionär mit einer Pistole. Und dieses<br />

Attentat hat dann den furchtbaren Ersten<br />

Weltkrieg ausgelöst. Aber keine Angst, Sophie<br />

trug am Tag des Attentats ein anderes Armband.<br />

Dieses war für sie immer zu privat. Eine<br />

Familiensache. Es war zu Hause geblieben.“<br />

„Sie hieß Sophie“, fragte ich. Das gedehnte<br />

„i“ am Ende des Namens gefiel mir.<br />

„Ja, Sophie“, sagte meine Großmutter, „eigentlich<br />

‚Großtante Sophie‘. Sie war die direkte<br />

Cousine meiner Großmutter Kinsky, eine<br />

geborene Gräfin Chotek. Die Choteks waren<br />

auch böhmische Grafen. Ihr Vater war mit einer<br />

Kinsky verheiratet gewesen, die aber sehr früh<br />

verstorben war.“<br />

Das Bracelet der Gräfin Sophie bestand aus<br />

zwei schlichten und parallel laufenden Goldketten<br />

mit kleinen, feinen Kettengliedern. Nur<br />

die Verschlusselemente, auch in Gold, führten<br />

die Goldketten wieder zusammen. Die beiden<br />

Ketten wurden durch acht im Abstand von<br />

etwa einem Zentimeter quer angelötete und<br />

mit jeweils drei kleinen Brillanten besetzte<br />

Elemente verbunden. Fast wie Sprossen einer<br />

Leiter. Zwischen diesen Brillantsprösschen<br />

waren sieben sehr vorsichtig gefasste Steine.<br />

Drei grüne, drei weiße, wovon zwei einen bunten<br />

Schimmer warfen, und ein roter, wie ein<br />

Tropfen Blut.<br />

„Schau“, sagte meine Großmutter, „die grünen<br />

Steine sind Smaragde, sie sehen wie grüne<br />

Augen aus. Findest du nicht auch Die beiden<br />

weißen, die so lustige Regenbogenfarben haben,<br />

nennt man Opale. Der dritte weiße ist<br />

entweder ein Bergkristall oder ein einfacher<br />

Diamant. Und der rote hier, das ist ein Rubin.<br />

Dieses spezielle Rot nennt man ‚pigeon blood‘,<br />

Taubenblut.“<br />

Blut!<br />

„Jeder dieser Steine kam von einer der<br />

Schwestern von Sophie Chotek und von ihren<br />

Cousinen Kinsky. Ich glaube, meine Großmutter<br />

hat sich dieses Geschenk für ihre Lieblingscousine<br />

ausgedacht. Die jungen Frauen gaben<br />

es Sophie an ihrem Hochzeitstag, dem 1. Juli<br />

1900. Es war eigentlich fast ein Affront, bei dieser<br />

Hochzeit gewesen zu sein.“<br />

„Was ist ein Affront“, wollte ich wissen.<br />

„Ein Affront ist eine unmögliche Sache, etwas,<br />

was gegen die Regeln ist, beinahe eine Beleidigung.“<br />

„Warum Beleidigung Warum Affront“,<br />

unterbrach ich meine Großmutter. „Ich denke<br />

mal, die haben sich geliebt“<br />

„Ja“, meine Großmutter nickte, wie um es<br />

zu unterstreichen, „Franz Ferdinand und Sophie<br />

müssen sich wirklich sehr geliebt haben.<br />

Sonst hätten sie all das nie auf sich nehmen<br />

können.“<br />

„Aber was war denn so schwierig, wenn zwei<br />

heiraten“ Meine Stimme ging leicht nach oben.<br />

Und meine Großmutter erzählte mir alles.<br />

Von den tragischen Ereignissen im ‚Erzhaus‘,<br />

wie sie die Familie Habsburg nannte. Vom Tod<br />

oder Selbstmord, Amama ließ es offen, des Kronprinzen<br />

und Erben des Thrones von Österreich-<br />

Ungarn, Erzherzog Rudolph, im Jahr 1889, vom<br />

Attentat auf Kaiserin Elisabeth im Jahr 1898.<br />

Vom alten, seit 1848 regierenden Kaiser Franz<br />

Josef I., seinem Bruder Maximilian, erst Erzherzog<br />

und dann, wieder tragisch, Kaiser von<br />

Mexiko, und von seinem jüngeren Bruder Karl<br />

Ludwig und dessen gesamten Nachkommen,<br />

darunter der Thronfolger Franz Ferdinand und<br />

auch dessen Neffe, der spätere Kaiser Karl. Hunderte<br />

Namen. Am Ende meinte sie:<br />

„Also das alles nur, damit du dich ein bissl<br />

auskennst. Ja “<br />

Meine Großmutter sprang zwischen den<br />

Generationen und innerhalb der Generationen<br />

umher und wusste immer, wo sie gerade war.<br />

So, als hätte sie ein gigantisches Notebook oder<br />

Großmutter-iPad vor sich, von dem sie ablesen<br />

konnte. Das Unterbrechen und Nachfragen<br />

hätte nichts gebracht, denn dann hätte man die<br />

eine oder andere Spur vertiefen können und<br />

wäre am Ende nur noch verwirrter gewesen.<br />

Draußen ging die Sonne unter. Ich dachte mir,<br />

wenn ich jetzt still zuhöre, dann entsteht das<br />

‚big picture‘, wie meine Brüder immer sagten,<br />

irgendwann von selbst. Das Eigentliche würde<br />

schon kommen.<br />

Das Eigentliche war die Liebe.<br />

Und die ganze Zeit schaute ich auf das Armband.<br />

Ich schaute in grüne Augen. Und taubenblutrot<br />

schlug das Herz. Der Tropfen Blut. Neben<br />

dem brautweißen Kleid.<br />

„Amama“, sagte ich, „das ist so gemein!“<br />

„Das war halt so“, sagte meine Großmutter.<br />

„Stell dir vor, es ist Monarchie und du merkst,<br />

der junge Mann, der dir vom ersten Augenblick<br />

an gefallen hat, ist der Thronfolger, und plötzlich<br />

merkst du, dass er sich in dich verliebt hat.“<br />

Es ist doch piepschnurzegal, ob gerade<br />

Monarchie oder sonst etwas ist!, dachte ich und<br />

sagte nur: „Hhmm.“<br />

„Er hat Sophie sicher gleich beim ersten<br />

Ball gefragt, ‚Gehen Gräfin Sophie mit auf die<br />

Terrasse‘ Und sie hat sicher den Atem angehalten,<br />

und wie soll eine junge Frau dann noch das<br />

‚kaiserliche Hoheit‘ herausbringen“<br />

Wie bitte Gräfin Sophie Kaiserliche Hoheit<br />

Was sollte das denn<br />

„Haben die sich denn nicht geduzt, wenn sie<br />

schon zusammen getanzt haben“<br />

„Nein, nein“ antwortete meine Großmutter,<br />

„das kam erst viel später. Es verging eine ganze<br />

Weile, bis Sophie ihre Liebe jemandem anvertrauen<br />

konnte. Ihr war die Lage sicher vollkommen<br />

bewusst. Und die Lage war eben die, dass<br />

Sophie für ein Mitglied des Erzhauses nun einmal<br />

nicht standesgemäß war.“<br />

„Ja, aber, Gräfin und Erzdingsbums sollte<br />

doch in Ordnung sein“, meinte ich. „Sind doch<br />

beide Aristocats und dann passt’s, oder nicht“<br />

„Nein“, sagte Großmutter, „nein, es hat<br />

eben nicht ‚gepasst‘. Von einem Erzherzog,<br />

noch dazu dem Thronfolger – das war Franz<br />

Beton International März 2014 16


Ferdinand de facto schon, als er Sophie Mitte<br />

der 90er Jahre des neunzehnten Jahrhunderts<br />

kennen lernte – wurde erwartet, dass er königlich<br />

heiratet. Das waren die habsburgischen<br />

Hausgesetze. Die waren strenger als alle anderen<br />

in Europa. Und Sophie wusste das. Sie hat<br />

sicher versucht, ihre Gefühle zu bekämpfen,<br />

und lange nicht glauben können, dass Franz<br />

Ferdinand es ernst meint. Aber die Liebe war<br />

stärker. Er hat ihr klar gemacht, dass er nur sie<br />

wollte. Kaiser hin, Kaiser her. Es muss überwältigend<br />

gewesen sein!“<br />

„Mann, war das kompliziert!“<br />

„Lange konnten die beiden es sowieso nicht<br />

geheim halten. Irgendwann wurde allen klar,<br />

warum der begehrteste junge Mann des Kaiserreichs<br />

so oft zu seiner Tante, bei der Sophie<br />

arbeitete, zu Besuch kam. Und dann war es wie<br />

eine Bombe. Wie wenn man in ein Wespennest<br />

hineingreift.“<br />

Beim gemeinsamen Abendessen mit Großeltern,<br />

Eltern, Onkeln, Tanten, Geschwistern<br />

und Cousins verkündete meine Großmutter,<br />

dass sie mir am Nachmittag das Armband von<br />

‚Tante Sophie‘ übergeben hatte. Ich war ganz<br />

still und wurde etwas rot hinter den Ohren.<br />

Meine Cousinen wollten sofort das Armband<br />

sehen. Aber ich sagte, man würde es nur bei<br />

Tageslicht gut sehen können, und verzog mich<br />

bald in mein Zimmer. Ich holte das Armband<br />

aus dem roten Samtbeutelchen und legte es<br />

darauf. So, wie es meine Großmutter am Nachmittag<br />

gemacht hatte.<br />

Nicht standesgemäß! Wenn mir je einer<br />

von diesen Habsburgs begegnet, fahr’ ich ihn<br />

an, noch bevor er weiß, wer ich bin, dachte ich.<br />

Mein Blick versank in den Steinen. Die grünen<br />

Steine, der rote, die unschuldig weißen.<br />

Was hatte das mit mir zu tun 1914 war mindestens<br />

fünfhundert Jahre her! Das Schicksal<br />

von Sophie machte mich traurig und zornig zugleich.<br />

Sophie, dachte ich und blickte in grüne<br />

Augen, was hast du mit mir zu tun Was gehst<br />

du mich an, Sophie<br />

Der Blutstropfen.<br />

Sophie! Sie war da. Mit ihrer Liebe zu ihrem<br />

Mann und ihren Kindern. Mir war, als sähe sie<br />

mich an, als wollte sie mir sagen, dass ich ihr<br />

als neue Trägerin ihres Armbands, ihres Hochzeits-Bracelets,<br />

eine würdige Nachfolgerin werden<br />

sollte.<br />

2.<br />

Ich wollte nicht, dass Sophie stirbt. Und<br />

so entschloss ich mich, die Geschichte neu zu<br />

schreiben. Ich wusste noch nicht, wie ich anfangen<br />

sollte, aber ich hatte meine Großmutter<br />

mit ihren Erinnerungen, meinen Großvater für<br />

genauere Jahreszahlen und – hey, wir lebten im<br />

Zeitalter des Internets! – ich hatte auch Wikipedia<br />

und Google.<br />

„Sophie! Sopherl Wir sollten langsam zum<br />

Diner. Mach ein bissl g’schwinder, bitte!“, sagte<br />

Erzherzog Franz Ferdinand am Abend des 27.<br />

Juni 1914.<br />

Im eleganten Kurort Ilidze in unmittelbarer<br />

Nähe von Sarajevo gaben die örtlichen Oberen<br />

ein Galadiner im besten Hotel des Ortes, zu Ehren<br />

des Thronfolgers und seiner Gemahlin, Ihrer<br />

Hoheit der Herzogin von Hohenberg.<br />

„Komme schon, Franzi!“ erklang es aus dem<br />

Ankleidezimmer der Suite.<br />

***<br />

„Das Armband der Gräfin“ - Zusammenfassung:<br />

Die neunzehnjährige Marguerite erzählt,<br />

dass sie zu ihrem fünfzehnten Geburtstag von<br />

ihrer Großmutter ein Armband geschenkt bekam,<br />

dessen erste Trägerin die 1914 in Sarajevo<br />

erschossene Sophie Herzogin von Hohenberg<br />

war, geborene Gräfin Chotek. Das Armband war<br />

seit 1914 immer in der Familie weitervererbt<br />

worden. Als fünfzehnjähriges Mädchen konnte<br />

Marguerite die tragische Geschichte von Sophie<br />

Hohenberg nicht ertragen. So veränderte<br />

sie in ihrem Tagebuch die Geschichte des Paares<br />

Franz Ferdinand und Sophie und somit die<br />

Geschichte der österreichischen Monarchie,<br />

Europas, der Weltkriege.<br />

S. K. Rietberg<br />

S. K. Rietberg entstammt einer alten Familie<br />

des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation.<br />

Seine Vorfahren lebten und wirkten erfolgreich<br />

in Politik, Militär und Diplomatie in vielen<br />

Ländern. Mit den Nachkommen des in<br />

Sarajevo ermordeten Thronfolgers und seiner<br />

Frau verbindet ihn ein nahes Verhältnis. S. K.<br />

Rietberg lebte in allen deutschsprachigen Ländern<br />

Europas und steht, wie seine Vorfahren,<br />

in besonderen Diensten. Er schreibt hier daher<br />

unter Pseudonym.<br />

Davor Korić<br />

Held oder Terrorist<br />

Erinnerungen an meinen Großvater Ivan Kranjčević,<br />

beteiligt am Attentat von Sarajevo<br />

Es war ein Herbsttag vor 20 Jahren, als ich<br />

voller Angst eine Transportmaschine der UN-<br />

PROFOR bestieg, die mich nach Ancona bringen<br />

sollte. Ich würde keine Schützengräben<br />

ausheben müssen und nicht von einem Heckenschützen<br />

oder einer Granate aus den umliegenden<br />

Bergen getroffen werden. Ich würde<br />

nicht zum Krüppel werden, wovor ich am meisten<br />

Angst hatte, wenn ich wie eine ungeschützte<br />

Tontaube auf der Straße unterwegs war und<br />

über mir ein Pfeifen oder in der Ferne eine<br />

Detonation hörte. Ich würde Dragana und die<br />

Kinder wiedersehen, die schon seit Jahren in<br />

Münster lebten. Die Briefe, die ich ihr geschrieben<br />

hatte, damit sie wusste, dass ich am Leben<br />

war und was in Sarajevo passierte, sollten in<br />

Deutschland veröffentlicht und das Buch dann<br />

auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt werden,<br />

das Buch, das mich aus der Gefangenschaft<br />

im Höllenkessel von Sarajevo befreite. An diesem<br />

Tag flüchtete ich wie in einem Actionfilm in<br />

die Freiheit!<br />

In der Tasche meines Parkas, in dem ich anderthalb<br />

Jahre Belagerung meiner Heimatstadt<br />

verbracht hatte, ertastete ich, nur um mich zu<br />

vergewissern, dass sie da war, neben meinem<br />

Reisepass und der UNPROFOR-Karte die Taschenuhr<br />

meines Großvaters Ivan Kranjčević.<br />

Ich hatte nur wenige Dinge in meinen Koffer<br />

gepackt: ein paar Familienfotos und Videokassetten<br />

mit meinen Sendungen und dem verbotenen<br />

Film „Die Rolle meiner Familie in der<br />

Weltrevolution“, in dem ich als 19-Jähriger die<br />

Hauptrolle – den jungen Schriftsteller Bora<br />

Ćosić – gespielt hatte, dazu Opas Orden der<br />

Einheit und Brüderlichkeit, den ein silberner<br />

Kranz und eine Erinnerungsplakette der Stadt<br />

Sarajevo schmückten, außerdem zwei Ausgaben<br />

seines Buches Uspomene jednog učesnika<br />

u sarajevskom atentatu (Erinnerungen eines Beteiligten<br />

am Attentat von Sarajevo), erschienen<br />

1954 und 1964 mit einer Widmung an mich und<br />

meine Mutter Miroslava, seine einzige Tochter<br />

aus der Ehe mit der früh verstorbenen Christine<br />

Jandl, und dann noch sein Testament, das an<br />

mich gerichtet war, einen Brief des Nobelpreisträgers<br />

Ivo Andrić und einige Dokumente, die<br />

Zeugnisse unseres Lebens sind. Alles andere,<br />

was unsere Existenz hätte bezeugen können,<br />

war in den Wirren des Krieges verschwunden.<br />

In Köln, wo ich heute lebe und arbeite, habe ich<br />

außer diesen wenigen kostbaren Dingen nur<br />

nebelhafte Erinnerungen.<br />

Opa Ivan starb im Schlaf, in seinem Messingbett,<br />

auf dem er nach dem Mittagessen gewöhnlich<br />

ein Nickerchen machte. Ich war erst<br />

17 Jahre alt, ein Alter, das junge Menschen vor<br />

der Erkenntnis schützt, dass wir sterblich sind.<br />

Ich erinnere mich, wie ich ihm ein weißes Hemd<br />

anzog, festliche Hosen und Schuhe, ich war<br />

mir nicht bewusst, dass ich ihn nie wieder sehen<br />

würde, dass ich nie wieder in sein Zimmer<br />

gehen und mit ihm reden könnte. Erst später<br />

spürte ich die Leere und Trauer, weil er nicht<br />

mehr da war, und vermisste seine Fürsorge<br />

und Liebe, die ich beim Erwachsenwerden gebraucht<br />

hätte, weil ich meinen Vater Muhamed<br />

nie kennen gelernt hatte. Wenn er sich über<br />

meine Streiche ärgerte, sagte Opa Ivan immer,<br />

es sei schade, dass er mir nicht seine Erfahrung<br />

vererben könne, weil jeder für sich selbst erfahren<br />

müsse, dass man nicht mit dem Kopf durch<br />

die Wand kann und dass wir uns verbrennen,<br />

wenn wir die Hand ins Feuer halten.<br />

1914, als er wegen seiner Beteiligung am<br />

Attentat auf den österreichischen Thronfolger<br />

Ferdinand und wegen revolutionärer Umtriebe<br />

in der Bewegung „Junges Bosnien“ zu zehn Jahren<br />

Haft verurteilt wurde, da war er gerade mal<br />

zwei Jahre älter als ich an jenem Tag, als sein<br />

Herz aufhörte zu schlagen.<br />

Bald wird der Junitag hundert Jahre her<br />

sein, an dem sein Schulfreund Gavrilo Princip<br />

auf der Uferpromenade bei der Brücke „Latinska<br />

ćuprija“ mit einem Revolver Ferdinand erschoss<br />

und statt des verhassten österreichischungarischen<br />

Gouverneurs Potiorek die Herzogin<br />

Sophie traf. An diesem Tag irrte mein Großvater<br />

durch die Stadt und wartete. Seine Aufgabe<br />

war es, nach dem Attentat die Waffen seiner<br />

Freunde Cvjetko Popović und Vasa Čubrilović<br />

verschwinden zu lassen.<br />

Unmittelbar vor dem Sankt-Veits-Tag war<br />

Princip ihm aus dem Weg gegangen. Später<br />

erklärte er, er habe sich gewünscht, dass mein<br />

Großvater als Kroate auch einer der Attentäter<br />

sei, doch Danilo Ilić, der Organisator des Attentats,<br />

habe bereits heimlich die sechs Bomben<br />

und vier Revolver verteilt gehabt, so dass für<br />

meinen Großvater nichts mehr übriggeblieben<br />

sei. Trifko Grabež und der Moslem Muhamed<br />

Mehmedbašić hätten die Waffen bereits erhalten<br />

gehabt.<br />

Mit Gavrilo hatte sich mein Großvater im<br />

Gymnasium angefreundet, als er einmal bestätigte,<br />

Gavrilo sei krank gewesen und hätte deshalb<br />

die Hausaufgaben nicht machen können.<br />

Darüber hatte Princip sich gefreut, weil er neu<br />

in der Klasse gewesen war und weil ein Kroate<br />

ihm zur Seite gesprungen war und nicht seine<br />

serbischen Freunde, die ihn nur auslachten,<br />

wenn er in Schwierigkeiten geriet. Mit Princip<br />

und Nedeljko Čabrinović, der die erste Bombe<br />

auf den Wagen des Thronfolgers geworfen hatte,<br />

verbrachte mein Großvater ein Jahr seiner<br />

Haft in Theresienstadt, er war angekettet, weshalb<br />

er später sein ganzes Leben lang an Rheuma<br />

litt und sich nur mit Mühe bewegen konnte.<br />

Selbst jetzt, durch den trügerischen Nebel<br />

der Erinnerung, sehe ich ihn in seinem massiven<br />

Holzstuhl sitzen, als wäre er mit imaginären<br />

Ketten aus Theresienstadt daran festgekettet,<br />

an diesen Stuhl mit den breiten Armlehnen,<br />

der bei jeder Bewegung knarrt, er liest oder legt<br />

geduldig Patiencen. Immer überkommt mich<br />

eine Welle der Traurigkeit, wenn ich daran denke,<br />

dass er sich beim Lesen anstrengen musste,<br />

weil er als Kind beim Spielen auf einen Stock<br />

gefallen war und sein linkes Auge verloren hatte.<br />

Aber auch einäugig und noch so jung war er<br />

bereit gewesen, das Attentat zu verüben und<br />

sein Leben zu opfern.<br />

Wenn ich ihn mit kindlicher Neugier löcherte,<br />

erzählte mein Großvater mir oft, die Jugend<br />

damals sei ungeduldig und voller Tatendrang<br />

gewesen. Auch er gehörte dazu und organisierte<br />

mit den anderen Demonstrationen, weshalb<br />

er aus dem Gymnasium geworfen wurde und<br />

dann das Lehrerseminar in Kastav bei Rijeka<br />

besuchte. Ich erinnere mich, dass er behauptete,<br />

die Jugend sei in der ganzen Monarchie in<br />

einer solchen Stimmung gewesen, dass es in jedem<br />

anderen Ort zu dem Attentat hätte kommen<br />

können, zum Beispiel in Split. Inspiriert von den<br />

revolutionären Ideen russischer Schriftsteller,<br />

von Mazzini und Piemont, war die Jugend aufgeheizt,<br />

in einem psychischen Ausnahmezustand.<br />

Ein persönliches Opfer Bogdan Žerajićs, das Attentat<br />

auf den damaligen Gouverneur von Bosnien<br />

und Herzegowina General Varešanin 1910,<br />

erhob das Attentat als effektivstes Mittel politischen<br />

Kampfes zum Kult.<br />

Voller Elan und Naivität wollten die jungen<br />

Leute dem leidgeplagten Volk helfen. Sie glaubten,<br />

wenn sie ihr Leben opferten, könnten sie<br />

sich von der Besatzungsmacht und der Tyrannei<br />

befreien und einen Bund der südslawischen<br />

Völker schmieden. Die Jungbosnier träumten<br />

von einem Staat der Südslawen, mit Rede- und<br />

Gedankenfreiheit und der Trennung von Religion<br />

und Staat. Princip erklärte im Gerichtsprozess,<br />

er fühle sich weder als Serbe noch als<br />

Kroate, sondern als Jugoslawe, so wie die meisten<br />

anderen, denen wegen Hochverrats in Sarajevo<br />

der Prozess gemacht wurde.<br />

„Die Jugend ist sich bewusst, dass Freiheit<br />

Opfer fordert. Nur wer bereit ist, sich zu opfern,<br />

hat Erfolg. Die Jugend träumt nicht vom Sieg,<br />

von persönlichem Glück und einem besseren Leben,<br />

nein, ungeduldig wartet sie auf den richtigen<br />

Moment und die Gelegenheit, sich zu opfern.<br />

Das Opfer ist das Ziel, denn die Schönheit von<br />

Erfolg und Sieg wird nicht derjenige genießen,<br />

der sein Leben auf dem Opfertisch des Vaterlan-<br />

Beton International März 2014 17


des gegeben hat. Wer das versteht, der versteht,<br />

wie und warum es zum Attentat von Sarajevo<br />

gekommen ist.“ Das schreibt Opa Ivan in seinem<br />

Buch. Gavrilo Princip schrieb im Militärgefängnis<br />

in Sarajevo: „Die Zeit, sie schleicht / Es gibt<br />

nichts Neues / Das Heute dem Gestern gleicht /<br />

Morgen nur Gleiches / Doch Recht hatte früher /<br />

Žerajić der graue Falke / Wer leben will, der sterbe<br />

/ Wer sterben will, der lebe.“<br />

Aus der Ferne vergangener Zeiten dringen<br />

die Verse des Gedichts „Meine Maxime“ von<br />

Luka Jukić zu mir, das Vlado Jokanović, Schauspieler<br />

des Nationaltheaters in Sarajevo, am<br />

Grab meines Großvaters rezitierte: „Es tut mir<br />

leid um meine Leute / Um meine Familie / Es<br />

tut mir leid um meine schöne / Heimat / Es tut<br />

mir leid um die Hoffnungen / Der jungen Jahre<br />

/ Es tut mir leid um meine Liebste / Die so weinte<br />

/ Es tut mir leid um mich selbst / Doch was<br />

soll’s / Für Volk und Freiheit / Geb’ ich alles!“<br />

Am 8. Juni 1912 verübte Luka Jukić ein Attentat<br />

auf den kroatischen Ban Cuvaj. Damit<br />

begeisterte er die Jugend und bestätigte sie in<br />

ihrer revolutionären Stimmung. Ivo Andrić, der<br />

1911 als Vorsitzender einer geheimen Vereinigung<br />

serbischer und kroatischer Oberschüler<br />

kurz auf der Szene der Jungbosnier auftauchte,<br />

notierte an diesem Tag: „Heute hat Jukić ein Attentat<br />

auf Cuvaj verübt. Wie schön, dass die unsichtbaren<br />

Fäden von Tat und Auflehnung sich<br />

spannen. Voller Freude sehe ich große Taten<br />

nahen. Mein Leben vergeht ohne Bescheidenheit<br />

und Güte. Aber ich mag die Guten. Leben<br />

sollen die, die auf den Bürgersteigen sterben,<br />

ohnmächtig vor Wut und Pulver, krank von der<br />

gemeinsamen Schande. Die sollen leben, die<br />

zurückgezogen und schweigsam in dunklen<br />

Zimmern den Aufstand vorbereiten und immer<br />

neue Ränke schmieden. Ich bin das nicht. Doch<br />

sie sollen leben.“<br />

In einem Brief an meinen Großvater aus<br />

dem Jahr 1965 bietet Ivo Andrić seinem Namensvetter<br />

finanzielle Unterstützung an, damit<br />

er ans Meer fahren und sich auskurieren kann:<br />

„Lieber Ivo! Ich bin so frei und schicke Dir diese<br />

Kleinigkeit. Soviel kann ich erübrigen, also<br />

erübrige ich es. Und Dich bitte ich, diese kleine<br />

Aufmerksamkeit eines alten Schulfreundes anzunehmen,<br />

wie auch ich es von Dir annehmen<br />

würde. Mit herzlichen Grüßen und allen guten<br />

Wünschen, Dein Ivo.“ Diese Geste freute Opa<br />

Ivan, doch das Geld lehnte er ab. Er konnte<br />

seinen Holzstuhl nicht mehr verlassen. Er war<br />

auch nicht mehr in der Lage, in den Schulferien<br />

mit mir zum Bahnhof zu gehen und nach Brist<br />

ans Meer zu fahren.<br />

Auch wenn Opa Ivan überzeugter Antikleriker<br />

war, war er doch als Katholik auf die Welt<br />

gekommen und konnte deshalb nicht zusammen<br />

mit den anderen Mitgliedern der Bewegung<br />

„Junges Bosnien“ in einem Grab beerdigt<br />

werden, denn die Kapelle der Helden des<br />

Sankt-Veits-Tages, die 1939 erbaut wurde, steht<br />

auf dem alten orthodoxen Friedhof im Stadtteil<br />

Koševo. Zur Zeit des Kommunismus sprach<br />

man davon, ein Grabmal für alle zusammen zu<br />

errichten, im Stadtpark gegenüber dem früheren<br />

Kaufhaus „Sarajka“ in der Nähe des Kult-<br />

cafés „Parkuša“, doch das ist nie geschehen, und<br />

heute befindet sich an dieser Stelle ein Grabmal<br />

für die Märtyrer des letzten Krieges.<br />

Eine kleine Straße im neuen Teil der Stadt<br />

war lange nach ihm benannt. Dann war das<br />

hölzerne atheistische Zeichen auf seinem Grab<br />

zerfallen, und da mir bewusst war, dass er sich<br />

nie zu seinen Freunden, den Jungbosniern, gesellen<br />

würde und dass die jugoslawische Idee<br />

unwiederbringlich verloren war, ließ ich einen<br />

Grabstein aus Marmor anfertigen, damit man<br />

weiß, wo er begraben liegt, dieser Revolutionär,<br />

Abenteurer und Träumer, dieser Mann, der bis<br />

zum Ende seines Lebens ein aufrechter Jugoslawe<br />

gewesen ist.<br />

An jedem Sankt-Veits-Tag zog Opa Ivan sich<br />

festlich an und nahm mich mit, um mit seinen<br />

alten Freunden, Jungbosniern, die überlebt<br />

hatten, Gavrilo, Nedeljko und den anderen<br />

Attentätern die Ehre zu erweisen. Danach saßen<br />

sie auf der anderen Straßenseite im tiefen<br />

Schatten einer Kneipe mit karierten Tischdecken,<br />

unterhielten sich und tranken Bier aus<br />

großen Krügen, während unter den Füßen weiße<br />

Kieselsteine knirschten. Und ich war stolz,<br />

während ich auf dem Schoß meines stattlichen<br />

Großvaters saß, der soviel Autorität in der Stimme<br />

hatte und sich so aufrecht hielt.<br />

Cvjetko Popović, sein bester Freund, ein<br />

immer lächelnder, freundlicher und warmherziger<br />

Mann voller positiver Energie, dessen<br />

runde Brillengläser ich als Junge bewunderte,<br />

kam häufig zu Besuch. Dann saßen sie lange<br />

zusammen, aßen eine Kleinigkeit und nippten<br />

dazu an ihren Schnäpsen. Sie erinnerten sich<br />

an Details aus ihrer Jugend und verfolgten aufmerksam<br />

alles, was über das Attentat von Sarajevo<br />

geschrieben wurde, um alle Ungenauigkeiten<br />

und falschen Zeugnisse richtig zu stellen.<br />

Beide behaupteten, über das Attentat von Sarajevo<br />

sei ein Berg Bücher und ein Meer an Ungenauigkeiten<br />

und falschen Interpretationen<br />

geschrieben worden. Ich sehe sie vor mir, diese<br />

beiden Revolutionäre, wie sie mit jugendlichem<br />

Eifer um jedes Körnchen Wahrheit kämpfen,<br />

während Ivans zweite Frau Oma Fanika, Tochter<br />

des österreichisch-ungarischen Ingenieurs<br />

Nacovski, der vor dem Ersten Weltkrieg die<br />

Eisenbahn in Bosnien und Herzegowina gebaut<br />

hatte, wie in einem Vaudeville ins Zimmer<br />

kommt und Postkarten bringt, die jedes Jahr<br />

am Sankt-Veits-Tag aus Österreich eintrafen,<br />

Postkarten mit Bildern von österreichischen<br />

Soldatenfriedhöfen, auf deren Rückseite neben<br />

dem Namen „Ivan Kranjčević“ und der Adresse<br />

in Großbuchstaben das deutsche Wort „Mörder“<br />

geschrieben stand.<br />

Als ich zu Anfang des neuen Jahrtausends in<br />

der Kölner Uniklinik lag und auf meine tägliche<br />

Dosis Cisplatin und Übelkeit wartete, versank<br />

ich in Gedanken über mein Schicksal als Heimatloser.<br />

Den Fernseher anzumachen, hatte<br />

ich keine Lust. Am Abend wollte ich vielleicht<br />

ein Spiel meiner Lieblingsmannschaft Borussia<br />

Dortmund anschauen, damit mein Zimmernachbar<br />

Herr Krause nicht wieder sagte, ich<br />

hätte ganz umsonst sechs Mark ausgegeben.<br />

Das Telefon klingelte. Dragana war dran, ich<br />

solle sofort den Fernseher anmachen. Den ganzen<br />

Tag sahen Herr Krause und ich die Bilder<br />

des ungeheuerlichen terroristischen Verbrechens,<br />

schauten ungläubig zu, wie sich in New<br />

York die Flugzeuge in die Wolkenkratzer bohrten.<br />

Bevor er am nächsten Tag entlassen wurde,<br />

gab mir Herr Krause als ordentlicher Deutscher<br />

drei Mark, und ich fragte mich, ob die Kriege jemals<br />

aufhören würden, der Terrorismus und das<br />

Morden. Ich fragte mich, wie auch Dostojewski<br />

sich gefragt hatte: Was ist das Verbrechen und<br />

was ist die Strafe Ich fragte mich, ob Opa Ivan<br />

ein Terrorist gewesen war oder ein Held.<br />

Ein Jahrhundert ist das Attentat bald her,<br />

ein Ereignis, das Sarajevo für immer einen Platz<br />

auf der Weltkarte der Geschichte beschert hat<br />

und in dem viele die Ursache der ersten europäischen<br />

Tragödie des vergangenen Jahrhunderts<br />

sehen, eines Jahrhunderts der Attentate,<br />

Kriege, der Lager und des Holocaust. Die einen<br />

werden behaupten, dass die Attentäter von Sarajevo,<br />

damals junge Männer, die gerade mal<br />

etwas Flaum auf der Oberlippe hatten, Helden<br />

waren, die anderen werden sie als serbische<br />

Söldner bezeichnen. Und wenn ich das Grab<br />

meines Großvaters besuche, werde ich mir der<br />

schmerzlichen Tatsache bewusst sein, dass die<br />

jugoslawische Idee, für die er und seine Freunde,<br />

die Jungbosnier, sich geopfert hatten, damit<br />

es folgende Generationen besser haben würden,<br />

am Ende des letzten Jahrhunderts begraben<br />

wurde. Im unglücklichen Land Bosnien und<br />

Herzegowina, in dem ich niemanden mehr habe<br />

außer ein paar alten Freunden und Bekannten,<br />

dem endgültig geteilten Land zwischen Westen<br />

und Osten, kann man manchmal, wenn man in<br />

den Straßen Sarajevos oder Mostars genau hinschaut,<br />

den Schatten der Berliner Mauer sehen.<br />

Aus dem Bosnischen von<br />

Blanka Stipetić<br />

Davor Korić<br />

Geboren 1951 in Sarajevo. Schauspieler, Theaterkritiker,<br />

Dramaturg und Journalist. Hauptrolle<br />

im Film Die Rolle meiner Familie in der<br />

Weltrevolution nach dem Roman von Bora Ćosić<br />

(1970). Seine Briefe aus dem belagerten Sarajevo<br />

sind 1993 unter dem Titel „...und Sarajevo<br />

muß für alles zahlen“ im Fibre Verlag erschienen.<br />

Seit 1995 als Moderator und Redakteur<br />

beim WDR Köln in der Redaktion Radio Forum<br />

des Programms Funkhaus Europa beschäftigt.<br />

Birgit Pölzl<br />

Sorry, Sophie<br />

Der gestreckte Arm Gavrilo Princips ist mit<br />

der Pistole in der Hand auf den Thronfolger<br />

Franz Ferdinand gerichtet, der im Auto neben<br />

seiner tödlich getroffenen Frau Sophie steht, beide<br />

zur Seite und nach hinten gedrückt, Sophie von<br />

der Wucht des Schusses und Franz Ferdinand,<br />

scheint es, in Erwartung des Projektils. Graf<br />

Harrach auf dem vorderen Sitz hebt abwehrend<br />

die Hand Richtung Gavrilo Princip und verdeckt<br />

zur Hälfte das Reserverad, das seitlich an<br />

der Karosserie befestigt ist.<br />

Dieses anonyme Bild des Attentats, das es<br />

mit Tatsachentreue nicht besonders genau<br />

nimmt, hat sich mir eingeprägt (der Augenzeugenbericht<br />

Graf Harrachs als Folie darüber<br />

gelegt: „Da nun rechts nacheinander 2 Schüsse,<br />

aus Seinem Munde ein Blutstrahl auf meine<br />

Backe, Sie ruft: ,Um Gottes Willen, was ist Dir<br />

geschehen‘ u sinkt vom Sitze herab mit dem<br />

Kopfe zwischen seine Oberschenkel und es war<br />

vorbei“, Wladimir von Aichelburg: Erzherzog<br />

Franz Ferdinand von Österreich-Este 1863-1914.<br />

Band 1-3, zitiert nach „profil online“, 14.9.2013).<br />

Das Bild, das sich mir eingeprägt hat, habe ich<br />

als Kind auf einer Karte gesehen, die zwischen<br />

alten Fotos lag. Es war bräunlich gefärbt und<br />

umrankt von Erzählungen und wurde von mir<br />

im Geschmack des Staunens gespeichert: Wie<br />

konnte das Attentat auf den Thronfolger und<br />

seine Frau – es waren bitte zwei Menschen, und<br />

es war tragisch, aber es waren zwei Menschen –,<br />

wie also konnte ein Attentat auf zwei Menschen<br />

Europa in ein derartiges Schlachtfeld verwandeln<br />

Als man mir, älter geworden, die Mechanik,<br />

mit der die Bündnisse schlagend wurden,<br />

und die Kriegsbegeisterung der Intellektuellen<br />

und Künstler vermittelte, sind Kopfschütteln<br />

und Widerstand hinzugekommen: Als sei die<br />

Reaktion auf das Attentat durch ein apokalyptisches<br />

Rauschen im katholischen Himmel<br />

ausgelöst worden, das die feudale Ordnung<br />

hienieden auf ewig zu verankern und Verstöße<br />

dagegen entsprechend zu ahnden befohlen<br />

habe, als sei die Reaktion auf das Attentat die<br />

blutbesiegelte Mega-Affirmation eines himmelschreienden<br />

expressionistischen Pathos und<br />

der blutige Startschuss für die Umsetzung futuristischen<br />

Größenwahns. Zum Kotzen finde<br />

ich auch heute noch Marinettis „Futuristisches<br />

Manifest“, das die feudale Rückständigkeit<br />

hinwegzufegen sich großspurig auf die Fahnen<br />

geheftet hatte und nichts anderes als die Übererfüllung<br />

eines pathologischen Machismo war:<br />

„Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer<br />

hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die<br />

selbst auf ihrer Bahn dahinjagt. […] Wir wollen<br />

den Krieg verherrlichen — diese einzige Hygiene<br />

der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus,<br />

die Vernichtungstat der Anarchisten, die<br />

schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung<br />

des Weibes“. Und klar war die Reaktion<br />

auf das Attentat eine ultimative Möglichkeit,<br />

die Entwicklungen in der Waffentechnik territorial<br />

Raum greifen zu lassen, Militärs gab es ja<br />

viele, die nicht müde wurden, den Herrschern<br />

(vor allem Wilhelm II.) die Vorteile eines Kriegs<br />

einzureden.<br />

Die Kärntner Großmutter sitzt auf der Bank<br />

und erzählt. Die Kärntner Großmutter trägt ein<br />

Schürzenkleid und hochgesteckte Haare. Die mir<br />

liebsten (wichtigsten) Erzählungen der Kärntner<br />

Großmutter, jene, die mein Selbstverständnis<br />

(mit-)begründeten, hingen mit dem 1. Weltkrieg<br />

zusammen.<br />

Ihre Mutter, erzählte die Großmutter, habe<br />

Deserteuren gekochte Erdäpfel in den Wald<br />

gebracht, alle paar Nächte einen Topf voll.<br />

Ihre Mutter habe dabei jedes Mal ihr Leben<br />

riskiert. Ihre Mutter sei mutig gewesen, „Gott,<br />

war meine Mutter mutig“; der Topf, in dem<br />

sie die Erdäpfel trug, war heiß und sollte nicht<br />

an ihre Schenkel schlagen, deshalb ging ihre<br />

Mutter gebeugt, auch weil man sie nicht sehen<br />

sollte; in der Sauküche kochte sie die Erdäpfel,<br />

kleine Erdäpfel, sie hatten Augen und Triebe,<br />

der Frühling stand vor der Tür. Sie kannte die<br />

Männer nicht, denen sie die Erdäpfel brachte,<br />

sie wusste nur, dass sie am Verhungern waren<br />

und dass sie sich strafbar machte. Der Stall hatte<br />

hinten eine Tür. Die stieß sie mit der Schulter<br />

auf, weil sie zum Tragen beide Hände brauchte,<br />

ein großer Holunderstrauch stand neben der<br />

Tür, dann ein Ringlottenbaum, dann der Zaun.<br />

Sie schob den Topf unter dem Zaun durch, dann<br />

kroch sie selber. „Sie hatte Angst. Wir Kinder<br />

durften nichts weitererzählen. Sie hob den Topf<br />

und trug ihn über die Weide. Es waren fünfzig<br />

Schritte zum Wald oder achtundvierzig oder<br />

dreiundfünfzig, je nachdem. Meine Mutter hat<br />

immer gezählt gegen die Angst.“<br />

Ich war sehr stolz auf meine Urgroßmutter,<br />

die Großmutter musste mir die Geschichten sehr<br />

oft erzählen.<br />

Ihre Mutter hat täglich auf die Post gewartet,<br />

obwohl sie sich davor gefürchtet hat. Drei<br />

Söhne waren gefallen, vom vierten hatte sie<br />

schon lange nichts gehört. Die Mutter war vor<br />

Gram weiß geworden. Dann kam ihr Sohn vor<br />

dem Brief, in dem er sich angekündigt hatte,<br />

und alle haben ihn berührt und gedrückt und<br />

geküsst und alle haben geweint und der Bruder<br />

hat erzählt, er wäre im Lager verhungert, wenn<br />

nicht Menschen Erdäpfel über die Mauer geworfen<br />

hätten.<br />

Ich sehe Sophie Gräfin Chotek vor meinem<br />

geistigen Auge, die mit Franz Ferdinand in morganatischer<br />

Ehe lebte, nicht „die künftige Kaiserin-Gemahlin“,<br />

sondern „die Gemahlin des künftigen<br />

Kaisers“ war; „Sopherl! Sopherl! Stirb nicht!<br />

Bleib am Leben für unsere Kinder!“, soll Franz<br />

Ferdinand, über sie gebeugt, gerufen haben, unmittelbar<br />

bevor er starb.<br />

Was bedeutet für mich das Attentat Krieg<br />

und Krieg. 1. Weltkrieg. 2. Weltkrieg. Unermessliches<br />

Leid. Anstoß für meine pazifistische<br />

Gesinnung samt der Skepsis der These<br />

gegenüber, erst durch den 1. Weltkrieg hätten<br />

die Errungenschaften der Moderne sich durchsetzen<br />

können, als seien Transformation und<br />

Evolution keine Möglichkeiten, als sei allein der<br />

Krieg der Vater aller Dinge. Ja, Himmel, warum<br />

denken wir solche Sachen. Warum denken wir<br />

nicht, dass der Krieg der Vater nur eines Dinges<br />

ist, des Krieges nämlich. Warum sehen wir<br />

nicht, dass solchem Denken eine radikale Dichotomisierung<br />

unterliegt, ein Denken, das das<br />

Ich uneinholbar vom Du trennt und das Subjekt<br />

radikal vom Objekt. Warum sehen wir nicht,<br />

dass die Schärfe der Trennung nicht naturgegeben<br />

ist, obwohl sie natürlich erscheint, sondern<br />

Ergebnis eindimensionalen Denkens, warum<br />

sehen wir nicht, dass die radikale Dichotomisierung<br />

fast logisch auf Unterwerfen ausgerichtet<br />

ist, auf Untertan-Machen, auf Instrumentali-<br />

Beton International März 2014 18


sieren und Funktionalisieren, auf Ausbeuten<br />

und Profit-Maximieren. Ich und Grenze und<br />

das und der und die Andere. Die Dichotomisierung<br />

führt nicht nur zu haarsträubenden Interpretationen,<br />

sie perpetuiert den Krieg, der sich<br />

nun vehement gegen die Umwelt richtet und<br />

in neoliberaler Form auf die sozialen Gefüge<br />

weltweit zielt. Ja, grotesk mutet es an, dass angesichts<br />

der verheerenden Kriege, angesichts<br />

der Bedrohtheit der Erde und des vom Neoliberalismus<br />

forcierten Auseinandertreibens von<br />

Arm und Reich (auch eine Form von strukturellem<br />

Krieg) noch immer unsägliche Thesen<br />

breitgetreten werden, Thesen, die auf einem<br />

biologistischen Achselzucken beruhen, nun ja,<br />

die Welt gehört nun mal den besseren im Sinne<br />

von aggressiveren Schimpansen-Männchen,<br />

oder Thesen, die auf einem expansionistischen<br />

und kolonialistischen Blick basieren und die<br />

produktiven Seiten des Krieges als einzig verlässlichen<br />

Garanten für Fortschritt zu beweisen<br />

versuchen, sorry, Krieg ist nun mal notwendig<br />

als Motor des Fortschritts, sonst säßen wir noch<br />

immer in Laubhütten und brüteten dumpf vor<br />

uns hin.<br />

Zugegeben. Lieber wär’s mir, Franz Ferdinand<br />

hätte „Sopherl! Sopherl! Stirb nicht! Bleib am<br />

Leben“ geschrien und seine Frau nicht sterbend<br />

noch ausschließlich über ihre Rolle als Mutter<br />

definiert.<br />

Im gleichen Atemzug räume ich ein, dass<br />

ich dem Fürsorglichen, Pflegenden, Empathischen<br />

hohen Wert beimesse, Werthaltungen<br />

und Denkstrukturen, die im Oikos, der Hausgemeinschaft<br />

(aus-)geübt wurden. Von Frauen<br />

– und leider nur von Frauen – dort (aus-)geübt<br />

wurden, während die Männer Politik betrieben,<br />

philosophierten, sich Scharmützel lieferten und<br />

Kriege führten, Öffentlichkeit also gestalteten,<br />

ohne sich im Fürsorglichen, Pflegenden zu üben:<br />

Vielleicht gab und gibt man deshalb so viel auf<br />

Heraklits These vom Krieg als dem Vater aller<br />

Dinge, nicht nur rückblickend in den Interpretationen,<br />

sondern auch in der Aufbruchsstimmung<br />

zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts.<br />

Ja, so sehr ich die Reduktion der Frauen auf die<br />

Tätigkeit des Oikos ablehne, so sehr schätze ich<br />

die Tätigkeiten dieses Bereichs, in dem die Sorge<br />

füreinander denk- und handlungsleitend ist, ja,<br />

so bedeutend sind diese Tätigkeiten für die Entwicklung<br />

von Werthaltungen und Denkstrukturen,<br />

dass ich vorschlage, den Oikos wieder und<br />

wieder auf die Agora zu tragen, nicht als Akt<br />

simpler Macht(ab)gleichung zwischen Männern<br />

und Frauen, sondern als Entwicklungsschub für<br />

global überlebensnotwendige, auf Empathie basierende<br />

Denkstrukturen.<br />

„Weil das Weidenröschen viele Samen hat,<br />

die leicht in Trümmern keimen, heißt es im Volksmund<br />

Trümmerblume.“ „Volksmund“ betont die<br />

Tante besonders, als gebe es pro Volk nur einen<br />

Mund, als könne das, was aus diesem Mund<br />

kommt, Wahrheit für sich beanspruchen; die<br />

Tante sitzt am Tisch und ich neben ihr, das Wort<br />

Volksmund geht ihr leicht über die Lippen. Die<br />

Tante trägt Stützstrümpfe, ein Kleid mit schmaler<br />

Knopfleiste und eine hell gefasste Schmetterlingsbrille.<br />

Der Tisch hat ein Trittholz und gedrechselte<br />

Beine.<br />

Ich verbinde Volksmund mit Nationalismus,<br />

auch wenn es sein kann, dass meine Tante bloß<br />

die im Volk lebendige Überlieferung gemeint<br />

hat, und ich verbinde Nationalismus mit dem<br />

pervertierten Ideal ethnischer Reinheit und der<br />

Bereitschaft, für dieses Ideal zu terrorisieren,<br />

auszugrenzen, Kriege zu führen. Der 1. und der<br />

2. Weltkrieg wurden durch nationalistisch und<br />

faschistisch motivierte Radikalisierung (mit-)<br />

ausgelöst, auch die Jugoslawienkriege.<br />

Im Dorf, in dem die Kärntner Großmutter<br />

lebte, hielt man mit Ressentiments gegenüber<br />

Slowenen, Serben und Russen nicht hinter dem<br />

Berg. Die Serben haben den Thronfolger und seine<br />

Gattin ermordet, die sind schuld am Krieg. Die<br />

Russen sind Vergewaltiger, die Slowenen Verräter.<br />

Auch war die Einzahl beliebt, „der Serbe hat<br />

den Thronfolger ermordet“.<br />

Das für mich überzeugendste Projekt eines<br />

Nationalismus und Faschismus überwindenden<br />

Europas ist die Europäische Union, zuallererst<br />

als Friedensprojekt konzipiert. Das Attentat auf<br />

Sophie und Franz Ferdinand, das als Funke das<br />

so leicht entzündliche Amalgam aus nationalistisch<br />

motivierten Spannungen und Kriegsbefürwortung<br />

und Kriegsbegeisterung zum Brennen<br />

gebracht hat, und die Gründung des Friedensprojektes<br />

EU stehen in einem ursächlichen<br />

Zusammenhang. Diese Union ist weiterzudenken<br />

und weiterzuentwickeln, weil sie das Potential<br />

hat, kulturelle, soziale und wirtschaftliche<br />

Belange so auszutarieren, dass ein friedliches<br />

Miteinander möglich ist. Und klar werden die<br />

Grenzen der Union nicht die Grenzen der Union<br />

bleiben, weil darüber hinaus gedacht werden<br />

muss. Diese Union kann keine Festung sein,<br />

weder im politischen noch im mentalen Sinn,<br />

keine Festung, die Mauern aufzieht und Denken<br />

zementiert, diese Union wird viel Kreativität<br />

und Kraft aufwenden, mental und kulturell<br />

bedingte Grenzen durchlässig zu machen. Wir<br />

werden mit Blick auf die bedrohte Umwelt und<br />

mit Blick auf das Auseinanderbrechen sozialer<br />

Gefüge – oder sagen wir: Wir werden mit der Vision<br />

einer lebenswerten Umwelt und mit Blick<br />

auf soziale Ausgewogenheit, die der alleinige<br />

Garant für eine nachhaltige und friedliche Entwicklung<br />

ist, in diesem vereinten Europa eine<br />

zweite Aufklärung erleben, eine Aufklärung,<br />

die Denken nicht bloß als rationale Operation,<br />

sondern als gleichermaßen empathischen und<br />

vernunftgeleiteten Akt begreift. Wir werden<br />

uns – nicht nur kosmetisch – der wahrscheinlich<br />

größten Herausforderung stellen: der Zähmung<br />

des Finanzkapitals, und eine Wirtschaft<br />

fördern, die stärker auf Nachhaltigkeit als auf<br />

Profitmaximierung ausgerichtet ist. Wir werden<br />

intensiver (und anders) über Glück nachzudenken<br />

beginnen, wie nahe zum Beispiel Glück an<br />

Selbstbestimmtheit, Nichtentfremdung liegt,<br />

wie glücklich einen das Wohlergehen der anderen<br />

macht, wie Gastfreundschaft, Gemeinschaft<br />

glücklich machen, wie Buntheit, Multikulturalität<br />

beglücken, wie Bildung, die auch Herzensbildung<br />

ist, beglückt, wie Hegen glücklich macht:<br />

die Gärten, die man in den Städten pflanzt, das<br />

Denken, das empathisch ist.<br />

Serbien muss sterbien. Als Beispielsatz für<br />

Hetze und Kriegspropaganda, als unsäglicher<br />

Stammtisch-Klassiker und widerlicher Klospruch<br />

ist mir der Satz immer wieder begegnet.<br />

Jede Form von Revanchismus sei angesichts<br />

von Serbiens Schuld legitim, das Legitime,<br />

legt der Satz nahe, reiche übers Legale hinaus,<br />

die niedrigsten Instinkte könnten da mal<br />

zur Sache gehen, der Rahmen sei abgesteckt,<br />

der Möglichkeiten gebe es viele. In den 1990er<br />

Jahren findet sich homöopathisch dosiert und<br />

in impliziter Form die eindimensionale Schuldzuschreibung,<br />

Serbien sei direkt und indirekt<br />

schuld am 1. und 2. Weltkrieg sowie an den Jugoslawienkriegen,<br />

in vielen journalistischen<br />

Texten. Systemisch hat es da fast Logik, dass einer,<br />

der hohes Ansehen gerade seines genauen<br />

Blickes wegen genoss, in der Verteidigung Serbiens<br />

weit übers Ziel hinausschoss. Peter Handkes<br />

Engagement für Serbien (insbesondere für<br />

Milošević) verstörte, verärgerte, sprach jenen,<br />

die litten, Hohn, ja, das war das Schreckliche:<br />

sprach, jenen, die litten, Hohn, und hatte doch<br />

im Ansinnen recht, eine Differenziertheit in der<br />

Berichterstattung, eine größere Sorgfalt in der<br />

Wortwahl einzumahnen (die eine Reflexion der<br />

latenten Schuldzuschreibungen zur Voraussetzung<br />

gehabt hätte). Die neu aufgeflammte<br />

Debatte um die Rolle Serbiens in den Kriegen,<br />

die aktuell in Serbien geführt wird, zeigt, wie virulent<br />

dieses Thema nach wie vor ist. Befreiend<br />

muten dabei die Wortmeldungen und Arbeiten<br />

vieler junger serbischer Intellektueller, Schriftstellerinnen<br />

und Künstlerinnen an, die sich<br />

entschieden gegen eine nationalistische Heroisierung<br />

der Geschichte und der Gegenwart und<br />

gegen eine Turbofolk-Ästhetik richten, die alte<br />

Klischees fortschreibt und instrumentalisiert.<br />

Andrej Nikolaidis<br />

Die Attentate von<br />

Sarajevo<br />

In schwarzen Wassern spiegeln<br />

sich Aussätzige<br />

Georg Trakl<br />

Wir saßen auf einer Café-Terrasse am Ufer<br />

der Miljacka. Den Fluss sahen wir nicht, aber<br />

wir hörten ihn. Das half uns, uns die Szene vorzustellen,<br />

eines jener alltäglichen Bilder, die erst<br />

an Kostbarkeit gewinnen, wenn wir von dieser<br />

Stadt weit entfernt sind, wenn Nostalgie sie vergoldet:<br />

Die dunkle Miljacka wälzt sich durch ihr<br />

Betonflussbett. Sie sieht eigentlich nicht aus wie<br />

ein Fluss, sie erinnert mehr an einen Erdrutsch.<br />

Als flösse nur der Boden durch das Flussbett, auf<br />

dem diese Stadt errichtet worden ist.<br />

Im Frühling war die Miljacka voller Bälle.<br />

An seinen kleinen Stufen hielt der Fluss die<br />

Bälle fest, die beim – so unvorsichtigen! – Spiel<br />

der Kinder ins Wasser gefallen waren. Das letzte<br />

Mal hatte ich dies im Jahr 1999 beobachtet,<br />

nach meiner Flucht vor Miloševićs verrückt<br />

gewordener Armee aus Ulcinj nach Sarajevo,<br />

derselben Armee, derentwegen ich sieben Jahre<br />

zuvor aus Sarajevo geflüchtet war. Auf dem<br />

Vilson-Spazierweg hatte ich eine Gruppe von<br />

Kindern traurig am Ufer stehen und einen Ball<br />

betrachten sehen, den der Fluss nahezu hysterisch<br />

auf der Stelle drehte.<br />

Ja. „Was passiert am Ende eigentlich mit<br />

den Bällen, die in die Miljacka fallen“, dachte<br />

ich, während eine Kolonne gepanzerter Wagen<br />

an uns vorüberfuhr. Zuerst hatten wir ihr Blaulicht<br />

gesehen, als sie auf der Höhe des Theaters<br />

angekommen waren. Als die Limousinen die<br />

Drvenija-Brücke passierten, konnten wir nur<br />

noch ihre Rückseiten sehen, sie trugen die Diplomatenkennzeichen<br />

fort, bevor es uns gelang,<br />

sie zu lesen.<br />

Endlich kam ein Kellner zu uns. „Heiß heute,<br />

was“, sagte er. Ohne eine Antwort abzuwarten,<br />

fuhr er fort: „Der heißeste Juni seit hundert<br />

Jahren. War in den Nachrichten.“ Ich ging mit<br />

keiner passenden Phrase darauf ein – schließlich<br />

waren wir in Bosnien, nicht in England,<br />

über das Wetter unterhielt man sich hier nicht.<br />

Ich hatte keine Zeit, Höflichkeiten auszutauschen,<br />

nicht einmal mit denen, in deren Gesellschaft<br />

ich war – dafür war ich zu sehr in den<br />

Brief vertieft, den ich las. Es war der Brief eines<br />

alten Freundes. Das letzte Mal hatte ich ihn im<br />

April 1992 gesehen. Wir spielten Basketball im<br />

Stadtteil Dobrinja – Kinder, alt genug für die<br />

Armee. Aus dem Stadtteil Kula waren Schüsse<br />

zu hören. Wir drehten uns nach dem schweren<br />

Geräusch des Maschinengewehrs um und sahen<br />

mehrere schwarze Gestalten auf uns zu rennen.<br />

Er sagte: „Hör dir das Maschinengewehr an –<br />

wie ‚Metallica‘“. Ja, der Krieg klang tatsächlich<br />

wie die Bands in „Headbangers Ball“ auf MTV.<br />

Dann schoss pfeifend eine Kugel an meinem<br />

– oder seinem – Kopf vorbei. Beim Lesen des<br />

Briefes erinnerte ich mich, wie der Ball die Straße<br />

hinunter gerollt, mein Freund in den nächsten<br />

Hausflur geflüchtet und ich die Treppe zu<br />

einem Atomschutzkeller hinunter gerannt war,<br />

einem jener Keller, wie sie Vorschrift waren in<br />

den Neubaugebieten des Staates, der sich für<br />

einen Atomkrieg gewappnet hatte und in einem<br />

guten alten blutigen Bürgerkrieg zugrunde gegangen<br />

ist.<br />

Der Brief verriet mir nur wenig über das<br />

Leben meines Freundes. Ich las heraus, dass er<br />

in Amerika lebt. Dass er verheiratet ist. Kinder<br />

scheint er nicht zu haben. Auch keine geregelte<br />

Arbeit. Den Brief habe er an alle Leute aus<br />

Bosnien verschickt, die er kenne, schrieb er.<br />

Ich sah ihn Morgen für Morgen einen Wagen<br />

voller Briefe durch die Straßen einer ruhigen<br />

WASP-Vorstadt zum Briefkasten schieben. Er<br />

fürchte, wir würden ihn nicht ernst nehmen.<br />

Er selbst halte es für ganz natürlich, wenn man<br />

auf prophetische Töne mit Skepsis reagiere.<br />

Doch die historischen Parallelen seien einfach<br />

zu genau, die Analogien zu perfekt, schrieb er.<br />

Er spüre, dass es seine Pflicht sei, uns zu warnen.<br />

Mehr könne er nicht tun. Er wache jeden<br />

Morgen schweißgebadet auf und schalte voller<br />

Angst den Fernseher ein. Er warte: Er lebe nicht<br />

mehr, er warte nur noch. Er wisse, was kommen<br />

würde, und in welcher Form.<br />

„1903 wurde in Belgrad der serbische König<br />

Aleksandar Obrenović ermordet. Hinter dem<br />

Mord stand eine mächtige Militärorganisation.<br />

Bei einem Blick auf die Liste der angeblichen<br />

Fehltritte Aleksandars, mit denen die Attentäter<br />

seine Liquidierung rechtfertigten, sticht<br />

seine verräterische, unzureichend antigermanische<br />

Politik ins Auge“, schrieb er. „2003 wurde<br />

in Belgrad der pro-westliche serbische Premier<br />

Zoran Đinđić ermordet. Hinter dem Mord<br />

standen Strukturen des militärischen Sicherheitsdienstes,<br />

die nach dem Anschlag Vojislav<br />

Koštunica an der Macht installierten. In den<br />

Jahren nach seiner Ermordung wurde Đinđić<br />

als deutsche Marionette bezeichnet, als die er<br />

die Kugel verdient habe.<br />

Dass es die sehr wohl gibt, zeigen Positionen,<br />

wie sie der Historiker Milorad Ekmečić vertritt<br />

(„Der Kampf Serbiens für die Freiheit 1914-<br />

1918 ist das gigantische Ringen eines kleinen<br />

Landes mit einem übermächtigen Feind und<br />

ein Beispiel für das selbstlose Aufopfern für die<br />

Freiheit und die Freiheit seiner Brüder, die sich<br />

später undankbar gezeigt haben“, „europe online<br />

magazine“, 14. 11. 2013).<br />

Wenn ich zum Jubiläumsjahr einen kleinen<br />

Wunsch frei hätte, vielleicht wäre das sogar ein<br />

größerer, dann wünschte ich mir Peter Handke,<br />

Alida Bremer und Sreten Ugričić zu einem Gespräch<br />

an einen Tisch.<br />

Fast gleichzeitig distanziere ich mich von<br />

meinem Ansinnen, weil mir bei genauerer Überlegung<br />

– vor allem mit Blick auf die Geschichte<br />

des europäischen Mittelalters – die Ausweitung<br />

ins Magische doch kontraproduktiv erscheint<br />

und ich zudem so gar nicht versiert in der<br />

Kommunikation mit dieser Art von Wunscherfüllungs-Instanzen<br />

bin, und wende mich meinem<br />

Herzensprojekt zu: der Kultivierung des<br />

Denkens und Wahrnehmens. Das wäre doch ein<br />

richtig großes Ding fürs 21. Jahrhundert.<br />

Birgit Pölzl<br />

Geboren 1959 in Graz. Leiterin des Ressorts Literatur<br />

im Kulturzentrum bei den Minoriten.<br />

Für ihre Erzählungen, Essays und Romane wurde<br />

sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem<br />

Preis der Steiermärkischen Sparkasse für den<br />

Roman Das Weite suchen (2013).<br />

1908: Österreich-Ungarn annektiert Bosnien<br />

und Herzegowina. Belgrad empfindet diesen<br />

Akt als beispiellose Ungerechtigkeit und Beleidigung.<br />

2008: Der Kosovo erklärt seine Unabhängigkeit.<br />

Belgrad ist wütend. 2008: Refrainartig<br />

wiederholen serbische Politiker, die Unabhängigkeit<br />

des Kosovo sei eine Völkerrechtsverletzung.<br />

1908, während der Annexionskrise,<br />

veröffentlicht Jovan Cvijić eine Erörterung, die<br />

sofort ins Englische, Französische und Tschechische<br />

übersetzt wird. Cvijić schreibt: ‚Kein<br />

Ereignis in den vergangenen Jahrzehnten hat<br />

unter den Balkanvölkern und -staaten eine solche<br />

Aufregung hervorgerufen – an erster Stelle<br />

und besonders im serbischen Volk – wie die Annexion<br />

von Bosnien und Herzegowina ... Dieser<br />

Akt zerstört den Glauben an den Wert internationaler<br />

Verträge. Es bahnen sich große Ereignisse<br />

an‘, fügt er hinzu, ‚die sich vielleicht nur<br />

noch für gewisse Zeit aufschieben lassen.‘ Sie<br />

wurden aufgeschoben: Bis zum 28. Juni 1914,<br />

als Franz Ferdinand in Sarajevo ankam. Dort<br />

wartete das ‚Junge Bosnien‘ auf ihn“, schrieb<br />

mein Freund.<br />

Im Februar 2008, in den Tagen vor und nach<br />

der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, seien<br />

Sprengsätze in einem Objekt der slowenischen<br />

Handelskette Mercator und in Kosovska<br />

Mitrovica, dem Sitz der EU-Mission, detoniert.<br />

Zu den Anschlägen habe sich eine Gruppe bekannt,<br />

die sich „Junges Bosnien“ nenne. Einige<br />

Monate zuvor sei in der Belgrader Wochenzeitschrift<br />

„Vreme“ ein Essay erschienen, in dem<br />

der Autor den Geist Gavrilo Princips wachrufe.<br />

„Ach, wenn ich nur über einen kleinen Teil dieser<br />

Welt, über das kleinste Stückchen Realität,<br />

so mutig und deutlich sagen könnte, was Gavrilo<br />

Princip mit einer Kugel über die europäische<br />

Zivilisation gesagt hat!“, stehe darin, schrieb<br />

mein Freund.<br />

Im März 2008 habe der Kopf der bosnischen<br />

Serben, Milorad Dodik, verkündet, die<br />

Republika Srpska strebe die Unabhängigkeit<br />

an. Er habe dafür die Unterstützung Russlands<br />

gehabt, nicht jedoch die der westlichen Mächte.<br />

Bosnien sei ungeteilt geblieben, doch die Belgrader<br />

nationalistische Elite sehe die Republika<br />

Srpska als ihr von der EU und Amerika annektiertes<br />

Territorium an. Sie glaube, das große<br />

Ereignis, die Abspaltung der Republika Srpska,<br />

lasse sich nur noch für eine gewisse Zeit aufschieben.<br />

„Das will mir nicht aus dem Kopf“, schrieb<br />

er weiter. In einem kleinen Antiquariat in<br />

Charleston habe er das Tagebuch von Johann<br />

V. Schneider gefunden. Der Name sei ihm sofort<br />

bekannt vorgekommen, weshalb die Aufzeichnungen<br />

sein Interesse geweckt hätten. J.<br />

V. Schneider sei derjenige gewesen, der Nedeljko<br />

Čabrinović verhaftet habe, nachdem dieser<br />

einen Anschlag auf den Wagen des Erzherzogs<br />

verübt, Zyankali geschluckt und sich in die Miljacka<br />

gestürzt hatte. Schneider sei einer der vier<br />

Männer gewesen, die Čabrinović hinterher gejagt<br />

seien. Bevor sie ihn gefangen hätten, habe<br />

Čabrinović ein Bündel in die Miljacka geworfen,<br />

habe Schneider geschrieben, schrieb mein<br />

Freund.<br />

Beton International März 2014 19


„Ich vermutete, dass das Bündel Geheimnisse<br />

über den Attentäter und seine Komplizen<br />

enthielt, vielleicht sogar eine Auflistung politischer<br />

Verbindungen, aber ich konnte nicht zurückgehen,<br />

um es zu holen, da sich Čabrinović<br />

heftig wehrte und wir ihn nur mit großer Mühe<br />

in den Wagen zwängen konnten, mit dem wir<br />

ihn aufs Polizeirevier brachten. Vom Ufer aus<br />

beobachtete ich, wie der Fluss das Bündel zur<br />

nächsten kleinen Stufe trug und es dort nahezu<br />

hysterisch auf der Stelle drehte“, habe Schneider<br />

geschrieben.<br />

„Es will mir nicht aus dem Kopf“, schrieb<br />

mein Freund, „ich kann nicht aufhören darüber<br />

nachzudenken, was in Čabrinovićs Bündel verborgen<br />

geblieben ist Warum ist es nicht untergegangen<br />

Hat es jemand, als die Kolonne<br />

mit dem Erzherzog weitergefahren war und die<br />

Menge sich zerstreut hatte, aus der Miljacka gezogen<br />

Und wenn ja, was hat er damit gemacht<br />

Und dann noch dieser Name: Gavrilo“,<br />

schrieb mein alter und verloren geglaubter<br />

Freund, „der Name des Engels, der in eine<br />

Trompete bläst und das Jüngste Gericht ankündigt.<br />

Gavrilo steht am Ufer der Miljacka und<br />

trompetet die biblischen Plagen herbei, von<br />

der Marne bis Gallipoli, er bläst in die Trompete<br />

und bringt das Ende der großen Reiche, das<br />

Ende der Alten Welt.<br />

Was bleibt noch, um den Kreis zu schließen,<br />

was bleibt noch, um ein ganzes Jahrhundert an<br />

einem Punkt wieder zusammenfließen zu lassen,<br />

einem Punkt, der wie ein schwarzes Loch<br />

alles, was von unseren Leben geblieben ist,<br />

aufsaugen wird Nur noch eines, nur noch eine<br />

Kugel. Noch ein Attentat von Sarajevo“, las ich.<br />

Mit schwindligem Kopf ließ ich den Brief<br />

meines Freundes sinken. Aus Richtung der<br />

Lateinerbrücke drangen Detonationen und<br />

Schüsse. Wir hörten Polizei- und Rettungswagensirenen<br />

aufheulen. „Wie eine gesampelte<br />

Version von Public Enemy“, scherzte hinter uns<br />

jemand, der es noch nicht wusste. Aus Richtung<br />

der Lateinerbrücke rannte ein junger Mann<br />

mit blutigem Hemd auf uns zu, die Polizei im<br />

Nacken. „Wie bei Carver in In the Lobby of the<br />

Hotel del Mayo“, dachte ich, bevor der junge<br />

Mann in den Fluss sprang. Wir saßen auf einer<br />

Café-Terrasse am Ufer der Miljacka. Den Fluss<br />

sahen wir nicht. Aber wir konnten uns die Szene<br />

vorstellen: Plötzlich verwandelt sich die Welt in<br />

ein abgenutztes VHS-Band, das beim Drücken<br />

der Pausetaste erzittert. Jeder weiß, was jetzt<br />

kommt, jeder denkt an den eigenen Horror zurück.<br />

Dann beginnt alles wieder von vorn.<br />

Aus dem Bosnischen von<br />

Margit Jugo<br />

Andrej Nikolaidis<br />

Geboren 1974 in Sarajevo, lebt in Ulcinj/Montenegro.<br />

Journalist, Literaturkritiker und Prosa-Autor.<br />

Sein Roman Die Ankunft ist 2014 in<br />

deutscher Sprache im Verlag Voland & Quist<br />

veröffentlicht worden.<br />

Tomislav Marković<br />

Princip oder Von<br />

Grundsätzen<br />

(Die Schwarze Hand schreibt mit dem Herzen)<br />

Wir feiern einen großen Nationalfeiertag<br />

Den Tag, an dem der Drachentöter<br />

Sich einbildete, der Heilige Georg zu sein<br />

Wir begehen den Beginn eines großen<br />

Gemetzels<br />

Das erste Welt-Menschenmassaker<br />

Wir zelebrieren den Tag des<br />

Princip<br />

Die gezackte geistige Vertikale<br />

Nach der wir leben<br />

Nach der andere sterben<br />

Die Zahnradbahn zum Himmelreich<br />

Wir feiern das Jubiläum des Mörders<br />

Die ewge Nacht, in der wir den Grundstein<br />

legten<br />

Für unsere Lebensweise<br />

In die wir Millionen zerstreuter Knochen<br />

Eingemauert haben<br />

Wir verneigen uns vor dem<br />

Menschenassassinen<br />

Jede Idee, die das Messer an die Kehle legt<br />

Die Kugel in den Lauf, den Kopf auf den<br />

Hackklotz<br />

Jede Idee, die<br />

Den Kopf vom Rumpf trennt<br />

Ist unsere Leitidee<br />

Unser Grundsatz lautet: Kugel in die Stirn<br />

Das verspritzte Gehirn zu beweinen, lohnt<br />

nicht<br />

Jede Idee ist gut genug<br />

Um Millionen menschlicher Wesen für sie zu<br />

töten<br />

Serbentum, Jugoslawentum, Aasgeiertum<br />

Die Idee des Messers, des Stacheldrahts, die<br />

Idee der Idee<br />

Wir fragen nicht<br />

Wir graben Massengräber<br />

Die Ideen behalten wir und schreiben die<br />

Menschen<br />

Ins Buch der gänzlich Toten<br />

Menschenleben sind wertlos<br />

Eine schlecht quotierte Ware<br />

Auf dem freien Markt<br />

Der lebendig Toten und toten Seelen<br />

Die Menschen gleichen sich wie ein Ei dem<br />

anderen<br />

Niemand ist unersetzlich<br />

Wie der Stählerne sagte<br />

Man muss die Menschen auf der Ersatzbank<br />

halten<br />

An einem kühlen und dunklen Ort<br />

Damit sie nicht verderben<br />

Keine Idee ist gut genug<br />

Um für sie zu leben<br />

Der Tod ist unser Grund-Princip<br />

Besonders der gewaltsame<br />

Nur Feiglinge sterben im Bett<br />

Auf den Schlachtfeldern blühen<br />

Tausend blutige Blüten<br />

Mit zerpflückten Blättern und Gliedern<br />

Für das Volk, den Glauben, für Gott<br />

Das Jugoslawentum, das Serbentum<br />

Für die Vereinigung, für den Tod<br />

Wider den Nächsten<br />

Für irgendwen<br />

Meist töten wir im Namen der Freiheit<br />

Wie es sich für ein freiheitsliebendes Volk<br />

gehört<br />

Nie im Angriff, immer in der Verteidigung<br />

Wir kicken meistens auswärts<br />

Mit Menschenköpfen<br />

Welch ein perfekter Ball<br />

Hätte er nur keine Ohren<br />

Hätte er nur keine Nase<br />

Wäre der Schnitt am Hals nur etwas gerader<br />

Wer tötet, gewinnt<br />

Militärlieferanten sind der lebende Beweis<br />

dafür<br />

Dass ein großer Krieg einen höheren Sinn hat<br />

Der Himmel ist eine offene Wunde<br />

Die wir mit weißen Wolken verbinden<br />

Die Sonne hat Blut gesaugt wie ein Floh<br />

Sie wird unter unseren Nägeln zerplatzen<br />

Für das Volk, den Glauben, für Gott<br />

Das Jugoslawentum, das Serbentum<br />

Für die Vereinigung, für den Tod<br />

Wider den Nächsten<br />

Für irgendwen<br />

Unsere Prinzipien sind mathematisch genau<br />

Für die Umsetzung sorgt die Einheit<br />

Für Rechenoperationen<br />

Zuerst bilden wir eine Summe<br />

Dann mehren wir uns, um Gott zu ehren<br />

Um die Erde zu füllen<br />

Um uns leichter zu teilen<br />

In diese und jene, in uns und die anderen<br />

Unsere Lieblingsrechenart ist die Subtraktion<br />

Das Nehmen beweglicher und unbeweglicher<br />

Güter<br />

Das Nehmen der Hoffnung<br />

Das Nehmen des Lebens<br />

Dem Rest wird alles genommen<br />

Divisionen fallen Millionen zum Opfer<br />

Die Toten zählen wir nicht<br />

Das ist für uns höhere Mathematik<br />

Geleitet von Apis’ 1 Schwarzer Hand<br />

Führen wir seit hundert Jahren<br />

Eine Alphaapisierungskampagne<br />

Die Konjugation bringt den Gegner zu Fall<br />

Bestimmt haben Artikel und Artillerie<br />

denselben Stamm<br />

Beugung lehren wir in der Gefängniszelle<br />

Mit präzisen Folter-Instrumentalen<br />

Splitter unter Nägel treibend<br />

Beugen wir den Willen<br />

Analphabetischer Gefangener<br />

Wer den Brückenzoll nicht zahlt<br />

Zahlt morgen die Syn-Taxe<br />

Die Leiche ist ein Nomen<br />

Das sich in der Mehrzahl am besten fühlt<br />

Dieses Grab ist mir zu klein<br />

Eng, ungeeignet<br />

Aber groß genug<br />

Um als Ziehstätte zu dienen<br />

Für Millionen kleiner Gräber<br />

Für das Volk, den Glauben, für Gott<br />

Das Jugoslawentum, das Serbentum<br />

Für die Vereinigung, für den Tod<br />

Wider den Nächsten<br />

Für irgendwen<br />

Kaum aus der Nichtigkeit hervorgekrochen<br />

Verlangen wir nach Freiheit<br />

Nach absoluter Harmonie, dem Paradies auf<br />

Erden<br />

Wir bekämpfen den Tyrannen<br />

Um unsere Sklavenseelen<br />

Im Vakuum der Freiheit zu ersticken<br />

Vom Besatzer befreit<br />

Von uns selbst besessen<br />

In der Freiheit trinken wir<br />

Einen Twitterkaffee nach dem anderen<br />

Das Leben ist wie Tausendundeine Schmeichelei<br />

Wir messen es mit goldenen Kaffeelöffeln<br />

Wir reisen in künstliche Paradiese<br />

Im Sommer auf die Malligand-Inseln<br />

Wälzen uns auf Scherben<br />

Berauscht von zwanziggradiger Freiheit<br />

Im Winter nach Narkisch-Partenkirchen<br />

Zum Skifahren ohne Schnee<br />

In der Freiheit fahren wir tolle Schlitten<br />

Mit Schaum auf der Motorhaube<br />

Im Teufelszweierkreis 2<br />

Wir schleifen das Messer für die Rücken der<br />

Nächsten<br />

Deren pure Existenz uns bedroht<br />

Das Loch in unserer Brust<br />

Die Öde, durch die der Wind pfeift<br />

Füllen wir mit Goldmünzen<br />

Mit Titeln und teuren Schuhen<br />

Wir mästen die Leere, bis sie platzt<br />

Wie ein mit Nichtigkeit gefüllter Ballon<br />

Und wenn das in einen roten Teppich gerollte<br />

Herz<br />

Aufhört im Tamtam-Rhythmus zu schlagen<br />

Wenn der faktische Zustand zum rechtlichen<br />

wird<br />

Dann schleichen unsere Geister durch Wien<br />

Und schreiben „Kosovo ist Serbien“ an die<br />

Wände<br />

Für das Volk, den Glauben, für Gott<br />

Das Jugoslawentum, das Serbentum<br />

Für die Vereinigung, für den Tod<br />

Wider den Nächsten<br />

Für irgendwen<br />

Aus dem Serbischen von<br />

Margit Jugo<br />

Tomislav Marković<br />

Geboren 1976 in Belgrad. Mitbegründer und bis<br />

Ende 2013 Redaktionsmitglied von BETON, der<br />

Beilage der Tageszeitung Danas. Mitarbeit bei<br />

zahlreichen Zeitungen, Zeitschriften und Internetportalen.<br />

Er hat zwei Gedichtbände, zwei<br />

Sammlungen von Aphorismen und ein Buch<br />

mit satirischer Poesie und Prosa veröffentlicht.<br />

Stellvertretender Herausgeber des Internetportals<br />

e-novine.<br />

Schlechte Ideen gibt es nicht, nur schlechte<br />

Menschen<br />

Haben oder töten<br />

Im Grunde kein Dilemma<br />

1 Beiname von Dragutin Dimitrijević, einem führenden<br />

Mitglied des serbischen nationalistischen Geheimbunds<br />

„Schwarze Hand“ (Anm. d. Übers.).<br />

2 Die Belgrader Innenstadt wird auch „Zweierkreis“ genannt,<br />

nach der Straßenbahnlinie Nummer 2, die um das<br />

Stadtzentrum kreist (Anm. d. Übers.).<br />

Beton International März 2014 20


Lamija Begagić<br />

Sommer bei den<br />

Winters<br />

Es war nicht schwer, sich auf lange Sommer<br />

bei Manuel einzulassen, nicht bei diesem<br />

riesigen Garten. Es fiel mir nicht schwer, Ende<br />

Mai bei ihm einzuziehen, bis Ende Oktober zu<br />

bleiben und nur wenige Male, wenn physiologische<br />

Notwendigkeit uns dazu zwang, das Innere<br />

seines kleinen Hauses im niederösterreichischen<br />

Berndorf zu betreten. Alle anderen Sommertage<br />

und warmen Nächte verbrachten wir<br />

gerne damit, von der Sonnenliege in die Hollywoodschaukel<br />

zu wechseln, von der Hollywoodschaukel<br />

an den Gartentisch, auf dem das Laptop<br />

sich sonnte, voller halbleerer Dokumente,<br />

die es genauso wenig eilig hatten wie wir.<br />

Manuels Geburtstag feierten wir im Juni,<br />

der dann nahtlos mit dem Juli verschmolz,<br />

so wie auch die langen Tage miteinander verschmolzen,<br />

wie der Himmel und die unendliche<br />

grüne Landschaft der Gärten von Berndorf.<br />

(Was für Gärten dieses Städtchen doch<br />

hatte!)<br />

Dann klopfte der August an, es wurde<br />

schwül und wir verlagerten uns unter die Weiden<br />

in den Ecken, um am Spätnachmittag wieder<br />

an den Gartentisch zurückzukehren. Manuel<br />

brachte Weißwein, Sprudel und Eiswürfel,<br />

legte Block und Stifte dazu und war entschlossen,<br />

es endlich für mich zu zeichnen.<br />

Ich hatte Manuel Winter an einem schwülen<br />

Sommertag in Pula kennen gelernt.<br />

In meinem vorösterreichischen Leben verbrachte<br />

ich die Sommer in Istrien, bei Ivan,<br />

dem Fotografen, Freund aus Studientagen und<br />

erster Arbeitskollege in der Redaktion der Studentenzeitung.<br />

Nur drei Jahre älter, war Ivan dreiunddreißig<br />

Mal mutiger als ich. Während ich mich wie<br />

ein Feigling in meinem muffigen Zimmer in<br />

Sarajevo verkroch, wo der Hopfenmief aus der<br />

nahe gelegenen Brauerei hereinwehte, probierte<br />

er es mit Novi Sad, Zagreb und Rovinj, um,<br />

wie er im Scherz sagte, als Friedhofswächter in<br />

Pula zu enden.<br />

Der Marinefriedhof in Pula, der berühmte<br />

k. u. k. Marinefriedhof, war alles andere als ein<br />

gewöhnlicher Friedhof, genauso wie Ivan alles<br />

andere als ein gewöhnlicher Wächter war.<br />

Er sprach über diese Toten, als hätte er sich<br />

gestern erst an der Kneipentheke von ihnen<br />

verabschiedet, um sie heute wieder zu treffen,<br />

gleich nach seiner Schicht. Dann würden sie<br />

ein kühles Bier trinken, einfach so im Stehen.<br />

Das waren seine Toten, er wusste alles über sie,<br />

selbst die trivialste Kleinigkeit, Österreicher,<br />

Italiener, Dalmatiner, Nachfahren berühmter<br />

Adelsgeschlechter, Offiziere, Kapitäne, Matrosen,<br />

Soldaten.<br />

Der Marinefriedhof in Pula war Teil des<br />

kulturellen Erbes der Stadt, hier ruhten weder<br />

Presley noch Morrison, an deren Gräbern Fans<br />

kitschige Blumensträuße abgelegt oder Kerzen<br />

angezündet hätten, und dennoch brummte er<br />

vor allem im Sommer vor Touristen.<br />

Ivan sprach vier Weltsprachen und erledigte<br />

seinen Job ausgezeichnet. Sein fotografischer<br />

Blick half ihm dabei, sich für diejenigen, die wegen<br />

der Stille des Friedhofs herkamen, knapp<br />

auszudrücken und in Bildern zu sprechen.<br />

Denjenigen, die wegen einer Geschichte herkamen,<br />

gab er auch, was sie suchten, breitete vor<br />

ihnen lebendig die Geschichten der Toten aus.<br />

Für jedes erloschene Leben fand er einen neuen<br />

Schluss, wie in den Geschichten mit mehreren<br />

Enden aus den Zeitschriften meiner Kindheit.<br />

Es gibt immer Aspekte unserer Arbeit, die<br />

wir lieben, egal, was wir tun. Bei mir ist es der<br />

Moment, wenn ich zum Beispiel zehn Tage,<br />

bevor die Zeitung in Druck geht, den Satzspiegel<br />

sehe, diese Bibel aller Zeitungsmacher, den<br />

Plan, ohne den man keine Zeitung machen<br />

kann, und wenn mir all diese Buchstaben, Zahlen<br />

und Farben entgegenleuchten. Alles in diesen<br />

Plänen hat seinen Grund, seine Legende,<br />

man weiß immer, dass Gelb für Text steht, Grün<br />

für Illustrationen, dass Blaues bereits lektoriert<br />

wurde …<br />

All diese Seitenzahlen und Überschriften,<br />

diese grellen Farben verraten, dass wir voller<br />

Tatendrang sind, dass wir mit ganzer Kraft etwas<br />

entwickeln, gestalten, erschaffen!<br />

Was für mich die bunten Pläne sind, sind für<br />

Ivan die Toten von der „Baron Gautsch“.<br />

Die Toten von diesem alten österreichischen<br />

Dampfschiff sind nicht toter als andere,<br />

doch ihre Geschichten gehen Ivan leichter von<br />

den Lippen und klingen in den Ohren seiner<br />

Zuhörer noch lange nach.<br />

In Manuels Ohren klingen sie schon seit<br />

Jahren, seit seiner Kindheit, diese Geschichten,<br />

diese geschminkte Familiengeschichte. Und sie<br />

führten ihn zu Ivan und dann, dem Himmel sei<br />

Dank, zu mir.<br />

Es ist der zehnte August, der Eiswürfel in<br />

der Weinschorle ist bereits nach wenigen Minuten<br />

wieder gewöhnliches Wasser. Trotzdem<br />

sitzt Manuel in der prallen Sonne und zeichnet.<br />

Das, was er zeichnet, ist groß.<br />

Das, was er zeichnet, wird er erst im nächsten<br />

Sommer vor den Augen anderer ausstellen,<br />

sich entblößen, vor die Leute treten (und es<br />

werden Hunderte sein, der Garten der Winters<br />

ist berühmt!) und sagen: „Hier, das bin ich, das<br />

sind wir, so war das oder ein wenig anders, oder<br />

es war gar nicht.“<br />

Das, was er jetzt aufs Papier zeichnet, zeichnet<br />

er in Gedanken schon seit einem Jahrzehnt,<br />

seit er das erste Mal die etwas andere Geschichte<br />

über seinen Uronkel Paul Winter gehört<br />

hat, Kapitän Paul Winter auf der „Baron von<br />

Gautsch“, dem ersten Opfer des Ersten Weltkriegs,<br />

gesunken im fernen August 1914, ganz<br />

zu Anfang des Krieges, dessen Ausmaß unsere<br />

Großonkel nicht einmal ahnten, auch Paul Winter<br />

nicht.<br />

Wir sind wieder im Garten, Manuel und ich.<br />

Wir sind vor Sonnenaufgang aufgestanden und<br />

in Bademänteln nach draußen gegangen. Gegen<br />

fünf Uhr, am dreizehnten August.<br />

„Bis jetzt ist es ruhig. Sie kehren aus Boka<br />

zurück, in sechs Stunden sind sie in Lošinj, im<br />

letzten Hafen. Was sie wohl tun Schlafen oder<br />

trinken<br />

Wer weiß. Vielleicht küssen sie eine Frau,<br />

eine junge, dralle Deckarbeiterin oder die reiche<br />

Gattin eines hohen k. u. k. Beamten, die auf<br />

dem Heimweg vom Strand ist, wütend auf den<br />

Krieg, der die Sommerfrische unterbricht.<br />

Oder küssen sie vielleicht Männer, stattliche<br />

Unteroffiziere<br />

Vielleicht. Es ist Krieg. Es ist die Jahreszeit,<br />

wenn wir uns guten Gewissens sagen: Ach, was<br />

soll’s! Schlagen wir doch einfach mal einen neuen<br />

Kurs ein und lassen uns treiben.<br />

Ja. Einen neuen Kurs“, wiederholt Manuel<br />

lächelnd, zieht meine Liege näher an seine und<br />

legt seinen Kopf in meinen Schoß.<br />

Es ist der 13. August 1914. Die „Baron von<br />

Gautsch“, ein Luxusdampfer für 300 Passagiere,<br />

auf dem saisonabhängig 60 oder 70 Besatzungsmitglieder<br />

arbeiten, steht erst seit drei Wochen<br />

unter dem Kommando der österreichischungarischen<br />

Kriegsmarine. Diese einstmals<br />

luxuriöse Titanic der Adria, die Passagiere von<br />

Triest nach Boka Kotorska beförderte und dabei<br />

alle Städte und Inseln Nordkroatiens und<br />

Istriens anlief, wird jetzt als Truppentransporter<br />

verwendet. Es sind junge Männer, sie fahren<br />

von Triest nach Kotor und sind die Verstärkung<br />

der k. u. k. Truppen in diesem Teil der Adria. Sie<br />

haben ihre neuen, noch makellosen Uniformen<br />

dabei und ihre zügellosen Träume und Ängste.<br />

Wenn sie vor Anker gehen und das Schiff verlassen,<br />

werden sie noch singen und jubeln, es wird<br />

noch Zeit vergehen, bis ihr Lied verstummt.<br />

Dann werden sich Familien auf dem luxuriösen<br />

Schiff einschiffen, größtenteils Frauen und Kinder<br />

von Offizieren und Staatsbeamten, dieses<br />

Schiff bedeutet das Ende vieler Sommerferien<br />

– es ist Krieg, da liegt man nicht in der Sonne!<br />

Wenn sie zu ihren Männern ins Landesinnere<br />

der Monarchie zurückkehren, wird niemand<br />

die leichte Bräune bemerken, Erinnerung an<br />

sonnenbeschienene Inseln, und die weißen<br />

Streifen, die die Badeanzüge auf den Schultern<br />

hinterließen, als Zeichen, dass der Sommer uns<br />

verändert hat.<br />

Wir sind spät. Bis 6 müssen wir Triest erreichen.<br />

Und das werden wir. Ich werde einheizen lassen,<br />

damit wir Höchstgeschwindigkeit erreichen.<br />

Ich denke, es gibt guten Fisch und Wein.<br />

Ja, sind das denn die Leute des Ministers<br />

Ja. Die Rothaarige ist erste Beraterin. Giacchelli,<br />

Höchstgeschwindigkeit!<br />

Erledigt, Kapitän, alle Rösser sind eingespannt!<br />

Luppis, die Baron gehört dir.<br />

Verstanden, Kapitän, seien Sie unbesorgt.<br />

Das Dampfschiff „Baron von Gautsch“ hatte<br />

keine Blackbox, und hätte es eine gehabt, wäre<br />

das der Mitschnitt gewesen. Es wäre nicht darauf<br />

verzeichnet, wie es auch hier nicht verzeichnet<br />

ist, wie und warum der erste Offizier Luppis<br />

gegen 14 Uhr die Kommandobrücke verließ, genau<br />

als das Mittagessen begann, als die Schiffskellner<br />

frischen Fisch und Karaffen voll erstklassigen<br />

Weißweins auf den strahlend weiß<br />

gedeckten Tischen der ersten Klasse verteilten.<br />

Wie und warum gerade auf diesem Streckenabschnitt,<br />

auf den die k. u. k. Marineführung am<br />

Tag vor Beginn der Reise speziell hingewiesen<br />

und für den sie einen exakten Minenplan übergeben<br />

hatte. Der zweite Offizier Tenze hatte sie<br />

ihm persönlich übergeben, und er hatte daraufhin<br />

den Kurs bestimmt, er persönlich, Luppis,<br />

erster Offizier, der jetzt das Bild ihres gelösten<br />

Haars nicht aus dem Kopf bekommt und in dessen<br />

Nase sich Wein und Fisch ausbreiten.<br />

„Der Kriegshafen Pula war am Anfang des<br />

Krieges ein mögliches Ziel der italienischen<br />

Marine“, erklärt Ivan, „sodass im Sommer 1914<br />

der Führungsstab der k. u. k. Kriegsmarine beschloss,<br />

den Hafen zu sichern und vier Minenfelder<br />

mit insgesamt 1300 Minen rund um die<br />

Halbinsel Istrien zu verlegen.“<br />

Es ist heiß und mir ist schwindelig. Einer<br />

der Grabsteine spendet ausreichend Schatten,<br />

dort setze ich mich hin. Er gefällt mir, dieser<br />

Österreicher, dieser Manuel. Ivan sagt, dass<br />

Manuel schon zum dritten Mal hier ist, er ist ein<br />

Nachfahre des Kapitäns, der für das schreckliche<br />

Seeunglück verantwortlich war.<br />

„Du brauchst die Wahrheit nicht“, fährt<br />

Ivan fort, „du kennst sie schon. Wenn einer sie<br />

kennt, Manuel, dann du.<br />

Stell dir die Sonne über dem Meer vor, wie<br />

jeder ihrer Strahlen sich einen eigenen Pfad<br />

über das Wasser sucht. Entlang der Strahlen<br />

sind Minen ausgelegt, der Minenleger ‚Basilisk‘<br />

hatte die Aufgabe, zehn Minenstrahlen auszulegen,<br />

die sich vom Festland wie ein Fächer<br />

aufs Meer hinaus entfalteten, wie eine zweite<br />

verdammte Sonne im Meer, glühend heiß und<br />

tödlich.<br />

Sie verlegten gerade den ersten Strahl, waren<br />

noch nicht einmal bis zur Hälfte gekommen.<br />

Voller Entsetzen erblickten sie das Schiff,<br />

sie schrien, einer hüpfte so hoch er konnte, als<br />

wollte er die Strahlen der Sonne einfangen, der<br />

richtigen am Himmel, ein anderer winkte wie<br />

wild, sie sendeten alle nur erdenklichen Signale,<br />

die offiziellen und inoffizielle, doch die ‚Baron‘<br />

fuhr träge, unbeeindruckt und scheinbar<br />

menschenleer auf den Minenstrahl zu.<br />

Nur fünfzehn Minuten nach der Explosion<br />

war sie weg. In weniger als fünfzehn Minuten<br />

gesunken, gegen drei Uhr am Nachmittag, in<br />

der Nähe von Rovinj.“<br />

Der Tag wird heiß, aber wir werden ausreichend<br />

Getränke und Eis besorgen.<br />

Der Lügenfächer Uronkel Paul und andere<br />

Familienlügen<br />

Manuel sucht noch nach einem Titel für seine<br />

Ausstellung, der größten in seiner Karriere,<br />

er wird sie am hundertsten Jahrestag dieser<br />

burlesken Tragödie eröffnen, in der die Besatzung<br />

Appetit auf Wein, Fisch und das Dekolleté<br />

einer mysteriösen Brünetten hatte und das<br />

Kommando dem jungen zweiten Offizier Tenze<br />

übergab, der das Schiff geradewegs ins Minenfeld<br />

steuerte. Eine Tragikomödie, aus der Manuels<br />

Familie über Jahre hinweg einen ruhmreichen<br />

Kriegsmythos zimmerte.<br />

(Selbst das Gericht hat gesagt, er sei unschuldig,<br />

wie sollten da wir, Blut von seinem<br />

Blut, etwas anderes behaupten.<br />

Und dass er zu Mittag gegessen hat, Kapitäne<br />

müssen schließlich auch essen, oder nicht<br />

Wir heben seine Orden auf, natürlich heben<br />

wir sie auf, sollen wir sie etwa ins Wasser werfen,<br />

draußen auf dem Meer vor diesem Rovinj,<br />

sechs Seemeilen vom Leuchtturm entfernt.)<br />

Manuel Winter wird im Garten des Familienhauses<br />

in Berndorf ein riesiges Bild enthüllen,<br />

ein Bild der Wahrheit über den stolzen Onkel<br />

Paul, Kapitän eines großen Schiffes!<br />

In den Gärten Berndorfs wird man darüber<br />

noch lange sprechen. Oder doch nicht.<br />

Denn auch wenn sie darüber sprechen wollten,<br />

was könnten sie schon sagen<br />

Irgendwann damals, als der Krieg noch grün<br />

war wie in einer lustigen Kindergeschichte, verfing<br />

sich ein Schiff in seinem eigenen Minenfeld,<br />

und jetzt liegt es tot am Meeresgrund, in<br />

der Nähe von Rovinj, und empfängt neugierige<br />

Seeleute, unter deren Tauchermasken sich Bewunderung<br />

verbirgt. Oder Spott.<br />

Der September wird ruhig. Ivan wird seinen<br />

wohlverdienten Urlaub bei uns verbringen. Wir<br />

werden auf die umliegenden grünen Hügel steigen<br />

und uns denken, dass es nicht so schlecht<br />

wäre, sie schneebedeckt zu erleben, vielleicht<br />

wäre auch der Winter ganz schön, ein Winter<br />

bei den Winters.<br />

Aus dem Bosnischen von<br />

Blanka Stipetić<br />

Lamija Begagić<br />

Geboren 1980 in Zenica, lebt in Sarajevo. Redakteurin<br />

in den Zeitschriften für Kinder „Kolibrić“<br />

und „Palčić“ und Mitarbeiterin der Zeitschrift<br />

für eine gerechte Schule „Školegijum“. Bisher<br />

sind von ihr in Bosnien und Herzegowina zwei<br />

Bände mit Erzählungen erschienen.<br />

Beton International März 2014 21


János Háy<br />

AUF DIE<br />

VERGANGENHEIT<br />

NICHT<br />

Die Vergangenheit ist etwas, auf das man<br />

nicht spucken kann, auch dann nicht, wenn<br />

man es gerne tun würde. Denn sie spuckt zurück.<br />

Es hat auch keinen Sinn, sie zu verbergen,<br />

sie drängt sich ohnehin wieder vor, wenn nicht<br />

anders, dann durch einen Psychologen, der sie<br />

im Zuge einer kostspieligen Therapie aus dir<br />

herausholt, zum allerschlechtesten Zeitpunkt,<br />

wenn dein Leben ohnehin in Scherben liegt.<br />

Besser ist es, beizeiten zu beginnen, in<br />

dieser Vergangenheit herumzukramen, die<br />

Geschichte der Mutter, von Großmama und<br />

Großpapa aufzustöbern. Doch wie weit sollen<br />

wir uns zurückwühlen Beispielsweise bis 1914,<br />

damals mochten ja die europäischen Staaten,<br />

unter ihnen Ungarn, die gewohnten Häfen verlassen<br />

haben, mit ihren an Deck gefangenen Bewohnern.<br />

Was ist damals mit uns passiert, mit<br />

denjenigen, deren Andenken ich in mir trage<br />

Ein paar Jahre nach dem Tod des österreichischen<br />

Thronfolgers in einer Stadt, die<br />

Oma nicht kannte, wurde ihr Bruder einberufen,<br />

damit er für diesen Mord Rache nehme.<br />

Die Gesetze ermöglichten das, er war gerade<br />

achtzehn. Leider erwies sich die Rache anderer<br />

Nationen als stärker als die seine, weshalb er in<br />

einer unbedeutenden slowenischen Stadt blieb,<br />

wo man ihn zusammen mit anderen jungen Ungarn<br />

verscharrte. Der Krieg war schon fast vorbei,<br />

nur noch ein paar Wochen wären zu überstehen<br />

gewesen, aber so ist das eben, auch in<br />

den letzten Wochen gibt es Gefallene. Heldentod,<br />

das schrieb man den Eltern, als könnte diese<br />

lächerliche Bezeichnung Schmerzen lindern.<br />

Im Gleichschritt mit der Nachricht vom Friedensschluss<br />

traf, vielleicht aus Spanien, weil es<br />

Spanische Grippe genannt wurde, jenes Virus<br />

ein, das die zwei älteren Schwestern der Großmutter<br />

hinwegraffte, die eine war sechzehn, die<br />

andere fünfzehn, und dann auch noch ihre vom<br />

Pflegen erschöpfte Mutter. Drei blieben übrig,<br />

die jüngeren, und der Vater, um erst später der<br />

Vernichtung anheimzufallen oder um zu überleben.<br />

Mittlerweile waren aus einem Großteil<br />

der Verwandten unbemerkt Ausländer geworden,<br />

denn das Nachbardorf, aus dem auch sie<br />

selbst stammten, war einem anderen Staat zugefallen,<br />

gemeinsam mit anderen ungarischen<br />

Gebieten und ihren so zahlreichen ungarischen<br />

Bewohnern, die von meinen Großeltern fortan<br />

Slowaken und Rumänen genannt wurden, obwohl<br />

sie genau wussten, dass es keine Slowaken<br />

und Rumänen waren, sondern ihre Verwandten.<br />

Zu der Zeit heiratete meine Großmutter<br />

und bekam eine Tochter, ein kleines blondes,<br />

Zöpfe tragendes Mädchen. Lieber nur ein einziges<br />

Kind, sagte sie, doch das bringen wir durch.<br />

Sie schützten und behüteten es, obzwar Großvater<br />

sich daran kaum beteiligen konnte, denn<br />

vom Ende der dreißiger Jahre an wurde er zum<br />

Militär einberufen, zuerst zum Dienst in der<br />

Etappe, weil er ein Kind hatte, doch dann zählte<br />

auch das nicht mehr, er wurde an die Front geworfen,<br />

wo er nach den Kampfhandlungen einiger<br />

Jahre in Gefangenschaft geriet. Er wurde in<br />

einen fernen Winkel Russlands gebracht, in ein<br />

zu diesem Zweck angelegtes Arbeitslager, wo<br />

die einstigen Soldaten unter unmenschlichen<br />

Bedingungen von Woche zu Woche dezimiert<br />

wurden, doch er überlebte. Als Großvater Ende<br />

der vierziger Jahre freigelassen wurde und sich<br />

knochendürr und krank nach Hause trollen<br />

konnte, war aus dem kleinen Mädchen ein großes<br />

geworden. Von wem werde ich entschädigt,<br />

sagte das Mädchen, inzwischen alt geworden,<br />

als der Sozialismus zusammenbrach und der<br />

neue demokratische Staat für jedes verlorene<br />

materielle Gut eine Entschädigung zahlte. Wer<br />

entschädigt mich dafür, sagte sie, dass ich ohne<br />

Vater aufgewachsen bin Das kleine Mädchen<br />

war groß, unser Land ein sozialistischer Großbetrieb<br />

und aus den zwei Brüdern der Großmutter<br />

einer geworden. Während Großvater<br />

fort war, wandelte sich auch die Bevölkerung<br />

des Dorfes, es gab einen Haufen Neuankömmlinge<br />

aus der Slowakei, die Häuser der Juden<br />

hingegen waren verwaist. Einfache Menschen<br />

hatten darin gewohnt, nicht solche, wie sich<br />

die Antisemiten Juden vorstellen. Tief gläubig<br />

und zumeist arm, wie ja alle in dieser Gegend.<br />

Die Häuser blieben unbewohnt; hatte jemand<br />

das hemmungslose Blutvergießen überlebt, so<br />

hatte er keine Lust, an den Ort zurückzukehren,<br />

von wo er, wie er annahm, mit dem stillschweigenden<br />

Einverständnis der Einheimischen<br />

verschleppt worden war. Dabei hatten<br />

diese den staatlich organisierten Völkermord<br />

gar nicht unterstützt, doch das konnte man<br />

sich auf dem Lastwagen unterwegs zum Viehwaggon<br />

nicht vorstellen. Warum tun sie nichts,<br />

das konnte man denken, und sie taten wirklich<br />

nichts, denn in der Welt von damals hatten die<br />

unteren Volksschichten keine Berechtigung zu<br />

handeln. Die Deutschen des Nachbardorfs verschwanden.<br />

Sie hatten im Volksbund auf den<br />

Putz gehauen, waren Faschisten, sagte das neue<br />

Regime, und natürlich kümmerte es sich nicht<br />

darum, wer wirklich einer war und wer nicht,<br />

und wer derjenige war, der den jüdischen Krämer<br />

vor den Augen der Nazis verborgen hatte.<br />

Später kehrten die von der Aussiedlung so<br />

schwer Getroffenen in riesigen Autos mit deutschen<br />

Kennzeichen zurück und protzten vor<br />

den Daheimgebliebenen mit ihrem Wohlstand.<br />

Diese bestaunten die Mercedes und BMWs und<br />

nahmen es dem Schicksal übel, dass nicht sie<br />

selbst ausgesiedelt worden waren, dabei hatten<br />

sie keine Ahnung von jener Art des Entbehrens,<br />

die weder Autos noch sonstige materielle Güter<br />

lindern konnten. Alles hatte sich verändert,<br />

jedoch wussten sie nicht, ob all das tatsächlich<br />

damit zu tun hatte, dass man in einer unbekannten<br />

südslawischen Stadt einen Mann niedergeschossen<br />

hatte, der im Übrigen Thronfolger<br />

war. All das - die vielen Leiden, und später<br />

das Sattwerden. Wie Großmutter es ausdrückte,<br />

die sonst nichts mit dem Kommunismus<br />

am Hut hatte, unter keinen Umständen gehabt<br />

hätte - also die Großmutter sagte, dass wir satt<br />

geworden waren. Jeder war satt geworden. Von<br />

Fleischgerichten. Und sie war traurig, denn sie<br />

musste auch mit ansehen, wie das ganze Wohlleben<br />

zusammenbrach, nach der Wende wurde<br />

das Dorf abermals von der Welt abgeschnitten.<br />

Da half auch der EU-Beitritt nichts, die Dörfer<br />

blieben hinter oder vor den sieben Bergen, jedenfalls<br />

irgendwie sehr weit weg. Zuerst begannen<br />

nur die Ärmsten der Armen zu hungern,<br />

weil sie ihre Arbeit, ihre Habe verloren, dann<br />

wurde allmählich das Elend zum Hauptcharakteristikum<br />

dieses Dorfes, das infolge eines für<br />

seine Einwohnerschaft völlig unverständlichen<br />

Krieges, des Todes eines blöden Thronfolgers<br />

Jahrzehnte hindurch auf ungewissen Pfaden<br />

umhergeirrt war, und vielleicht hätte es diese<br />

Pfade nicht verlassen, wären ihm die Einwohner,<br />

die der Armut leid waren, nicht davongelaufen.<br />

Das konnte Großmutter nicht mehr miterleben,<br />

denn sie hatte an einem Wintertag vor<br />

ein paar Jahren Abschied genommen, von ihren<br />

Verwandten und von jeder möglichen Zukunft,<br />

ob mit gutem oder schlechtem Ausgang.<br />

Erinnerung ist gemeinschaftsstiftend und<br />

ein Teil unserer Identität. In dieser Eigenschaft<br />

kann sie konstruktiv sein, was die Stallwärme<br />

der Zusammengehörigkeit erzeugt, oder<br />

destruktiv, die Gemeinschaft erstickend. Das<br />

Leben produziert Erinnerungen, doch die Erinnerungen<br />

produzieren kein Leben. Wenn das<br />

Verhältnis von Leben und Erinnerung zu Gunsten<br />

der Erinnerung kippt, ist die Gemeinschaft<br />

nicht imstande, etwas aufzubauen, positive und<br />

zukunftsweisende Ziele zu formulieren, die Aktivität<br />

hervorrufen, sie wird zum Erinnerungsverwalter,<br />

zum Wächter der Vergangenheit. Obwohl<br />

es doch ohne Aktivität, einfacher gesagt<br />

ohne Handeln, kein Leben gibt.<br />

In einer besonders schwierigen Situation<br />

befinden wir uns bezüglich der Erinnerung der<br />

verschiedenen ungarischen Gemeinschaften,<br />

denn diese gründen sich fast ohne Ausnahme<br />

auf Traumata. Wenn wir uns entlang von Leidensgeschichten<br />

aneinanderdrängen, wird<br />

die Welt sogleich in zwei Hälften geteilt: wir,<br />

die wir Unrecht erlitten, und sie, die es began-<br />

gen haben. Oft gibt es längst niemanden mehr,<br />

der das Leid miterlebt hat, doch die Nachfahren<br />

hätscheln noch immer die einstige Ungerechtigkeit<br />

und damit die Einteilung der Welt<br />

in Leidende und Verursacher des Leids. Der<br />

eine wird in den Schatten des Schmerzes, der<br />

andere in denjenigen des Verdachts gestellt.<br />

Dieses Bild verfälscht, gibt jedoch Sicherheit.<br />

Oft schrecken wir davor zurück, es abzuschütteln,<br />

wir fürchten, damit das Bindemittel unserer<br />

Persönlichkeit zu verlieren. Dabei ist eine<br />

Identität umso stärker und selbstbewusster, je<br />

mehr sie die Umwertung falschen Bewusstseins<br />

zulässt, je mehr sie wagt, Erinnerungen auf die<br />

Ebene einer realistischeren historischen Einschätzung<br />

zu heben. Wie das Kind, wenn es<br />

erwachsen wird, dazu fähig ist, den Vater nicht<br />

als allmächtige Stütze, sondern als fehlbaren<br />

Sterblichen zu sehen, so ist auch die Erinnerung<br />

einer Nation und kleinerer Gemeinschaften<br />

umso erwachsener und reifer, je mehr sie<br />

wagt, sich selbst kritisch zu betrachten, auf<br />

das Opium der Selbsttäuschung zu verzichten.<br />

Und natürlich wird nur so möglich, für die Ereignisse<br />

der Vergangenheit, die keineswegs nur<br />

makellose Kreuzwege sind, die Verantwortung<br />

zu übernehmen. Damit wir nicht den zahllosen<br />

von Ehemann oder Ehefrau Verlassenen<br />

gleichen, die den Davongelaufenen verlästern<br />

und gar nicht auf die Idee kommen, sie könnten<br />

vielleicht nicht so ganz unschuldig an der Geschichte<br />

sein.<br />

Im Übrigen ist die gemeinschaftliche Erinnerung<br />

im Wesentlichen eine bürgerliche<br />

Erfindung. Tief in ihr lebt der Wunsch, dem<br />

individuellen Schicksal über die eigene Winzigkeit<br />

hinausgehend zu größerer Bedeutung<br />

zu verhelfen. Die Erinnerung ist ein Vorgehen<br />

gegen unsere Endlichkeit. Gemeinsame Erinnerung<br />

verbindet unser eigenes Schicksal mit<br />

dem großen gemeinsamen, das, wie anzunehmen<br />

ist, bis ans Ende aller Zeiten Bestand hat.<br />

Der Erinnerung der Unterschichten fehlt, zumindest<br />

nach meiner persönlichen Erfahrung,<br />

eine solche Erlösungsgeschichte. Meist bleibt<br />

sie im Bereich der eigenen Familie und ist nicht<br />

gemeinschaftsbildend. Meine Großeltern vom<br />

Land erzählten ständig von den Ereignissen der<br />

Vergangenheit, doch wie viel sie auch von Hunger,<br />

Armut und Demütigungen, von Krieg und<br />

Gefangenschaft redeten, es schuf kein Kollektiv.<br />

Mitunter tauchte ein Mitgefangener oder<br />

ein Kriegskamerad auf, ein Schicksalsgefährte<br />

aus dem Luftschutzkeller, doch weiter ging die<br />

Gemeinschaftsbildung nie. Niemals hörte ich<br />

das Gegensatzpaar des „wir“ und „sie“. Sie hatten<br />

keine Feinde und auch kein Bewusstsein<br />

von Feindschaft, nur ein Schicksal, das erduldet<br />

werden musste, wenn etwas zu dulden war,<br />

und über das man sich freuen konnte, wenn die<br />

Familie Grund zur Freude hatte. Wenn jemand<br />

geboren wurde, zum Beispiel ich.<br />

Aus dem Ungarischen von<br />

Heinrich Eisterer<br />

János Háy<br />

Geboren 1960 in Vámosmikola, Ungarn. Studierte<br />

Kunst und Geschichte in Szeged und in Budapest.<br />

Schriftsteller, Dichter und Dramatiker. Bisher<br />

veröffentlichte er 20 Bücher mit Gedichten,<br />

Essays, Erzählungen und Romane.<br />

Beton International März 2014 22


Faruk Šehić<br />

Das Jahr 1992<br />

als unser<br />

persönliches<br />

1914<br />

Im Zuge meiner Vorbereitungen für diesen<br />

Text stieß ich auf die dreibändige Sonderausgabe<br />

der Zeitschrift „Gradac“ aus dem Jahr 2010, die<br />

zur Gänze dem Thema „Junges Bosnien“ gewidmet<br />

war. Einmal abgesehen von der offensichtlichen<br />

Anmaßung, die der Herausgeber Muharem<br />

Bazdulj keineswegs zu verhehlen versuchte, sowie<br />

abgesehen von seiner Angewohnheit, bei jeder<br />

sich bietenden Gelegenheit seinem Missmut<br />

über den Erfolg des Schriftstellers Andrej Nikolaidis<br />

Ausdruck zu verleihen, könnte man sagen,<br />

dass in dieser Ausgabe einiges an interessantem<br />

Material enthalten ist, das dem Leser Informationen<br />

über das Attentat von Sarajevo und die<br />

Person und die Tat des Gavrilo Princip sowie die<br />

politische Situation in Europa vor dem Ausbruch<br />

des Großen Krieges bietet.<br />

Zufällig stieß ich zunächst auf den Text „Sarajevo“<br />

von Rebecca West. Ich bedaure bloß,<br />

dass sie nicht mehr am Leben ist, sonst hätte sie<br />

im Krieg als Beraterin von Radovan Karadžić<br />

fungieren können, und zum jetzigen Zeitpunkt<br />

könnte sie Milorad Dodik ihre Ratschläge ins<br />

Ohr flüstern, einem Mann, der fähig und willens<br />

ist, Bosnien und Herzegowina in einen neuen,<br />

blutigen Konflikt zu führen. Da auf dem Balkan<br />

immer alles möglich ist, darf man die Möglichkeit<br />

eines neuen Krieges in Bosnien und Herzegowina<br />

auch nicht unterschätzen, haben doch<br />

die sezessionistischen Gelüste Milorad Dodiks<br />

und seiner Herrschaften aus Belgrad im Laufe<br />

der Jahre keineswegs nachgelassen, sondern<br />

sind von Jahr zu Jahr progressiv gestiegen.<br />

Der Text von Rebecca West verdient keine<br />

besondere Aufmerksamkeit, abgesehen vielleicht<br />

von einem Umstand: Die Autorin erklärt<br />

in ihrem Text, warum der unbeliebte Erzherzog<br />

Franz Ferdinand getötet werden sollte. Sie begründet<br />

es damit, dass er ein dämonisch-blutrünstiges<br />

Verhältnis zu wilden Tieren pflegte,<br />

darüber hinaus einen bösen Blick hatte, unter<br />

erblicher Tuberkulose litt usw. Der Erzherzog<br />

soll an nur einem einzigen Tag irgendwo<br />

in Tschechien über zweitausendeinhundertfünfzig<br />

kleine Wildtiere erlegt haben – das ist<br />

nur eine von den bizarren Informationen, die<br />

die Autorin anführt. Es war bestimmt nicht<br />

leicht, die unschuldigen, kraftlosen wilden Tiere<br />

abzuzählen, die dem Erzherzog-Terminator<br />

zum Opfer gefallen waren. Die unverhohlene<br />

Botschaft dieses fragwürdigen Texts lautet,<br />

der Erzherzog habe gewiss den Tod verdient,<br />

daran bestünde kein Zweifel. Indem Princip<br />

auf ihn schoss, habe er die Menschheit von einem<br />

erbarmungslosen Mörder erlöst. Der Text<br />

von Rebecca West ist typischer lobbyistischer<br />

Müll, gerammelt voll mit Vorurteilen aller Art.<br />

Deshalb ist es jammerschade, dass die Autorin<br />

schon verstorben ist, weil man große Lust hätte,<br />

sie auf die Größe eines Atoms zu zerlegen.<br />

Ganz anders dagegen der Text „Die ersten<br />

Stunden des Krieges von 1914“ von Stefan<br />

Zweig, der nach all den Jahren noch immer seinen<br />

Glanz bewahrt hat. Zweig setzt sich darin<br />

mit der medialen Hysterie auseinander, die in<br />

Österreich und Deutschland nach dem Attentat<br />

von Sarajevo ausbrach. In erster Linie nimmt<br />

er Schriftsteller, Dichter, Maler, Musiker, Wissenschaftler<br />

und Philosophen unter die Lupe,<br />

Geistesmenschen, die von einer unermesslichen<br />

Paranoia befallen wurden. Rührend-grotesk<br />

mutet das Beispiel des deutsch-jüdischen<br />

Dichters Ernst Lissauer und seines Gedichtes<br />

„Haßgesang gegen England“ an. Zweig schreibt:<br />

„Das Gedicht fiel wie eine Bombe in ein Munitionsdepot.<br />

Nie vielleicht hat ein Gedicht<br />

in Deutschland, selbst die ‚Wacht am Rhein‘<br />

nicht, so rasch die Runde gemacht wie dieser<br />

berüchtigte ‚Haßgesang gegen England‘. Der<br />

Kaiser war begeistert und verlieh Lissauer den<br />

Roten Adlerorden, man druckte das Gedicht in<br />

allen Zeitungen nach, die Lehrer lasen es in den<br />

Schulen den Kindern vor, die Offiziere traten<br />

vor die Front und rezitierten es den Soldaten,<br />

bis jeder die Haßlitanei auswendig konnte.“<br />

Bereits im Jahr 1919 ist Lissauer eine peinliche<br />

Gestalt, für die Medien ist er nicht länger<br />

interessant, seine Freunde haben sich von ihm<br />

abgewandt, und schließlich vertreibt ihn Hitler<br />

aus Deutschland. Er stirbt, von allen vergessen.<br />

Zweig schreibt, auch alle anderen seien<br />

wie Lissauer gewesen, die Denker und die Professoren.<br />

Aus dieser Menge nimmt er lediglich<br />

Rainer Maria Rilke aus. Bis ans Ende meiner<br />

Tage werde ich Zweig dankbar sein, und zwar<br />

wegen der Novelle „Brief einer Unbekannten“,<br />

die ich im Frühsommer des Jahres 1992 las, eines<br />

Jahres, das für meine Generation und mein<br />

Land eine ähnliche Bedeutung haben sollte wie<br />

für viele andere das Jahr 1914. Allerdings mit<br />

dem Unterschied, dass in unserem Fall hier niemand<br />

ein Attentat gegen den Herrscher eines<br />

benachbarten Landes verübt hatte. Niemand<br />

hatte einen Schuss für Heimat, Ruhm, Ehre<br />

oder Freiheit abgegeben, und trotzdem startete<br />

Serbien eine großangelegte Militäraktion mit<br />

dem Ziel, Bosnien und Herzegowina an die damalige<br />

Bundesrepublik Jugoslawien anzugliedern,<br />

weil die Führung der bosnischen Serben<br />

im Falle einer Unabhängigkeitserklärung Bosnien<br />

und Herzegowinas mit Krieg drohte. Es ist<br />

eine lange Geschichte, inzwischen ermüdend<br />

für uns alle, die wir am eigenen Leib den Zauber<br />

des „freiheitsliebenden Geistes“ von Radovan<br />

Karadžić zu spüren bekommen haben, der, wie<br />

es hieß, Gavrilo Princip und seinen Kumpanen<br />

alle Ehre machte. Karadžić und seine Kumpane<br />

wiederum machten sich nur durch ihre Genozidgelüste<br />

einen Namen.<br />

Zweigs Novelle las ich in einem Hangar, in<br />

dem früher eine Viehwirtschaft untergebracht<br />

gewesen war. Zu Beginn „unseres“ Jahres 1914<br />

befand sich dort eine Kaserne. Dort lernten wir,<br />

uns gegen einen bis an die Zähne bewaffneten<br />

Gegner zu verteidigen. Es handelte sich um einen<br />

Aggressor, der seinen militärischen Ruhm<br />

unter anderem auf die Entschlossenheit von<br />

Princips Hand zurückführte, einer Hand, die<br />

am 28.06.1914 einige Patronen auf den Erzherzog<br />

und die Erzherzogin abgefeuert hatte.<br />

Ich erinnere mich an eine Fernsehserie aus<br />

dem ehemaligen Jugoslawien, in der es um das<br />

Phänomen „Junges Bosnien“ und Gavrilo Princip<br />

ging. Es gab eine Szene, in der Princip von der<br />

Brücke sprang, die damals noch nicht nach ihm<br />

benannt war, mitten in die seichte Miljacka. Ich<br />

weiß noch, dass er mir damals leidtat, weil ich<br />

so erzogen worden war, den Kampf der Schwächeren<br />

gegen die Stärkeren zu respektieren. Ich<br />

war vollkommen davon überzeugt, dass man<br />

auf der Seite der Schwächeren stehen müsse,<br />

obwohl die Geschichtsschreibung die Besiegten<br />

links liegen lässt. Ich glaubte daran, dass eine<br />

Idee sich nicht töten lässt. Ich glaubte auch an<br />

die jugoslawische Idee, an die ich seit 1992 nicht<br />

mehr glaube und an die ich nie wieder glauben<br />

werde, obwohl sie Teil meiner Identität ist, wie<br />

eine kulturologische Variable, ein Relikt, das<br />

ich nicht loswerden kann und auch nicht loswerden<br />

will. Die Bitterkeit, die ich angesichts<br />

der Tatsache verspüre, dass meine antifaschistischen<br />

Großväter ein sozialistisches Jugoslawien<br />

aufgebaut und dabei ihre Körperteile<br />

riskiert hatten, jahrelang in Konzentrationslagern<br />

des Unabhängigen Kroatischen Staates interniert<br />

waren – diese Bitterkeit ist unheilbar,<br />

weil es ein unumstößliches Faktum ist, dass wir<br />

in Bosnien und Herzegowina ausgerechnet von<br />

jener Armee überfallen wurden, die meine Vorfahren<br />

gemeinsam mit zehntausenden anderen<br />

Antifaschisten im Laufe des Zweiten Weltkrieges<br />

mit aufgebaut hatten. Einer meiner Großväter,<br />

ein Partisan und Kriegsinvalide, der an der<br />

Sremer Front verwundet worden war, starb als<br />

Flüchtling in Zagreb, während er in einem Auto<br />

saß, das ihn zu einer arabischen humanitären<br />

Organisation fuhr, wo er humanitäre Hilfe bekommen<br />

sollte. Der Mann starb im Auto, an<br />

Elend und Erniedrigung, ohne ein Heim. Das<br />

hatten ihm nämlich in den ersten Tagen des<br />

Krieges die Nachkommen seiner Kriegskameraden<br />

angezündet. Mein Großvater glaubte bis<br />

zum Schluss an die Kommunistische Partei, der<br />

er sich mit Herz und Seele verschrieben hatte.<br />

Der Zusammenbruch Jugoslawiens und der<br />

jugoslawischen Idee tötete indirekt unzählige<br />

naive und unschuldige Menschen und tötet sie<br />

weiterhin.<br />

Aus diesem Grund interessiert mich das<br />

Jahr 1914 nicht so besonders. Mir genügt „mein“<br />

Krieg, über den ich mir bis an mein Lebensende<br />

den Kopf zerbrechen werde, im Bemühen, ihn<br />

zumindest auf irgendeiner Ebene zu begreifen,<br />

wonach ich bislang nach bestem Wissen und<br />

Gewissen auch in meiner literarischen Arbeit<br />

strebe. Mit Gavrilo Princip mögen sich die Historiker<br />

befassen, das ist ihre Aufgabe. Über ihn<br />

könnte ich dasselbe sagen wie das, was Miljenko<br />

Jergović einmal über den Tschetnik-Anführer<br />

Draža Mihailović gesagt hat: „Für mich ist er<br />

weder positiv noch negativ, sondern eine dreidimensionale<br />

Persönlichkeit mit einer tragischen<br />

Biographie, für die ich trotz allem ein Stückchen<br />

Empathie übrig habe. Denn nur ein junger Mann<br />

ohne Lebenserfahrung kann plötzlich zum Revolutionär<br />

und Terrorist werden.“<br />

Senadin Musabegović, ein Dichter und Essayist<br />

aus Sarajevo, schreibt in seinem Buch Der<br />

Krieg – die Konstitution des totalitären Körpers,<br />

dass wir noch immer das Schützengrabentrauma<br />

des Ersten Weltkrieges erleben und dass Europa<br />

sich noch immer nicht von den enormen Verlusten<br />

an Menschenleben aus der damaligen Zeit<br />

erholt hat. Weiter schreibt er, „unser“ Krieg sei<br />

nur eine der vielen Folgen des Großen Krieges<br />

vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.<br />

Fast hätte ich vergessen, wie dieser „unsere“<br />

Krieg begonnen hat, nämlich fast genauso<br />

wie der Erste Weltkrieg. Der Angeklagte in Den<br />

Haag Radovan Karadžić gab die Ermordung eines<br />

serbischen Hochzeitsgastes in der Altstadt<br />

„Baščaršija“ als Hauptgrund für die Bombardierung<br />

und den Granatenbeschuss Sarajevos an.<br />

So begann also „unser“ Krieg, aus der Perspektive<br />

eines gestörten Geistes betrachtet. Dabei<br />

hatte der Krieg noch viel früher begonnen, vorbereitet<br />

durch die Belgrader Medien, und zwar<br />

mit denselben Mechanismen, über die Stefan<br />

Zweig geschrieben hat. Es ist ein Krieg, dessen<br />

Ende noch gar nicht abzusehen ist.<br />

Aus dem Bosnischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Faruk Šehić<br />

Geboren 1970 in Bihać / Bosnien und Herzegowina;<br />

lebt in Sarajevo. Er gehörte der Armee<br />

Bosniens und Herzegowinas an (1992-1995).<br />

Einmal wurde er schwer verwundet. Für Das<br />

Buch über die Una erhielt er den Literaturpreis<br />

der Europäischen Union EUPL 2013. Auf<br />

Deutsch ist sein Gedichtband Abzeichen aus<br />

Fleisch erschienen (Edition Korrespondenzen,<br />

2011; Ü.: Hana Stojić).<br />

Beton International März 2014 23


Ivana Simić Bodrožić<br />

Des Krieges gedenken<br />

An einem kühlen Oktobermorgen des Jahres<br />

2013 ging um sechs Uhr vierzig ein anonymer<br />

Telefonanruf bei der Polizeiwache in Vukovar<br />

ein. Die Stimme am anderen Ende der<br />

Leitung behauptete, in der technischen Mittelschule<br />

sei eine Bombe versteckt. Die Polizei<br />

evakuierte das Gelände umgehend, die Schüler<br />

durften nach Hause oder in die umliegenden<br />

Cafés gehen, einige Neugierige harrten in der<br />

Nähe des Schulhofs aus. Auf Sprengstoff trainierte<br />

Spürhunde suchten jeden Winkel ab und<br />

fanden zum Glück nichts. Etliche Journalisten<br />

versuchten unterdessen, brauchbare Informationen<br />

zu erhaschen.<br />

„Wir hatten keine Angst, weder ich noch<br />

meine Klassenkameraden. Wir wollten sofort<br />

wieder in den Unterricht, aber die Polizei hat<br />

es nicht erlaubt“, sagte ein Sechzehnjähriger einige<br />

Stunden nach dem Vorfall in ihre Kameras<br />

und Fotoapparate. Er sprach als Einziger mit<br />

den Journalisten, außer ihm wollte sich keiner<br />

äußern. Der junge Mann bot den Profis sogar<br />

(off the record) Bilder von seinem Handy an,<br />

die Polizisten beim Durchkämmen des Schulgeländes<br />

zeigten – kein Wunder angesichts der<br />

Umstände, in denen die „Bombenkrise“ spielt.<br />

Trotzdem reagierten viele überrascht, als<br />

sich am folgenden Tag herausstellte, dass eben<br />

jener Sechzehnjährige die ganze Aufregung<br />

verursacht und die Polizei auf den Plan gerufen<br />

hatte. Seit Monaten herrschte in Vukovar, der<br />

Grenzstadt eines Vollmitglieds der Europäischen<br />

Union, eine nach Meinung kritischer Beobachter<br />

hausgemachte Krise. Die Stadtverwaltung<br />

brachte an allen öffentlichen Einrichtungen zusätzliche<br />

kyrillische Schilder an (als verbrieftes<br />

Recht der serbischen Minderheit, die heute 33%<br />

der Bevölkerung stellt), aber kroatische Bürger,<br />

Angehörige der nationalen Mehrheit, zerstörten<br />

sie ein ums andere Mal. Vorangegangen waren<br />

fünfzehn Jahre totaler Trennung beider Bevölkerungsgruppen<br />

von frühester Kindheit an, und<br />

davor hatte es einen Krieg gegeben, der über<br />

3500 Menschenleben in dieser Stadt forderte<br />

und dessen Gründe wiederum weit in die Vergangenheit<br />

zurückreichen…<br />

In diesem Milieu wuchs unser junger Held<br />

oder Terrorist mit seinen sechzehn Jahren auf.<br />

Für ihn wurde ein serbischer oder kroatischer<br />

Kindergarten ausgesucht, dann kam er in eine<br />

serbische oder kroatische Klasse, welche, wissen<br />

wir nicht. Er frequentiert entweder serbische<br />

oder kroatische Kneipen und so weiter.<br />

Sofern es sich um einen jungen Serben handelt,<br />

dürfte er sich von der permanenten Zerstörung<br />

der kyrillischen Schilder angegriffen und<br />

stigmatisiert fühlen, ist er hingegen ein junger<br />

Kroate, hat seine Familie aller Wahrscheinlichkeit<br />

nach tragische Dinge erlebt und er besucht,<br />

seit er denken kann, die Gräber enger Verwandter.<br />

Dazu kommt, dass er – egal, welcher Bevölkerungsgruppe<br />

er angehört – nach Abschluss<br />

der Schule in einer Stadt mit Rekordarbeitslosigkeit<br />

kaum Perspektiven hat.<br />

Aus den genannten Gründen versammelte<br />

sich vor der technischen Mittelschule eine<br />

größere Journalistengruppe; sie alle und auch<br />

wir, die wir ihre Berichterstattung verfolgten,<br />

interpretieren die Vorfälle auf ihre Weise. Wäre<br />

tatsächlich eine Bombe gefunden worden, wäre<br />

der junge Mann über den anonymen Telefonanruf<br />

hinausgegangen, hätte es in dieser angespannten<br />

Situation gar Opfer gegeben, wäre<br />

eine beispiellose Lawine losgebrochen. So blieb<br />

es bei einem Psychologen, der an jenem Tag<br />

nachmittags in einer Fernsehsendung zu Gast<br />

war und von den Auswirkungen der Krise, dem<br />

wachsenden Nationalismus und dem enormen<br />

Druck redete, der auf den Jugendlichen laste.<br />

Mich interessierte allerdings vor allem ein Satz,<br />

der eher beiläufig in dem Nachrichtenbeitrag<br />

gesendet wurde: Der junge Mann war nämlich<br />

unter anderem gefragt worden, warum seiner<br />

Meinung nach jemand so was mache. Wahrscheinlich,<br />

so antwortete er, habe jemand eine<br />

Klassenarbeit verhindern wollen. Ja, klar, dachte<br />

ich. Der Junge ist sechzehn. Mit sechzehn<br />

geht man durchaus auch einen Schritt weiter,<br />

und sei es wegen einer dummen Klassenarbeit.<br />

Wäre die Sache dann tatsächlich eskaliert und<br />

jemand dabei umgekommen, wäre er nicht länger<br />

sechzehn. Faktisch natürlich schon, aber<br />

seine Tat wäre in einer Weise interpretiert worden,<br />

wie er es sich weder mit sechzehn noch mit<br />

siebzehn oder achtzehn jemals hätte vorstellen<br />

können oder träumen lassen.<br />

Vor genau hundert Jahren war Gavrilo Princip,<br />

als er auf den Thronfolger und seine Gattin<br />

schoss, gerade mal siebzehn. Ihn allen Ernstes<br />

als Helden zu verehren oder als Terroristen zu<br />

verdammen, ist im Grunde lachhaft. Die Wahrheit<br />

wird nicht gefunden, sondern gemacht, hat<br />

mal jemand gesagt. In seinem Alter steckte der<br />

Attentäter wohl mitten in schmerzlichen Abnabelungsprozessen,<br />

war vielleicht von der Schule<br />

geworfen und aus der Gesellschaft ausgeschlossen<br />

worden, wollte sich aus Bevormundung befreien<br />

oder einfach irgendwo dazugehören und<br />

Aufmerksamkeit erregen, wie alle Teenager, die<br />

historisch von sich reden machten. Wir werden<br />

es nie erfahren. Aber heute, hundert Jahre nach<br />

seiner Tat, überschlägt sich alle Welt wegen<br />

des Jubiläums. Dabei hat dieser Krieg weder<br />

damals angefangen noch vier Jahre später aufgehört.<br />

Er hat lediglich den Ort gewechselt, der<br />

Brandherd hat sich verlagert, die Glut erlischt<br />

hier nur, um anderswo wieder aufzuflammen,<br />

und die Energie, die dabei frei wird, ermöglicht<br />

allen nicht unmittelbar Betroffenen, Nutzen<br />

aus dem Krieg zu ziehen.<br />

Eine ganze Industrie lebt davon, siebzehnjährigen<br />

Kindern Eigenschaften zuzuschreiben,<br />

die sie unmöglich gehabt haben können,<br />

die Industrie braucht eben Material, Historiker,<br />

Schriftsteller, Biografen, Theatermacher, Veranstalter<br />

von Gedenkfeiern, Catering-Anbieter,<br />

Kostümbildner, Redenschreiber, Philharmoniker,<br />

Fotografen im öffentlichen Auftrag, der<br />

diplomatische Chor samt Stellvertretern und<br />

Sekretärinnen, Fahrer sowie Straßenfeger für<br />

den Morgen danach wollen versorgt sein. Die<br />

Profiteure waren zum größten Teil nie selbst<br />

im Krieg, ausgenommen jene, die die letzten<br />

Kriege bei uns erlebt haben. Jedes Detail wird<br />

aufmerksam erörtert, leidenschaftlich über die<br />

Zugehörigkeit des jungen Mannes zu terroristischen<br />

Vereinigungen gestritten, ohne groß<br />

Beweise in der Hand zu haben; alle beteiligen<br />

sich an der Diskussion, Historiker, Nationalisten<br />

und Künstler, und kaum einer merkt, dass<br />

unter ihren Augen eine neue Generation heranwächst,<br />

für die sich eigentlich niemand verantwortlich<br />

fühlt. Viel hat sich verändert und<br />

nichts hat sich geändert, die Leute brauchen<br />

halt Jubiläen, und sei es die Hundertjahrfeier<br />

eines Krieges. Sie brauchen wir vielleicht am<br />

dringendsten, wir huldigen ja dem Irrglauben,<br />

schlauer zu sein als vor hundert Jahren, etwas<br />

aus der Geschichte gelernt zu haben. Doch die<br />

Menschheit dreht sich im geschlossenen Kreis,<br />

und diese bittere Einsicht ist vielleicht das Äußerste,<br />

was uns die Geschichte lehrt. Jedes Erwachen<br />

ist wie ein einziger Tag, wir verpassen<br />

uns selbst, unser eigenes Schicksal, und die<br />

Chancen stehen gut, dass uns eines fernen Tages<br />

im Jahre 2114 dieselbe Aufmerksamkeit zuteil<br />

wird, eine Betrachtung, die nichts mit uns<br />

zu tun hat und genauso naiv wie zu allen Zeiten<br />

die menschliche Dummheit feiert.<br />

Aus dem Kroatischen von<br />

Brigitte Döbert<br />

Ivana Bodrožić<br />

Geboren 1982 in Vukovar, lebt in Zagreb. Der Roman<br />

Hotel Zagorje ist 2010 erschienen (dt. unter<br />

dem Titel Hotel Nirgendwo im Zsolnay Verlag,<br />

2012, Ü.: Marica Bodrožić). Auf Deutsch ist sie in<br />

der Anthologie der kroatischen Poesie Konzert<br />

für das Eis (Verlag Wunderhorn, 2010, interlineare<br />

Übersetzung: Alida Bremer) vertreten.<br />

Jeton Neziraj<br />

Ein Albaner auf dem<br />

Begräbnis von Franz<br />

Ferdinand<br />

Ich kenne die Geschichte gut. Gar kein Problem.<br />

Dann vergesse ich das Gespräch für einige<br />

Monate, bis er mich wieder fragt:<br />

„Jeton, hast du den Text schon fertig“<br />

Erst jetzt nehme ich es ernst. Ich fange an,<br />

nachzudenken. Ich stelle fest, dass ich in Wirklichkeit<br />

sehr wenig weiß. Die ersten verworrenen<br />

Bilder, die mir einfallen, stammen aus<br />

einem Film, den ich irgendwann mal gesehen<br />

habe. Ich "sehe" einen Mann und eine Frau, wie<br />

sie entspannt durch die Straßen von Sarajevo<br />

fahren, und am Rand sehe ich andere Männer<br />

und Frauen, die ihnen Beifall klatschen und<br />

Blumen zuwerfen. Dann tritt aus der Menge<br />

Gavrilo Princip heraus, ein kleiner Kerl, mit einer<br />

Pistole, und schießt „im Namen des Volkes“<br />

auf die beiden. Das Opfer, Franz Ferdinand, fällt<br />

mit aufgerissenen Augen zu Boden. Die Frau,<br />

die Herzogin Sophie, lässt die Blumen fallen<br />

und wirft sich über den Körper ihres sterbenden<br />

Mannes …<br />

„Stirb nicht, stirb nicht …“<br />

Franz Ferdinand stirbt.<br />

Mehr weiß ich nicht. Natürlich weiß ich<br />

noch, dass es danach zu einem großen Schlamassel<br />

kam: dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.<br />

Aber dieses Wissen reicht nicht. Ich<br />

habe ein Problem. Alle diese Dinge sind bekannt<br />

und ich kann keinen Essay schreiben, der<br />

etwas Neues beleuchten würde. Ich kann nicht<br />

einmal eine Erzählung schreiben und noch weniger<br />

eine Theaterszene.<br />

Ich brauche einen Raki.<br />

Ein österreichischer Erzherzog, ein serbischer<br />

Terrorist… Sarajevo… Nichts Außergewöhnliches,<br />

was die Fantasie eines albanischen<br />

Schriftstellers reizen würde. Ich müsste in dieser<br />

Geschichte einen albanischen „Aufhänger“<br />

finden. Es wäre schön, wenn zum Beispiel dieser<br />

Franz Ferdinand albanischer Herkunft wäre<br />

… Hmmm. Scheint nicht glaubwürdig zu sein.<br />

Ich muss weiter nachdenken. Also, der Großvater<br />

von Gavrilo Princip war in Wirklichkeit ein<br />

Albaner… Hmmm… Hmmmm! Oder noch besser:<br />

Gavrilo Princips behandelnder Arzt sagte<br />

ihm eines Tages: „Mein Junge, es steht schlecht<br />

um dich, du hast nicht mehr lange zu leben. Was<br />

möchtest du in den dir noch verbleibenden Jahren<br />

und Monaten machen“ Der traurige Gavrilo<br />

antwortete: „Nichts, weil ich nicht weiß, was<br />

ich machen soll. Ich warte einfach auf den Tod.“<br />

Da fragte ihn sein Arzt: „Warum gehst du nicht<br />

auf die Straßen von Sarajevo und tötest einen<br />

Albaner“ „In Sarajevo Einen Albaner Wie<br />

denn das“, antwortete Gavrilo.<br />

In der folgenden Nacht bekam Gavrilo erhöhte<br />

Temperatur. Schweißausbruch, dann<br />

Fieber, dann Schweißausbruch, dann einen<br />

leichten Husten und… Etwas bewegte sich in<br />

seinem Gehirn, wie ein Ruf, wie eine Botschaft.<br />

Nach dem Gespräch mit dem Arzt über die Aussicht<br />

auf nur noch wenige Monate Leben oder<br />

höchstens einige Jahre war Gavrilo durcheinandergekommen.<br />

In dieser Nacht schwor er Stein und Bein:<br />

Wenn ich keinen Albaner in Sarajevo töte, dann<br />

den Chef der österreichischen Armee! Das Märchen<br />

erzählt weiter, dass…<br />

Während ich mich bei Kerzenlicht am Computer<br />

abmühe, fällt mir die Geschichte eines jungen<br />

Albaners, des Patrioten Avni Rustemi ein,<br />

der am 13. Juni 1920 im Hotel Continental in Paris<br />

den Verräter Esat Pashë Toptani erschossen<br />

hat. Also, Avni nenne ich einen Patrioten, Esat einen<br />

Verräter. Heute. So haben wir es zumindest<br />

aus den Geschichtsbüchern gelernt. Aber die<br />

Dinge können sich in der Zukunft ändern. Die<br />

Rollen können sich ändern, wie es in der Vergangenheit<br />

so oft geschehen ist. Gott, was für eine<br />

Aufregung würde es geben, wenn man Avni Rustemi<br />

des Terrorismus beschuldigte Avni Rustemi<br />

wurde im Unterschied zu Gavrilo Princip<br />

aus dem Hinterhalt ermordet, zwei Monate nach<br />

seinem Attentat in Paris, von einem Agenten des<br />

albanischen Königs Ahmet Zogu. Das soll mal einer<br />

verstehen. Ich denke mir, dass es merkwürdig<br />

ist, dass die albanische Regierung für Ahmet<br />

Zogu, den wir bis zuletzt für einen Verräter gehalten<br />

hatten, letztes Jahr eine Büste errichtet<br />

hat! Sie sollten wissen, dass Avni Rustemi weder<br />

zum Verräter, noch zum Terroristen erklärt wurde.<br />

Er ist der Held. Und König Zogu ist auch nicht<br />

so schlecht dran. Er wurde nicht zum Helden erklärt,<br />

aber er bekam eine Büste.<br />

Deshalb brauchen sich die Serben nicht unwohl<br />

zu fühlen, wenn sie zum Beispiel Gavrilo<br />

Princip als Helden betrachten, während ihn fast<br />

die ganze übrige Welt als Terroristen ansieht.<br />

Das ist etwas Normales. So wie es normal sein<br />

wird, wenn es sich zum Beispiel eines Tages<br />

ändert. Wenn die ganze Welt ihn (Princip) als<br />

Helden betrachtet und die Serben als Verräter.<br />

Oder so ähnlich!<br />

Wer hat gesagt, dass die Verräter von heute<br />

morgen Scheiße sein werden (und übermorgen<br />

Helden) He<br />

Aber natürlich, noch ein Glas Raki!<br />

Aber ich komme noch einmal zurück auf die<br />

Geschichte. Oh, ich wusste nichts von dieser<br />

Geschichte. Das Internet hilft mir nicht richtig.<br />

Wikipedia bietet ein paar trockene Informationen,<br />

die mich nervös machten. Andere Seiten<br />

im Web enthalten ein paar Fotos, Daten, Informationen<br />

über Gavrilo, wo er geboren ist, wo er<br />

gestorben ist und wie sehr er das Vaterland geliebt<br />

hat, mehr nicht.<br />

Ich bin bereit, aufzugeben, und dem Redakteur<br />

zu schreiben: „Nein, mein Freund, ich weiß<br />

es nicht, ich kann es nicht, ich schaffe es nicht…<br />

Ich bin nicht in der Lage, etwas Brauchbares zu<br />

schreiben. Sollen es die Serben oder die Österreicher<br />

schreiben oder auch die Bosnier.“<br />

Schlaflose Nächte. Gavrilo erscheint mir im<br />

Traum. Mal allein und mal mit dem albanischen<br />

Patrioten Avni Rustemi. Dann träume ich von<br />

Franz Ferdinand, von der Herzogin …<br />

„So this is how you welcome your guests –<br />

with bombs!“, sagte Erzherzog Franz Ferdin-<br />

and zum Bürgermeister Čurčić, der für ihn die<br />

Willkommensrede hielt. Der Erzherzog wird<br />

gestresst gewesen sein. Natürlich. Kurz zuvor<br />

war eine Bombe in seiner Nähe geworfen worden.<br />

Er war entkommen, aber jetzt zitterte er,<br />

vor Angst, vor Traurigkeit, vor Zorn …<br />

„… Eine Bombe… Sie haben mich mit einer<br />

Bombe empfangen…“<br />

Dann flüsterte ihm die Herzogin ins Ohr:<br />

„Lass ihn weiterreden. Du machst dich lächerlich.<br />

Er ist unschuldig.“<br />

Irgendwie so. Oder sie könnte zu ihm gesagt<br />

haben:<br />

„Zeig keine Schwäche. Lass ihn weiterreden<br />

und entbinde ihn dann seines Postens...“<br />

Der einzige Zeuge dieser ins Ohr geflüsterten<br />

Worte, Franz Ferdinand, wurde kurz darauf<br />

ermordet. Ihre Wahrhaftigkeit ist also reine<br />

Spekulation. Es ist eine Re-Konstruktion, wie<br />

in den englischen Dokumentarfilmen, die sich<br />

zum Beispiel bemühen, das Niederbrennen von<br />

Troja oder etwas Ähnliches zu rekonstruieren,<br />

wovon wir nicht so viel wissen.<br />

Aber kommen wir noch einmal zum Flüstern<br />

der Herzogin zurück.<br />

„Unterbrich ihn nicht, damit er schnell fertig<br />

ist. Ich muss Wasser lassen.“<br />

Oder vielleicht:<br />

„Du wolltest nicht auf mich hören, als ich<br />

dir sagte, dass wir nicht in diesen gottvergessenen<br />

Ort fahren sollen. Jetzt musst du die Demütigungen<br />

ertragen.“<br />

Der Erzherzog beruhigte sich wieder, und<br />

der Bürgermeister Čurčić beendete seine Rede.<br />

Schwacher Beifall.<br />

„Albaner, Albaner …“, brülle ich im Traum.<br />

Wo sind die Albaner in dieser Geschichte<br />

Ich gebe auf. Es gibt keine Albaner. Es gibt<br />

keinen Text. Warum sollte ich mich mit etwas<br />

quälen, was zu tun ich anscheinend nicht imstande<br />

bin. Alles ist gesagt worden, und es haben<br />

die Schriftsteller jener Nationen gesagt, die<br />

durch diese Geschichte verbunden sind. Jetzt<br />

haben auch die Albaner einen Teil der Rechnung<br />

für den Schlamassel von Princip bezahlt,<br />

aber es ist nicht das erste Mal, dass wir für den<br />

Schlamassel anderer bezahlen (hu, wie kann ich<br />

nur so etwas denken!).<br />

Warte ein wenig, sage ich mir. Schließe die<br />

Augen für einen Augenblick und denke an den<br />

kritischen Moment. Franz Ferdinand wird von<br />

der Pistole in der grausamen Hand Gavrilo<br />

Princips getroffen. Die Herzogin kauert im Sitz<br />

Beton International März 2014 24


des Phaetons. Franz Ferdinand sinkt in sich zusammen<br />

und droht aus dem Wagen zu fallen.<br />

Der Fahrer hält an. Die Wachen stürzen sich auf<br />

Gavrilo und reißen ihm die Pistole aus der Hand.<br />

Einer Passantin fällt der Hut aufs Pflaster.<br />

„Oh, mein Hut“, schreit die Dame.<br />

Die Herzogin wirft sich auf den sterbenden<br />

Franz Ferdinand, fasst ihn am Kragen und bittet<br />

ihn tränenüberströmt, nicht zu sterben…<br />

„Stirb… nicht… “<br />

Die Wachen ergreifen die Herzogin und ziehen<br />

sie weg. Sie schreit und wehrt sich.<br />

„Noch ein Wort… Ich will ihm noch ein Wort<br />

sagen… Lasst mich los, ihr Bastarde, ihr habt ihn<br />

nicht beschützt.“<br />

Die Frau, der gerade der Hut heruntergefallen<br />

ist, schreit:<br />

„Oh, mein Hut… Oh, mein Hut.“<br />

Ich trinke. Aus Verzweiflung. Aus Trübsinn.<br />

Ein Albaner, ein Albaner… Ein Königreich für<br />

einen Albaner!<br />

Aber dann gebe ich zerschmettert auf. Ich<br />

verzichte auf den Wunsch, die Implikation eines<br />

Albaners in dieser Geschichte zu finden.<br />

Mission impossible.<br />

Ich forsche im Internet, zum letzten Mal.<br />

Das Begräbnis von Franz Ferdinand. Ich hoffe,<br />

dass es wenigstens dort einen Albaner gegeben<br />

haben mag. Das muss doch möglich sein. Ich sage<br />

mir, das muss ein großartiges Begräbnis gewesen<br />

sein. Der Erzherzog hat es verdient. Schluss- und<br />

letztendlich war sein Leben so wertvoll, dass es<br />

den Ersten Weltkrieg verursacht hat. Deshalb<br />

muss auch sein Begräbnis außerordentlich gewesen<br />

sein. Aber das Internet treibt mich in die<br />

Verzweiflung, schon wieder, wer weiß zum wievielten<br />

Mal. Was ich darin lese, ist furchtbar.<br />

Ganz die Geschichte dieser Wiener Bastarde, die<br />

ihm aus persönlichem Trotz kein menschliches<br />

Begräbnis erlaubt haben, wegen einer… wegen<br />

einer Herzogin, die von der grausamen Hand eines<br />

serbischen Analphabeten ermordet wurde.<br />

Ein Albaner… ein Albaner auf dem Begräbnis<br />

von Franz Ferdinand. Es muss einen gegeben haben…<br />

Tut es für mich. Bitte gebt mir einen Albaner<br />

in dieser Geschichte…! Please… Bitte…<br />

Ich sehe verworren. Der Raki hat sein Werk<br />

getan. Basta, sage ich. Das war´s. Es gibt keinen<br />

Text, definitiv. Morgen schreibe ich dem bescheuerten<br />

Redakteur...<br />

Kein Albaner, kein Text.<br />

Ich trinke trotzdem noch ein letztes Glas Raki.<br />

Aus dem Albanischen von<br />

Zuzana Finger<br />

Jeton Neziraj<br />

Geboren 1977 in Kacanik, Kosovo. Er ist Direktor<br />

des Multimedia Centers in Prishtina und war von<br />

2008 bis 2011 künstlerischer Leiter des Nationaltheaters<br />

im Kosovo. Er hat zahlreiche Bücher und<br />

Theaterstücke geschrieben, von denen viele bereits<br />

in mehrere Sprachen übersetzt wurden.<br />

Nenad Veličković<br />

Hasenscharte<br />

Wäre da nicht die Hasenscharte in seinem<br />

nagetierähnlichen Gesicht, könnte ich ihn heute<br />

in der Straßenbahn gar nicht inmitten der<br />

anderen Fahrgäste ausmachen. Ich würde mich<br />

auch nicht mehr an ihn erinnern, wäre da nicht<br />

jene unbändige Wut gewesen, mit der er damals<br />

in der Abenddämmerung ganz durchfroren aus<br />

seinem Hinterhalt zurückgekehrt war und gegen<br />

die Tschetniks und ihre Feigheit gezetert hatte.<br />

Seine Leute kamen manchmal zu unseren<br />

Vorderstellungen, immer nachts und immer<br />

allein, mit Snipergewehren, die sie zärtlich auf<br />

dem Schoß hielten wie Haustiere. Etwa hundert<br />

Schritte über unserem Schützengraben, im Niemandsland,<br />

bezogen sie kurz vor Morgengrauen<br />

Stellung in den Ruinen eines niedergebrannten<br />

gelben Hauses, mit Blick auf die Kaserne und<br />

das Leben darin. Ich bin noch nie dort hinaufgestiegen,<br />

weder nach dem Krieg noch heute, da<br />

die Frist abläuft, in der ich die Geschichte über<br />

das Jahr neunzehnhundertvierzehn zu Ende<br />

schreiben muss.<br />

Die Geschichte sollte von einem Wiener<br />

Paar handeln, nicht zwangsläufig Mann und<br />

Frau, die im Juni des nächsten Jahres nach Sarajevo<br />

kommen, um ihre erlahmte Beziehung<br />

wiederzubeleben, und zwar zu den Feierlichkeiten<br />

anlässlich des Attentats auf Sophie und<br />

Franz Ferdinand. (Ich habe keine klare Vorstellung<br />

davon, wie diese Feierlichkeit aussehen<br />

könnte, genauso wenig wie ich sicher bin, ob<br />

Feierlichkeit überhaupt das richtige Wort ist<br />

für diese Manifestation, bei der es darum geht,<br />

europäische Kulturfonds zu melken. Wie ich<br />

auch nicht sicher bin, ob die oben genannte Geschichte<br />

das ist, was Sie gerade lesen und was<br />

am selben Euter hängt.)<br />

Wie dem auch sei, in der Einleitung würde<br />

die Geschichte die beiden (Männer) auf ihrem<br />

Spaziergang durch die Stadt begleiten und damit<br />

auch die Stadt skizzieren, ganz im Zeichen<br />

des hundertjährigen Jahrestags; vielleicht würde<br />

sie, die Geschichte, mit ihnen gemeinsam in<br />

der Straßenbahn aus dem Wiener Museum fahren,<br />

die eigens aus diesem Anlass zusammen mit<br />

den eingespannten Lipizzanern nach Sarajevo<br />

gekarrt worden ist; oder sie würde mit ihnen<br />

durch den aufgrund der Anwesenheit von Diplomaten<br />

veredelten botanischen Garten des<br />

geschlossenen Landesmuseums schlendern,<br />

mit einem Glas Champagner in der Hand, mit<br />

dem auf die österreichischen Banken angestoßen<br />

wird; oder aber sie würden in orientalisch<br />

anmutenden Schuhen im Walzertakt auf dem<br />

Parkett der Olympiahalle „Zetra“ tänzeln, beim<br />

feierlichen gemeinsamen Konzert der Saraje-<br />

voer und der Wiener Philharmonie; oder im<br />

Hotel Europa mit dem Kopf nicken, im Rahmen<br />

eines wissenschaftlichen Symposiums zum<br />

Thema Vergangenheit und Zukunft. Die Helden<br />

dieser Geschichte würden bei „Željo“ Ćevapčići<br />

essen, sie würden beim Brunnen „Sebilj“ die<br />

Tauben füttern, türkischen Kaffee trinken und<br />

sich den Kaffeegenuss mit Tufahije versüßen,<br />

bis sich ihnen schließlich beim Alten Rathaus<br />

„Vijećnica“ die folgende Kulisse darbieten würde:<br />

ein aufgemaltes Automobil in Echtgröße,<br />

darin der Fahrer und das Thronfolgerpaar mit<br />

Löchern statt Köpfen, sodass die Touristen ihre<br />

Köpfe hindurch stecken und einen Tag lang Unmengen<br />

von „Likes“ auf Facebook ernten können.<br />

Einer von den beiden (es sollen doch zwei<br />

Männer sein, denn in diesem Kontext verfügt<br />

ein solches Stereotyp über eine beträchtliche<br />

literarische Potenz) soll sich von der Szenerie<br />

begeistert zeigen und darauf beharren, sich fotografieren<br />

zu lassen. Der andere findet die Kulisse<br />

widerlich, er denkt nicht einmal im Traum<br />

daran, seinen Kopf unter Sophies Hut zu stecken.<br />

Der Ältere der beiden findet die Leichtigkeit<br />

des Jüngeren zunehmend anstrengend, diese<br />

seine Oberflächlichkeit, die dazu imstande ist,<br />

das eigene Leben in ein Disneyland zu verwandeln,<br />

wodurch der Altersunterschied zu seinem<br />

Schaden immer größer wird, anstatt sich mit<br />

der Zeit zu verringern. Nach der ersten Verliebtheit<br />

hat sich der Nebel wie an einem sonnigen<br />

Morgen gelichtet, und der Ältere entdeckt im<br />

Jüngeren eine schmerzlich hohle Welt, unverbesserlich<br />

banal, ermüdend vorhersehbar; ein<br />

Optimismus, der sich aus dem Unwissen speist,<br />

eingepackt in einen geschmeidigen Wollknäuel,<br />

ein Bissen, der im Hals stecken bleibt wie ein<br />

Stück vom vergifteten Apfel.<br />

Der Jüngere will jedoch keineswegs aufgeben;<br />

für ihn ist es nicht das erste Mal, dass ihm<br />

die bleierne Ernsthaftigkeit auf seine Tanzschuhe<br />

steigt. Indessen liegt der ganze Reiz einer<br />

Beziehung genau darin begründet: der geliebten<br />

Mumie Leben einzuhauchen. Der Mensch –<br />

das ist nicht ein Sarkophag, gemeißelt aus dem<br />

Granit der Ethik, sondern ein Gesicht im Loch<br />

der Kulisse vor dem Alten Rathaus, verzerrt wie<br />

bei einem Karneval, in den Lauf eines Revolvers<br />

starrend wie in den Anus der Geschichtsschreibung.<br />

Die Windstöße der Geschichte durchkämmen<br />

unterdessen die Perücken auf den<br />

Wachspuppen des Thronfolgerpaars.<br />

Für ihn ist es lediglich amüsant und alles<br />

andere als widerlich, auf den Blutflecken zu<br />

stehen wie auf einem roten Teppich. Dort, etwa<br />

hundert Meter weiter, wurden zwei Menschen<br />

umgebracht, was in weiterer Folge Millionen<br />

von Menschen in den Abgrund zog, während er<br />

da steht und wie in einer Coca-Cola-Werbung<br />

lacht. Ihm sind sie alle einerlei, ob Mörder oder<br />

Opfer, es ist alles nur Zufall, jeder von ihnen ist<br />

lediglich eine Funktion im Narrativ, ein fluides<br />

Schicksal, beschmutzt durch die Berührung des<br />

Betrachters, Leerstellen in der Kulisse eines gelernten<br />

Malers. Kurz gesagt, alles eine Frage der<br />

Perspektive, nicht etwa der Tatsachen, der Gaskammern<br />

oder der in Erdlöchern verscharrten<br />

Knochen. Nur von der Perspektive, und nicht<br />

etwa von den Bleikugeln im Bauch der schwangeren<br />

Frau, hängt es ab, ob Gavrilo Princip ein<br />

Mörder ist oder ein Held.<br />

An dieser Stelle der Geschichte kommt gemeinsam<br />

mit Princip auch Hasenscharte ins<br />

Spiel.<br />

Wir schreiben einen der Kriegswinter Anfang<br />

der neunziger Jahre, auf der Linie über<br />

Sarajevo, in einer silberfarbenen Landschaft,<br />

so ruhig wie eine eingefrorene Bildaufnahme.<br />

Hasenscharte hat sich im halbzerstörten gelben<br />

Haus verschanzt, wie eine Raupe im Schlafsack,<br />

und beobachtet durch das optische Visier<br />

aufmerksam das Geschehen. Gestern wurde<br />

ihm gemeldet, dass ein Stück der schützenden<br />

Nylonfolie vom Wind abgerissen worden war.<br />

Damit ist nun der Blick frei auf die Bewegungen<br />

in der Kaserne. In der Tat, gebückte Gestalten<br />

laufen immer wieder durch den ungeschützten<br />

Raum, tauchen auf und verschwinden eine oder<br />

zwei Sekunden später.<br />

Hasenscharte wartet geduldig darauf, dass<br />

die Wintersonne sich durch den morgendlichen<br />

Nebel beißt, die durchgefrorenen Spatzen<br />

aufweckt und die übertriebene Wachsamkeit<br />

einlullt.<br />

Endlich taucht die Zielscheibe auf, eine<br />

Gestalt, die sich geradezu sorglos langsam bewegt,<br />

eine gerade Haltung einnimmt und davon<br />

überzeugt ist, dass der Krieg ganz einfach<br />

aufhört, wenn man beschließt, ihn zu ignorieren.<br />

Mit einem wundersamen und ganz und<br />

gar autodidaktischen chirurgischen Talent gibt<br />

Hasenscharte einen Schuss ab und sieht zu, wie<br />

der Mann zu Boden fällt und sich wie ein Wurm<br />

am Angelhaken um seinen durchschossenen<br />

Bauch windet. Er ist tot, wenn auch noch nicht<br />

ganz, nicht sofort, aber das weiß niemand außer<br />

dem Sniper, der darauf wartet, dass andere<br />

ihm zu Hilfe eilen, sodass er den ersten Toten<br />

unter ihren Leichnamen begraben kann. Sein<br />

Finger am Abzug friert, in den feuchten Wänden<br />

ist es kalt, ihm kommt es so vor, als könnte<br />

er das Jaulen und die Hilferufe des Angeschossenen<br />

hören, immer schwächer und leiser, aber<br />

niemand betritt den Kreis, den das Fadenkreuz<br />

in der verdunkelten Landschaft wie in<br />

einer Kulisse aus Sperrholzplatten in Stücke<br />

geschnitten hat. Er wünscht, er könnte durch<br />

das optische Visier das Auge des Sterbenden<br />

vergrößern und darin die gespiegelten Gesichter<br />

der Feiglinge erkennen, die sich rechts und<br />

links von ihm hinter Barrikaden wie hinter<br />

Bühnenvorhängen verschanzt halten. Die Pupille<br />

betrachten, wie sie sich dehnt, dürstend<br />

nach Licht, es gierig hinunterschlingend, wie<br />

ein schwarzes Loch, in dem Himmel und nack-<br />

te Äste und kalte Schornsteine und zerschlagene<br />

Fenster verschwinden wie im aufgerissenen<br />

Schlund eines Köters.<br />

Trotzdem wartet er vollkommen angespannt.<br />

Er weiß, wenn die anderen auftauchen,<br />

hat er nur einige Sekunden Zeit, um ihren<br />

Schwachpunkt zu orten, die ungeschützte Leistenregion<br />

oder den schmalen Spalt zwischen<br />

Schutzhelm und Panzerkragen. Unter seiner<br />

Fingerkuppe spürt er den Abzug, schmal wie<br />

ein angespannter Seidenfaden im Wasserstrudel.<br />

Es gibt keinen wesentlichen Unterschied<br />

zwischen dem Mann dort unten, der sich auf<br />

dem zerschossenen Asphalt in einer roten Pfütze<br />

zusammenkrümmt, die unter ihm immer<br />

größer wird, und einem streunenden Hund, der<br />

in einem Jagdrevier angeschossen wurde. Auf<br />

dieselbe Weise erlöschen sie, auf dieselbe Weise<br />

zuckt ihr Bein, in immer längeren Abständen,<br />

als würden sie im Schlaf rennen.<br />

Er ist darauf trainiert, stundenlang auf der<br />

Lauer zu liegen, also atmet er langsam. Reglos<br />

liegt er in zwei übereinander gezogenen Schlafsäcken<br />

und spürt keine Kälte. Zwischendurch<br />

kneift er ein Auge zusammen, damit es ruhen<br />

kann, aber nur für kurze Zeit, weil er nicht<br />

glauben kann, dass die dort unten bis zum Einbruch<br />

der Dunkelheit im Versteck bleiben, dass<br />

sie sich nicht getrauen, den Mann, mit dem sie<br />

noch am selben Tag aus einem Kessel gegessen<br />

und aus einer Feldflasche getrunken haben, einfach<br />

so sterben zu lassen. Wie sollen sie einander<br />

in die Augen sehen, wie wollen sie der Witwe<br />

vor die Augen treten, was werden sie ihren<br />

eigenen oder seinen Kindern sagen, sofern er<br />

welche hatte<br />

Er schluckt die Spucke herunter, angewidert<br />

und wütend zugleich: Er ist noch nie im Leben<br />

so erniedrigt und hintergangen worden. Als<br />

der angeschossene Mann schließlich ein letztes<br />

Mal zuckt und anschließend zur Erleichterung<br />

aller ganz still wird, schlussfolgert Hasenscharte,<br />

dass das Spiel vorbei ist. Er verkriecht sich<br />

ganz in die Schlafsäcke, steckt seine durchfrorenen<br />

Finger unter die Achseln und döst bis zur<br />

Abenddämmerung vor sich hin.<br />

Ich treffe ihn ab und zu, in der Straßenbahn,<br />

auf dem Markt, im Krankenhaus, mit Befunden<br />

im blauen Patientenbüchlein oder aber<br />

mit Kartoffeln und Zwiebeln im Plastiksack. Er<br />

wirkt wie ein fürsorglicher Vater und ein guter<br />

Hausmann. Nach ihm sind keine Schulen benannt,<br />

keine Straße trägt seinen Namen, er ist<br />

weder ein Held noch ein Mörder.<br />

Er steht vor dem Alten Rathaus, neben der<br />

Kulisse mit der Szene aus dem Film „Das Attentat<br />

von Sarajevo“, und kassiert das Geld für die<br />

Fotos – in meiner bestellten Geschichte zum<br />

verfehlten Thema neunzehnhundertvierzehn.<br />

Aus dem Bosnischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Nenad Veličković<br />

Geboren 1962 in Sarajevo. Er ist Initiator/Redakteur/Mitarbeiter<br />

mehrerer Zeitschriften<br />

und Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände.<br />

Er ist Dozent an der Philosophischen<br />

Fakultät in Sarajevo.<br />

Beton International März 2014 25


Kristian Novak<br />

Schwarzer Fleck,<br />

mappa mundi<br />

Im Mittelalter zeichneten Gelehrte alles in<br />

eine mappa mundi ein, was sie über die bekannten<br />

Teile der Welt wussten und über die unbekannten<br />

dachten, und so konnte es durchaus<br />

passieren, dass neben eingezeichneten Städten,<br />

Meeresgewässern und Erhebungen auch<br />

Drachen, Meeresungeheuer und Menschen mit<br />

Hundeköpfen hervorlugten. Ich gebe zu, für<br />

mich sind gerade jene Orte, die ich aufgesucht<br />

habe, unerforschtes Territorium, und zuweilen<br />

trage ich meine eigene Mythologie in meine<br />

mind map mundi ein. Die genaue Stelle in Sarajevo,<br />

wo Gavrilo Princip mit mehreren Schüssen<br />

Erzherzog Ferdinand und seine Gemahlin<br />

tötete, angeblich bei der Abbiegung vom damaligen<br />

Appel-Kai in die damalige Ulica Franje Josipa,<br />

ist auf meiner persönlichen mappa mundi<br />

leer geblieben, so wie ich mich selbst leer fühlte,<br />

als ich dort keine zehn Sekunden lang verweilte.<br />

In dieser Stadt trieb der Tod sein Unwesen<br />

hinterher in einem solchen Ausmaß, dass mir<br />

allein schon der Gedanke daran, dort irgendetwas<br />

einzuzeichnen, gewissermaßen spießig<br />

erschien. Was wäre jedoch, wenn ich mich<br />

wirklich festlegen müsste, mich entscheiden im<br />

Hinblick auf diese Stelle, von der manche glauben,<br />

sie sei die Brutstätte für das Abschlachten<br />

von Millionen Menschen gewesen Was würde<br />

ich einzeichnen<br />

Die Dinge liegen natürlich nicht so einfach.<br />

Es ist eine Sache, zu behaupten, das Leben eines<br />

Erzherzogs und einer Gräfin sei nicht wichtiger<br />

als das Leben irgendeines anderen Menschen<br />

in dieser Stadt, der mit Gewalt ins Jenseits befördert<br />

wurde. Andererseits gilt der Tod des<br />

Paares, das dem Attentat zum Opfer fiel, als entscheidend,<br />

während der Mörder dieser beiden<br />

der Chronologie der jugoslawischen Einheit auf<br />

unterschiedliche Arten eingeschrieben wurde.<br />

Ich sehe das so: Wäre das Konzept der jugoslawischen<br />

Einheit ein Film, wäre es eine sehr kurze<br />

Szene mit einem riesigen Nachspann. Vielleicht<br />

liege ich vollkommen falsch, aber so ist<br />

nun einmal meine Erfahrung – die Erfahrung<br />

eines Menschen, der im Jahr 1979 geboren wurde.<br />

Ich sehe eine Reihe von Regisseuren und<br />

Mitbeteiligten, eine Vielzahl unterschiedlicher<br />

Konzeptionen. Und jeder einzelne Teilnehmer<br />

müsste unbedingt alle seine Opfer, alle seine<br />

Helden und Ehrenmänner aufzählen. Princip<br />

würde in mehreren Rollen auftreten: als positive<br />

Gestalt, als Antagonist, Regieassistent, best<br />

boy. Ich betrachte seine Fotografie, die dunklen<br />

Augenringe, den spärlichen Oberlippenbart, einen<br />

schwarzen Schlafrock, der möglicherweise<br />

seiner Mutter gehörte. Irgendetwas stimmt da<br />

für mich nicht, ich bringe es einfach nicht fertig,<br />

ihn als bedeutsam zu betrachten. Ich sehe einen<br />

Jungen von etwa zwanzig Jahren, aufgewachsen<br />

unter problematischen Umständen, allem<br />

Anschein nach ein missratenes Kind, und ich<br />

bezweifle, dass er über seine Perspektiven Bescheid<br />

wusste. Auf diese Fotografie bin ich vor<br />

kurzem über Facebook gestoßen. Ein Bekannter<br />

von mir hatte nämlich einen Kommentar<br />

über den Gründer eines wichtigen kroatischen<br />

Informationsportals abgegeben, genau genommen<br />

über seine Statusmeldung.<br />

Dieser relativ junge Mann (wir sind fast<br />

gleich alt) hatte, wie ich sah, als Profilfoto<br />

ebendieses schwarz-weiße Porträtbild von<br />

Gavrilo Princip. Das breite Titelbild seines<br />

Profils war das Foto eines Graffitos: „Macht<br />

euch keine Sorgen, wir erschießen sie alle“ mit<br />

einem roten Stern statt einer Unterschrift. Ich<br />

schaute seine Statusmeldungen durch, um eine<br />

Erklärung dafür zu finden, auf wen er dermaßen<br />

zornig war. Kurz gesagt: Er würde am liebsten<br />

alle kroatischen Politiker aufhängen, linke<br />

wie rechte. Ein legitimer Standpunkt, könnte<br />

man sagen, aber wenn wir den Kontext berücksichtigen,<br />

stellt sich die Frage, ob es auch ein<br />

genuiner Standpunkt ist. Das heißt, ein Mann,<br />

der allem Anschein nach zur Elite zählt und<br />

wunderbar davon leben kann, dass er Informationen<br />

produziert und anbietet, nimmt als<br />

Symbol seiner zornigen Lebensphase das Foto<br />

von jemandem, den er als Tyrannenmörder<br />

sieht, und erhebt ihn damit in den Rang eines<br />

positiven Musterbeispiels. Wenn wir ein Auge<br />

zudrücken bei jeder erdenklichen Perspektive,<br />

unter der man Princips Tat betrachten kann,<br />

sowie bei den zwei, drei weiteren Tyranneien,<br />

die sich nach dem Zusammenbruch des von<br />

Princip so gehassten Reiches etablieren konnten,<br />

wenn wir neue Attentate und neue Imperialismen<br />

außer Acht lassen, so bleibt dennoch<br />

die Frage: Warum eine solche Verbindung Soll<br />

Princips Fotografie vor dem Hintergrund des<br />

Graffitos die jugoslawische Einheit symbolisieren<br />

Oder möglicherweise den Klassenkampf,<br />

den Antifaschismus Ist es möglich, dass der<br />

kränkliche Zwanzigjährige irgendetwas über<br />

den Faschismus wusste, als er seine Pistole<br />

zückte Vom Roten Stern hätte er erst Jahre<br />

nach seinem Attentat etwas hören können.<br />

Oder handelt es sich, unabhängig vom Kontext,<br />

um einen Mann, den zu bewundern wir<br />

angehalten sind, weil er bereit war, für eine<br />

gerechtere Welt etwas zu tun, wozu andere<br />

nicht genug Mut hatten Wenn wir uns schon<br />

in diese Richtung bewegen, können wir uns mit<br />

ein wenig Phantasie ausmalen, was wir wollen,<br />

wir können einen Bezug herstellen zwischen<br />

Gavrilo und den Pyramiden oder den Freimaurern<br />

oder dem lebenden Elvis Presley, weil die<br />

Erinnerung an ihn schlussendlich zu einem Internet-Mem<br />

geworden ist, sie ist eine Einheit<br />

der kulturologischen Information, ein Symbol,<br />

mit dem wir in Ermangelung einer Idee den aktuellen<br />

Standpunkt unseres virtuellen Ich beschreiben<br />

können. Unser lokaler Che Guevara.<br />

Curt Cobain. James Dean. Andreas Baader.<br />

Cristiano Ronaldo. Khal Drogo. Warum mir das<br />

alles so auf die Nerven geht Weil ich die Nase<br />

voll habe von Memen. Obwohl sie halbleer<br />

sind, stellen sie mächtige Indikatoren dar, die<br />

nichtexistente Argumente für jede gegenteilige<br />

Erzählung über unsere angebliche gemeinsame<br />

Geschichte liefern, über die Interessenssphären<br />

und über die niemals verschmerzte<br />

und niemals verwirklichte Brüderlichkeit in<br />

einem gemeinsamen Arkadien, in dem sich alle<br />

gegenseitig respektieren. Solche Geschichten<br />

sind, scheint es, so zahlreich wie die Menschen,<br />

die sie erzählen möchten, aber eines ist ihnen<br />

allen gemeinsam – der tragikomische und potenziell<br />

gefährliche Irrtum, unsere Völker und<br />

aus ihnen stammende Einzelpersonen hätten<br />

in mehreren Anläufen Einfluss auf das Schicksal<br />

der gesamten Welt gehabt.<br />

Im Internet kursiert eine weitere lustige<br />

zeitgenössische mappa mundi. Statt der jeweiligen<br />

Staatsnamen ist eingetragen, was der<br />

durchschnittliche US-Amerikaner angeblich<br />

über diesen Teil der Welt denkt. Bei Brasilien<br />

steht beispielsweise, es sei ein Land ohne<br />

Schamhaare, bei Mexiko steht housekeeping.<br />

Der Indische Ozean ist mit Osama´s grave überschrieben.<br />

Über dem Balkan steht: You don´t<br />

wanna mess with those guys. Nicht schlecht –<br />

mit uns sollte man besser nicht herumspielen,<br />

wir sind bösartige und unantastbare Typen.<br />

Aber mir scheint, auf der globalen Skala funktioniert<br />

es nicht so: Wir sind nicht nur keineswegs<br />

unantastbar, sondern jeder, dem gerade<br />

danach ist, tastet uns an.<br />

Die Streitlust der Menschen auf dem Balkan<br />

wird als ein Teil ihrer Mentalität wahrgenommen,<br />

und so bekam man zu Beginn der<br />

neunziger Jahre in seriösen globalen Medien<br />

Hintergrundanalysen zu hören, nach denen wir<br />

angeblich deshalb gegeneinander kämpften,<br />

weil wir nun einmal sehr stur und halsstarrig<br />

seien. Zu einer solchen Sichtweise passt Princip<br />

als ein angeblicher Initiator historischer<br />

Veränderungen ganz wunderbar. Aber auch<br />

nur dann, wenn man die Tatsache außer Acht<br />

lässt, dass am Vorabend des Ersten Weltkrieges<br />

Kriegshetzerei einen recht legitimen Teil<br />

des öffentlichen Diskurses darstellte, und zwar<br />

nicht nur in Dorfkneipen mit gefährlichen Typen.<br />

Der Krieg war ein Element der kleinbürgerlichen<br />

Folklore, eine erwünschte Strategie<br />

zur Lösung internationaler Streitigkeiten, und<br />

so war irgendwann der Weg frei für eine Reihe<br />

von Wenn-Dann-Zündern, an denen der Krieg<br />

sich schließlich entfachte. Der britische Kriegshistoriker<br />

Michael Howard ist der Meinung,<br />

dass der Krieg an sich in der damaligen Öffentlichkeit<br />

der europäischen Staaten nicht als eine<br />

große Gefahr angesehen wurde. Im kollektiven<br />

Gedächtnis dominierte die Erinnerung an den<br />

Krieg von 1870/71, bei dem es sich um einen relativ<br />

kurzen Konflikt gehandelt hatte. Es hielt<br />

sich das Bild von Soldaten, die ihre schönen<br />

Uniformen anziehen, am Lagerfeuer Soldatenlieder<br />

singen, vormittags ein wenig kämpfen<br />

und nachmittags den Mädchen in der nächstgelegenen<br />

Stadt nachstellen, um sich zwei, drei<br />

Wochen später zu Hause mit entsprechenden<br />

Anekdoten zu brüsten.<br />

Ein solcher Kontext findet seine klare Bestätigung<br />

in den noch vor dem Krieg entstandenen<br />

Texten eines fast vergessenen Zeitgenossen<br />

Gavrilo Princips, des kroatischen<br />

Esperantisten, Lexikographen und Offiziers<br />

in der Armee der österreichisch-ungarischen<br />

Monarchie, Mavro Špicer. Wäre er ganz und<br />

gar in Vergessenheit geraten, wären wir um<br />

einen unbelasteten und dadurch umso erschütternderen<br />

Blick auf den Krieg ärmer, der<br />

Beton International März 2014 26


uns zeigt, dass die Welt geradezu freudig in<br />

den Krieg schlitterte. Es waren nämlich nicht<br />

nur die Staaten, die Aufrüstung im großen Stil<br />

betrieben, sondern auch die Öffentlichkeit<br />

war durchaus in der Lage, den Krieg als etwas<br />

Gutes zu sehen. Wie sonst wäre es möglich,<br />

dass ein so gebildeter Mann wie Špicer in seinen<br />

populärwissenschaftlichen Ausführungen,<br />

zwischen 1906 und 1911 auf Deutsch vorgetragen<br />

und publiziert, die Mobilmachung glorifizierte,<br />

den Pazifismus kritisierte und die<br />

Kriegsführung ästhetisierte, wobei er explizit<br />

betonte, der Krieg sei der Katalysator des allgemeinen<br />

Fortschritts der Menschheit, was<br />

sich dadurch belegen ließe, dass jedes große<br />

Kunstwerk von globaler Bedeutung unter dem<br />

Einfluss kriegerischer Ereignisse entstanden<br />

sei. Es scheint, diese Behauptungen waren keineswegs<br />

kuriose Ergüsse einer extremen Position,<br />

sondern eine verbreitete Meinung im<br />

Mainstream. Aus Špicers Texten spricht eine<br />

Zeit, in der es möglich war, anhand kunsthistorischer<br />

Betrachtungen von großen Werken<br />

und Poetiken der Weltliteratur, der Musik und<br />

der bildnerischen Künste eine These zu verteidigen,<br />

wonach Kunst und Krieg untrennbar<br />

miteinander verbunden seien und produktiv<br />

interagieren würden. Darüber hinaus war es<br />

möglich, Thesen zu unterbreiten, welche die<br />

positiven Auswirkungen einer militärischen<br />

Erziehung unterstrichen, Rekrutierung und<br />

Bewaffnung befürworteten und die Mobilmachung<br />

als attraktiv bezeichneten. Der Militarismus<br />

im Reiche der Poesie (1906), Ästhetik<br />

der Schlacht (1907), Kriegskunst und Tonkunst<br />

(1909) – so lauten einige Titel.<br />

„Schwert und Leier“ sind für Špicer zwei<br />

miteinander verwachsene Symbole; de facto bilden<br />

sie die Schnittstelle zwischen der kunsthistorischen<br />

und der tagespolitischen Ebene seiner<br />

Texte. Byron, Shakespeare, Michelangelo,<br />

die Marseillaise und noch das eine oder andere<br />

liefern Špicer Argumente für seine These, qualitätsvolle<br />

Kunst und der Militarismus seien untrennbar<br />

miteinander verbunden. Gerne greift<br />

er zurück auf die Zitate des preußischen Generals<br />

und Strategen des neunzehnten Jahrhunderts,<br />

Helmuth von Moltke, der in der Manier<br />

des Sozialdarwinismus die Meinung vertrat, die<br />

menschliche Rasse müsse Krieg führen, sofern<br />

sie weiterkommen wolle. „Der ewige Friede ist<br />

ein Traum, und kein schöner.“ Nicht einmal<br />

eine solche Idee wurde von den Zeitgenossen<br />

Špicers als extrem eingestuft. Howard betont,<br />

sie sei am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert<br />

weit verbreitet gewesen. Es ist nicht nötig,<br />

gesondert hervorzuheben, dass diese Idee nach<br />

dem Ersten Weltkrieg aus jeder ernsthaften<br />

Diskussion und aus dem öffentlichen Diskurs<br />

verschwunden war.<br />

Aber bevor die Menschen die möglichen<br />

Konsequenzen absehen konnten, waren sie der<br />

Meinung, dass man sich vor dem Krieg nicht<br />

allzu sehr fürchten sollte. Špicer dachte, die<br />

modernen Kriege seien zwar blutiger, aber dafür<br />

wesentlich kürzer und eigentlich humaner<br />

als früher. Er sah die Zeiten herannahen, da<br />

nur noch Maschinen gegeneinander kämpfen<br />

würden. Außerdem sei der Krieg im 20. Jahrhundert<br />

eine zivilisierte Sache: „Im zwanzigsten<br />

Jahrhundert ist unter zivilisierten Staaten<br />

ein Krieg […], dessen Ziel nur Vernichtung und<br />

Zerstörung ist, ganz undenkbar. Man besiegt<br />

den Feind nicht durch völlige Zerstörung seines<br />

Daseins, sondern durch Vernichtung seiner<br />

Hoffnung auf den Sieg.“<br />

Špicers Sichtweise auf die Kunst mag aus<br />

der heutigen Perspektive schockierend erscheinen.<br />

Aber Emiko Ohnuki-Tierney, die Autorin<br />

von Kamikaze, Cherry Blossoms and Nationalisms<br />

(2002), stellte fest, dass totalitäre Regime<br />

wie die Hitlers, Mussolinis oder Maos die Ästhetisierung<br />

des Krieges und der Armee gezielt<br />

einsetzten. Ohnuki-Tierney führt dies am Beispiel<br />

der japanischen Kamikaze-Piloten und<br />

der Symbolik der Kirschblüten vor und zeigt,<br />

dass die Ästhetisierung sich gut als Instrument<br />

für Manipulation eignet, weil das Bezeichnete<br />

durch die Ästhetisierung eigentlich unbestimmt<br />

wird. Die Kamikaze-Piloten sahen in<br />

den Kirschblüten nämlich kein kriegerisches<br />

Symbol, sondern ein Symbol für schmerzhafte<br />

Schönheit und ungelöste Dilemmata ihres tragisch<br />

kurzen Lebens, ein Symbol der Wiedergeburt<br />

und der Beziehung zwischen Mann und<br />

Frau. In diesem Sinne waren die Soldaten möglicherweise<br />

sogar in der Lage, sich der Ideologie<br />

zu widersetzen, nicht jedoch den Symbolen, die<br />

je nach Bedarf romantisiert oder dämonisiert<br />

wurden. So wie die Memen. Da kannst du alles<br />

so einzeichnen, wie es dir passt.<br />

Was würde ich also in meine eigene mappa<br />

mundi an der Stelle des Attentats von Sarajevo<br />

einzeichnen Ich würde einen guten, aber misshandelten<br />

Menschen einzeichnen, in dessen<br />

Körpergedächtnis zahlreiche Misshandlungen<br />

eingebrannt sind und der sein Leben damit<br />

zubringt, die Wiederholung dieses Traumas zu<br />

suchen. Das ist immer meine erste Assoziation,<br />

wenn ich von einem Ausländer gefragt werde,<br />

was für Menschen in unseren Gegenden leben.<br />

Ich würde auch das kroatische Dreiband einzeichnen,<br />

eine Lilie und einen zweiköpfigen<br />

Adler und die Krone des Hl. Stjepan, den Roten<br />

Stern und das Hakenkreuz, alles übereinander.<br />

Schwarz-gelb würde ich malen und blau und<br />

weiß und rot in einigen möglichen Anordnungen,<br />

und dann würde ich eine Handvoll Grün<br />

hinzufügen. Ich würde den Triglav und den<br />

Ohridsee einzeichnen und jedes andere Symbol,<br />

das mir einfiele. Ich würde so lange alles<br />

übereinander zeichnen, wie es angeblich Autisten<br />

gerne tun, dass zum Schluss nur noch<br />

ein schwarzer, fettiger Fleck übrig bliebe, der<br />

sich allmählich durch das Papier fressen würde.<br />

Noch eine weitere Berührung des Papiers,<br />

und als nächstes würde man über die hölzerne<br />

Tischplatte pflügen. Sodass niemand mehr jemals<br />

noch etwas einzeichnen könnte. Ich weiß<br />

nur nicht, ob man den Fleck daran hindern<br />

kann, sich weiter auszubreiten.<br />

Vielleicht ist das feig. Vielleicht ist es nur<br />

ein temporärer Luxus des Aufatmens, wie es<br />

uns das Vergessen beschert. Jedenfalls ist es gewiss<br />

kein Ausweg, keine Lösung und keine Antwort.<br />

Aber diese Kategorien sind als Ziele ohnehin<br />

unerreichbar für eine Gegend mit einer so<br />

widersprüchlichen Geschichtsschreibung, wie<br />

es der Balkan ist. Wer kann schließlich in dieser<br />

Gegend jemals irgendjemanden von irgendetwas<br />

überzeugen Wann ist so etwas das letzte<br />

Mal wirklich passiert Mir genügt es daher,<br />

zumindest mit einem schwarzen Fleck mein<br />

Gehirn daran zu hindern, sich selbst blutig zu<br />

kratzen.<br />

Was wir nämlich wirklich dringend nötig<br />

haben, ist Aussöhnung. Herausfinden zu wollen,<br />

was wirklich passiert ist, empfiehlt sich<br />

nicht. Vielleicht ist es sogar kontraindiziert.<br />

Aus dem Kroatischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Kristian Novak<br />

Geboren 1979 in Baden-Baden. Germanist,<br />

Kroatist und Prosaautor. Er unterrichtet an der<br />

Universität Zagreb und an der Universität Rijeka.<br />

Novak untersucht soziolinguistische Phänomene<br />

im historischen Kontext. In Kroatien<br />

sind von ihm die Romane Die Gehängten und<br />

Schwarze Mutter Erde erschienen.<br />

Ivana Šojat-Kuči<br />

IM PRINZIP…<br />

In einer utopischen Sichtweise könnte die<br />

Geschichtswissenschaft angesichts der Tatsache,<br />

dass sie über konkrete Angaben verfügt, die<br />

uns ausgehend von einem bestimmten Punkt<br />

auf der Zeitachse bis zum heutigen Chaos führen,<br />

und angesichts dessen, dass wir meistens<br />

über Ursachen und Folgen Bescheid wissen,<br />

die zu einer Bombe, einer Invasion, einem<br />

Umsturz, einer Diktatur oder einem Pogrom<br />

geführt haben, ohne weiteres eine exakte Wissenschaft<br />

sein. Die historische Exaktheit wäre<br />

nomenklatorisch fast durchführbar, wären da<br />

nicht ein paar „Kleinigkeiten“.<br />

Die Geschichtsschreibung ließ sich schon<br />

immer sehr leicht manipulieren. Man ist geneigt,<br />

die Geschichte als eine Tatsache anzunehmen, in<br />

Abhängigkeit von dem Staat, in dem man geboren<br />

wurde, und vom Volk, dessen Schoß man sozusagen<br />

entsprungen ist. Die Geschichte nimmt<br />

stets und unweigerlich menschliche Eigenschaften<br />

an, die Eigenschaften eines kleinen menschlichen<br />

Lebewesens, das zu Eitelkeit, Hochmut<br />

und Mythologisierung neigt. Daher ist es nicht<br />

verwunderlich, dass ein und dasselbe Ereignis in<br />

naher oder ferner Vergangenheit mit mehreren<br />

Interpretationen belegt werden kann: Die Tragödie<br />

der einen ist stets der wohlverdiente Triumph<br />

der anderen.<br />

Das gilt auch für das Attentat von Sarajevo,<br />

durchgeführt von Gavrilo Princip mit einer Pistole<br />

in der zitternden Hand, nachdem der bereits<br />

zur Zielscheibe gewordene Thronfolger<br />

von seinem Automobil aus die von Nedeljko<br />

Čabrinović geworfene Bombe abwehren konnte.<br />

Indem Princip den Erzherzog Franz Ferdinand<br />

und seine schwangere Gemahlin Sophie tötete,<br />

wurde Princip mit einem Schlag zum Terroristen<br />

und zum Helden zugleich, zum Schuft<br />

und Freiheitskämpfer.<br />

WAS WÄRE WENN…<br />

„Wenn dieser Dummkopf nicht gewesen<br />

wäre, würden wir hier in Osijek heute in einer<br />

Miniaturversion von Wien leben“, sagte vor<br />

einigen Tagen eine Freundin zu mir. Auf dem<br />

Hauptplatz. Wir hatten uns zufällig getroffen.<br />

Sie war richtig zornig, in Rage. Nachdem ich ihr<br />

gesagt hatte, dass ich über das Attentat von Sarajevo<br />

schreiben würde.<br />

Und sie war nicht die einzige.<br />

„Ach, wir Slawen sind ja geradezu dafür<br />

geschaffen, anderen zu dienen“, winkte ein Bekannter<br />

ab. Nach einigen Bieren. Im Theater-<br />

Kaffeehaus. Ich wollte ihm sagen, dass diese<br />

Schlussfolgerung ironischerweise aus der Etymologie<br />

unserer gemeinsamen Bezeichnung<br />

herrührt: Die Slawen leiten sich vom lateinischen<br />

Begriff für „Sklaven“ ab. Aber ich fiel<br />

ihm nicht ins Wort. Er hatte auch gar nicht zu<br />

mir gesprochen, sondern schüttete mit seinem<br />

alkoholdurchtränkten Redeschwall einen<br />

Freund am Nebentisch zu, dessen Augen glänzten.<br />

Wohl angesichts der Offenbarung. „Es wäre<br />

Beton International März 2014 27


esser gewesen, wenn uns die aus Wien und Budapest<br />

weiterhin beherrscht hätten, anstatt zuzulassen,<br />

dass die von dort drüben fünfzig Jahre<br />

lang auf uns herumtrampeln“, fuhr er fort und<br />

machte eine Kopfbewegung in Richtung Osten,<br />

womit er die Grenze zu Serbien meinte.<br />

Vom Einzelnen zum Ideologischen ist es<br />

kein großer Schritt. So wie der einzelne gerne<br />

alle anderen für seine eigenen Niederlagen beschuldigt,<br />

so begrüßen Ideologien gerne Umstürze,<br />

mit denen sie in Wahrheit gar nichts zu<br />

tun haben. Der Kommunismus (besser gesagt:<br />

Sozialismus), in dem ich aufgewachsen bin,<br />

begrüßte vieles: die Utopie, die er angeblich<br />

auf spektakuläre Weise verkörperte, die Französische<br />

Revolution, mit der die „Verdammten<br />

dieser Erde“ die Sache in die Hand genommen<br />

hätten, die Oktoberrevolution, die angeblich<br />

die Mutter aller weiteren Ereignisse in Jugoslawien<br />

war. Was Gavrilo Princip anbelangt, war<br />

er für die Schüler des sozialistischen Bildungssystems<br />

geradezu ein Partisan, jemand, der<br />

„durchs Gebirge, durch die Steppen“ zog und<br />

gegen alles Böse ankämpfte.<br />

Für die jugoslawischen Schüler war es gar<br />

nicht einfach, gewisse historische Figuren in<br />

ihren zeitlichen Kontext einzubetten, zuweilen<br />

auch in den geographischen. Ein klassisches<br />

Schulbeispiel für diese Verwirrung stellt die<br />

Französische Revolution dar, die laut den Lehrbüchern<br />

einen großartigen Aufstand gegen die<br />

Tyrannei der klerikal-feudalen Kräfte des Bösen<br />

darstellte, einen Ausdruck des Volkswillens<br />

und der Volksmassen, einen Kampf für Gerechtigkeit<br />

und Gleichheit. Deshalb wollte wohl keinem<br />

Kind einleuchten, warum der moralische<br />

Riese Marat in seiner Badewanne von einer<br />

Verrückten umgebracht worden war. Denn in<br />

den Lehrbüchern verschwand die Guillotine<br />

bereits irgendwo bei Marie Antoinette und ihrer<br />

geschmacklosen Aussage: „Dann esst doch<br />

Kuchen.“ Nachdem sie darüber in Kenntnis<br />

gesetzt worden war, dass das Volk kein Brot zu<br />

essen hatte. Die Enthauptung des modisch aufgeklärten,<br />

aber für soziale Probleme ganz und<br />

gar unempfänglichen Königspaars war also gerechtfertigt.<br />

Alles Weitere schien in einen Nebel<br />

gehüllt zu sein, und es war ein Leichtes, den<br />

Terror unter den Teppich zu kehren.<br />

So wurde Robespierre in den Lehrbüchern<br />

stillschweigend der Titel des ersten Partisans<br />

samt der jugoslawischen Staatsbürgerschaft<br />

verliehen. Nach ihm kam eine Lawine von eingebürgerten<br />

Söhnen der jugoslawischen Brüderlichkeit<br />

aus allerlei Völkern und Völkerschaften:<br />

Marx, Engels, Lenin und Stalin, von dem wir<br />

uns jedoch nach Titos „Nein“ mit Ekel lossagten.<br />

Sporadisch fanden sich auch Mao,<br />

Gaddafi, Gandhi, Nasser und Nehru im<br />

Familienalbum ein. Die Wachstumskurve<br />

der sozialistischen Familie<br />

entsprach dem Rhythmus revolutionärer<br />

Strömungen, und die<br />

Familienmitglieder streckten<br />

ihre Arme auch nach weit entfernten<br />

historischen Figuren<br />

aus, etwa nach Matija Gubec<br />

vom Bauernaufstand oder<br />

nach Giordano Bruno. Gavrilo<br />

Princip blieb im Familienporträt<br />

jedenfalls stets in<br />

der Nähe der Elternfiguren.<br />

Groß und wagemutig, ein<br />

Mann, der den Wunsch aller<br />

Unterdrückten und Erniedrigten<br />

erhört und sich mit<br />

einer Pistole in der Hand<br />

gegen die große Doppelmonarchie<br />

erhebt.<br />

ÜBER DIE MILJACKA<br />

In Jugoslawien musste jede<br />

Schulexkursion eine Botschaft<br />

vermitteln. Nichts durfte damals<br />

sinnlos sein. Alle Wege führten<br />

über die Pfade der Revolution und<br />

dienten dem Gedenken an selbige. In<br />

der achten Schulklasse unternahmen<br />

wir eine Reise nach Dubrovnik, mit einem<br />

Zwischenstopp in Sarajevo. Dort machten wir<br />

Halt an der Miljacka, die sich im Vergleich mit<br />

der Donau oder der Drau wie ein Bach ausnahm.<br />

Wir blieben neben den Fußabdrücken Princips<br />

stehen und lasen die in kyrillischer Schrift verfasste<br />

Aufschrift: „Von diesem Platz aus brachte<br />

Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 mit seinen<br />

Schüssen den Volksprotest gegen die Tyrannei<br />

und das Jahrhunderte währende Freiheitsstreben<br />

unserer Völker zum Ausdruck.“<br />

Ironischerweise fragte ich mich in diesem<br />

Augenblick bloß, wie der Besagte auch nur im<br />

Traum daran denken konnte, über die Miljacka<br />

zu flüchten. „Zum Glück hat er sich nicht<br />

das Bein gebrochen, als er auf diese Steine da<br />

aufprallte“, entfuhr es mir unwillkürlich. Meine<br />

Frau Klassenvorstand und Französischlehrerin<br />

erblasste daraufhin. Möglicherweise<br />

hatte sie insgeheim dasselbe gedacht wie ich.<br />

Möglicherweise war es so, aber damals presste<br />

sie ganz leise hervor: „Manchmal ist es klüger,<br />

sich auf die Zunge zu beißen.“ Ich aber dachte<br />

nur an die Tschechin, eine ältere Dame, die ich<br />

im Sommer zuvor in Zadar dabei beobachtet<br />

hatte, wie sie im knietiefen Wasser versuchte,<br />

schwimmen zu lernen. Sie hatte geschrien und<br />

immer wieder hatte es so ausgesehen, als ginge<br />

sie unter. Ich stellte mir Gavrilo an ihrer Stelle<br />

vor und schüttelte mich vor Lachen.<br />

Dabei gab es eigentlich gar nichts zu lachen.<br />

DER HEILIGE VID NACH DEM<br />

JULIANISCHEN KALENDER<br />

Mein Urgroßvater Petar Šojat hatte zu seinem<br />

Namenstag am Heiligen Peter und Paul,<br />

dem 29. Juni 1908, ein eiskaltes Bier getrunken<br />

und war einige Tage später an galoppierender<br />

Schwindsucht gestorben. Er war Gendarmeriekommandant<br />

in Bosanski Brod gewesen und<br />

damit ein winziges Rädchen bei der Annexion<br />

Bosniens durch das große Reich Österreich-<br />

Ungarn. Exakt 364 Tage später sollte sich der<br />

famose Vidovdan „ereignen“ und damit der Zusammenbruch<br />

eines Reiches, das noch 364 Tage<br />

zuvor eine neue Expansionsphase eingeläutet<br />

hatte, seinen Lauf nehmen. Der Vidovdan wird<br />

bei den Serben in der Kirche und im Volk als Gedenktag<br />

der Schlacht auf dem Amselfeld begangen.<br />

Dabei wird des Fürsten Lazar Hrebljanović<br />

gedacht und all jener, die für ihren Glauben und<br />

ihr Vaterland fielen. Erzherzog Franz Ferdinand,<br />

dem es nicht beschieden war, Kaiser zu<br />

werden, entschloss sich, ausgerechnet am Vidovdan<br />

nach Bosnien zu fahren, auf das es Serbien<br />

auch schon damals abgesehen hatte. Ziel seiner<br />

Reise war es, Militärmanövern der kaiserlichen<br />

Armee beizuwohnen, die bei den Völkern des<br />

künftigen Königreichs der Serben, Kroaten und<br />

Slowenen sehr verhasst war. Zu seinem Unglück<br />

warten nicht immer alle darauf, dass ihre<br />

Karten aufgehen – manche legen sich das Spiel<br />

von vornherein zurecht, weil nach dem „Zirkus“<br />

ohnehin alles nur eine Sache<br />

der Dialektik und<br />

der Demagogie ist. Das wusste<br />

auch der Offizier Dragutin Dimitrijević Apis,<br />

Chef des serbischen Militärgeheimdienstes<br />

und graue Eminenz hinter der Terrororganisation<br />

„Schwarze Hand“, die offiziell am 10. Juni<br />

1910 gegründet wurde, jedoch auch schon in<br />

den Jahren davor recht aktiv dabei war, politische<br />

Gegner zur Strecke zu bringen, so etwa den<br />

serbischen König Aleksandar Obrenović, der<br />

durch einen Fenstersturz von der politischen<br />

Szene entfernt worden war, was der Dynastie<br />

Karađorđević eine theatralische Wiederkehr<br />

ermöglichte. Dieselbe „Schwarze Hand“ hatte<br />

sich ebenso ritterlich auf die schmächtigen<br />

Schultern der neugegründeten Organisation<br />

„Junges Bosnien“ gelegt, als diese „beschloss“,<br />

die Gelegenheit am Schopf zu ergreifen und die<br />

imperiale Wiener Linie abzuschneiden. Daraufhin<br />

betraten die Glorreichen Sieben die Bühne:<br />

Mehmed Mehmedbašić, Vasa und Nedeljko<br />

Čabrinović (der Bombenwerfer, dessen Bombe<br />

vom Automobil abgewendet werden konnte),<br />

Cvetko Popović, Danilo Ilić, Trifko Grabež und<br />

Gavrilo Princip.<br />

Der vor Gericht zitierte Gavrilo, der sich am<br />

Tatort zunächst mit Zyankali und dann noch<br />

mit einem Kopfschuss das Leben zu nehmen<br />

versucht hatte, brachte geradezu zerknirscht<br />

hervor: „Wir haben unser Volk geliebt.“ Auch<br />

das ist ein historischer Satz, eine dringend nötige<br />

Phrase für die Medien, wie wir heute sagen<br />

würden. Es ist nämlich notwendig, einen letzten<br />

Satz zu haben. Vor dem Tod oder vor dem<br />

Antritt einer Lagerhaft. Wegen der Ideologie<br />

natürlich, wegen all dem, womit die Ideologie<br />

zusätzlich ausgebaut wird. Denn nach einem<br />

solchen Satz, der in alle Ewigkeit erhalten<br />

bleibt, wird das Schicksal desjenigen, der ihn<br />

ausgesprochen hat, unwichtig. Es wird unwichtig,<br />

was er getan hat.<br />

OPFERFORSCHUNG<br />

Gavrilo liebte sein Volk, zusammen mit<br />

sechs seiner Kampfgefährten. Ganz genauso,<br />

wie auch jene vierzig Millionen Opfer des Ersten<br />

Weltkrieges im Zeitraum vom 28. Juli 1914<br />

bis zum 11. November 1918 ihr Volk liebten. Da<br />

Gavrilo für die Todesstrafe zu jung war, wurde<br />

er von der Gerichtsbarkeit des verhassten<br />

Reichs, die seiner verrückten Jugend Nachsicht<br />

zollte, zu zwanzig Jahren Kerkerhaft verurteilt.<br />

Er starb am 28. April 1918 an Tuberkulose in<br />

Theresienstadt, einem Gefängnis, das vermutlich<br />

in Vergessenheit geraten wäre, wenn nicht<br />

zwanzig Jahre später andere,<br />

die ebenfalls ihr Volk<br />

geliebt haben, versucht hätten,<br />

ebendort planmäßig Juden auszurotten.<br />

Drei Vidovdans nach Princips Tod wurde in<br />

dem nach dem Ersten Weltmassaker geschaffenen<br />

Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen<br />

die für die Kroaten und Slowenen schändliche<br />

Vidovdan-Verfassung verabschiedet, mit der<br />

die Dreifachmonarchie zu einer parlamentari-<br />

schen Erbmonarchie mit der Amtssprache Serbo-Kroato-Slowenisch<br />

wurde. Dabei nahmen<br />

die kroatischen Delegierten nicht an der Abstimmung<br />

im Parlament teil, 35 Delegierte stimmten<br />

gegen die Verfassung, während 223 Delegierte<br />

dafür stimmten. Es bleibt ein ungelöstes Rätsel,<br />

ob Gavrilo selbst dieses zweite Wunder von Vidovdan<br />

als einen Sieg der Unterdrückten oder<br />

als eine Schande interpretiert hätte.<br />

Der allmächtige Offizier Dragutin Dimitrijević<br />

war ab 1917 nicht länger erwünscht und<br />

wurde wegen Verbrechen, die nichts mit dem<br />

Attentat von Sarajevo zu tun hatten, vor Gericht<br />

zitiert. Im Laufe des Gerichtsverfahrens gab er<br />

zu, als Hauptkommandant des serbischen Militärgeheimdienstes<br />

das Attentat persönlich<br />

organisiert zu haben. Im selben Jahr wurde er<br />

erschossen, 1953 allerdings nachträglich rehabilitiert.<br />

Inwiefern Herr Apis auf die verspätete<br />

Reinwaschung seiner Ehre Wert legte, mögen<br />

spirituell Begabte abschätzen, für die ein Körper,<br />

geopfert auf dem Altar der Heimat, der<br />

Freiheit oder des Volkes, ohnehin nicht von<br />

Bedeutung ist. Eigentlich, wenn man genauer<br />

darüber nachdenkt, hat eine wiederholte Aufzählung<br />

der Tatsachen im Zusammenhang mit<br />

dem Attentat in einer Stadt, von der manche<br />

bereits vollmundig behaupten, sie sei einfach<br />

verflucht, überhaupt keinen Sinn mehr. Alles<br />

ist schon bekannt. Es wird nur jeweils unterschiedlich<br />

interpretiert. In alle Ewigkeit. Immer<br />

ist es wichtig, ja sogar am allerwichtigsten, den<br />

Scheinwerfer auf bestimmte Details zu richten<br />

und alles andere in die Dunkelheit zu stoßen.<br />

Zum Zwecke der Ideologie, der Demagogie. Die<br />

einen werden immer sagen: „Dieser Verrückte<br />

hat doch einen Mann und eine schwangere Frau<br />

ermordet, auch das Kind in ihrem Bauch!“ Oder:<br />

„Er hat das Schicksal Europas besiegelt und es in<br />

den bis dato blutigsten Krieg gerissen.“ Andere<br />

wiederum werden behaupten: „Princip ist ein<br />

Held, der es gewagt hat, im Namen aller Unterdrückten<br />

das Wort zu ergreifen, im Namen des<br />

Jahrhunderte währenden Strebens der jugoslawischen<br />

Völker nach Vereinigung und Unabhängigkeit.“<br />

Alles ist möglich, in einem gewissen<br />

Kontext ist fast alles akzeptabel. Sogar die Lügen,<br />

die sich als ziemlich langlebig erweisen und<br />

die so lange andauern wie die Ideologien, von<br />

denen sie in die Welt gesetzt wurden. Wie etwa<br />

die Lügen über das Massaker von Katyn.<br />

Im Zusammenhang mit dem Attentat von<br />

Sarajevo ist das, was am meisten zu faszinieren<br />

vermag, die Funktion dieses Ereignisses im<br />

weitverzweigten, an sozialistischer Mythologie<br />

reichen untergegangenen Staat. Gavrilo Princip<br />

spielte etwa fünfzig Jahre lang im Wald der<br />

Halbgötter und Volkshelden die Rolle eines<br />

Neil Armstrong: Er war der erste Mensch,<br />

der einen kleinen, aber zugleich so großen<br />

Schritt auf dem schwerelosen,<br />

von Gleichheit durchdrungenen<br />

Planeten Jugoslawien gemacht<br />

hatte, mit einem Bosnischen Eintopf<br />

vor dem Bauch, direkt vor<br />

seinem Bauchnabel.<br />

Was wäre gewesen, wenn<br />

das Attentat nicht stattgefunden<br />

hätte, wenn es daneben<br />

gegangen wäre, wenn der<br />

Thronfolger aufgrund von<br />

Gastritis seine Visite in Sarajevo<br />

auf einen anderen,<br />

weniger symbolträchtigen<br />

Tag verschoben hätte Wäre<br />

die geopolitische Karte Europas<br />

dem Berliner Abkommen<br />

entsprechend gleich geblieben<br />

Wäre der Begriff „Weltkrieg“<br />

heute unbekannt Die<br />

Dinge bedingen einander, ziehen<br />

einander nach sich, Bestrebungen<br />

flauen nicht ab, Demagogen<br />

finden stets neue Nebelfelder,<br />

entfachen Nationen und nationale<br />

Gefühle, während die armen Leute im<br />

Müll herumstöbern und andere Schuldige<br />

für ihre eigenen Verfehlungen und<br />

Systemkatastrophen identifizieren.<br />

Schlussendlich manifestieren sich Ideologien,<br />

die hochfliegenden Ideen entspringen,<br />

als mangelhafte Geschöpfe – wie eine fordernde<br />

gealterte Geliebte, die fremde Kinder angreift<br />

und dabei ihre eigenen auffrisst.<br />

Aus dem Kroatischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Ivana Šojat-Kuči<br />

Geboren 1971 in Osijek, Kroatien. Mehrere Gedicht-<br />

und Essaybände sowie Kurzgeschichten.<br />

Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen.<br />

2009 erschien ihr Roman Unterstadt<br />

(Originaltitel), der sich mit dem Schicksal der<br />

Deutschen in Osijek im 20. Jahrhundert befasst.<br />

Beton International März 2014 28


Nikola Gelevski<br />

Grenzen, Scheidungslinien,<br />

Fronten – Mazedonien vor 1914<br />

Drei Szenen mit mazedonischen<br />

revolutionären Terroristen<br />

Ein interessanter amerikanischer Schriftsteller<br />

mazedonischer Herkunft, Stoyan Christowe<br />

(1898-1996) – er schrieb Romane, Erzählungen,<br />

Reportagen und Reisebeschreibungen<br />

in englischer Sprache – war als Vierzehnjähriger<br />

aus der Gegend von Kostur in Agäis-Mazedonien<br />

nach Amerika gekommen. Als Korrespondent<br />

einiger amerikanischer Zeitungen hielt er sich<br />

von 1927 bis 1929 wieder auf dem Balkan auf. In<br />

dieser Zeit führte er Gespräche mit dem berüchtigten<br />

Anführer der IMRO (Innere Mazedonische<br />

Revolutionäre Organisation) Ivan Mihajlov,<br />

mit Vlado Černozemski, der später das Attentat<br />

auf König Alexander verüben sollte, und dem<br />

bulgarischen Zaren Boris. Auch 1952 weilte<br />

Christowe auf dem Balkan und besuchte Skopje.<br />

Er war Mitglied des Vermont State House of Representatives<br />

(1951-1955) und des Vermont State<br />

Senate (1959-1972). Den knapp gehaltenen Lexikonartikeln<br />

über ihn lässt sich entnehmen, dass<br />

Präsident Franklin Roosevelt ein großer Bewunderer<br />

seines autobiografischen Buches This Is<br />

My Country (1938) war.<br />

Im Versuch, das psychologische Profil des<br />

mazedonischen Revolutionärs um die Jahrhundertwende<br />

zu umreißen, habe ich Christowes<br />

Buch Heroes and Assassins (1935) einige pittoreske<br />

Szenen aus der Zeit des mazedonischen<br />

revolutionären Kampfes entnommen. Obwohl<br />

Christowe die mazedonischen „Komitadschi“<br />

stark idealisiert, sind einige Schilderungen aus<br />

seinen historischen Reportagen zwiespältig.<br />

Als Christowe den jungen Goce Delčev beschreibt,<br />

das Schlüsselsymbol des mazedonischen<br />

revolutionären Kampfes, lässt er Delčev<br />

und Dame Gruev (den Ideologen der IMRO und<br />

zweiten Mann der Organisation) einander zum<br />

ersten Mal in Štip begegnen, und zwar unmittelbar<br />

nach Delčevs Rückkehr nach Mazedonien.<br />

Beide waren Lehrer in dieser Stadt. Laut<br />

Christowe sagte Delčev das Folgende zu seinen<br />

Schülern: „Hört mal zu, Jungs. Niemand, der es<br />

am Ende des Halbjahres nicht schafft, über eine<br />

dieser Bänke zu springen, wird versetzt. Jeden,<br />

der nicht zurückschlägt, wenn er geschlagen<br />

wird, verprügele ich persönlich. Und ich werde<br />

jedem die Zunge abschneiden, der seinen Kameraden<br />

hinterherschnüffelt und sie bei mir<br />

verpfeift. Auch ihr selbst sollt jeden bestrafen,<br />

von dem ihr meint, dass er etwas Falsches getan<br />

hat.“ Christowe kommentiert: „Das stand voll<br />

und ganz im Einklang mit seinem Verhalten als<br />

Schüler am bulgarischen Gymnasium in Saloniki.<br />

Dort hatte seine Klasse einmal eine Verschwörung<br />

gegen den Lehrer angezettelt, doch<br />

einer der Schüler verriet das Komplott. Der<br />

dreizehnjährige Goce aus Kukuš wollte lieber<br />

hängen als den Verräter unbestraft davonkommen<br />

zu lassen. Deshalb stieß er ihm ein Messer<br />

in den Rücken.“<br />

Christowe präsentiert uns noch eine interessante<br />

Szenerie, die das Bild des mazedonischen<br />

Revolutionärs zu Beginn des 20.<br />

Jahrhunderts einzufangen vermag: Von der<br />

zehnköpfigen Gruppe der „Saloniker Attentäter“<br />

(die 1903 eine Reihe spektakulärer terroristischer<br />

Aktionen an mehreren Orten in<br />

Saloniki ausübten) überlebten vier die terroristische<br />

Tat: Pavel Šatev, Georgi Bogdanov, Marko<br />

Bošnakov und Milan Arsov. Sie wurden von<br />

einem außerordentlichen Militärgericht zum<br />

Tode verurteilt, doch Sultan Hamid verringerte<br />

ihr Strafmaß zu lebenslanger Haft. Drei Jahre<br />

verbrachten sie in den Verliesen der Festung<br />

der sieben Türme oberhalb von Saloniki. Dann<br />

wurden sie zusammen mit 150 mazedonischen<br />

politischen Gefangenen in Ketten gelegt und<br />

auf das Schiff nach Tripolis gebracht. Von Tripolis<br />

aus schleppten sie sich 1000 Kilometer<br />

durch die Sahara. Nach Wochen voller Qualen<br />

und Agonie erreichten sie das Gefängnis der<br />

Stadt Mursuk in der Provinz Fesan. Bošnakov<br />

und Arsov starben in Mursuk. Kurz nach ihrem<br />

Tod wurde im Jahr 1908 als Folge der jungtürkischen<br />

Revolution eine allgemeine Amnestie<br />

für politische Gefangene verkündet. Šatev und<br />

Bogdanov wurden freigelassen, wollten aber<br />

nicht ohne die Leichname ihrer Kameraden<br />

fortgehen. Die Gesundheitsbehörden erlaubten<br />

ihnen jedoch nicht, sie zu exhumieren. Deshalb<br />

entschlossen sich Šatev und Bogdanov,<br />

die Leichname ihrer Kameraden illegal selbst<br />

auszugraben. Sie planten, die Knochen mitzunehmen,<br />

doch laut Šatev waren die Knochen<br />

noch von verwesendem Fleisch bedeckt. Weil<br />

sie die Knochen also nicht nehmen konnten<br />

und es unmöglich war, die verwesenden Körper<br />

fortzutragen, zogen sie ihre Messer heraus und<br />

schnitten den Leichnamen die Köpfe ab. Am<br />

nächsten Morgen legten sie die Köpfe in Blechkanistern<br />

voller Jodoform ein. So brachten sie<br />

die Köpfe ihrer Kameraden durch die Sahara<br />

zurück und lieferten sie bei deren Eltern in Mazedonien<br />

ab.<br />

Die dritte Szene, die ich ausgewählt habe,<br />

zeigt die beiden umstrittenen IMRO-Anführer<br />

Todor Aleksandrov und Aleksandar Protogerov,<br />

die in eine ganze Kette von politischen Morden<br />

und Gewalttaten verwickelt waren, wie sie auf<br />

dem höchsten Gipfel des Pirin-Gebirges stehen,<br />

dem El-Tepe („Gipfel der Stürme“). Christowe<br />

schreibt: „Der El-Tepe ist immer in Nebel und<br />

Wolken gehüllt. Der ‚Gipfel der Stürme‘ ist nur<br />

fünfzehn Fuß niedriger als der Musala in Bulgarien<br />

und 70 Fuß niedriger als der Olymp, der<br />

höchste Berg auf dem Balkan. Die Mazedonier<br />

häuften Felsbrocken auf dem ‚Gipfel der Stürme‘<br />

auf, und mit jedem neuen Felsbrocken wurde<br />

das Pirin-Gebirge höher. Als Aleksandrov<br />

und Protogerov den Gipfel erreichten, brachten<br />

sie Felsbrocken von tiefer gelegenen Orten mit,<br />

fügten sie zum Haufen hinzu und trugen so zur<br />

Höhe bei. Die beiden standen dort wie Adler in<br />

schwindelnder Höhe.“<br />

Mazedonien und die Balkankriege<br />

Mazedonien ist ein geografisches Gebiet<br />

von rund 67.000 km 2 . Heute gehört dieses Territorium<br />

zu drei Staaten: Republik Griechenland,<br />

Republik Bulgarien und Republik Mazedonien.<br />

Es ist viel Blut vergossen worden, bis diese Staaten<br />

sich untereinander und vom Osmanischen<br />

Reich abgegrenzt hatten, und vielleicht auch,<br />

bis festere zivilisatorische Grenzen zwischen<br />

dem Osten und dem Westen gezogen waren.<br />

Auf eine bestimmte Art ist also Mazedonien die<br />

Grenze.*<br />

Auf dem Territorium Mazedoniens spielte<br />

sich in der Zeitspanne, die vom Ilinden-Aufstand<br />

(1903), der Jungtürkischen Revolution<br />

(1908), den Balkankriegen (1912-1913) und dem<br />

Ersten Weltkrieg (1914-1918) umfasst wird,<br />

praktisch auch ein kontinuierlicher Bürgerkrieg<br />

ab. Zum Beispiel wurden laut den Daten,<br />

die Anfang des 20. Jahrhunderts in der englischen<br />

Presse und im britischen Parlament<br />

vorgestellt wurden, zwischen 1904 und 1908<br />

in Mazedonien etwa 10.000 Menschen getötet.<br />

Bei der Sitzung des Unterhauses des Britischen<br />

Parlaments am 26.10.1906 wurde die Angabe<br />

gemacht, dass in den ersten neun Monaten des<br />

Jahres 1906 im Saloniker Vilayet 577, im Vilayet<br />

Bitola 481 und im Vilayet Skopje 188 Menschen<br />

umgebracht worden waren.<br />

Hauptakteure in den politischen Geschehnissen<br />

in Mazedonien waren die jungen Staaten<br />

Griechenland, Serbien und Bulgarien sowie<br />

das Osmanische Reich, das formell das mazedonische<br />

Territorium kontrollierte. Doch auch<br />

Österreich-Ungarn, Russland, Deutschland,<br />

Italien, Frankreich und England hatten bedeutenden<br />

Einfluss auf die politischen Beziehungen.<br />

Der Gebietshunger der jungen Staaten Griechenland,<br />

Serbien und Bulgarien war groß. Zum<br />

Beispiel wurden – mit einigen Unterbrechungen<br />

– ganze fünfzehn Jahre lang (1897-1912)<br />

Verhandlungen zwischen Bulgarien und Serbien<br />

über die Definition ihrer jeweiligen Interessen<br />

in Mazedonien geführt. Serbien sprach<br />

sich konstant für eine Teilung Mazedoniens<br />

aus, während die Haltung Bulgariens variierte,<br />

je nach seiner Position in den internationalen<br />

Beziehungen. Sie bewegte sich zwischen Forderungen<br />

nach Teilung und nach Autonomie,<br />

wobei sich hinter der nach Autonomie meistens<br />

die Absicht verbarg, ganz Mazedonien einzuheimsen.<br />

Die Balkankriege brachen am 18.Oktober<br />

1912 aus. Sie waren der Auftakt zu einem langen,<br />

sechsjährigen Krieg, der mit kleinen Unterbrechungen<br />

bis 1918 dauerte. Mazedonien war einer<br />

der Haupt-Kriegsschauplätze. Der amerikanische<br />

Schriftsteller Stoyan Christowe schildert<br />

in seinem Buch Heroes and Assassins ein bizarres<br />

Detail zum Beginn der beiden Balkankriege:<br />

Todor Lazarov, ein Mazedonier aus Bulgarien,<br />

der glaubte, dass seine Heimat nach dem Sturz<br />

des Osmanischen Reichs endlich frei sei, erschoss<br />

sich vor Freude selbst. Er wusste nicht,<br />

dass die balkanischen Verbündeten im Jahr 1912,<br />

noch vor ihrer Kriegserklärung an die Türkei,<br />

Mazedonien heimlich untereinander aufgeteilt<br />

hatten. Dieses Geschehnis ist vielleicht eine gute<br />

Illustration der kranken politischen Gemüter<br />

der Mazedonier im Jahr 1912.<br />

Nach mehrhundertjähriger Herrschaft brach<br />

das Osmanische Reich innerhalb von nur anderthalb<br />

Monaten zusammen. In Mazedonien hatte<br />

es 517 Jahre lang geherrscht.<br />

Die Unterzeichnung eines Friedensvertrags<br />

zwischen der Balkan-Allianz und dem Osmanischen<br />

Reich in London (30.5.1913) war nur eine<br />

kurze Verschnaufpause auf dem Weg zu einem<br />

neuen kriegerischen Zusammenstoß, jetzt aber<br />

zwischen Bulgarien und den anderen beiden<br />

Mitgliedern der Allianz. Dieser Krieg begann<br />

am 29. Juni 1913. Das mazedonische Volk befand<br />

sich plötzlich in einem Sandwich. Laut den<br />

Daten der Carnegie-Kommission, die sich nur<br />

auf den ägäischen Teil Mazedoniens beziehen,<br />

wurden rund 170 Dörfer und 16.000 Häuser<br />

von der griechischen Armee zerstört. Die Städte<br />

Voden, Njeguš, Strumica, Kukuš und Dojran<br />

wurden schwer beschädigt. Unter dem Druck,<br />

den der griechische Terror ausübte, verließen<br />

über 100.000 „Slawo-Mazedonier“ das Land.<br />

(Goce Delčev, der wichtigste revolutionäre<br />

Anführer der Mazedonier, stammte aus Kukuš,<br />

einem der Zentren der mazedonischen Wiedergeburt<br />

in unmittelbarer Nähe von Saloniki. Am<br />

4. Juli 1913 steckte die griechische Armee bei<br />

einer Operation ethnischer Säuberungen die<br />

Stadt und noch vierzig Dörfer um sie herum in<br />

Brand. Laut dem angesehenen mazedonischen<br />

Historiker Ivan Katardžiev, dessen Buch Mazedonien<br />

hundert Jahre nach dem Ilinden-Aufstand<br />

ich für die Zwecke dieses Textes herangezogen<br />

habe, wandte die griechische Armee diese Methode<br />

ethnischer Säuberung überall an, wo sie<br />

nur konnte, sogar in den Teilen Mazedoniens,<br />

die unter serbischer Besatzung standen.)<br />

Miroslav Krleža, einer der bedeutendsten<br />

jugoslawischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts,<br />

wirft in einer seiner 99 Variationen einen<br />

interessanten Blick auf die beiden Balkankriege;<br />

den ersten, in dem die Türken vom Balkan<br />

vertrieben wurden, und den zweiten, in dem<br />

Griechenland, Bulgarien und Serbien um das<br />

Territorium Mazedoniens kämpften:<br />

„Das Blut von Kumanovo war noch nicht<br />

getrocknet, als nur acht Monate später die<br />

Schlacht an der Bregalnica wie mit einem Kanonenschlag<br />

alle lyrischen Illusionen zerstörte,<br />

von denen ganze südslawische Generationen<br />

geglaubt hatten, sie seien Teil des Überlebens<br />

unseres Volkes. Im Qualm und im Feuer der<br />

Bregalnica-Schlacht (Juli 1913) lernten wir,<br />

dass der zynische Machiavellismus der kleinen<br />

Balkan-Dynastien Realität war, während Lisinskis<br />

Partitur, die illyrischen Phantasmagorien,<br />

die Džakovaćsche Idylle und die Sehnsucht<br />

nach Prizren nur schnöde Rhetorik waren. Das<br />

Saldokonto der europäischen Banken von Sankt<br />

Petersburg bis Berlin und Paris lombardierte<br />

die Symbole von Kumanovo zu seinen Gunsten,<br />

und uns (Engelsschen) wurde erklärt, dass<br />

nicht die Sopoter Fresken die Welt regieren,<br />

sondern die Banken, die Könige und die Kanonen.<br />

Wir befanden uns vor einem Leninschen<br />

‚merkwürdig abstoßenden‘ Zusammenbruch<br />

der europäischen Zivilisation, am imperialistischen<br />

Magnetpol von Kriegen und Massakern,<br />

die nunmehr seit vierzig Jahren andauern.“<br />

Nach der Niederlage Bulgariens fanden<br />

vom 28. Juli bis zum 10. August 1913 in Bukarest<br />

Friedensverhandlungen statt. Am 10. August<br />

1913 wurde der Bukarester Friedensvertrag unterzeichnet.<br />

Mit diesem Vertrag wurde Mazedonien<br />

dreigeteilt.<br />

Die Periode zwischen den Balkankriegen<br />

und dem Beginn des Ersten Weltkriegs (29. Juli<br />

1914) bis zum Kriegseintritt Bulgariens auf der<br />

Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns<br />

unterschied sich in Mazedonien wenig von der<br />

Zeit vor der Unterzeichnung des Bukarester<br />

Vertrags. Wie Katardžiev sagt: Alles, was dem<br />

mazedonischen Volk zukünftig zustoßen sollte,<br />

resultierte aus den Ergebnissen der Balkankriege<br />

– aus der Teilung.<br />

***<br />

* Die Grenze ist fest im Land verwurzelt.<br />

Von ihrer ursprünglichen Herkunft zeugen<br />

zahlreiche Termini in fast allen menschlichen<br />

Sprachen. Sehr oft bedeutet die Grenze eine<br />

Furche, die die Pflugschar im Boden hinterlässt.<br />

Für die Welt zur Zeit der Latiner ist die Spur des<br />

Pflugs die Urfurche, jene ursprüngliche Furche,<br />

die den städtischen Raum begründete und den<br />

städtischen Horizont bezeichnete; sie ist die<br />

Linie, die die Stadt vom Dorf trennt, das Innere<br />

vom Äußeren. Doch noch mehr als das: Mit dem<br />

Pflug die Grenze zu bezeichnen bedeutet, die<br />

Beziehung von Erde und Himmel zu besiegeln.<br />

Diesen Ort haben nicht die Menschen ausgewählt,<br />

sondern die Götter entdeckt, und derjenige,<br />

der die Furche zieht, ist mehr Priester als<br />

Herrscher.<br />

In diesem ersten Einkerben des Bodens gibt<br />

es etwas von einem Opfer, liegt der Keim der archaischen<br />

Gewalt. Rom zum Beispiel entsteht,<br />

als Romulus Remus opfert, der es in seiner<br />

Dreistigkeit gewagt hat, die heilige, gerade erst<br />

gezogene Grenze zu überspringen und so zu<br />

negieren. Das Herumspielen mit Grenzen kann<br />

ausgesprochen gefährlich werden; bei ihnen<br />

sind das Tragische und das Komische eng miteinander<br />

verbunden.<br />

Das italienische Wort für Grenze, frontiera,<br />

so wie auch das spanische frontera, das französische<br />

frontière und das englische frontier – alle<br />

diese Worte beinhalten das Nomen „Front“. Die<br />

Linie, die der Herrscher mit dem Lineal (auf<br />

Lateinisch regula) zieht, bestimmt nicht nur<br />

das räumliche Territorium, sondern stellt auch<br />

eine regula dar, eine Regel, an die wir uns halten<br />

müssen, um aufrecht zu bleiben.<br />

Aus dem Mazedonischen von<br />

Benjamin Langer<br />

Nikola Gelevski<br />

Geboren 1964 in Skopje. Er studierte Komparatistik<br />

und leitet seit 1989 den Verlag Templum.<br />

Als prominentester Kolumnist des Jahres erhielt<br />

er 2007 den Borjan-Tanevski-Preis. Neben<br />

seiner Arbeit als Verlagsleiter, Redakteur,<br />

Übersetzer und Autor gründete er den Verein<br />

Kontrapunkt und ist Mitbegründer dreier weiterer<br />

Vereine (Točka, Ploštad Sloboda, GEM).<br />

Beton International März 2014 29


László Végel<br />

1914: Das Ende<br />

der Utopie Europa<br />

Mein Vater wurde 1914 geboren, in dem<br />

Jahr, in dem der Erste Weltkrieg ausbrach. Wer<br />

hätte damals gedacht, dass man in diesem Jahr<br />

den Grundstein für das Versailler Testament legen<br />

würde. Und ich wurde zu Beginn des Zweiten<br />

Weltkriegs geboren, 1941, in dem Jahr, in<br />

dem auch in meiner Heimat der Krieg ausbrach.<br />

Mein Vater wurde ein Kind von Versailles, ich<br />

ein Kind des Zweiten und gleichzeitig Enkel<br />

des Ersten Weltkriegs. Der eine Krieg nahm<br />

sein Ende mit Versailles, der andere mit Jalta.<br />

In der ersten Hälfte meines Lebens konnte ich<br />

als Enkel nicht an 1914 denken, denn das Europa<br />

von Versailles wurde vom Europa von Jalta<br />

überschattet, das mein Leben bestimmte, und<br />

erst der Fall der Berliner Mauer lenkte meine<br />

Aufmerksamkeit auf den Ersten Weltkrieg. Es<br />

folgten die Jugoslawienkriege, durch die mir<br />

bewusst wurde, dass die Europäische Union,<br />

wie wir sie heute kennen, auf den Grundlagen<br />

gebaut wurde, die man in Versailles gelegt hatte:<br />

dem Bund der Nationalstaaten.<br />

Die Kriege waren im Grunde die logische<br />

Fortsetzung von 1914.<br />

Dieses Paradigma erlebte ich in zwei Parallelwelten.<br />

Die eine war die des Staates, die andere die<br />

der Nation.<br />

Ich wurde in der Vojvodina geboren, die<br />

nach dem Ersten Weltkrieg von der zusammengebrochenen<br />

Österreichisch-Ungarischen<br />

Monarchie abgespalten worden war. Ich bin in<br />

zwei Kulturen aufgewachsen, die bezüglich der<br />

Interpretation dieser Jahreszahl im Konflikt<br />

miteinander standen.<br />

Die eine Kultur wurde durch den jugoslawischen<br />

Staat repräsentiert, der in 1914 das<br />

Heldenepos der Staatsgründung sah. Der Held<br />

dieses Epos war Gavrilo Princip, der Mörder des<br />

österreichischen Thronfolgers. Daraus folgte,<br />

dass die Verfasser des Vertrags von Versailles<br />

als die Verkörperung der historischen Gerechtigkeit<br />

betrachtet wurden. 1914 stand also für<br />

den Beginn der Befreiung der Kroaten, Slowenen,<br />

Vojvodiner Serben und anderen Völker<br />

dieses Gebiets.<br />

Mit der Zeit bekam das Heldenepos jedoch<br />

tragische Risse. Weshalb zerfiel das Land 1941<br />

auf eine so grausame Weise, wenn seine Völker<br />

das Zusammenleben doch so sehr wollten<br />

Die ans Tageslicht gekommenen Dokumente<br />

zeugten davon, dass Serbien 1918 nicht sonderlich<br />

von der Idee Jugoslawiens begeistert<br />

war, sondern eher die Vorstellung von einem<br />

Groß-Serbien pflegte, dass die serbischen Politiker<br />

jedoch nichts anderes tun konnten, als zu<br />

akzeptieren, was Versailles ihnen aufoktroyiert<br />

hatte. Dann wird eben ganz Jugoslawien serbisch,<br />

sagte Nikola Pašić, der einflussreichste<br />

Politiker der damaligen Zeit.<br />

Dieses Unternehmen endete 1941 mit einer<br />

schlimmen Niederlage.<br />

Das Königreich Jugoslawien zerfiel im Zweiten<br />

Weltkrieg völlig. Josip Broz Tito gelang es<br />

jedoch, es wieder zusammenzuschustern, wobei<br />

er nicht mehr auf den Zusammenhalt der<br />

Slawen, sondern die Ideologie des Sozialismus<br />

baute. Über die Einhaltung des Friedensvertrags<br />

von Versailles wachten die jugoslawischen<br />

Kommunisten je nach Bedarf mit Terror, Diktatur<br />

oder einem Sozialismus mit menschlichem<br />

Antlitz. Denn Jugoslawien stellte genauso wie<br />

die Tschechoslowakei eine unlösbare Aufgabe<br />

dar, da das Erbe der einstigen Monarchie, die<br />

Idee des Vielvölkerstaates, bis in die Staatsfundamente<br />

eingesickert war. Der Zusammenbruch<br />

des Sozialismus zerschlug jedoch zwangsläufig<br />

auch Jugoslawien und es kam zum furchtbaren<br />

Balkankonflikt, dessen Ausgang zeigte, dass der<br />

Versailler Plan konsequent umgesetzt werden<br />

musste und man nicht umhinkam, auch in diesem<br />

Teil Europas Nationalstaaten zu gründen.<br />

Zu Recht empörte sich die westliche Welt<br />

beim Anblick des schmutzigsten Krieges, der in<br />

der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa<br />

stattfand, dachte jedoch nicht daran, dass<br />

es dabei um die Verwirklichung genau der Ideale<br />

ging, die einst von ihr vorgeschlagen worden<br />

waren, mit denen sie die Erscheinung Mittelosteuropas<br />

nach ihrem eigenen Bild hatte umformen<br />

wollen. Die mit solcher Missbilligung<br />

verfolgten Jugoslawienkriege waren die Reinkarnation<br />

der Ideale, die im Ersten Weltkrieg<br />

geboren worden waren. Die Vielvölkerstaaten<br />

des östlichen Europas zerfielen, und dieser Prozess<br />

war in Jugoslawien blutig und grausam.<br />

Der Plan von Versailles wurde ohne Kompromisse<br />

umgesetzt.<br />

Der andere, diametral entgegengesetzte<br />

Pol, unter dessen Einfluss ich aufwuchs, war<br />

die ungarische Kultur. In ihrer Interpretation<br />

ist 1914 die Jahreszahl, die für die tragischste<br />

Periode in der Geschichte der Nation steht.<br />

Das Land ließ sich in einen Krieg reißen, den<br />

es nicht gewollt hatte. Dem ungerechten Krieg<br />

folgte ein ungerechter Frieden. Die bedeutendsten<br />

Intellektuellen des Landes erhoben 1914<br />

ihre Stimmen gegen den Krieg, und auch sie,<br />

also nicht nur die Nationalisten, sondern auch<br />

die Schriftsteller und Künstler, deren Denken<br />

der europäischen Kultur verpflichtet war, erlebten<br />

den Friedensvertrag von Trianon, der<br />

das Land auf eine Art verstümmelte, wie man es<br />

im 20. Jahrhundert nirgendwo anders gesehen<br />

hatte, als einen Schock.<br />

Ich wuchs zwischen zwei einander widersprechenden<br />

„Wahrheiten“ auf, und in diesem<br />

Vakuum wurde mir klar, dass Europa aus 1914<br />

folgende Lehre gezogen hatte: Man würde in<br />

seinem ethnisch bunten, chaotischen Teil auf<br />

Kosten vieler Millionen verschiedenen ethnischen<br />

Minderheiten angehörenden Menschen<br />

Nationalstaaten errichten.<br />

Das Jahr 1914 stellte Europa die größte Falle<br />

des 20. Jahrhunderts. Danach versuchte es über<br />

hundert Jahre lang, sich wieder aus ihr heraus<br />

zu manövrieren. Gewiss, gegen Ende des Jahrhunderts<br />

gelang es ihm, diese Falle komfortabel<br />

einzurichten, so dass es nun scheint, es werde<br />

nicht zu einem erneuten Krieg kommen. Für<br />

den Frieden bezahlt es jedoch einen hohen<br />

Preis: Die Möglichkeit eines einheitlichen Europas<br />

musste geopfert werden. Denn die Europäische<br />

Union von heute ist eine Antwort<br />

auf 1914, und zur endgültigen Formulierung<br />

dieser Antwort kam es bereits 1918 in Versailles,<br />

als man die neue, in Nationalstaaten definierte<br />

Europakarte festlegte. Davon hatte man<br />

in den Staatskabinetten und Schützengräben<br />

geträumt. Schlimmer als das war nur noch der<br />

tragische Versuch, die Lage zu verändern: der<br />

Zweite Weltkrieg und der Vertrag von Jalta, den<br />

man als Antwort auf den Zweiten Weltkrieg verstehen<br />

kann.<br />

Allerdings wurde Jalta 1989 von Versailles<br />

besiegt, wodurch dem europäischen Bund der<br />

Nationalstaaten, der Europäischen Union, freie<br />

Bahn geschaffen wurde. Jetzt kämpft man mit<br />

dem Dilemma, ob ein föderales Europa geschaffen<br />

oder die Form des lockeren Bundes von Nationalstaaten<br />

beibehalten werden soll, in dem<br />

die Macht der politischen Eliten nicht maßgeblich<br />

beschränkt wird. In Brüssel versucht man<br />

also, sich die Pergamentpapiere von Versailles<br />

zu erschließen, deren erste Sätze 1914 geschrieben<br />

wurden. Die Nationalstaaten schlagen nun<br />

energisch zurück, wobei der schlimmste Schlag<br />

heute gerade aus dem Osten kommt, aus den<br />

Ländern, die im Namen der Nationalstaatlichkeit<br />

vom Westen legitimiert wurden. Europas<br />

östlicher Teil, vor allem Mittelosteuropa,<br />

nimmt das Europa von Versailles ernst.<br />

Das ist die Falle, in der Europa sitzt. 1914<br />

bedeutet in Wirklichkeit den Anfang des Endes<br />

der Utopie Europa, und die seitdem vergangenen<br />

hundert Jahre handelten von der Sisyphos-<br />

Geschichte des Versuchs, wieder das hervorzuzaubern,<br />

was vor 1914 zum Greifen nah gewesen<br />

war.<br />

In die Falle von 1914 bin ich im Grunde<br />

durch meinen Roman Neoplanta oder das Land<br />

des Versprechens geraten. Mich interessierten<br />

nicht die Helden, die die „Geschichte machten“,<br />

sondern die Durchschnittsmenschen. Lazo<br />

Pavletić, der Protagonist des Romans, wird in<br />

Zagreb zur österreichischen Armee eingezogen.<br />

Der aus einem Dorf in der Gegend von Knin<br />

stammende junge serbische Bauer bestaunt<br />

in Zagreb die Fiakerkutscher, in seinen Augen<br />

sind sie die echten feinen Herren. Als Anhänger<br />

Franz Josephs denkt er warmen Herzens an den<br />

Kaiser und an das österreichische Herrscherhaus,<br />

vor allem an Leopold und Maria Theresia,<br />

die den in den Grenzgebieten lebenden Serben<br />

verschiedene Privilegien zugesichert und Land<br />

an sie verteilt hatten, damit sie das Habsburgische<br />

Reich gegen die Türken verteidigten.<br />

Zu seinem Unglück wird er jedoch an die<br />

serbische Front geschickt, wo er gegen seine<br />

serbischen Landsleute kämpfen muss. Als<br />

ahnte der junge Mann den Plan von Versailles<br />

bereits, also dass in Mittelosteuropa die Zeit<br />

der Nationalstaaten gekommen ist, versucht<br />

er, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass<br />

er zum Beispiel gegen die Franzosen gerne an<br />

der Seite des Kaisers kämpfen würde, es gegen<br />

die Serben jedoch nicht könne. Der „Übertritt“<br />

geht mit einer starken inneren Zerrissenheit<br />

einher, denn in seinen Träumen erscheint ihm<br />

Kaiser Franz Joseph, der ihn für das Brechen<br />

seines Eides schilt, dafür, nun mit den serbischen<br />

Truppen gegen die Österreicher, Kroaten<br />

und Ungarn zu kämpfen. Pavletić erleidet die<br />

Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs, kämpft<br />

bis zum Schluss und zieht an der Spitze der siegreichen<br />

serbischen Truppen in Novi Sad ein, wo<br />

er einen herrenlosen Fiaker findet und sich so<br />

erfüllen kann, wovon er 1914 geträumt hat: Er<br />

wird Fiakerkutscher.<br />

Sein Leben steht für die mittelosteuropäische<br />

Geschichte nach 1914. Er wurde gleichzeitig<br />

zum Sieger und zum Opfer von 1914 und ließ<br />

sich in einer ethnisch gemischten Region nieder,<br />

wo Deutsche, Serben, Ungarn, Rumänen,<br />

Slowaken und viele andere zusammenlebten,<br />

die aus einer imperialen Situation in die Falle<br />

der Nationalstaaten geraten waren. In Abhängigkeit<br />

von den gerade aktuellen Verhältnissen<br />

änderten sich in den nächsten Jahrzehnten die<br />

Gesellschaftssysteme, die Namen der Straßen<br />

und Plätze, die Besitzverhältnisse, die Landkarten<br />

und Stadtpläne, die Mörder und Opfer.<br />

Wenn es sein musste, wechselten die Menschen<br />

ihre Identitäten; die Ehefrau gab sich mal als<br />

Slowakin aus, mal als Ungarin, stets, um ihre Familie<br />

zu retten. Es hatte dort in den Menschen<br />

eine grundlegende Solidarität gegeben, die sie<br />

jedoch aufgeben mussten, um ihr eigenes Leben<br />

zu retten, um Überlebende zu bleiben. Das Zeitalter<br />

der Massengräber begann. Man konnte<br />

nicht einmal genau voraussagen, wer von ihnen<br />

Mörder und wer Opfer sein würde.<br />

1914 bedeutete also den Sieg des Nationalismus.<br />

Es hat sich endgültig herausgestellt, dass<br />

die Geschichte den europäischen Menschen<br />

besiegt hat. Der Sieger, die Geschichte, ist zwar<br />

zivilisierbar, heute sind wir ja Zeugen eben dieses<br />

Prozesses, die Niederlage des Menschen ist<br />

jedoch endgültig. Ganz gleich, was für einen Namen<br />

wir dieser Niederlage geben – Wirtschaftskrisen,<br />

Macht des freien Marktes, nationale<br />

Interessen –, gewiss ist, dass die Europäer den<br />

Ersten Weltkrieg 1914 verloren haben. Sie können<br />

sich lediglich glücklich schätzen, den Frieden<br />

erschaffen zu haben, indem sie geschlagen<br />

wurden.<br />

Aus dem Ungarischen von<br />

Timea Tankó<br />

László Végel<br />

Geboren 1941 in Srbobran, damals Königreich<br />

Jugoslawien; er lebt in Novi Sad / Serbien. Er veröffentlichte<br />

mehrere mit Preisen bedachte Romane,<br />

Essaybände sowie Theaterstücke. Zuletzt auf<br />

Deutsch: Exterritoritum. Szenen vom Ende eines<br />

Jahrtausends; Bekenntnisse eines Zuhälters sowie<br />

Sühne (alle im Verlag Matthes & Seitz).<br />

Beton International März 2014 30


Saša Ilić<br />

DER ZUSAMMENBRUCH DER<br />

EUROPÄISCHEN LINKEN<br />

1914 durch die Augen der sozialdemokratischen<br />

Zeitschrift „Borba“ betrachtet<br />

Ich dachte an Dimitrije Tucović, sein Buch<br />

über Albanien und seinen traurigen Tod. Ich<br />

dachte daran, wie das Rad jenes Mechanismus,<br />

gegen den er mutig und tapfer angekämpft<br />

hatte, ihn unter sich begrub wie einen<br />

Fetzen. Seine leuchtende Gestalt bringt uns<br />

Trost, sie zeigt, dass an unseren Horizonten<br />

nicht alle Fahnen hoffnungslos zu Boden<br />

gefallen sind. Der Tod Dimitrije Tucovićs<br />

und die dunkelblaue, stille, melancholische<br />

Agonie von Svetozar Marković sind Ereignisse,<br />

die wie Wegzeichen am Anfang unseres<br />

Weges in die Zivilisation stehen.<br />

Miroslav Krleža<br />

Der Anfang des Jahres 1914 wird in journalistischen<br />

Texten, aber auch in der Literatur als<br />

fröhlich und sorglos beschrieben, als eine Periode,<br />

in der Europa nicht einmal ahnte, dass bald<br />

eine Verwüstung einsetzen würde, in welcher,<br />

wie Slavoj Žižek in seinem Essay über Lenins<br />

Erbe schreibt, eine ganze Welt verschwinden würde.<br />

Dieses Verschwinden der Welt fand nicht auf<br />

einmal statt, sondern hatte eine Vorgeschichte in<br />

der Entwicklung des europäischen Militarismus<br />

und Kapitalismus, die im Jahr 1914 ihren Höhepunkt<br />

erreichte. Für eine genauere Betrachtung<br />

dieser Periode ist es nützlich, einige linksgerichtete<br />

Parteizeitungen aus der damaligen Zeit<br />

durchzublättern, in denen von einer Ausgabe zur<br />

nächsten die Regungen der europäischen Politik<br />

mitverfolgt wurden. Eine solche Parteizeitung<br />

war „Borba“, das Blatt der Serbischen Sozialdemokratischen<br />

Partei, gegründet 1903 und geleitet<br />

von Dimitrije Tucović. Dieses Blatt stellt<br />

heute ebenso wie Tucovićs politisches Erbe die<br />

verdrängten Erinnerungen Europas dar, denn<br />

die Geschichte dieser Partei war ein wichtiger<br />

Teil der Geschichte der europäischen Linken,<br />

die sich damals rund um die Zweite Internationale<br />

organisiert hatte. Zum anderen können uns<br />

die kompromisslosen kritischen Gedanken von<br />

Dimitrije Tucović und sein Aufzeigen akuter<br />

gesellschaftlicher Probleme helfen, zahlreiche<br />

finstere Ereignisse jener Zeit zu verstehen. Darunter<br />

sind gewiss auch Attentate und politische<br />

Gewalt sowie Handlungen, die ein ganzes Jahrhundert<br />

in Serbien markierten, vom Mai-Umsturz<br />

1903 bis hin zum Attentat auf den ersten<br />

demokratischen Premier Serbiens Zoran Đinđić<br />

im März 2003.<br />

neral Živojin Mišić für Waffen so viel ausgeben<br />

konnte, wie er wollte, ohne irgendjemandem<br />

Rechenschaft ablegen zu müssen. Zu dieser Zeit<br />

gab es eine Affäre rund um die Ermordung eines<br />

Soldaten durch einen gewissen Major Vemić.<br />

Die SSDP bestand darauf, die Umstände dieses<br />

Mordes zu klären und den Schuldigen zu bestrafen,<br />

der Mörder wurde aber trotzdem begnadigt.<br />

In „Borba“ wird vermerkt, dass die bourgeoise<br />

Opposition gegenüber der stärksten politischen<br />

Strömung in Serbien, also den Offizieren, eine<br />

servile Haltung an den Tag legte; die Offiziere<br />

hätten zu diesem Zeitpunkt eine viel größere<br />

Macht in ihren Händen gehabt, als es anzunehmen<br />

gewesen sei. Das allgemeine Klima kam<br />

dieser begünstigten Klasse zu Gute, weil so wie<br />

in anderen europäischen Ländern immer größere<br />

Geldsummen in die Armee flossen, sodass die<br />

Armee nicht nur über militärische, sondern auch<br />

über politische Macht verfügte, die im Zusammenspiel<br />

mit dynastischen imperialen Bestrebungen<br />

zu einem unumgänglichen Faktor bei<br />

der Zukunftsplanung wurde. Besondere Formationen<br />

innerhalb der Armee und der Polizei gehen<br />

auf diese Zeit zurück. Im Laufe des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts entwickeln sie sich zu diversen<br />

Derivaten innerhalb des militärischen und<br />

staatlichen Sicherheitsdienstes – Ozna, Udba,<br />

Kos, RDB, BIA – und auch zu geheimen und gefährlichen<br />

Sondereinheiten, deren Tätigkeit in<br />

der Geschichte einen finsteren Bogen von der<br />

„Schwarzen Hand“ bis zu den „Roten Baretten“<br />

schlägt.<br />

Tucovićs ökonomischer Rückblick<br />

In „Borba“ erschien Anfang 1914 ein interessanter<br />

Rückblick von Dimitrije Tucović auf<br />

die wirtschaftlichen Verhältnisse im Vorkriegseuropa.<br />

Als wichtigste Tatsache unterstreicht<br />

er die enorme Verteuerung des Geldes, zu der<br />

es gekommen war, weil das Geld aufgrund von<br />

Instabilität und Furcht vor möglichen Krisen<br />

und Kriegen vom Markt abgezogen wurde.<br />

Aus den europäischen Banken sei mehr<br />

als eine Milliarde Kronen abgezogen worden,<br />

schreibt Tucović und führt an, dass die Zinsen<br />

im Laufe des Jahres 1913 das höchste Niveau<br />

in den letzten vierzig Jahren erreicht hätten.<br />

Europa stürzte sich in einen fieberhaften Rüstungswettlauf,<br />

in europäischen Klubs wurden<br />

Schulden aufgenommen (Paris und London).<br />

Der sozialdemokratische Anführer vermerkt,<br />

dass die Balkankriege die Kriegsparteien rund<br />

drei Milliarden Dinar gekostet hätten, wovon<br />

allein Serbien 430 Millionen Dinar ausgegeben<br />

(also an Schulden aufgenommen) habe.<br />

Überraschenderweise überstiegen die neuen<br />

Militärkredite europäischer Großmächte im<br />

Laufe des Jahres 1913 bei weitem die Kosten für<br />

die Kriege auf dem Balkan. Tucović beschreibt<br />

Europa vor dem Krieg folgendermaßen: „Die<br />

Balkankriege riefen auf allen Seiten fieberhafte<br />

Kriegsvorbereitungen hervor: Die Größe der<br />

Armee wird in Friedenszeiten gesteigert, der<br />

Militärdienst wird verlängert, es werden neue<br />

Waffen für mehr Soldaten bestellt, Kriegsschiffe<br />

werden gebaut, Verteidigungsanlagen und<br />

strategische Eisenbahnlinien werden errichtet,<br />

es werden Gewehre und Kanonen bestellt. […]<br />

Das ökonomische Fundament der bourgeoisen<br />

Gesellschaft biegt sich und knackt.“ Die Diskrepanz<br />

zwischen dem Einkommen der Arbeiterklasse<br />

und ihrer Wertschöpfung werde nämlich<br />

immer größer. Um seinen Lesern vor Augen zu<br />

führen, in welche Richtung sich das kapitalisti-<br />

sche Europa bewegte, führte Tucović statistische<br />

Daten an, denen zufolge die europäischen<br />

Großmächte in den letzten fünf Jahren rund 46<br />

Milliarden Dinar für Waffen ausgegeben hatten,<br />

und zwar im Detail folgendermaßen: Österreich<br />

– 4,5 Milliarden, Deutschland – 10, Italien – 3,5,<br />

Russland – 12, Frankreich – 8 und England – 8.<br />

Diese wirtschaftliche Lage hatte zur Folge, dass<br />

die Arbeitslosigkeit außerhalb der Waffenindustrie<br />

stieg. Im Vergleich zu 1912 stieg die Arbeitslosigkeit<br />

im Jahr 1913 in Textilindustrie,<br />

Tischlerei, Bau und Maschinenbau von 15 Prozent<br />

auf 35 Prozent. Das wiederum führte zu<br />

einer zunehmenden Auswanderung aus Österreich-Ungarn.<br />

Allein im Jahr 1913 wanderten<br />

rund 350.000 Erwerbsfähige nach Amerika ab.<br />

Tucović schreibt, die gesamte Last der Krise sei<br />

auf die Schultern des Proletariats und der verarmten<br />

Volksmassen gefallen. Die Kriegsziele<br />

orientierten sich jedoch an einer anderen Logik,<br />

und so galten die hohe Verschuldung und<br />

die Unterdrückung des Proletariats als notwendiges<br />

Mittel zur Realisierung der Staatspläne.<br />

Als im Juni 1912 die serbische Regierung um<br />

einen außerordentlichen Militärkredit in der<br />

Höhe von zwei Millionen ansuchte, bewilligte<br />

die Volksversammlung die unglaubliche Summe<br />

von 21 Millionen. Regierungschef Dr. Milovan<br />

Đ. Milovanović gab dafür die folgende Erklärung<br />

ab: „Entweder vereinigt sich das serbische<br />

Volk, oder der ganze Balkan wird zu einem<br />

einzigen großen Friedhof ...“<br />

Krieg und Frieden<br />

Das politische Programm der Partei von Dimitrije<br />

Tucović beruhte auf den Prinzipien der<br />

deutschen Sozialdemokratie, genau genommen<br />

Offiziere und Radikale<br />

Dušan Popović, einer der Anführer der SSDP,<br />

beschrieb im Januar 1914 die Machtverhältnisse<br />

in Serbien folgendermaßen: „Dieses Regime<br />

ist noch nicht stabilisiert. Hier gibt es ständig<br />

zwei gegenteilige Strömungen – die zivile und<br />

die militärische, die demokratische und die reaktionäre.<br />

Andauernd streiten sich die beiden<br />

Schöpfer des Regimes darum: die Radikalen und<br />

die Offiziere.“ Diese Sichtweise der Innenpolitik<br />

Serbiens ist äußerst interessant, denn hier werden<br />

ganz klar zwei Strömungen markiert, die<br />

die beiden wichtigsten Vektoren der damaligen<br />

Zeit implementierten – den Kapitalismus und<br />

den Militarismus. Popović führt dabei an, dass<br />

die Offiziere Regierungen absetzten, sogenannte<br />

fusionierte und selbständige, beziehungsweise<br />

den Lebensrhythmus und die staatliche Politik<br />

diktierten, ganz genau so, wie sie im Mai 1903<br />

den „Umsturz“ bewerkstelligt hatten, als die militaristische<br />

Organisation „Schwarze Hand“ die<br />

letzten Mitglieder der Familie Obrenović – König<br />

Aleksandar und seine Frau Draga – massakrierte.<br />

Wenn es um Kriege ging (Balkankriege<br />

1912-1913), war das Wort des Generalfeldmarschalls<br />

Putnik ausschlaggebend, während Ge-<br />

Beton International März 2014 31


auf den Prinzipen des Erfurter Programms, das<br />

außer von August Bebel auch vom Philosophen<br />

und Sozialdemokraten Karl Kautsky geschrieben<br />

worden war, dessen Texte in fast jeder Ausgabe<br />

der Belgrader Zeitung „Borba“ erschienen.<br />

Tucović und seine Mitarbeiter orientierten sich<br />

stark an den sozialdemokratischen Ideen aus<br />

Deutschland und gaben sich große Mühe, die<br />

Prinzipien des Erfurter Programms – Kampf<br />

für ein allgemeines Wahlrecht, Achtstundentag<br />

und Schutz der Arbeiterrechte – in ihre eigene<br />

Politik einzubauen. Eine erste Missstimmung<br />

entstand jedoch nach der Annexion von Bosnien<br />

und Herzegowina, worüber Tucović 1910<br />

beim Kongress der Internationale in Kopenhagen<br />

öffentlich sprach. Bei dieser Gelegenheit<br />

sagte er, seine Partei sei angesichts der großen<br />

Kriegsgefahr völlig allein gelassen und von der<br />

österreichisch-ungarischen Sozialdemokratie<br />

wider Erwarten im Stich gelassen worden. Erhofft<br />

hatte er sich „den energischsten Protest<br />

gegen eine koloniale Politik und gegen die Versklavung<br />

des Volkes, wie sie von den Machthabern<br />

Österreich-Ungarns ausgeübt wird.“ Wenn<br />

im Zuge der Annexion von Bosnien und Herzegowina<br />

die Rede davon sei, dass irgendwelche<br />

Rechte verletzt worden seien, betonte Tucović<br />

bei dieser Gelegenheit, dann müsse man sagen,<br />

dass „die Rechte der Türkei verletzt wurden,<br />

und nicht jene Serbiens“. Dabei rief er auf, einen<br />

echten sozialdemokratischen Standpunkt einzunehmen,<br />

der „das Recht eines jeden Volkes auf<br />

Selbstbestimmung und damit auch das entsprechende<br />

Recht der Völker in Bosnien und Herzegowina“<br />

voraussetzen würde. Obwohl Tucović<br />

bei den anwesenden Delegierten auf Wohlwollen<br />

stieß, wurde sein Antrag am Ende der Ansprache<br />

nicht angenommen: Er hatte die „Genossen aus<br />

den großen kapitalistischen Staaten“ dazu aufgerufen,<br />

„zum Zwecke des Zurückdrängens der<br />

kolonialen Politik sich mit den sozialdemokratischen<br />

Bewegungen kleinerer Völker zu verbünden“.<br />

Trotz der offensichtlichen Isolierung der<br />

Sozialdemokratie setzte die Partei Tucovićs ihre<br />

Arbeit im Inland konsequent fort, eingezwängt<br />

zwischen dem starken Einfluss Russlands und<br />

der Kriegspolitik der Karađorđević-Dynastie.<br />

Als die Entscheidung über die Aufnahme von<br />

Kriegskrediten getroffen werden musste, waren<br />

die Delegierten aus den Reihen der SSDP die einzigen,<br />

die dagegen stimmten. Als einzige in ganz<br />

Europa, wie sich dann herausstellte. Slavoj Žižek<br />

schreibt über diesen Moment des Umbruchs, als<br />

die Mehrheit der europäischen sozialdemokratischen<br />

Parteien sich für die patriotische Linie entschied,<br />

Folgendes: „Stellen Sie sich vor, wie viele<br />

angeblich unabhängige Intellektuelle, darunter<br />

auch Freud, zumindest für eine kurze Zeit der<br />

nationalistischen Versuchung erlegen waren. Im<br />

Jahr 1914 verschwand eine ganze Welt und riss<br />

nicht nur den bourgeoisen Fortschrittsglauben<br />

mit sich, sondern auch die begleitende sozialistische<br />

Bewegung.“<br />

Das Ende der Zeitschrift „Borba“<br />

Die letzte Ausgabe von „Borba“ erschien<br />

am 1. Juli 1914. Darin veröffentlichte Dimitrije<br />

Tucović die letzte Fortsetzung eines längeren<br />

Textes unter der Überschrift „Verfassungsund<br />

Parteikämpfe in Serbien“. Neben seinem<br />

Artikel erschien auch ein Text von F. Filipović<br />

über den russischen Imperialismus sowie eine<br />

Studie von Lily Braun über die Entwicklung der<br />

Frauenfrage bis zum 19. Jahrhundert. Alle Texte<br />

wurden noch vor dem Attentat von Sarajevo<br />

verfasst und übersetzt. Am Ende von Tucovićs<br />

Text steht das Datum 25. Juni 1914. Zwischen<br />

der Fertigstellung seines Textes und dem Erscheinen<br />

der letzten Ausgabe von „Borba“ fand<br />

die Explosion Europas statt. Die militaristische<br />

Organisation „Schwarze Hand“ hatte ein Dutzend<br />

der militantesten Mitglieder von „Jungen<br />

Bosnien“ im Umgang mit Handfeuerwaffen und<br />

kalten Waffen unterwiesen. Einigen aktuellen<br />

Medienberichten zufolge ging dieses Training<br />

in Vranje vor sich, in einer Schlucht namens<br />

Kazanđol. An der Ermordung des Thronfolgers<br />

Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo<br />

am 28. Juni 1914 ist nichts Romantisches oder<br />

Revolutionäres. Die Rede ist von einem Konflikt<br />

zweier dynastischer bourgeoiser Politiken<br />

auf dem Balkan, der später alle anderen Seiten<br />

mit sich in den Abgrund riss, sodass der Markt<br />

und die Wirtschaft Europas ebenso wie die<br />

billigen Arbeitskräfte im Krieg neu aufgeteilt<br />

werden konnten. Das europäische Proletariat<br />

musste noch warten, bis es sich unter dem Einfluss<br />

der neuen linken Kräfte aus der Sowjetunion<br />

organisieren konnte. Davon sprach und<br />

schrieb Tucović noch Jahre vor dem Ausbruch<br />

des Großen Krieges. Interessanterweise wurden<br />

die Mitglieder von „Jungen Bosnien“ im<br />

Unterschied zu den Sozialdemokraten in Jugoslawien<br />

breit rezipiert und gefeiert, in Serbien<br />

bis heute. Dimitrije Tucović stand mit seinen<br />

linken Ideen schließlich alleine da und kam am<br />

20. November 1914 im Alter von dreiunddreißig<br />

Jahren ums Leben. Die Rezeption seiner Ideen<br />

ist im heutigen Serbien verschwindend gering,<br />

in der europäischen Geschichte ist er so gut wie<br />

unbekannt. Die europäische Linke steckt heute<br />

wieder in einer Krise.<br />

Aus dem Serbischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Saša Ilić<br />

Geboren 1972 in Jagodina / Serbien. Er studierte<br />

an der Philosophischen Fakultät in Belgrad.<br />

Bisher veröffentlichte er Erzählbände und die<br />

beiden Romane Berlinsko okno (Berliner Fenster,<br />

2005) und Pad Kolumbije (Der Fall der<br />

Raumfähre Columbia, 2010). Bis Ende 2013 war<br />

er einer der vier Herausgeber der kritischen<br />

serbischen Zeitung BETON. Gemeinsam mit<br />

Alida Bremer gründete er im Dezember 2013<br />

BETON INTERNATIONAL.<br />

Die elektronische Ausgabe von BETON<br />

INTERNATIONAL 2014 (Nr. 1) ist unter<br />

www.traduki.eu zu lesen.<br />

Impressum<br />

V.i.S.d.P.<br />

Dr. Alida Bremer<br />

www.alida-bremer.de<br />

Herausgeber<br />

Verein RK LINKS aus Belgrad / Serbien<br />

Verein KURS aus Split / Kroatien<br />

Lektorat und Korrektur<br />

Benjamin Langer<br />

Layout und Design<br />

Metaklinika, Beograd<br />

Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk,<br />

dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik<br />

Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer<br />

Kulturstiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria, das Goethe-Institut, die Slowenische<br />

Buchagentur JAK, das Ministerium für Kultur der Republik Kroatien, das Ressort Kultur der<br />

Regierung des Fürstentums Liechtenstein, die Kulturstiftung Liechtenstein, das Ministerium<br />

für Kultur der Republik Albanien und die S. Fischer Stiftung angehören.<br />

Illustratoren und Fotografen<br />

Lazar Bodroža – 4, 6, 22, 27, 28<br />

lazarbodroza.com<br />

Igor Hofbauer – 18<br />

Aleksa Jovanović – 28<br />

aleksa-jovanovic.blogspot.com<br />

Ivan Kostić – 2<br />

Metaklinika – 8, 9, 16, 20, 21, 25, 26, 32<br />

metaklinika.com<br />

Sandra Milanović – 5<br />

Danilo Milošev Wostok – 1, 10, 11, 30, 31<br />

facebook.com/DaniloMilosevWostok<br />

Milan Pavlović – 3, 12, 13<br />

milanpavlovic.net<br />

mrstocca.blogspot.com<br />

Turbosutra – 23<br />

Aus dem Familienalbum von Davor Korić – 17<br />

Beton International März 2014 32

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!